Die Chancen des Schrumpfens: Das Comeback der Innenstädte Entwicklung der Städte positiv gestalten – Für Hagen gilt: Stadt, Land, Fluss Deutschland schrumpft. Weniger Bewohner, weniger Arbeitsplätze und die Störung ökonomischer Kreisläufe kennzeichnen die Schrumpfung. Die ungünstige demografische Entwicklung hat zahlreiche Probleme zur Folge, von denen die Rente nur eines ist. „Auch Städte werden sich vielerorts grundlegend verändern“, blickt apl. Prof. Dr. Dr. h.c. Lothar Bertels von der FernUniversität in Hagen in die Zukunft, „aber das kann durchaus positiv gestaltet werden“. Der Stadt- und Regionalsoziologe sieht gerade durch die Veränderungen gute Chancen, Innenstädte so zu entwickeln, dass man dort gut leben kann. Und gerne leben möchte. Bundesweit wird im Jahre 2030 die Bevölkerung von heute 82,0 Millionen auf 78,0 Millionen gesunken sein – fällt der dabei zugrunde gelegte Zuwanderungsüberschuss von jährlich 200.000 Menschen weg, werden in Deutschland nur noch 72,0 Millionen Menschen leben. Die Zahl der Erwerbspersonen fällt von 43,2 auf 40,1 Millionen. Sind heute 30 Prozent 65 Jahre und älter werden es 2030 50,7 Prozent sein. Das Bruttorenten-Niveau fällt von 48,0 auf 41,9 Prozent. Diese Zahlen hat die Fachkommission „Demographie“ von Bündnis/Die Grünen 2006 ermittelt, der Bertels angehörte. Der Soziologie-Professor hat sich insbesondere mit den Veränderungen des städtischen Lebens befasst und dabei für seine wissenschaftliche Arbeit an der FernUniversität die Stadt Hagen näher untersucht, viele Ergebnisse lassen sich aber auf andere Städte übertragen oder dort als Anregungen nutzen. Die Stadt Hagen beginnt, ihre Volme wieder zu entdecken. Der Rathaus-Neubau am Fluss ist ein erster Schritt. Gravierende Änderungen bei Wohnbedürfnissen In Hagen lebten 2002 über 201.000 Menschen – 2020 werden es nur noch 169.000 sein. 40.000 Personen waren 2002 unter 20 Jahre alt, 2020 werden es 29.000 sein. Die Zahl der 65 bis unter 80 Jahre Alten fällt von 32.600 auf 28.000, die der mindestens 80jährigen steigt von 10.600 auf 14.600. Diese Entwicklung wird sich auch auf die Struktur der Familien auswirken: Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten zwei Drittel der Haushalte Kinder, im Jahre 2000 waren es noch 40 Prozent, Tendenz sinkend. „Und die ‚nachelterliche Phase’ – wenn die Kinder ‚aus dem Haus’ sind – dehnt sich durch die höhere Lebenserwartung immer weiter aus.“ Gravierende Änderungen werden sich dadurch bei den Wohnbedürfnissen ergeben. Diese hängen von den jeweiligen individuellen Umständen ab, von Alter, Lebensstil etc. Das hat Konsequenzen für den Wohnungsbau. „Mit dieser Erkenntnis tun sich viele Städte schwer“, so Bertels. Die steigende Zahl der Ein- und von Zwei-PersonenHaushalten hat z. B. zur Folge, dass Haushalte mit mehreren Kindern aus den Stadtzentren wegziehen, in die Außenbezirke und in umliegende Gemeinden. Eine gegenteilige Entwicklung lässt sich in stabilen bzw. wachsenden Städten wie Hamburg, Köln, Frankfurt oder München feststellen Hier sind es junge, gut gebildete Frauen und Männer mit gleichem Lebensstil, die den Wohnstandort Innenstadt für sich und ihre familiären und beruflichen Interessen organisieren. Menschen wollen – das ist ein Lebensprinzip – „bei Ihresgleichen leben“. Das hat natürlich eine Homogenisierung der Einwohnerschaften zur Folge: „Viele ziehen gezielt in einen Stadtteil, andere sehen sich dann veranlasst wegzuziehen. Daher wird es in bestimmten Stadtteilen mit niedriger gebildeten Menschen besonders notwendig sein, Bildungs- und Weiterbildungsangebote wohnortnah anzubieten.“ Damit ändert sich auch das soziale Miteinander. „Eine möglichst feinkörnige Durchmischung von verschiedenen Haushaltstypen ist notwendig“, so der Soziologie. Für familiengerechtes Wohnen muss die Innenstadt zielgerichtet entwickelt werden. Weniger Einwohner heißt grundsätzlich auch mehr Platz für die Bewohner. Die Wohnungsmieten sind vergleichsweise niedrig. Für Hagen würde diese „Entdichtung“ der Wohnsituationen in vielen Bereichen zur Folge haben, dass kleine Wohnungen zusammengelegt werden müssten, um Familien anlocken zu können. Das Wohnumfeld muss verbessert werden, z. B. durch Verkehrslenkungsmaßnahmen und durch Schaffung einer naturnahen Umgebung. Chancen hierfür sieht Bertels durchaus: „Durch den demografischen Wandel und den Wegzug aus der Innenstadt stehen Wohnungen leer. Und es gibt Baulücken. Das kann man für familiengerechtes Wohnen nutzen.“ Die ließe sich in Zusammenarbeit mit sozial orientieren und engagierten Wohnbaugesellschaften in Hagen realisieren. Wo eine desolate Baustruktur beseitigt wird, kann ein Freiraum entstehen, der eine (temporäre) Nutzung als Spielfläche oder Park zulässt. Stadt – Land – Fluss Man muss sich vor allem überlegen, welche vorhandenen Ressourcen – z. B. Landschaften – die Städte nutzen können. In Hagen ist dies nach Bertels’ Ansicht das Wasser: Ruhr, Volme, Ennepe, Lenne und viele Bäche durchfließen die Wohnquartiere. „Wasser ist das Element, zu dem sich die Menschen hingezogen fühlen – wir müssen die Flüsse wieder attraktiv machen und als Landschaftsteile in die Stadt integrieren!“ Als Beispiel nennt er das neue Rathaus der Stadt Hagen direkt an der Volme: „Das ist ein echter urbaner Anknüpfungspunkt an die natürliche Ressource Wasser.“ Um die Potentiale Hagens zu heben müssen seiner Meinung nach Landschaftsplanerinnen und -planer und Architekten und Architektinnen die Stadt zu den Flüssen hin öffnen. Für die Entlastung der Mieter und Mieterinnen plädiert Bertels für Eigeninitiative: Sie renovieren ihre Wohnungen selbst und zahlen dafür weniger Miete – „In Leipzig ist diese Selbsthilfe bereits erfolgreich praktiziert worden“. Wichtig ist für Bertels weiterhin, dass Hagen den Zusammenhang der „Grundbedürfnisse Wohnen und Bildung“ erkennt. In 20 Jahren werden 40 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner einen Migrationshintergrund haben, die Hälfte davon einen türkischen: „Das wirkt sich negativ auf die allgemeine Schulbildung, das berufliche Bildungswesen und die Studierendenzahlen an den Standort-Hochschulen der Region aus.“ Hinzu kommt, dass lebenslanges Lernen für alle Menschen zum Normalfall wird. Bertels’ Folgerung: „Wenn Hagen zukunftsfähig bleiben will muss intensiv in Bildung und Weiterbildung investiert werden, um die Menschen hier zu halten.“ Schüler müssen zusammen und voneinander lernen. Dies ist praktizierte Integrationspolitik. Diese Schulen mit hohem Ausländeranteil sollen deshalb massiv unterstützt werden, damit die bildungsorientierten deutschen Eltern keinen Grund haben, ihre Kinder in einer anderen Schule unterzubringen. Zudem gilt es, das Weiterbindungsangebot auszubauen. Die Wirtschaft benötigt Fachkräfte. Viele Migranten im Jugend- und Erwachsenenalter haben erheblichen Nachholbedarf. Umschulungen, Fortbildungen, Einarbeitungen sind Maßnahmen, die eine Stadt um ihrer Zukunft willen unterstützen muss. Gute Bildungsangebote sind sowohl attraktiv für Berufstätige und für Familien wie auch wichtige Standortfaktoren für die heimischen Unternehmen. Dies setzt voraus, dass die Stadt Hagen akzeptiert, dass sie schrumpft, und ihre darin liegenden Chancen erkennt: „Die Veränderungsprozesse müssen in dieser wie in anderen Städten gezielt geplant werden, um mehr Lebensqualität zu schaffen, Familien mehr Freiraum zu geben und das Wohnumfeld lebensgerecht zu strukturieren.“ Gerd Dapprich | 14.08.2008