Körper, Kultur und Behinderung - Eine Einführung in die

Werbung
Markus Dederich
Körper, Kultur und Behinderung
DISABILITY STUDIES • KÖRPER – MACHT – DIFFERENZ • BAND 2
Editorial
Die wissenschaftliche Buchreihe Disability Studies: Körper – Macht – Differenz untersucht ›Behinderung‹ als historische, soziale und kulturelle Konstruktion; sie befasst sich mit dem Wechselspiel zwischen Machtverhältnissen und symbolischen Bedeutungen. Die Reihe will neue Perspektiven
eröffnen, die den medizinischen, pädagogischen und rehabilitationswissenschaftlichen Umgang mit ›Behinderung‹ korrigieren und erweitern. Sie
geht aus von Phänomenen verkörperter Differenz. Fundamentale Ordnungskonzepte, wie sie sich in Begriffen von Normalität und Abweichung,
Gesundheit und Krankheit, körperlicher Unversehrtheit und subjektiver
Identität manifestieren, werden dabei kritisch reflektiert.
Im Horizont gesellschaftlicher Entwicklungen will die Buchreihe Disability Studies zur Erforschung zentraler Themen der Moderne beitragen:
Vernunft, Menschenwürde, Gleichheit, Autonomie und Solidarität.
Disability Studies: Körper – Macht – Differenz wird für die Aktion Mensch
herausgegeben von Anne Waldschmidt (Internationale Forschungsstelle
Disability Studies, Humanwissenschaftliche Fakultät, Universität Köln),
gemeinsam mit Thomas Macho (Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften, Humboldt-Universität Berlin), Werner Schneider (Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Augsburg) und Heike
Zirden (Aktion Mensch, Bonn).
Der Autor dieses Bandes:
Markus Dederich (Dr. phil.) ist Professor für Theorie der Rehabilitation
und Pädagogik bei Behinderung an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Universität Dortmund. Seine Forschungsschwerpunkte sind:
(Bio-)Ethische Fragen im Kontext von Behinderung, Probleme von Inklusion und Exklusion, Disability Studies.
Markus Dederich
Körper, Kultur und Behinderung
Eine Einführung in die Disability Studies
DISABILITY STUDIES
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2007 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages
urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.
Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld
Umschlagabbildung: Oswald Tschirtner, »Menschen«;
© Art/Brut Center Gugging, 2007
Lektorat: Annette Wunschel, Sylvia Zirden, Berlin
Herstellung: Justine Haida, Bielefeld
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
ISBN 978-3-89942-641-0
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de
Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an
unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung
................................................................
9
1. Disability Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Warum Disability Studies? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ein neues Forschungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Entwurf einer kulturwissenschaftlichen Perspektive . . . . . . . . . . . .
Ein neues Verständnis von Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sprachkritik und Begriffspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Disability Studies und Not-Disability-Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Interne Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
2. Körperdiskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Körpergeschichte und Körpersoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die abendländische Kultur und der Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wissen, Macht, Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ein Schlüsselbegriff: Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Repräsentation und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Körper als Medium der Wahrheit und
Matrix der Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Theorien
17
21
26
32
42
48
51
54
57
60
68
73
76
79
Repräsentationen
3. Fragmente einer Körpergeschichte des Monströsen . . . . . . . . . . . . . .
Kulturelle Ordnungen und außerordentliche Körper . . . . . . . . . . . .
Die Naturalisierung des Monströsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die wissenschaftliche Lehre von den Missbildungen . . . . . . . . . . . .
Die Ikonographie des Grotesken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Monstrositäten und die Frage nach dem Menschen . . . . . . . . . . . . .
Die Teratologie und der Freak-Diskurs des 19. Jahrhunderts . . .
Das Ende der Schaumedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Textkörper und Körpertexte: Behinderung in der Literatur . . . . . . . .
Die Konstruktion von Behinderung in
literarischen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
KörperTexte I: Stoff und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
KörperTexte II: Metaphern und Prothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
KörperTexte III: Außen und Innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Exkurs: Andere Lesarten, andere Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
85
89
92
97
99
100
103
107
107
112
114
119
122
Konstruktionen
5. Behinderung zwischen Norm und Normalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Norm und Normalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Eine normalismustheoretische Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . .
Selbstnormalisierung. Das Beispiel Pränataldiagnostik . . . . . . . . .
Normalismus und Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
6. Körperkonstruktionen und leibliche Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die kulturelle Produktion des behinderten Körpers
und der gelebte Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der leibphänomenologische Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Behinderung: Konstruktion und Verkörperung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Schädigung und Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143
127
132
137
139
143
149
152
156
166
7. Außerordentliche Körper, Kultur und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Biowissenschaften und Biomedizin im Diskurs
der Disability Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ein biologisches Modell von Behinderung –
Konzept und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Intrinsische und zugeschriebene Werte des Körpers . . . . . . . . . . . .
Aspekte einer Ethik des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ausblick: Eine erweiterte Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169
Literaturverzeichnis
195
.....................................................
169
174
178
182
190
Einleitung | 9
Einleitung
Hinter dem Begriff Disability Studies verbirgt sich eine in den USA und
England seit gut zwanzig Jahren existierende, in Deutschland hingegen
noch sehr junge wissenschaftliche Disziplin, die sich kritisch mit »Behinderung« auseinandersetzt. Zentral geht es dabei um die besondere Situation von Menschen, bei denen körperliche, kognitive, sprachliche, emotionale oder Verhaltenseigenschaften als negativ andersartig wahrgenommen
werden; auf der Grundlage tradierter wissenschaftlicher Leitdifferenzen
erscheinen diese Eigenschaften als Dysfunktionen, Pathologien oder Anomalien.
Warum dieses Thema? Die Beschäftigung mit dem, was heute als Behinderung bezeichnet wird, ist ebenso wie eine spezifische Aufmerksamkeit für behinderte Menschen spätestens seit Beginn der Aufklärung ein
zwar peripherer, aber dennoch fester Bestandteil der europäischen Kultur.
Das Interesse an Behinderung war dabei von Anfang an tief ambivalent.
Die im späten 18. Jahrhundert einsetzende institutionalisierte Hilfe für Behinderte war teils sozial-karitativ, teils medizinisch-kurativ und teils pädagogisch motiviert. Zugleich war und ist sie in soziale, gesellschaftliche und
politische Bezüge eingebettet und spiegelt die epochalen gesellschaftlichen,
sozialen, politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Veränderungen und Umbrüche der vergangenen gut zweihundert Jahre. Sie hat in ihrer wechselhaften Geschichte eine ganze Reihe von Spezialdisziplinen, Berufen und Institutionen hervorgebracht: die Psychiatrie, das System der
Behindertenhilfe, Sonderschulen, spezielle Pädagogiken, Ausbildungsgänge auf Fachschul- und Hochschulniveau mit spezialisierten Professuren,
ein einflussreiches System von Verbänden, eine ganze Wohlfahrts- und
Rehabilitationsindustrie und einen bunten Strauß von Professionen, die
mit der Erziehung, Förderung, Therapie, Begleitung, Beratung oder Assistenz von behinderten Menschen befasst sind. Die Basis dieser institutionellen Ausbreitung und Etablierung eines Netzwerks rehabilitativer, pädagogischer und therapeutischer Hilfen bildet im europäischen Kulturraum ein
10 | Körper, Kultur und Behinderung
sozial, politisch und ethisch motiviertes Inklusionsgebot, das im Zeitalter
der Aufklärung entstanden ist und sich seitdem schrittweise ausgebreitet
hat. Doch wie die Geschichte zeigt, konnte dieses durchaus wirksame Inklusionsgebot die in unserer Kultur verankerten Tendenzen zur systematischen Ausgrenzung, Benachteiligung und teilweise sogar Verfolgung und
Vernichtung behinderter Menschen nicht nur nicht beheben; es trägt vielmehr selbst, etwa durch institutionelle Spezialisierungen, zur Ausformung
neuer Exklusionsbereiche in der Gesellschaft bei. Insofern haben wir es
gegenwärtig mit einer zwiespältigen Situation zu tun. Es gibt positive Entwicklungsansätze in vielen Bereichen, etwa bei der integrativen Beschulung oder auf grundgesetzlicher Ebene, wo ein Diskriminierungsverbot
festgeschrieben ist. Zugleich aber wird Behinderung häufig als individuelles oder gesellschaftliches Problem wahrgenommen, das es zu »überwinden« gilt. Eine selbstverständliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist in unserer Gesellschaft nach wie vor die Ausnahme.
Von Behinderung im weitesten Sinne sind in einem Land wie der BRD
ca. 10 Prozent der Bevölkerung betroffen. Nach Rosemary Garland-Thomson ist Behinderung sogar »vielleicht die grundlegendste menschliche Erfahrung; jede Familie ist davon berührt, und wenn wir lange genug leben,
wird jeder von uns einmal behindert sein« (Garland-Thomson 2003: 422).
Mit dieser Tatsache kontrastiert – trotz des bestehenden Inklusionsgebotes
– die eigentümliche Erfahrung, dass »Behinderung als Kategorie der Identität und menschlichen Erfahrung zum großen Teil aus dem kulturellen
Bewusstsein und Gedächtnis gelöscht« (ebd.) wurde. Behinderte werden
immer noch als Randgruppe erfasst, müssen vielfach Benachteiligung und
Diskriminierung in Kauf nehmen und sind im gesellschaftlichen Leben
ebenso wie im öffentlichen Raum nur sehr eingeschränkt präsent. Die Zuspitzung der ökonomischen Probleme der Gesellschaft, die Zunahme von
dauerhafter Arbeitslosigkeit und der Um- und Abbau staatlicher Sicherungssysteme im Zeichen der Privatisierung und der eigenverantwortlichen Risikoprophylaxe setzen insbesondere benachteiligte Bevölkerungsteile unter Druck; diese Faktoren haben das Potenzial, zu neuen Marginalisierungen und Ausgrenzungen zu führen.
Damit sind nur einige Eckpunkte der gegenwärtigen Situation von
Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft genannt. Die nachfolgenden Ausführungen wollen zu Erkundungen in einer differenzierten,
theoretisch anspruchsvollen und spannenden Theorie- und Diskussionslandschaft einladen, die sich dieser Situation auf unterschiedlichen Wegen
nähert. Diese Wege will ich am Leitfaden einiger grundsätzlicher Fragen
beleuchten: Was sind und was wollen die Disability Studies? Wofür treten
sie gesellschaftlich und politisch ein? Welches sind die Kernthemen dieses
neuen Forschungsansatzes? Welche Sichtweisen, Modelle und Theorien
zum Komplex »Behinderung« legen die Disability Studies vor? Gegen welche Positionen grenzen sie sich ab? Welcher Stellenwert wird dem Körper
Einleitung | 11
zugemessen? Hier rücken Fragen nach gesellschaftlichen und kulturellen
Körperbildern, nach Körpernormen und Normkörpern, nach Vorstellungen
von Pathologie, Anomalie und Abweichung sowie deren historische Variabilität in den Mittelpunkt. Schließlich versuche ich darzustellen, wie die
Disability Studies Prozesse der Herstellung von »Normalität« analysieren
und welche Positionen sie in aktuellen biowissenschaftlichen Diskussionen
beziehen. Dabei geht es auch um Impulse zu einer Weiterentwicklung der
Humanwissenschaften, die möglicherweise von den Disability Studies ausgehen können.
Es ist nicht der Anspruch dieser Einführung, dieses sehr komplexe und
heterogene Forschungsfeld erschöpfend darzustellen. Tatsächlich können
zahlreiche Themengebiete, zu denen in den vergangenen Jahren Arbeiten
entstanden sind, nicht einmal erwähnt werden. Vielmehr sollen einerseits
grundlegende Themen, Positionen und Probleme der Disability Studies
herausgearbeitet und in einen theoretischen Zusammenhang gebracht
werden; andererseits wird exemplarisch vorgeführt, wie bereichsspezifische
Fragestellungen – hier aus der Körpergeschichte der Monstrositäten, der
Literatur und der Biomedizin – für eine Weiterführung und Vertiefung der
theoretischen Grundlagen fruchtbar werden können. Es soll deutlich werden, wie Grundlagenreflexionen und stark spezifizierte Perspektiven im
Bereich der Disability Studies ineinandergreifen. Hieraus ergibt sich folgender Aufbau:
Im ersten Kapitel werden die wichtigsten Fragestellungen und Themen
der Disability Studies, ihre Diskussion des Behinderungsbegriffs sowie
ihre Abgrenzung gegenüber anderen, ebenfalls mit Behinderung befassten
wissenschaftlichen Disziplinen skizziert; dabei wird die Bedeutung kulturhistorischer und kulturwissenschaftlicher Perspektiven für neuere theoretische Modellierungen von Behinderung gezeigt.
Mit der Thematisierung des Verhältnisses von Körper, Kultur und Behinderung entfaltet das zweite Kapitel eine weit verbreitete These der neueren, kulturhistorisch und kulturwissenschaftlich orientierten Disability
Studies, die besagt, dass die Wahrnehmung und Deutung von spezifischen
körperlichen Phänomenen als »Behinderung« untrennbar von variablen
gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Rahmenbedingungen sind,
ja dass diese Bedingungen die »Behinderung« erst hervorbringen. Im
Zentrum dieser historischen und sozialen Konstitution (und Transformation) von Behinderung steht der Körper. In einer für diese Position repräsentativen Formulierung von Garland-Thomson heißt es: Die »neuen«
Disability Studies »analysieren das Durchsetztsein der materiellen Welt mit
Bedeutung. In diesem Sinne ist Behinderung eine Geschichte, die wir über
Körper erzählen.« (Garland-Thomson 2003: 419) Aus heutiger Sicht erweist sich Behinderung zunehmend als historisch wandelbares Bedeutungsphänomen, das an Diskurse, Wissen und Machtpraktiken gebunden
ist. Diese organisieren sich um körperliche Merkmale und Eigenschaften
12 | Körper, Kultur und Behinderung
von Individuen oder Populationen. Das Hauptinteresse dieser jüngeren
Behinderungsforschung besteht demzufolge darin, solche hochkomplexen
Prozesse zu rekonstruieren und kritisch zu analysieren. Sie fokussiert den
geschichtlich und kulturell situierten Körper und fragt zugleich, wie das
über ihn hervorgebrachte Wissen zur Erzeugung anthropologischer
»Wahrheiten« herangezogen wird, wie es sich in Repräsentationen, Institutionen und Praktiken verdichtet und normativ getönte, hierarchische Differenzen zwischen Menschen hervorbringt.
Auf den bisher entwickelten Grundlagen führt das dritte Kapitel in die
Geschichte der Monstrositäten und in den »Freak«-Diskurs des 19. Jahrhunderts ein. In zwei historischen Umbruchsphasen – dem Zeitalter der
Aufklärung und dem Ende des Ersten Weltkrieges – werden Metamorphosen der Wahrnehmung und Deutung von Behinderung rekonstruiert. Solche Veränderungen spiegeln übergreifende Umorientierungen und Neuausrichtungen in den Wissenschaften vom Leben, die ihrerseits eng mit
gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen verbunden
sind. Im Rahmen dieser Kontextualisierung folge ich vor allem der Frage,
wie die Naturwissenschaften in ihrer ersten Blütezeit im 19. Jahrhundert
neue Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit, Behinderung und Abnormität hervorgebracht und zu einem neuen Bild vom Menschen beigetragen
haben. Ein wichtiges Element dieses Prozesses sind mediale und öffentliche Repräsentationsformen »außerordentlicher Körper«.
Das vierte Kapitel stellt einen weiteren Themenkomplex der Disability
Studies vor: die Repräsentation von Behinderung und Behinderten in der
Literatur. Dabei werde ich mich auf drei Aspekte konzentrieren, die es besonders nachvollziehbar machen, wie Behinderung in der Literatur hervorgebracht, interpretiert und mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen
wird: das Verhältnis von Stoff und Sprache, die Funktion von Metaphern
und Prothesen sowie unterschiedliche Konstruktionen von »Innen« und
»Außen«, etwa im Verhältnis der äußeren Erscheinung und dem »inneren
Wesen« eines Individuums.
Nach den Exkursen in die historische und literarische Körpergeschichte
widmet sich das fünfte Kapitel der Klärung der Begriffe »Norm« und
»Normalität« sowie ihrer jeweiligen Bedeutung für die Konstruktion von
Behinderung. Beide Begriffe sind im Behinderungsdiskurs allgegenwärtig;
anders als in vielen Diskussionen sollen sie hier jedoch theoretisch deutlich
voneinander abgegrenzt werden. Darüber hinaus untersuche ich am Beispiel der Pränataldiagnostik, inwiefern normalismustheoretische Fragestellungen auch die Analyse konkreter gesellschaftlicher Problemfelder und
Diskussionszusammenhänge vorantreiben können.
Nachdem zuvor die These von der Historizität und Kulturalität des
Körpers entwickelt wurde, wird im sechsten Kapitel eine innerhalb der Behinderungsforschung kontrovers diskutierte Anschlussthese vorgestellt,
derzufolge auch das Konzept der Schädigung als Konstrukt gelten muss.
Einleitung | 13
Dieses für den gesamten Behinderungsdiskurs brisante Thema wird in
Form einer kritischen phänomenologischen Gegenthese entfaltet. Am Beispiel der Schmerzerfahrung werden problematische Vereinfachungen einer einseitig konstruktivistischen Orientierung vor Augen geführt.
Anknüpfend an die Überlegungen zum Phänomen des Schmerzes wird
im letzten Kapitel der Bezug zu den Biowissenschaften der Gegenwart hergestellt. Sie bilden ein einflussreiches gesellschaftliches Feld, in dem
höchst kontroverse Positionen aufeinanderprallen. Da die biomedizinische
Forschung Fortschritte in der diagnostischen, präventiven und therapeutischen Behandlung von Krankheiten und Behinderungen in Aussicht stellt,
ist sie von größtem Interesse für die Disability Studies. Die durch die Biowissenschaften vertretene und forcierte »Ethik des Heilens« ist allerdings
teilweise ideologisch geprägt, und eine Ideologie der Leidensvermeidung
führt rasch zu der Schlussfolgerung, Behinderung sei ein durch gezielte
Prävention oder Intervention zu verhinderndes Übel. Damit erscheinen die
Biowissenschaften trotz aller mit ihnen verbundenen Hoffnungen und
Verheißungen als potenzieller Nährboden für eugenisch gefärbte Diskriminierungs- und Ausgrenzungstendenzen, die Menschen mit Behinderungen schaden oder sogar unmittelbar gefährden können. Hinzu kommt,
dass der molekularbiologische Blick auf den Körper, der für die Biowissenschaften konstitutiv ist, ein radikal anderes Bild vom Menschen zeichnet
als etwa die Sozial- und Kulturwissenschaften. So stehen auch die biowissenschaftlichen Modelle von Behinderung in einem schroffen Gegensatz
zu entsprechenden sozialen oder kulturellen Modellen, wie sie in den Disability Studies vertreten werden. Mit der Frage, inwieweit mit Körperteilen
bzw. Körperfunktionen verbundene Werte intrinsisch oder zugeschrieben
sind, wird der Diskussionsfaden aus dem vorangehenden Kapitel im Kontext der Biowissenschaften erneut aufgerollt. Dabei werden gesellschaftliche, politische und kulturelle Argumentationslinien skizziert, die sich gegen eine biologistische Reduktion des Körpers wenden.
Eine Anmerkung voraus: Um die Lektüre zu erleichtern, habe ich die zahlreichen Zitate aus englischsprachigen Texten ins Deutsche übertragen.
Herunterladen