DRAMENANALYSE ASMUTH, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart 62004 (=Sammlung Metzler 188). I. WESENTLICHE ELEMENTE DES DRAMAS Was ist ein Drama? Auch in der Literatur einseitige oder fragwürdige Aussagen. Fragwürdige Bestimmungen: Hauptursache: Grenzverwischung zwischen Drama als poetologischem Allgemeinbegriff und historisch konkretem Einzeldrama → im folgenden: Drama tritt immer geschichtlich auf, aber als Summe seiner wesentlichen Merkmale zeitlos (nicht an eine bestimmte Epoche gebunden) überhistorische Gattung: unterscheidet sich von seinen historisch gebundenen Untergattungen grundsätzlich jede geschichtlich geprägte Wesens- bzw. Begriffsbestimmung nicht ausreichend normalsprachliche Begriff Drama kann nicht mit dem literturwissenschaftlichen Begriff Drama gleichgesetzt werden Die Komplexität des Dramas und die sechs Elemente des Aristoteles Drama ist ein komplexer Gegenstand, stützt sich auf grundlegenden Elemente nach Aristoteles: mythos (Handlung); ethe (Charaktere), lexis (Rede, Sprache), diánoia (Gedanke, Absicht), opsis (Schau, Szenerie) und melopiía (Gesang, Musik) die drei wichtigsten, formalen Elemente: Handlung, Sprache, Szenerie - Handlung: das Wichtigste nach Aristoteles: hier der Ereigniszusammenhang, der den Inhalt des Dramas ausmacht Drama ist voller Handlungen → Kette von Begebenheiten, an denen mehrere Personen beteiligt sind auch qualitative Unterschiede: es gibt auch Begebenheiten, die sich 1. nicht im engeren Sinne, 2. nur mit einiger Mühe und 3. überhaupt nicht als Handlungen bezeichnen lassen 1. auch Handlungen, die nicht mit Absicht zustande gekommen sind 2. Gedanken, Affekte (seit Lessing auch gerne als innere Handlung bezeichnet) 3. Unwetter, Krankheit etc. Vorgänge, die keinerlei körperliche oder geistige Tätigkeit der agierenden Personen beinhalten oder voraussetzen; überlassen den Akteuren nur die Reaktion Handlung kennzeichnet treffend, dass sich das Drama als zusammenhängende Folge menschlichen Handelns darstellt. Das Wort ‚Handlung’ erfasst den Drameninhalt in seiner eigentlichen Substanz. - Figurenrede: Drama unterscheidet sich von beschreibenden Texten durch die zusammenhängende Handlungsfolge, ebenso wie von gedanklichassoziativen Texten, aber nicht von der Erzählliteratur Epik und Drama als dichterische Grundgattung Abgrenzung über die Sprache: Rede als die beherrschende Art des Handelns und Medium innerer Vorgänge → normales Drama ist Sprechdrama im Drama kommen nur die handelnden Personen zu Wort, in der Epik die Figuren und der Autor -1- wichtigstes Element des Dramas die Figurenrede ABER: Figurenrede und Handlung macht noch kein Drama - Sinnliche Darbieten (Szenerie): wahre Bestimmung des Textes erst auf der Bühne durch die szenische Darstellung wird das Drama für das Publikum sinnlich wahrnehmbar - Rollenspiel: Drama stellt Handlung dar, es bedient sich der dialogischen und szenischen Form und es ist Spiel. Rollenspiel, der Spieler stellt eine fremde Person dar Drama lässt sich Sprechschauspiel bezeichnen, oder als Handlungsspiel eigentlich ein Handlungs-sprech-schau-spiel III. TITEL UND ARTEN DES DRAMAS Titel titelgebend häufig Handlungsschemata, Teilereignis, Personennamen Charaktereigenschaften, Ortsangaben…. stellt das Stück vor, soll auch neugierig machen Darbietungsarten oft mit einem Untertitel versehen, bezeichnet of die Art des Dramas näher 1. Drama (Sprechschauspiel), dessen Schauspieler zu sehen sind 2. Figurentheater (Puppen) und Schattenspiel 3. Musikdrama (Oper…) 4. szenische Formen ohne Sprache (Ballett, Pantomime) 5. Hörspiel (unmittelbar, ohne Funkübertragung) 6. mediendramatische Formen des 20. Jhd. (Hörspiel, Tonfilm…) sechs Unterscheidungen zwischen Tragödie und Komödie Handlungsart schwerer zu unterscheiden als Darbietungsart Tragödie und Komödie seit der Antike als gegensätzlich begriffen Historizität, moralische Qualität, sozialer Stand und Redestil der Personen, Stoff und Dramenausgang dramengeschichtlich bedeutsamste Unterscheidung: Stand der Personen Martin OPITZ: Tragödie heroisch, Komödie schlechte Dinge und Personen nur der hohe Stand garantiert für die Fallhöhe tragischer Katastrophen (Ständeklausel) daneben Stilebene: Tragödie würdig, erhaben; Komödie alltägliche Sprache Stoffkriterium: Tragödie heroisches, königliches, Kriege… Komödie lustiges, leichtes Dramenausgang: Tragödie traurig, Komödie glücklich (alle sterben; alle heiraten → SHAW) Reibungen zwischen Standes- und Ausgangskriterium Reibungen v. a. zwischen der Personenqualität und dem Dramenausgang mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaft achtete auf Einhaltung der Standesunterschiede, Drama bezog das mit ein → erlaubt nur das Unglück hoher und das Glück einfacher Personen darzustellen im 16. und 17. Jhd. behalft man sich mit Tragikomödien Entkopplung erst mit der bürgerlichen Literatur des 18. Jhd. Unglück einfacher Leute auch im Volksspiel verwirklicht -2- radikaler war der Versuch, das Standeskriterium ganz aufzugeben und die Unterscheidung von Tragödie und Komödie nur nach dem Ausgangspunkt vorzunehmen → bürgerliches Trauerspiel allerdings auch von ständischem Ehrgeiz geprägt Reibungen zwischen Moralitäts- und Ausgangskriterium Kriterien hängen voneinander ab moralische Qualität hängt vom Ausgang ab (unglücklich ist ein schlimmes Ende nur dann, wenn es unverdient ist) Unglückliches Tragödien- und glückliches Komödienende setzen einen sympathischen Helden voraus Widerspruch mit der moralischen Minderwertigkeit komischer Helden in der Komödie harmonieren Charakter und Ausgang in der Tragödie gibt es den Widerspruch zwischen edlem Charakter und Katastrophe IV. DIE GLIEDERUNG DES DRAMAS 1. DIE PROBLEMATIK VON AKT UND SZENE oft in Akte / Aufzüge unterteilt 5 Akte im klassischen griechischen Drama 3 Akte im italienischen, spanischen und portugiesischen Theater Akteinteilung erwächst nicht aus der Handlung, sondern erscheint von außen an diese herangetragen Akt v. a. als dramaturgische Einteilung Szene: eigentlich Schauplatz, Geschehen zwischen zwei Schauplatzwechseln (→ Shakespeares Szenenzählung) oder: Geschehen zwischen zwei Personenwechseln (→ v.a. frz. Klassik): heute stärker wirksam 2. DIE KLASSIZISTISCHE REGELUNG VON PERSONENZAHL UND AUFTRITTSFOLGE geht zurück auf das antike Drama, nur selten mehr als 3 Personen gleichzeitig auf der Bühne Dramatiker der Neuzeit befolgen dies meist, durchbrechen nur in Ausnahmefällen Kompromiss im Barock: stumme und redende Personen 3. KONVENTIONEN DER REDELÄNGE im antiken Drama oft sehr lange Reden, Gegenpol dazu: Zeilenrede mit regelmäßiger Abwechslung der sprechenden Personen (besonders in Streitreden) seit dem 18. Jhd. meidet man extrem lange / kurze Reden Verteilung des Redevolumens innerhalb eines Stücks: Gesprächsanteile erlauben Rückschlüsse auf die Aktivität einer Person 4. ZUR ANLAGE DER QUANTITATIVEN UNTERSUCHUNG Ziel: schnellere und differenziertere Erfassung des Textzusammenhangs Handlungsabschnitte, Auftritte, Äußerungen -3- 5. GESCHLOSSENE UND OFFENE FORM zwei unterschiedliche Arten: frz. Regeldrama mit pyramidischem Aktaufbau III II IV I V zum anderen: Drama nach Shakespeare Unterscheidung in offen und geschlossen (KLOTZ, 1960) geschlossenes Drama: Einheit und Handlung, Ort und Zeit Regeln der Personenverteilung (3 Pers. Regel) Verbot neuer Personen nach dem ersten Akt Ständeklausel, Einheitlichkeit des Redestils symmetrische oder sonst wie geometrische Komposition offenes Drama (nach Shakespeare) kennt diese Regeln nicht V. NEBENTEXT, EPISCHES UND DIE KOMMUNIKATION MIT DEM PUBLIKUM 1. BÜHNENANWEISUNGEN UND ANDERER NEBENTEXT Text des Theaterbesuchers v.a. Rede der Schauspieler Leser finden zusätzliche Informationen: Nebentext dazu gehören: Titel, Motto, Widmung, Vorwort, Abstract, Personenverzeichnis, Nummerierung der Handlungsteile, Bühnenanweisungen Bühnenanweisungen erst ab 1750 hier v.a. die Gefühlszustände der Personen im naturalistischen Drama: erreichen teilweise den Umfang breiter Erzählpassagen v.a. Beschreibungen des Milieus 2. DREI ARTEN DES EPISCHEN IM DRAMA je umfangreicher die Bühnenanweisungen werden, desto mehr nähern sie sich der Erzählliteratur. wörtliche Rede der Personen findet in der Figurenrede ihre Entsprechung in der Figurenrede kommt Episches in Form der verdeckten Handlung vor dem eigentlichen Erzählen entsprechen die Bühnenanweisungen was dem Drama fehlt sind unmittelbare Meinungsäußerungen des Autors / Erzähler 3. BEGRIFFLICHE SCHWIERIGKEITEN IM ZUSAMMENHANG DES EPISCHEN THEATERS episches Drama: - steuernde und urteilende Äußerungen eines „Erzählers“ - spezifisch theatralische, außersprachliche Verfahren zur Erlangung von Distanz - Distanz selbst (Mittel zur Kritik, Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse) -4- - offene Form, v.a. im Sinne eines räumlich und zeitlich breit gestreuten Stationendramas Brecht: „Mutter Courage“, „Der kaukasische Kreidekreis“ episches Theater nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck im eigentlichen Sinne episch: ausdrückliche Äußerungen eines über dem Geschehen oder abseits von ihm stehenden Erzählers → episches Theater sollte man nur dann sprechen, wenn ein „Erzähler“ vorkommt episches Drama S.56ff. 4. ARTEN DER KOMMUNIKATION IM DRAMA Kommunikation im Drama nicht nur auf Gespräch beschränkt (vgl. Episches Drama) Autor mit Publikum, beschränkt auf episches Theater Darsteller mit Publikum, v.a. im epischen Theater realisiert; Heraustreten aus der Rolle schafft Distanz Figuren innerhalb der Rolle mit Publikum, macht das Publikum zu Mitwissern (beiseite sprechen) Figuren miteinander, auch hier Kontakt mit Publikum (indirekt) bekanntester Stellvertreter des Autors in einem Stück: Chor allerdings fehlt der seit dem 18. Jhd. → ob Figuren die Meinung des Autors wiedergeben, kann nicht gesagt werden VI. DIE GESTALTUNG DER FIGURENREDE was und wie Figuren reden durch viele Faktoren bestimmt Ziele umgebende Situation Umstände der Verständigung (Kommunikation) persönliches Verhältnis der Gesprächspartner individuelle Denk- und Äußerungsstil jedes Redenden augenblickliche seelische Verfassung 1. DIE STRUKTURIERUNG DURCH REDEZIELE UND GESPRÄCHSTHEMEN größten Einfluss auf Inhalt und Form des Gesagten haben Redeziele und die hinter ihnen stehenden Beweggründe und Interessen normalerweise steuert ein Drama nicht direkt auf ein Ziel zu, die Personen bringen versch. Interessen ins Spiel → Dramen wirken lebendiger, abwechslungsreicher auch einzelne Figuren haben meist nicht nur ein Ziel, es lassen sich den Hauptzielen auch Zwischenziele und Methoden, die oft auch der Verheimlichung dienen zuordnen wichtige analytische Aufgabe: Zusammenspiel und Rangordnung der verschiedenen Ziele nachgehen im Gespräch treffen unterschiedliche Interessen und Perspektiven mehrerer Personen aufeinander Gespräch kann sich auf ein Thema beschränken, viele Auftritte behandeln jedoch mehrere Themen hintereinander -5- Themenwechsel sind die wichtigsten Anzeichen für eine Binnengliederung der Auftritte und die möglicherweise dahinter verborgenen kompositorischen Prinzipien (Steigerung, Rahmenform, Symmetrie) 2. DIE SITUATIONSGEBUNDENHEIT Themen und Redeziele werden durch Situationen ausgelöst, die gemeinsamen augenblicklichen Wahrnehmungen bzw. die sinnlichen Orientierungsfelder der Redenden Eigenart gegenüber allen anderen Textsorten: gesprochene Sprache hauptsächlich in der wahrnehmbaren Situation verankert → Dramensprache meist situationsinterner Art Situation liefert Gesprächsstoff, Situationsgebundenheit spiegelt sich auch in der Sprache sprachliche Deixis (Wörter, die auf etwas zeigen): ihre genaue Bedeutung erhalten die Wörter erst mit der Situation z. B. Demonstrativpronomina, -adverbien (dieser Dolch….) auch temporale (jetzt, gestern, morgen) und personale (ich, du, wir…) Deiktika Häufigkeit sprachlicher Deixis offenbart die Rücksicht auf die allgemeine Situationsgebundenheit des Dramas, allerdings auch gerne herangezogen als charakteristisches Kunstmittel eines Dramatikers (Shakespeare, Brecht, Hauptmann) oder einer Epoche (Barock) Anzahl der Zeigewörter in einem Auftritt ist ein Indiz für dessen Handlungsund Wirkungsintensivität Situation muss nur sprachlich verdeutlicht werden, nicht voll vermittelt Situationsgebundenheit dramatischen Sprechens äußert sich auch in der nur bruchstückhaften Erfassung der Situation viele elliptische, unvollständige Sätze, selten Adjektive (wahrnehmbares braucht keine Beschreibung) 3. MÜNDLICHKEIT, SPONTANEITÄT SPRACHE UND STÖRANFÄLLIGKEIT GESPROCHENER Situation und Kommunikation hängen eng zusammen gesprochene Sprache situationsgebundener als schriftliche gesprochene Sprache ist spontaner und störanfälliger Mündlichkeit eines Textes äußert sich in den Spuren, die der Sprechvorgang hinterlässt (Weglassung des unbetonten e; ich hab; oder Verschleifungen; Siehste) → selten auf der Bühne (bessere Verständlichkeit) auch Dialekt nur selten, da außerhalb des Gebietes schwierig Spontaneität geht dem Drama schon per definitionem ab, die Orientierung an den Ausdrucksmitteln spontanen Redens ist allerdings nicht ausgeschlossen Spontaneität äußert sich in loser Gedankenfolge, unfertigen Sätzen, phonetischen, lexikalischen und syntaktischen Versprechern, Selbstkorrekturen Störanfälligkeit: Redundanzen (Wiederholungen) erlauben dem Zuschauer, sich auch nach kurzer Abwesenheit wieder zurechtzufinden Verständnisschwierigkeiten von Gesprächspartnern wirken auf Außenstehende anders seit dem 19. Jhd. ist das Misslingen von Kommunikation nicht mehr nur lustig, sondern auch ernst zu nehmende, dauernde Gefährdung -6- 4. DIE BEZIEHUNG DER GESPRÄCHSPARTNER Kommunikation in erster Linie nicht Medium zum Austausch von Informationen, sondern Ausdruck mitmenschlicher Beziehungen Partnerbeziehung und Sprache korrespondieren nicht nur in der Fehlform, sondern auch bei geglückter Kommunikation Sprache von Dramenfiguren spiegelt nicht nur die allgemeine Auffassung des Autors zu mitmenschlichen Beziehungen wieder, sondern auch die Einstellung der jeweils redenden Person zum Gegenüber wichtig auch: sozialer Status v.a. bei Anrede (du; Sie) wirft Licht auf die gültigen Höflichkeitsregeln 5. DER REDESTIL DER PERSONEN Redeziele, Wahrnehmungssituation, Verständigungsumstände, Partnerbeziehung umreißen die konkrete Lage der redenden Personen Sprechweise (Stil) soll der Situation angemessen sein im Drama treffen unterschiedlich Stile aufeinander, je unterschiedlicher Figuren reden, desto einfacher kann man sie unterscheiden v.a. Komödiendichter stufen gerne stilistisch ab für die Ermittlung und Beschreibung der in einem Drama wirksamen personen-, gruppen- oder emotionsspezifischen Sprechweisen keine festen Regeln 6. PROBLEME DER DIALOGANALYSE Personen reden abwechselnd, ein dialogspezifisches Beschreibungssystem fehlt jedoch vorrangig sind Redewechsel und die Rede- oder Antwortanfänge v.a. Antwortanalysen: lässt der Antwortende seinen Partner ausreden; geht er auf ihn ein v.a. eine zurückblickende, auf die Reaktionen konzentrierte Betrachtung bleibt aber zu einseitig, es interessiert auch ihre provozierende, die Antworten fordernde Seite hier v.a. Mittel der Publikumszugewandtheit; Appellfiguren 7. DIE DRAMENSPRACHE ZWISCHEN RHETORISCHER KUNST UND NATÜRLICHKEIT fünf Faktoren gelten für Bühne und Alltag, Dramensprache ist jedoch eigen Natürlichkeit der Sprache findet ihre Grenze beim Autor und der Ausrichtung auf das Publikum erreicht nie Mündlichkeit, Spontaneität und Störanfälligkeit dann rhetorische Figuren, die im Drama konzentriert und systematisch vorkommen v.a. in den pathetischen Abschnitten der Tragödie Diskussion des 18. Jhd. über den Zusammenhang von Rhetorik und pathetischem Stil → Autoren versuchen natürlicher zu schreiben Lessing hält Metaphern für ein natürliches Stilmittel; seine Dramen gehorchen nicht mehr der Rhetorik der Einzelrede -7- 8. DER VERS IM DRAMA Vers markiert einen klaren Abstand von der natürlichen Sprache bis ins 19. Jhd. waren die meisten Dramen Versdramen jambischer Trimeter: sechs Hebungen, nicht gereimt, Vers endet stets männlich und beginnt mit einer Senkung Alexandriner: bei männlicher Endung 12, bei weiblicher 13 Silben Zäsur nach 6 Silben; beginnt mit Senkung, ist gereimt, 6 Hebungen Blankvers: Reimlosigkeit, beginnt mit Senkung, aber nur 5 Hebungen, endet männlich oder weiblich (10 oder 11 Silben) in den meisten Versdramen bleibt man bei einem Versmaß, bei der Analyse kommt es auf das Verhältnis der Redewechsel zu den Versgrenzen an im modernen Drama spricht man Prosa, hängt mit dem Streben nach Natürlichkeit zusammen 9. ZUSATZFUNKTIONEN DER FIGURENREDE AUFGRUND IHRER MONOPOLSTELLUNG Figurenrede ist das einzige Medium, von dem im Drama ausdrückliche Aussagen zu erwarten sind → Monopolstellung auf der Bühne wird manches in Worte gefasst, was sonst ungesagt bleibt, v.a. aber kommen Dinge zur Sprache, die sonst nicht so ausführlich gesprochen werden (Gedanken und Gefühle); Theater duldet keine Geheimnisse 10. DER MONOLOG Selbstgespräch, ohne Adressaten bietet den Figuren Gelegenheit, ihr Innenleben zu artikulieren kann auch die Abwesenheit eines Erzählers aufwiegen (epischer Monolog) Übergangsmonolog zur Verbindung der Auftritte Konfliktmonolog: eine Person zwischen zwei Positionen VII. DIE PERSONEN 1. VERFAHREN DER PERSONENDARSTELLUNG Figuren sind durch Figurenrede erkennbar, Vorstellung der Personen meist im 1. Akt Vorstellung: sprechende Namen (Komödien) Beobachtungen über das Verhalten einer Figur (indirekte Charakteristik) Beschreibung einer Figur durch einen anderen (direkte Charakteristik) direkte Form v.a. in klassischen Dramen indirekte Form eher modern, dort auch weniger Selbstcharkteristik -8- 2. EIGENSCHAFTSARTEN UND IHR VORKOMMEN IM DRAMA was macht eine Figur aus? Unterscheidung nach geistigen, charakterlichen Eigenschaften körperlichen Eigenschaften äußere Umstände (soziale Verhältnisse) Handlung zwingt die Personendarstellung weg von dieser Dreiteilung, gilt v.a. für Dramen, die ihre Handlung aus geistig-seelischen Faktoren entwickeln und deshalb v.a. Charaktere brauchen der visuellen Form ist die Übersetzung des ganzen Charakters einer Figur in das Erscheinungsbild geschuldet 3. DIE BEGRIFFE PERSON, FIGUR, CHARAKTER UND TYPUS Person: Mensch als geistiges Einzelwesen Figur: Geschöpf eines Autors, Kunstperson Charakter: bezeichnet nicht den ganzen Menschen, sondern nur seine geistige Escheinung nur deren konstante Merkmale, nicht den augenblicklichen Zustand Bedeutungsschwerpunkt hat sich verschoben: vom Moralisch-Normativen zum Deskriptiven; vom Typischen zum Individuellen Typus: abstrahiert, beinahe unbegrenzt wiederholbar (Commedia dell’Arte) 4. WERTMAßSTÄBE BEI ARISTOTELES UND NEUERE BEWERTUNG DER CHARAKTERE Dramencharaktere bis heute von A. beeinflusst 4 Forderungen an die Tragödie: Charakter einer Dramenperson soll mit deren sozialer Rolle, der geschichtlichen Überlieferung und mit sich selbst übereinstimmen Charaktere sollen „edel“ sein ersten drei haben auch außerhalb der Tragödie Geltung, die letzte verbindet moralische und ständische Bewertung Veränderungen des alten, ständischen Ordnungssystems führen dazu, dass sich die Helden vom bewunderten zum ständisch und moralisch durchschnittlichen umorientieren (fehlerhafte Helden) Analyse: 1. nichtmoralische Besitzwerte materieller, körperlicher oder geistiger Art 2. moralische Verhaltensweisen 3. Sympathie erweckende Verhaltensweisen und Eigenschaften 4. Faszination -“Urteile über eine Person selten einhellig 5. DIE PERSONENKONSTELLATION UND IHR EINFLUSS AUF DIE EIGENSCHAFTEN Eigenart einer Figur wird durch die Konstellation aller Figuren mitbestimmt Personenkonstellation kann meist in einer Skizze festgehalten werden erkennbar meist schon aus dem Personenverzeichnis -9- 6. DIE PERSONEN ALS VERKÖRPERUNGEN VON HANDLUNGSFUNKTIONEN Handlung bestimmt das Bild der Figuren Personen mit ihren verschiedenen Eigenschaften lassen sich als Verkörperungen von Funktionen begreifen, die im Rahmen des Handlungsablaufs zu besetzen sind (Modell von Souriau) - zielgerichtete Kraft: das in einer Person inkorporierte Streben nach einem Ziel (Liebe, Ehrgeiz, Macht…) - das gewünschte Gut: das Gut nach dem (1) strebt, das Gut braucht nicht verkörpert zu sein, kann auch unpersönlich sein (Herrschaft) - der gewünschte Erwerber: um die Person, für die (1) nach (2) strebt - Der Gegner - Situationsmächtige: Personen, die den Konflikt zwischen (1) und (4) entschärfen kann - der Helfer: meist der heimliche Komplize, nicht immer nötig allerdings auf moderne, konfliktlose Texte nicht anwendbar VIII. EXPOSITION UND VERDECKTE HANDLUNG Anfang für Dramatiker schwierig, wenn er auf auktoriale Eingriffe verzichten will Textanfänge bieten sich für Analyse an Exposition: schwieriger Begriff 1. SEPARATER PROLOG UND HANDLUNGSINTERNE EXPOSITION Exposition im 18. Jhd. aus dem frz. übernommen Theorie aus dieser Zeit: urspr. prägnant die den Theaterstücken voranstehende oder im Prolog enthaltene Inhaltsangabe in diesem Zusammenhang eine Darlegung Dramatiker der Neuzeit verzichteten auf die Vorrede (handlungsexterne Exposition) und verwendeten eine handlungsinterne Exposition es spricht nicht mehr eine auktoriale, der Handlung enthobene, Person, sondern eine oder mehrere Figuren Gegenstand nun nicht mehr eine Inhaltsangabe, sondern die Voraussetzungen der Handlung separate Form gilt als geringwertig, da ein „epischer“ Bericht nicht ins Drama gehöre und die Bekanntgabe der Lösung die Spannung zerstöre heute: beinahe nur integrierte Form, im Ggs. zum Prolog, einer separaten Form der Eröffnung Komödie hatten eher externe Expositionen, Tragödien eher interne 2. AUFGABE UND GEGENSTÄNDE DER EXPOSITION Aufgabe: bevorstehende Bühnenhandlung und deren Verständnis beim Publikum vorzubereiten vielfach ist der 1. Akt die Exposition, dieser soll das Fundament der Handlung enthalten - 10 - v.a. Vorgeschichte und Hauptpersonen mit ihren Interessen und ihren Beziehungen sollen vorgestellt werden Exposition eine Eigenart des klassischen, geschlossenen Dramas ergibt sich aus der Einheit der Zeit Exposition der Charaktere: v.a. Vorstellung der Figuren 3. WIDERSPRÜCHLICHE AUFFASSUNGEN ZUR EXPOSITION BEIM OFFENEN DRAMA anfangs bescheinigten Schiller u.a. Shakespeare eine mustergültige Exposition, heute ist die Forschung genau anderer Meinung offenes Drama gekennzeichnet durch das Fehlen einer Exposition (allerdings benötigt auch das offene Drama ein geringes Maß an Exposition) 4. DIE ERSTRECKUNG DER EXPOSITION im klassischen Drama: endet mit dem ersten Akt, kann aber auch noch im 2. Akt vorhanden sein u.a. wegen dem Bedürfnis, gegnerische Parteien getrennt vorzustellen im 20. Jhd. Exposition im gesamten Stück, anfangs in größerer Konzentration Binnenexposition: gibt die Exposition für das ganze Stück frei, ohne auf seine relative Anfangsfixierung zu verzichten 5. DER ERÖFFNUNGSDREISCHNITT VON DRAMATISCHEM AUFTAKT, EXPOSITION UND „ERREGENDEM MOMENT“ EIGENTLICHER Exposition nur Teil des Anfangs, der 1. Akt enthält auch den Anstoß für die eigentliche Handlung (→ erregendes Moment) Exposition geht dem erregenden Moment voraus vorausgeht ein dramatischer Auftakt, eine einleitender Akkord fällt oft zeitlich mit der Exposition zusammen Auftakt hat nicht die Aufgaben, Vorkenntnisse zu vermitteln, sondern ist Köder, um Aufmerksamkeit zu erregen Auftakt sinnenhaft ausgestattet, um den Zuschauer zu ködern und deshalb besonders erinnerungskräftig → geeignet für prognostische Signale (vorwiegend außersprachlicher Art) 6. BERICHTETE BZW. VERDECKTE HANDLUNG wenn Exposition die Vorgeschichte aufarbeitet, entlastet sie die Bühnenhandlung, dazu kommen noch andere Verfahren Geschehen des Dramas auch nach der Eröffnung nicht ganz dargestellt, es gibt weiterhin Handlungsteile, die nur berichtet werden es geht jedoch nicht um epische Erläuterungen, sondern um Berichte seitens der Figuren klassische Formen: Botenbericht und Mauerschau Botenbericht schließt Lücken, stiftet Verbindungen (behandelt bereits Vergangenes) oft auch durch Brief übermittelt - 11 - Mauerschau (Teichoskopie) bezieht sich Vorgänge, die außerhalb der Bühne geschehen, eine Figur unterrichtet das Publikum im älteren Drama oft kompakte, lange Reden; im neuen Drama dialogisch aufgelockert, geht allerdings zu Lasten der Information die berichteten Teile sind weniger wichtig als die gespielten Entscheidung, etwas indirekt darzulegen aber nicht nur von Wichtigkeit geprägt, sondern auch von externen Beschränkungen manches würde die Einheit von Raum und Zeit sprengen, anderes nur schwer darzustellen verdeckte Handlung: optisch nicht präsentes Bühnengeschehen hinterszenisch hörbare Ereignisse folgenden Arten der Handlungsdarbietung: - optisch-akustische Inszenierung auf der Bühne - hinterszenisch hörbare Realisierung in Art einer Hörspielpassage - Bericht über Gleichzeitiges (Mauerschau) - Bericht über zwischendurch Geschehenes (Botenbericht) - Exposition der Vorgeschichte Aufteilung des dramatischen Stoffes in gespielte und berichtete, oder auch in optisch präsentierte und verdeckte Handlung hat entscheidende Bedeutung für die Struktur IX. WISSENSUNTERSCHIEDE Nachricht über ein Ereignis ersetzt nicht die Nachricht selbst, es fehlt die sinnliche Unmittelbarkeit; Nachricht kann vorausgehen, hinterher hinken und das Ereignis vielleicht verzerrt wiedergeben Dramatiker nutzen dies, um die Wissensunterschiede zwischen Publikum und Figuren sowie zwischen den Figuren selbst herauszustellen → Drama ist nicht nur Handlungsfolge, sondern auch mehrspektivischer Wissensprozess dramentypische Erscheinungen und Begriffe: handlungsübergreifend (Vorausdeutung, dramatische Ironie) und handlungsintern (Intrige, Anagnorisis, analytisches Drama) 1. DIE VORAUSDEUTUNG ALS MITTEL DRAMATISCHER SPANNUNG ZUSAMMENHANG MIT MANTISCHEM GLAUBEN UND IHR dramatische Spannung im Sinn von Neugier kommt nur auf, wenn sich die weitere Entwicklung abzeichnet, dazu muss die Zukunft in Teilen vorweg genommen werden Vorausdeutung kann als Teil der Exposition gesehen werden v.a. aus der Erzählforschung: Vorausdeutungen des Erzählers (subjektiv) und Vorausdeutungen aus der Handlung (objektiv) auktoriale Vorausdeutung im Drama jedoch kaum bekannt (Ausnahme: episches Drama) aber auch Dramatiker können zukunftsgewiss vorausdeuten: handlungsintern durch Träume, Ahnungen, Prophezeiungen handlungslogische und mantische Vorausdeutung: - 12 - handlungslogisch ergibt sich genetisch-kausal aus der zurückliegenden Handlung: Absichtsbekundungen, Pläne, Wünsche, Schwüre, aber auch Taten, die ihre Fortsetzung in sich tragen (Zeugung eines Kindes, Verbrechen) mantisch: setzt auf Prophezeiungen und zukunftsträchtige Zeichen, Garant ist eine übersinnliche Macht geäußert v.a. durch autorisierte Medien wie Seher oder Priester mantische Zukunftsgewissheit hängt vom Glauben des Publikums ab (→Problem, aber auch für Geschichte des Dramas interessant) dramatische Werke, die mit Mantik arbeiten, stammen häufig aus Zeiten starken religiösen und magischen Glaubens bis ins 17. Jhd. hinein konnten sich Dichter auf den Glauben ihres Publikums verlassen, im 18. Jhd. ging der Glaube an die Magie deutlich zurück (im Barock noch bekannt, in der Aufklärung albern) Problem für die Dramatiker, denn es nicht leicht Ersatz zu finden nach Gottsched kaum noch Geister und Zauberer, dennoch mantische Elemente, aber deutlich verändert → Träume, bzw. Traumberichte; diese machen dann düsteren Ahnungen und angstvoll-melancholischen Stimmungen Platz Naturerscheinungen (Gewitter…) als Unterstützung Propheten manchmal auch als soziale Außenseiter dargestellt, um sie erträglich zu machen 2. ZUSAMMENFASSENDES ÜBER ARTEN DER VORAUSDEUTUNG eine vierte Art der Vorausdeutung (nach erzählerischer, handlungslogischer und mantischer) ist die durch standardisierte Kurzmittel symbolisierte Zukunft meist darstellerisch bezeichnet auf der Bühne schwerer zu vermitteln als mit der Kamera Arten der Vorausdeutung unterscheiden sich nach Art der Geltungsgrundlage Kenntnis des später zu Erzählenden seitens des Erzählers logisches Weiterdenken der jeweiligen Lage mantischer Glaube ästhetische Konvention 3. DIE DRAMATISCHE IRONIE am Anfang des Dramas weiß der Zuschauer weniger als die Figuren; Exposition verringert diesen Wissensrückstand und dann gewinnt das Publikum stetig an Wissensvorsprung Tragödie: Zuschauer erkennt oft hinter scheinbar unverfänglichen Äußerungen eine gezielte Anspielung auf die spätere Katastrophe → tragische Ironie auch in der Komödie bekannt: etwas für den Sympathieträger Unangenehmes wird vom Publikum als nur scheinbar schlimm durchschaut allgemein: dramatische Ironie 4. INTRIGE UND VERSTELLUNG auch innerhalb der Figuren gibt es Wissensunterschiede, wichtig sind die, die auf Verheimlichung oder aktiver Täuschung beruhen - 13 - Intrige: raffiniert ausgedachtes, hinterrücks durchgeführtes Manöver zum Zwecke der Übertölpelung des Gegners (oft auch zur Trennung von Freunden) Intrigant hat sich in der Neuzeit zu einem eigenen Rollenfach entwickelt v.a. in Komödien intrigieren mehrere Parteien gleichzeitig Erscheinungsformen: weit gefächert, unterschieden v.a. nach ihrer moralischen Beurteilung und der Frage, ob der Intrigant eigenen oder fremden Interessen dient moralisch ambivalent: Komödie v.a. guter Zweck, nämlich Liebesglück der Helden Tragödie: Intrige verursacht schlimmes Ende (böser Intrigant schadet nicht nur anderen, sondern auch sich selbst) positive oder negative Qualität v.a. durch das Ziel bestimmt; aber auch die Mittel haben ihre Qualität sympathischer Intrigant: eine im Weg stehende Opposition wird ausgetrickst schlimmer Intrigant: arbeitet auch mit Gewalt gute Intriganten: seit Menander Sklaven oder Bedienstete verfolgen keine eigenen Interessen und helfen meist den jungen Herrschaften Tragödie: Affekte und Emotionen treiben die Akteure zu schlimmen Plänen allerdings finden sich auch in Komödien Intriganten, die für ihre eigenen Wünsche Intrigen spinnen Intrigant: oft loyale Untergebene ihres Herrn, im Sinne des schlimmen Helfers ein heruntergekommener Höfling höfischer Intrigant: personifiziertes Angriffsziel gegenhöfischer Kritik meist einem tyrannischen Herrscher beigegeben, erfindet er die Mittel um diese Herrschaft zu festigen 5. GLIEDERUNGSBEGRIFFE IM ZUSAMMENHANG VON WISSENSUNTERSCHIEDEN Intrige als absichtliche und damit prägnanteste Form dramatischer Verwicklung besetzt in der neuzeitlichen Theorie den Platz, der früher der Verwicklung zukam Aristoteles: tragische Handlung als Knüpfung und Lösung eines Knoten Einleitung, Verwicklung, Lösung seit der Renaissance wurde versucht diese Dreiteilung mit der Fünfzahl der Akte zu verbinden in der Neuzeit überlagerten teilweise Symmetrieüberlegungen die inhaltliche Einteilung (mittlerer dritter Akt tritt in Konkurrenz mit der Lösung) 6. ANAGNORISIS UND PERIPETIE nach Aristoteles garantieren Peripetie (Glückswechsel) und Anagnorisis (Entdeckung, Enthüllung) den Übergang von Verwicklung und Auflösung 7. DAS ANALYTISCHE DRAMA Anagnorisis kann sehr plötzlich auftreten, wenn etwa zwei lange getrennte Personen ihre Verwandtschaft erkennen oder sich lange hinziehen (häufig bei sehr komplexen Verbindungen) analytisches Drama eine einzige Anagnorisis: ein vor Stückbeginn liegendes Geschehen wird aufgeklärt (König Ödipus) - 14 - Vorgeschichte gehört zum analytischen Drama, aber man erfährt sie nicht vorher, sondern erst im Laufe des Dramas, oft komplett erst am Schluss im analytischen Drama erstreckt sich die Exposition auf das ganze Stück (einige Forscher) oder es hat überhaupt keine (BANTEL) X. ASPEKTE DES HANDLUNGSZUSAMMENHANGS Gegenstand des Dramas sind Handlungsketten, welche Kräfte treiben Handlung an? Teilaspekte: darstellerische Verteilung auf gespielte und verdeckte Handlung (VIII), Abhängigkeit des Verlaufs vom Wissen der Personen (IX) 1. DER RANGSTREIT ZWISCHEN HANDLUNG UND CHARAKTEREN Streitfrage: Gebührt der Handlung oder den Charakteren der Vorrang? unterschiedliche Beantwortung zu unterschiedlichen Zeiten Aristoteles: Handlung wichtiger, oft sind Charaktere nur Funktionäre der Handlung (in VII beschriebene handlungsfunktionale Personenanalyse) Neuzeit: ehre gegenteilige Praxis (Shakespeares Charaktertragödien; Molières Charakterkomödien) allmähliche Höherbewertung des Charakters verlangt eine differenziertere Bestimmung Lessing unterscheidet nach Komödie und Tragödie Komödie Charakter Tragödie Handlung Rangstreit blieb auch im 19. und 20. Jhd. eine Hauptfrage 2. TYPOLOGISIERUNGEN IM UMKREIS VON CHARAKTER UND HANDLUNG Charakterdrama: Schauspiele, in denen die Charaktere die Handlung an Wichtigkeit übertreffen, sind nicht automatisch Charakterdramen meist steht ein Charakter im Mittelpunkt, der alle anderen in den Schatten stellt Charakter nicht nur Hauptsache im Stück, sondern auch Hauptursache der Handlung Handlungsdrama: Handlung als Hauptsache, aber nicht Ursache Ursache: Schicksal, Intrigen, Situationen Dramentypen gruppieren sich um eine dominante Handlungsursache, eine solche monokausale Betrachtung wird allerdings der dialogischen Form des Dramas nicht gerecht 3. PARTEIEN- UND URTEILSKONFLIKT Konflikt als Kernstück der meisten Dramenhandlungen (allerdings keine ausgeprägte literarische Konflikttheorie) drei Unterscheidungen: Konflikt als offene Auseinandersetzung, als rhetorische Auseinandersetzung, die Erweiterung vom Parteien- zum Urteilskonflikt - 15 - Parteienkonflikt: zwei oder mehr Parteien streiten sich um ein Wertobjekt (Frau, Macht, Besitz) Urteilskonflikt: Konkurrenz mehrerer Wertvorstellungen, zwischen denen ein Richter entscheiden muss Parteien- und Urteilskonflikt oft verbunden 4. DER INNERE KONFLIKT auch als psychischer Konflikt bezeichnet seit Goethe nachweisbar (Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Konflikt) diese Unterscheidung überdeckt die von Parteien- und Urteilskonflikt Parteienkonflikt immer ein äußerer, Urteilskonflikte können, müssen aber nicht innere Konflikte sein Entscheidung auf die der innere Konflikt zusteuert: im einfachsten Fall ja oder nein, meist aber die Wahl zwischen mehreren qualitativ unterschiedlichen Alternativen konkurrieren können: eigene Wünsche fremde, als unangenehm empfundene Forderungen, bei deren Nichterfüllung noch unangenehmere Konsequenzen drohen überindividuelle Verhaltensnormen (Pflichten, Ideale) Konflikt kann sich innerhalb eines Bereichs entzünden, aber auch zwischen den Bereichen Erläuterungen meist moralisierend auf den Gegensatz von Pflicht und Neigung besondere Komplikationen: wechselseitige Abhängigkeit zwischen konkreten Interessen (Wünsche, Forderungen) und allgemeinen oder rollenspezifischen Normen Szenen mit inneren Konflikten oft Höhepunkt der Dramen, Zuschauer kann sich mit der Figur identifizieren Interesse wächst in dem Maße, in dem die widerstreitenden Beweggründe auch für einen selbst wichtig werden Problem der Darstellung: Gedanken sind nicht wahrnehmbar, müssen geäußert werden (→ Konfliktmonolog) 5. HISTORISCHE KONFLIKTTYPEN häufige Konfliktkonstellationen: verfeindete Brüder, Frauenraub, verletzte Gattenehre, Inzest, herkunftsbedingter Liebeskonflikt, Mann zwischen zwei Frauen, Vater-Sohn-Konflikt… namentlich fixierte Sujets: Don Juan, Medea, Ödipus… gesellschaftlichen und geistigen Probleme der Zeit färben auch auf die Wahl der Handlungen, speziell der Konflikte ab unterschiedliche zeitspezifische Typen - antike Schicksalstragödie: gespanntes Verhältnis zwischen Göttern und Menschen; Menschen tappen im Dunkeln, Götter beanspruchen einen Wissensvorsprung - Psychomachie (MA): Seelenkampf oder Kampf um die Seele; christliche Tugenden und heidnische Laster treten als Allegorien gegeneinander an - 16 - - höfisches Drama (17., 18. Jhd.): Standartkonflikt zwischen Ehre und Liebe bürgerliches Trauerspiel: spiegelt wachsendes Selbstbewusstsein der Bürger gegenüber dem Adel wieder bewusstseinanalytisches Drama: teilweise mit dem antiken Schicksalsdrama verwandt 6. DIE KAUSALITÄT GALOTTI DES HANDLUNGSVERLAUFS, SPEZIELL IN LESSINGS EMILIA wie hängen die Handlungsteile zusammen? Aristoteles erhebt die Forderung nach der Einheit der Handlung als Verknüpfung von Begebenheiten, Handlung soll wahrscheinlich wirken 17., 18. Jhd.: möglichst umfassende Motivation der Stoffe durch psychische oder äußere Beweg-Gründe S.151ff. Lessing verknüpft die einzelnen Fakten sehr bedacht, eine Ursache hat mehrere Wirkungen, aber auch eine Wirkung mehrere Ursachen 7. DIE ANTINOMIE VON FREIHEIT UND NOTWENDIGKEIT NACH KANT Kritik der Kausalität als Denkzwang durch die Aufklärung großer Einfluss Kants auf die Dramentheorie Schillers Beziehung von Freiheit und Notwendigkeit verschärft sich bei Schiller zum tragischen Konflikt Zusammenspiel von Notwendigkeit und Freiheit, von Fremd- und Selbstbestimmung, von Schicksal und Charakter und auch von Schicksal und Schuld zum Hauptthema der deutschen Tragödie des 19. Jhd. 8. BEGRIFFSPAARE ZUR ABSTUFUNG DER HANDLUNG bisher: Dramentypen aufgrund dominanter Faktoren, Konfliktaspekte, Überlegungen zu Zusammenhang zwischen Motivation und Verknüpfung der Handlung einfache und verflochtene Handlung: Aristoteles schreibt den Dramen mit Peripetie und Anagnorisis eine verflochtene Handlung zu Handlungskern, -schema: Aristoteles stellt sich den Herstellungsprozess so vor, dass zuerst die Grundzüge entworfen werden und dann mit Episoden aufgefüllt werden Haupt- und Nebenhandlung: v.a. für Dramen mit mehreren Handlungssträngen Handlungskern bzw. –schema und komplette Handlung Rohstoff und literarisch gestalteter Stoff XI. DAS DRAMA ALS SINNZUSAMMENHANG Sinn, den der Autor hinter dem Drama zusammenführt die Elemente der Figurenrede, die den vom Autor intendierten Sinn am ehesten verbürgen - 17 - 1. SENTENZEN UND REFLEXIONEN Sentenz: v.a. Attribut der Tragödie von allgemeiner, den Augenblick und den Einzelfall übergreifender Bedeutung (Oh, ein Fürst hat keinen Freund!) Lebensweisheiten, menschlich bedeutend (Die Katze lässt das Mausen nicht.) nicht bloße Behauptungen des Sprechers, sondern Ausdruck herrschenden Kollektivbewusstseins Verhaltensregeln, teilweise mit hohen moralischen Forderungen; oft kritischer, spöttischer Ton seit dem 18. Jhd. moralische Weisheiten seit der Antike als rhetorisches und poetisches Mittel; Höhepunkt in der Barockzeit geht auch zurück auf die Vorstellung von „erfreuen und belehren“ 2. WERTUNGEN UND WERTE Figuren und ihr Tun werden im Laufe des Dramas positiv oder negativ bewertet, v.a. durch Adjektive und deren Substantivierungen 3. SYMBOLE, VIELSAGENDE METAPHERN UND ANDERES MEHRDEUTIGE Sinnträger, die ihren Sinn eher verheimlichen Symbol: Erkennungssymbole wie geschlechtsspezifische Kleidung, Uniformen... literarische Symbole: Rose (Emilia Galotti) Metapher 4. DER „EIGEN-SINN“ POETISCHER FORM ikonischen Charakter hat am ehesten die Bauform der Akte und Szenen Anfang-Schluss-Entsprechungen deuten auf ein geordnetes Weltbild… 5. HISTORISCHES KOLLEKTIVBEWUSSTSEIN UND LITERARISCHE EINFLÜSSE Faktoren, deren Sinnanteil so unausdrücklich ist wie der der Symbole und Formelemente, die aber nicht dem Text angehören, sondern nur in ihn hineinragen Dinge, die der Autor bei dem ins Auge gefassten Publikum als bekannt voraussetzt → Gegenstandsbereich des Kollektivbewusstseins (historischsozialer Kontext) Personen, Institutionen, Ereignisse der Zeitgeschichte; ästhetische, moralische, ideologische Normen; Sprache zum besseren Verständnis auch die für den Autor bestimmenden literarischen Einflüsse, v.a. die konkreten Quellen wenn vorhanden, auch alternative Fassungen eines Dramas 6. DER LEITENDE SINN BZW. ZWECK meist hat ein Drama einen beherrschenden Sinn, er sorgt für die gedankliche und künstlerische Einheit des Stücks - 18 - Sinn ist vielleicht eine Lehre, Aussage, Gehalt oder Idee Tendenzcharakter des Dramas: v.a. marxistische Dramatiker und Interpreten Konkurrenz von Ideen- und Tendenzdrama darf nicht verhindern, dass es auch nichtlehrhafte Arten eines leitenden Zwecks gibt weder Aristoteles noch Lessing sahen in den Tragödien lehrhafte Stücke, es ging vielmehr um die Reinigung von Jammer und Schaudern auch Komödien kaum lehrhaft hauptsächlich wirksame Unterhaltung 7. DIE HANDLUNG UNTER DEM GESICHTSPUNKT DER SINNERFÜLLUNG Sinn des Dramas ist achronisch, anders als die diachronische Handlung Handlung und Sinn dauernd in Gefahr, unverträglich zu sein Maßstab der Sinnerfüllung ist das Verhältnis von realem und idealem, d.h. moralisch optimalem Handlungsverlauf bzw. –ausgang - sympathische Helden unterliegen, siegen aber am Ende: Handlungsschema der meisten Komödien, auch Romane; Happy End für die Zuschauer meist schon früh absehbar; Gefahr hier Vorstufe für eine glücklichen Ausgang Forderung nach poetischer Gerechtigkeit in der Aufklärung auch für das ernste Drama - moralische Ausgleich erfolgt nicht auf Erden, sondern im Himmel: leidender Held findet Trost in der Hoffnung auf höhere Gerechtigkeit nach dem Tod; Ertragen von Leid als moralische Bewährungsprobe - Schwierigkeiten der Guten und ungerechte Macht werden nicht überwunden; mit ihrer Darstellung verbindet sich die Aufforderung an das Publikum, die bestehenden Verhältnisse zu ändern - moralische Korrektur der Wirklichkeit kommt weder durch die Handlung noch durch die Hoffnung auf übersinnliche Gerechtigkeit oder Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck; erschöpft sich in Worten und einem Gefühl der Ohnmacht; Untergang des Helden spiegelt ein sittlich-heroisches oder tragisch-pessimistisches Weltbild Erfüllung bzw. Nichterfüllung des finalen Handlungssinns ist die Hauptgrundlage für den lehrhaften Sinn, für die Idee oder die Tendenz des jeweiligen Dramas Für das Drama bleibt festzuhalten: Erfundenes, nur scheinbar wahres Geschehen herrscht vor, ohne ihm wesensnotwendig zu sein. Angeboren ist ihm, aufgrund seines Rollenspielcharakters nur die Identitätsillusion bzw. -fiktion - 19 -