Steckbrief der philosophischen Anthropologie

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Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Sozialwissenschaften
Veranstaltung: Sozialanthropologie I
Veranstalter: Dr. Ferdinand Brüngel
Referent: Ulrich Salaschek
Sommersemester 2004
Steckbrief der philosophischen Anthropologie
Leitgedanke: Was ist der Mensch seinem Wesen nach?
Vorgehen: Philosophische Interpretation wissenschaftlicher (empirischer) Resultate
Kurzcharakterisierung: Sie ist eine Reaktion der Philosophie auf die jungen (Natur-)
Wissenschaften, die ihr den Anspruch auf Fundamentalität streitig machten. Sie verarbeitet jene Wissenschaften.
Vorraussetzung: Die empirischen Ergebnisse der Humanwissenschaften (von der
Biologischen Anthropologie bis zur Psychologie und Soziologie) mussten erst vorliegen, damit überhaupt ein Bedürfnis aufkommen konnte, sie philosophisch zu interpretieren.
Besondere Kennzeichen: Eigentümliche Stellung zwischen Theorie und Empirie .
Vorgedanken
Naturphilosophen (5. Jhd. v. Chr.)
Die Welt ist das, was der Mensch hervorbringt und das was er erkennen kann.
Gesellschaft ist nicht Gottgegeben, sondern basiert auf Konventionen.
Kultur entsteht durch die menschlichen Stärken und Schwächen.
Grundthese und Leitthematik: Menschen als »Mängelwesen«:
Weder durch Organe spezialisiert, noch durch Instinkte an bestimmtes Verhalten
gebbunden. Daher muss der Mensch sich seine Welt (Daseinsweise) selbst erschaffen
Seit der Renaissance wird unter dem Namen Anthropologie auch physiologischpsychologische Wissenschaft betrieben. Aber noch nicht nach empirisch und philosophsich getrennt.
Kant, Immanuel (1724-1804)
Kant trennte den Anfang des 16. Jhd ersmals verwendeten Begriff der Anthropologie in „physiologische“ (was die Natur aus dem Menschen macht) und „pragmatische“ (philosophische – Was der Mensch als frei handelndes Wesen aus sich selbst
macht, machen kann oder machen soll) Anthropologie.
Herder, Johann Gottfried 1744-1803
Lit.: Ideen zur Philosophie zur Geschichte der Menschheit (1784-1791)
Der Mensch ist der erste Freigelassene der Natur. Seine Sinne sind offen, seine
Organisation unspezialisiert. Der Mensch ist schwach zur Welt gekommen, um Vernunft zu lernen; Vernunft ist das, was der Mensch aus seiner Lage macht. Vernunft
ist also die Kompensation der biologischen Mängel des Menschen.
Schiller, Johann (1759-1805)
„Bei Tier und Pflanze gibt die Natur nicht nur die Bestimmung an, sondern führt sie
auch alleine aus. Dem Menschen aber übergibt sie bloß die Bestimmung und überlässt ihm selbst die Erfüllung derselben.“
Eine klare Bestimmung des Menschen steht also fest. („absoluter Geist“).
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 1770-1831
Lit.: Phänomenologie des Geistes (1807)
Im Mittelpunk seines Systems steht das Absolute, das sich als subjektiver Geist im
menschlichen Individuum, als objektiver Geist in Familie, Gesellschaft, Staat, als absoluter Geist in Kunst, Religion und Philosophie konkretisiert, und zwar im dialektischen1 Dreischritt von These, Antithese, Synthese. Die Weltgeschichte sieht Hegel
als notwendig fortschreitenden Prozess des absoluten Geistes. (Meyers Universallexikon)
Feuerbach, Ludwig (1804-1872)
Weil der Mensch leidet, erfährt er seine Wirklichkeit sinnlich, in Liebe und Schmerz.
Nur die Leidenschaft ist Wahrzeichen von Existenz.
Lit.: Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843)
Abgrenzung Mensch – Tier wie Herder: Das Tier ist so partikular wie der Mensch
universell. Die menschliche Freiheit liegt darin, dass die menschlichen Sinne (die
Organe seiner Leidenschaft), nicht wie bei den Tieren ausschließlich an spezifische
Bedürfnisse gekoppelt sind.
Marx, Karl (1818-1883)
Der Mensch kann in seiner sinnlich-menschlichen Existenz allein nicht begriffen
werden.
„Der Mensch ist von Natur aus gezwungen zu handeln, nämlich durch gesellschaftliche Arbeit sich am Leben zu halten; mehr noch, in dieser Arbeit erzeugt er seine
Welt und sich selbst.“
Nur wenn der Mensch arbeitet, verdankt er sein Dasein sich selbst. Seine Geschichte
ist die Geschichte seiner Arbeit.
1
Dialektik= Logik des Widerspruchs
philosophische Anthropologie ab ~1920
Scheler, Max (1874-1928)
Scheler wird in den Jahren 1922 bis 1928 zum eigentlichen Begründer der philosophischen Anthropologie.
Lit.: Die Stellung des Menschen im Kosmos (1927)
Die Wahrnehmung der Tiere ist hochselektiv. Ja nachdem, welche und wie viele
Sinne ausgebildet sind und benutzt werden, baut sich jede Spezies sein eigenes
subjektives Umweltgehäuse.2
Der Mensch verhält sich nach Scheler umweltfrei. „Für ihn gibt es einen Weltraum,
abgelöst vom eigenen Leib.“ Er kann reflektieren, sich seinen eigenen Leib zum Gegenstand machen. Nur er kann ein Ding als dasselbe wieder erkennen.
Er kann sich vom Trieb- und Instinktdiktat lösen (Der Mensch als Neinsagenkönner).
Dafür verantwortlich ist der Geist, der die Triebe des Menschen hemmt, seine Instinkte schwächt und seine Umwelt zur Welt öffnet. Der Geist ist also „ein Prinzip außerhalb dessen, was Leben heißt“. Die Begründung für die Sonderstellung des Menschen ist also metaphysisch3.
Plessner, Helmuth 1892-1985
Trug mit Scheler zur Neubegründung der philosophischen Anthropologie in den
1920er Jahren bei.
„Sprechen, Handeln, Gestalten heißt nicht nur über bestimmte Organe verfügen,
sondern einen Sinn“
Lit.: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928)
Darin löst er die Anthropologie aus der metaphysischen Klammer. Sie handelt nicht
mehr von Prinzipien oder Substanzen, Geist, oder Seele, sondern von Strukturen:
Das Verhältnis, in dem Pflanze, Tier und Mensch zu ihrer Umwelt stehen.
„Instinktschwäche, Triebüberschuss und Organprimitivität sind für […] die exzentrische Stellung des Menschen charakteristisch.“
Plessner kennzeichnete die Positionierung der menschlichen Erlebensstruktur in Bezug auf sich selbst (Leib sein, Körper haben) als »Exzentrizität4«: Das Tier agiere
zentrisch, als ein auf sich selbst rückbezügliches System, es lebe aus seiner Mitte
heraus, aber nicht als Mitte. Demgegenüber vermöge der Mensch sich von seinen
Erlebnissen selbst zu distanzieren, und indem er sich als Mitte erlebe, stehe er
zugleich außer ihr.“ (Brockhaus)
Die Physisch- Psychische Trennung der Anthropologie wird bei Plessner neutralisiert.
Ausdruckgebärden sind beim Menschen von Handlungen zu trennen. Beim Ausdruck
handelt es sich also nicht um ein Überbleibsel einer funktionslos gewordener Handlung oder eine Handlung mit fiktivem Ziel.
Lit.: Lachen und Weinen (1940)
Lachen und Weinen sind Ausdrucksformen der Krise (wenn der Mensch zur Mehrdeutigkeit seines Daseins kein eindeutiges Verhältnis findet).
2
Basierend auf Forschungen von Jakob Baron von Uexküll („Umwelt und Innenwelt der Tiere“)
Metaphysik= phil. Lehre von den letzten, nicht erfahr- und erkennbaren Gründen und Zusammenhängen des
Seins; metaphysisch= überempirisch (Duden)
4
Exzentrisch= außerhalb des Mittelpunktes liegend.
3
Gehlen, Arnold (1904-1976)
Gehlens Anthropologie stellt den Menschen hinsichtlich seiner Organ- und Instinktaustattung als „Mängelwesen“ dar, das seine Umwelt nur durch ein von Institutionen5 geleitetes und gesichertes Handeln verändern muss, um überleben zu können
(Kulturleistung als Organersatz) (Meyers Universallexikon).
Lit.: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940)
Die Eindrucksoffenheit gegenüber Wahrnehmungen, die keine angeborene Signalfunktion haben, ist eine Belastung. Die Entlastung vom Druck von der Unmittelbarkeit
der Sinnessuggestionen ist die Sprache, denn sprechend kann sich der Mensch über
die gegenwärtige Situation hinweg auf Sachverhalte richten, die nicht anschaulich
gegeben sind (Auch Mythologisierung bei Nicht-Verstehen).
Lit.: Urmensch und Spätkultur (1956)
Der Überschuss plastischer Antriebe und die Reizüberflutung der Sinne nötigen den
Menschen dazu, sein Verhalten kontrollieren zu lernen. Das Bilden von kontrollierenden Institutionen stellt dann auf Basis erlernbaren Verhaltens das Verhältnis von Instinkt und Auslöser (aus der Tierwelt) auf höherer Ebene wieder her.
Rothacker (1888-1965)
Rothacker sieht die Rede von einer „Weltoffenheit“ des Menschen im Gegensatz
zur „Umweltgebundenheit“ des Tieres als zu abstrakt an. Menschen leben ebenso
wenig in der Welt, wie sie die Sprache sprechen oder die Kunst hervorbringen. Sie
leben in den umwelthaft beschränkten Welten ihrer jeweiligen Gesellschaft. Dieser
„Lebensstil“ wird geprägt durch hochselektive und traditionsfeste Interessen, Gewohnheiten und Haltungen.
Jüngste Entwicklung zur Cultural Anthropology bzw. Sozialanthropologie
Nach dem zweiten Weltkrieg löste sich die philosophische Anthropologie zunehmend von der Biologie und bezog vermehrt das gesellschaftliche Verhalten mit ein.
Alsbald zeigte sich, dass der Mensch durch Institutionen, kulturelle Traditionen und
Sprachen in seiner theoretischen Umweltungebundenheit eingeengt wird.
So thematisiert die philosophische Anthropologie zunehmend, dass es »den« Menschen gar nicht gibt, und stellt damit selbst ihr ursprüngliches Erkenntnisziel in Frage.
5
Institution= die durch Moral, Sitte oder Recht gebundene Form menschlichen Zusammenlebens (Meyer)
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