Grundkurs Deutsche Literatur, 8. Stunde Das Drama Im Gegensatz zur Epik, deren gattungsspezifisches Merkmal das Auftreten eines Erzählers ist, der das Geschehen dem Rezipienten (Leser) vermittelt, gilt für das Drama das Prinzip der Unmittelbarkeit der Darstellung: Das Geschehen vollzieht sich in demselben Moment, in dem es rezipiert wird. Die auftretenden Figuren werden in ihrer äußeren Erscheinung nicht beschrieben, sondern vom Zuschauer unmittelbar wahrgenommen, ihre Sprechart von keinem Medium charakteririsiert oder kommentiert, wie wirkt vielmehr direkt auf den Hörer ein; dasselbe gilt für den Habitus, die Gestik, das Mienenspiel. Über das Innere der Figuren erhält der Zuschauer (oder Dramenleser) Aufschluss über den Monolog oder Dialog. Für den Leser eines Dramas kommen die Regieanweisungen des Autors hinzu. Geschichtlicher Exkurs In der deutschen Literaturgeschichte ist das Drama erst recht spät aufgetaucht. Im Hochmittelalter gab es noch kaum eine dramatische Dichtung. Im Spätmittelalter beginnt die Entwicklung, gespeist aus zwei Quellen: den Passionsspielen und den Fastnachtsspielen. Bei einem Passionsspiel wird die Leidensgeschichte Jesu von Schauspielern dargestellt, ein Fastnachtsspiel ist meist ein Schwank (ein kurzes, lustiges Stück mit derbem Humor). In England hat sich die dramatische Dichtung früher und schneller entwickelt (mit Shakespeare, Marlowe). Englische Wanderbühnen tauchen ab dem 16. Jahrhundert auch in Deutschland auf und regen hier die Gründung von deutschen wandernden Theatertruppen an. Die Stücke werden in provisorischen Buden vor den Städten aufgeführt und häufig mit Kunststücken (Jongleuren, Feuerschluckern, akrobatischen Einlagen) „angereichert“. In fast allen Stücken (auch Tragödien) tritt zudem eine lustige Person und Spaßmacher auf: der Handwurst. Im Jahre 1730 geht Johann Christoph Gottsched daran, dass deutsche Theater zu reinigen. Er will es zu einer Bildungsstätte für das gehobene Bürgertum machen. Er verbannt (verbrennt) den Hanswurst und säubert das Theater von den volkstümlichen komischen Elementen. Er fordert strikte Einhaltung der drei Einheiten aus der Poetik des Aristoteles (Einheit von Raum, Zeit und Handlung). Bei Gottsched herrscht bezüglich des Dramas noch Gattungspurismus. Es gibt zunächst zwei Gattungen der dramatischen Dichtung: die Tragödie (das Trauerspiel) und die Komödie (das Lustspiel). Gottsched legt die so genannte Ständeklausel fest: Eine Komödie kann auch von einfachen Menschen (Bürgern oder Bauern) handeln, in der Tragödie aber sollten hochgestellte Persönlichkeiten (Könige, Fürsten, Feldherren, große Künstler) die Helden (Protagonisten) abgeben. Das hat mit der dramatischen Fallhöhe zu tun: Nur eine hochgestellte Person kann tief fallen, was den Zuschauer erschüttert und zur Katharsis führt. Gotthold Ephraim Lessing hat sich über diese Regeln hinweggesetzt: Er schreibt unter anderem die ersten bürgerlichen Trauerspiele (Emilia Galotti, Miss Sara Sampson), und er schreibt ein Stück, das weder eine Tragödie noch eine Komödie ist (Nathan der Weise). Er selbst bezeichnet dieses Stück als „dramatisches Gedicht“; wir würden es heute einfach „Schauspiel“ nennen. Der Begriff Schauspiel kann sowohl als Oberbegriff für die dramatischen Gattungen verwendet werden als auch als Begriff für ein Theaterstück, das sich zwischen Tragödie und Komödie ansiedelt. Für eine Tragödie ist der tragische Konflikt typisch, der sich daraus ergibt, dass der Held „schuldlos schuldig“ wird. Dieser Konflikt kann nicht gelöst, sondern höchstens im Tod aufgehoben werden. Der junge Johann Wolfgang Goethe hat sich in seinem Stück Götz von Berlichingen über die drei aristotelischen Einheiten hinweggesetzt: das Stück spielt an vielen Orten, die Szene wechselt dauernd usw. Ein Drama untergliedert sich meist in Akte (Aufzüge) und Szenen (Auftritte). Das abendländische Drama war zunächst gegliedert in drei Akte. Das klassische Drama wurde erweitert auf fünf Akte. Dabei ergab sich folgendes Gliederungsschema: 1. Akt = Einleitung, Exposition: Vorstellung der Figuren und der Figurenkonstellation; 2. Akt: = steigende Handlung, Steigerung der Verwicklung, beginnender Konflikt (Epitasis), 3. Akt = Höhepunkt, 4. Akt = Umschlag der Handlung (Peripetie) in Glück oder Unglück und „fallende Handlung“, 5. Akt = Katastrophe, Rettung oder Lösung. Dieses Gliederungsschema gilt für die Normalform eines Dramas, das so genannte Entfaltungsdrama (das synthetische Drama), bei dem sich die Handlung vom Beginn aus entwickelt. Eine andere Form ist das Enthüllungsdrama (das analytische Drama), bei dem wesentliche Teile der Fabel schon vor Beginn des Stückes passiert sind; im Stück werden dann die Faktennach und nach enthüllt. In der Vergangenheit liegenden Ursachen werden wirksam und führen häufig zur Katastrophe (oder zur Lösung). Beispiele: Sophokles: König Ödipus, Kleist: Der zerbrochene Krug). Besondere Mittel der Dramentechnik: Mauerschau (Teichoskopie) und Botenbericht. Durch diese Mittel können Vorgänge geschildert werden, die sich auf der Bühne schwer darstellen lassen: zum Beispiel Schlachten, Seeschlachten etc. Offenes Drama und geschlossenes Drama: Das offene Drama bietet nur einen Ausschnitt und lässt den Schluss offen (weder Katastrophe noch Lösung). Häufig in der modernen Dramendichtung. Naturalistisches Drama: Formel: Kunst = Natur – x. Die Realität sollte so authentisch wie möglich auf die Bühne gebracht werden. Die Handlung spielt häufig im proletarischen Milieu, die Schauspieler sprechen Dialekt oder Slang. Episches Theater: Eine Theaterform, in der versucht wird, das Theater durch die Einführung eines Erzählers zu „episieren“. Dies geschieht in der antiken Tragödie etwa durch den Chor. Dabei steht das epische Theater im Gegensatz zum dramatischen (bzw. aristotelischen) Theater, welches das Ziel verfolgt, den Zuschauer durch Einfühlen in das Gesehene zu läutern (Katharsis). In der Geschichte des deutschsprachigen Theaters ist das epische Theater vor allem mit den Namen Erwin Piscator und Bertold Brecht verbunden. Brecht hoffte, das Publikum durch seine Stücke zum kritischen Denken anregen zu können. Brecht wollte ein Theater, das den Zuschauer eher zum distanzierten Nachdenken und Hinterfragen anregt als zum Mitfühlen. Zu diesem Zweck „verfremdete“ und desillusionierte er das Spiel absichtlich, um es als Schauspiel gegenüber dem wirklichen Leben erkennbar zu machen (Brecht nannte dies den Verfremdungseffekt). Mit Verfremdungseffekten sollte die Illusion, die das klassische Theater anstrebt, zerstört werden. Die Zuschauer sollten von dem Stück nicht mitgerissen, sondern dazu gebracht werden, über es nachzudenken, zu reflektieren. Absurdes Theater: Theater des Absurden, (von lateinischem absurdus = ‚misstönend‘) Bezeichnung für Dramen, in denen die menschliche Existenz als absurd dargestellt wird. Um das Darstellungsziel zu erreichen, werden neue antiillusionistische Ausdrucksformen erprobt. Eine fortschrei- tende, psychologisch motivierte Handlung findet nicht statt, die Figuren machen keine Entwicklung durch und erscheinen als Automaten oder Marionetten; die Sprache wird bis zum Verstummen reduziert und hat, Ausdruck für die Entfremdung des Menschen und die Sinnleere der Existenz, ihre kommunikative Funktion verloren. Beispiele: Samuel Beckett, Eugène Ionescu. Tragikomödie: Der Schweizer Friedrich Dürrenmatt entwickelt sein eigenes Konzept der Tragikomödie: Tragisches und Komisches sind keine Gegensätze mehr, sondern sie sind identisch. „Man möge vor Grausen erstarren, doch die Lachmuskeln zucken zugleich.“ Dürrenmatt hat in seiner Rede „Theaterprobleme“ (1954) die Tragikomödie für die einzig mögliche Bühnengattung in unserer Zeit erklärt. Wie er meint, ist unsere Welt anonym und unüberschaubar geworden. Es gibt keine Handlungsfreiheit mehr, keine Verantwortung und keine persönliche Schuld. Folglich kann es auch keine Helden mehr geben und keine Tragödie. Er kommt zu dem Schluss: „Uns kommt nur noch die Komödie bei.“ Das Tragische hat sich in die Komödie zurückgezogen, wo wir es finden „als einen schrecklichen Moment, als einen sich öffnenden Abgrund“. Beispiel: Die Physiker (1961). Entwicklung des deutschen Theaters in den sechziger Jahren: Rolf Hochhuth erneuert mit seinem Stück Der Stellvertreter die Funktion des Theaters als „moralische Anstalt“ (in Anlehnung an Friedrich Schillers Aufsatz „Die Schaubühne als moralische Anstalt“). Anders als Dürrenmatt ist er Ansicht, dass es auch in der modernen Zeit noch persönliche Schuld und Verantwortung gebe. Hochhuths Stück führt zugleich hin zum Dokumentartheater, das Mitte der sechziger Jahre seinen Höhepunkt erlebte. Das dokumentarische Theater behandelt historische oder aktuelle politische oder soziale Ereignisse. Dabei fungieren juristische oder historische Reportagen, Berichte, Dokumente sowie Interviews als Quellen. Obwohl authentisches Material übernommen und in der Regel unverändert wiedergegeben wird, handelt es sich dennoch um eine Kunstform. Beispiel: Peter Weiss: Die Ermittlung (1965), ein Theaterstück, das aus Materialen der Frankfurter AusschwitzProzesse zusammengesetzt ist. Hörspiel: Neue dramatische Form seit Erfindung und Verbreitung des Rundfunks. Eigenen Gesetzen gehorchend, wie nur auf den Hörraum beschränkt. Ein Hörspiel ist einerseits begrenzter als das Bühnenspiel andererseits „entgrenzter“, denn der Hörspielautor kann ohne störende Brüche die Szene wechseln und auch die irreale Welt (Traum, Vision) mit einbeziehen. Im akustischen Raum stoßen nur Stimmen und Geräusche aufeinander; er kennt kein Miteinander der Personen wie der sichtbare Raum, keine Gleichzeitigkeit, sondern nur ein Nacheinander der Stimmen. Höhepunkt in den 1950 Jahren. Beispiel: Günter Eich: Träume (1953) Volksstück: Am Anfang stand der dramatische Schwank: ein volkstümliches Lustspiel mit derbem Humor und Situationskomik. Das alte Wiener Volkstheater wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Ferdinand Raimund und Johann Nestroy erneuert. 1931 schrieb Ödön von Horvarth sein Stück Geschichten aus dem Wienerwald, das das Wiener Volkstheater weiterentwickelte und zugleich eine Parodie desselben darstellte: Gezeigt wird die Gemeinheit und Böshaftigkeit des Kleinbürgertums. Der bayerische Dramatiker Franz Xaver Kroetz hat vor allem in den siebziger Jahren Volksstücke mit sozialkritischem Gehalt geschrieben. Formen in Verbindung mit Musik: Oper, Operette, Musical Moderne Formen: Film, Fernsehspiel. Auch für Filme und Fernsehspiele gilt ein Hauptcharakteristikum des Dramas: die Unmittelbarkeit. Natürlich gilt für diese beiden Gattungen jedoch eine ganze Zahl von anderen Regeln und Gesetzmäßigkeiten als für das traditionelle Drama, das auf der Theaterbühne aufgeführt wird.