Erläuterungen zu: Forrester, Jay W.: World Dynamics (MIT-Press, 1971) Wolf Dieter Grossmann, Vorlesung Qualitative Systemwissenschaft Graz WD ist ein Klassiker unter den dynamischen Systemmodellen, an denen eine Reihe von Problemen der Modellierung sowie Probleme der Anwendung besonders gut gelernt werden können. WD sowie das darauf aufbauende World 3 („W3“) von Meadows, Meadows u.a. haben eine weltweite Diskussion über „Grenzen des Wachstums“ ausgelöst (so der Titel des von Donella Meadows und Ko-Autoren geschriebenen Buches). Allgemein gelten die Aussagen der Forrester-Meadows Gruppe heutzutage als falsch. Dies gilt für drei Bereiche. 1) Anfang der 1970er Jahre – zur Zeit der ersten Weltmodelle – wurde erwartet, dass auf der Erde in absehbarer Zeit 30 Milliarden Bewohner leben würden. Diese Bevölkerungsexplosion ist ausgeblieben, statt dessen sinken in fast allen Ländern der Erde die Geburtenraten unter die Rate ab, die zur Erhaltung der Bevölkerungszahl notwendig wäre, bzw. sind schon unter diese Rate abgesunken. Die Bevölkerungswissenschaftler, die von der UNO mit Prognosen betraut werden, erwarten schon seit Anfang der 1990er Jahre einen globalen Bevölkerungshöchststand von 8.5 – 9.5 Milliarden Menschen; zeitweise wurde sogar eine Maximalzahl von 7.5 Milliarden erwartet. 2) WD und W3 haben den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt zu niedrig eingeschätzt. Statt einer Bevölkerungsexplosion besagen die Daten der letzten 40 Jahre, dass Explosion von Wissen und Können erfolgt. Die Verdoppelungszeiten menschlichen Wissens werden immer kürzer. 3) WD und W3 unterschätzten die Erfolge in der Umweltpolitik. Zur Zeit von WD, W3 waren die großen Seen der USA, die meisten großen Flüsse in Europa oder die österreichischen vom Tourismus geschätzten Seen alle stark bis sehr stark verschmutzt. Nun sind fast alle diese großen Gewässer soweit wiederhergestellt, dass Lachse aus Themse und Elbe gemeldet werden und die Seen in Österreich oft schon Trinkwasserqualität erreichen. Das Ozonloch, das zur Zeit von WD/W3 noch unbekannt war, scheint sich nicht mehr zu vergrößern und dies Problem scheint etwas schneller überwunden zu werden als prognostiziert. Wenn jedoch globaler Klimawandel sich tatsächlich als so schwerwiegendes Problem herausstellt, wie dies eine Reihe von Wissenschaftlern aussagen, wären die sehr negativen Umweltentwicklungen in WD/W3 bestätigt. Beispielsweise wurden jüngst im Klimasystem eine Reihe von potentiellen positiven Feedbackprozessen erkannt, die das Klimaproblem sehr rasch zu einer außerordentlichen Bedrohung machen könnten: CO2-Gehalt in arktischen Böden ist 100x größer als zuvor gedacht – dieses CO2 wird beim Abtauen des Permafrost freigesetzt und vergrößert den Treibhauseffekt. Sehr große Mengen von Methanhydrat in tiefen Ozeanen könnten bei weiterer Erwärmung freigesetzt werden und zu einer sehr rapiden, sehr starken Erwärmung führen. Gleichwohl ist der derzeitige globale Zustand in WD/W3 nur unter sehr günstigen, als fast unmöglich erachteten Policies zu beobachten. Einige Beobachter sprechen WD/W3 einen erheblichen Anteil an dieser positiven Entwicklung zu. Hier beschränken wir uns darauf, dass WD ein gutes Modell zum Lernen von systemdynamischer Modellierung und von Anwendungsproblemen dynamischer Modelle darstellt. 1 WD hat fünf Zustandsvariable: • • • • • Population Capital Capital in agriculture fraction Natural resources Pollution Diese wirken auf vielfältige Weise zusammen. Bevölkerung wirkt durch Geburten und Sterbefälle auf sich selbst zurück. Bevölkerung erhöht das Wachstum des Kapitalstocks, der auch autokatalytisch wächst (vermittels des „capital investment multiplier“). Dies entspricht der Cobb-Douglas-Funktion der Wirtschaftswissenschaften in der ursprünglichen Form, wo Kapital und Arbeit beide die Produktion und damit das Einkommen und damit letztlich die Investitionen bestimmen. Wachsende Bevölkerung wirkt über die Bevölkerungsdichte („crowding“) auf sich selbst beschränkend zurück (fallende Geburtenzahl, zunehmende Sterblichkeit). Dies wird durch die beiden Multiplier „birth crowding multiplier“ sowie „death crowding multiplier“ bewirkt. INITIAL TIME Figure 1: Faktoren, die zur Kapitalbildung beitragen Time births deaths Population population initial material standard of living capital investment capital investment multiplier (Anmerkung: Graphik mit „causes tree“ in Vensim erzeugt) capital investment mult tab capital investment rate normal capital investment rate normal 1 switch time 4 Bevölkerung und Kapital tragen beide zur Pollution bei (über die Flußvariable pollution generation). Pollution wirkt auf sich selbst zurück, da steigende Pollution die natürliche Selbstreinigungskraft vermindert und schließlich blockiert (dies geschieht durch die Variable „pollution absorption time“, die auf die Flußvariable „pollution absorption“ einwirkt). Die natürlichen Ressourcen bestehen letztlich aus zwei Typen: den in der Landwirtschaft erzeugten und den nicht erneuerbaren, die als „natural resources“ bezeichnet werden. Die Ernährungssituation hängt von der Bevölkerungszahl, der verfügbaren Fläche und dem in der Landwirtschaft investierten Kapital ab. Die Ernährungssituation („food ratio“) wirkt ihrerseits auf die Geburten- und Sterbezahlen zurück. Steigende Bevölkerungszahlen entziehen der Landwirtschaft Fläche; genauso wie steigender Wohlstand, der den spezifischen Flächenbedarf pro Kopf erhöht. Der Wohlstand („material standard of living“) wird von der Bevölkerung und dem investierten Kapital bestimmt (Kapital/Bevölkerung) und wirkt seinerseits auf die Geburtenund Sterbezahlen zurück, die beide mit steigendem Wohlstand fallen („birth from material multiplier“ sowie „death from material multiplier“). 2 Die Ernährungssituation (food ratio) bestimmt wiederum den Anteil des investierten Kapitals in der Landwirtschaft, der sich bei günstigerem food ratio vermindert und bei verschlechtertem food ratio erhöht. Insgesamt enthält WD eine Reihe von Abhängigkeiten, die in unserer Welt nachgewiesen wurden, und die es in geschickter Weise darstellt. WD bietet eine beachtliche Zahl von Policies an, wie Verminderung der spezifischen Geburtenrate, Erhöhung der Menge der nicht erneuerbaren Ressourcen (hier nicht näher spezifiziert, aber erhöhte Forschung kann Ressourcen aufspüren) usw. Letztlich werden die Wirkungen fast aller Policies durch Rückkopplungen kompensiert, so dass die unheilvolle Dynamik von Ressourcenerschöpfung, Bevölkerungswachstum und zunehmender Pollution schließlich zu einem massiven Bevölkerungssterben führt und diese Entwicklung zu einem Vegetieren auf niedrigem Niveau führt. 3 births material mult tab <material standard of living> Population & Food deaths pollution mult tab death rate normal death rate normal 1 <pollution ratio> switch time 3 <Time> birth rate normal birth rate normal 1 switch time 1 <Time> Population births births material multiplier deaths deaths pollution multiplier births pollution multiplier births pollution mult tab deaths material multiplier population initial births food multiplier births crowding multiplier births food mult tab <pollution ratio> deaths crowding multiplier crowding land area population density normal births crowding mult tab <food crowding mult tab> food crowding multiplier food pollution multiplier food pollution mult tab food ratio deaths crowding mult tab deaths food multiplier deaths material mult tab deaths food <material standard of mult tab living> capital agriculture fraction indicated tab capital agriculture fraction indicated <Time> switch time 7 food coefficient food coefficient 1 food per capita potential <capital ratio agriculture> food per capita normal food per capita potential tab Figure 2 The subsystem “Population“ in Forrester’s World Dynamics 4 capital investment rate normal capital investment rate normal 1 Capital & Quality of Life switch time 5 capital depreciation normal <Time> capital depreciation normal 1 switch time 4 <Time> Capital capital investment capital initial capital investment multiplier capital investment mult tab capital depreciation capital ratio <crowding> quality crowding <food ratio> mult tab quality food mult tab <Population> material standard of living capital agriculture fraction normal capital ratio agriculture quality crowding multiplier quality food multiplier effective capital ratio normal effective capital ratio <naturalquality resource extraction multiplier> <natural resource extraction material multiplier> mult tab quality material multiplier capital investment fromquality ratio quality pollution multiplier quality of life Capital Agriculture Fraction <pollution ratio> quality pollution mult tab quality of life normal capital <capital capital <quality food capital agriculture investment multiplier> agriculture fraction fraction adjustment agriculture time fraction initial indicated> quality ratio tab Figure 3: The subsystems “Capital” and“Capital in Agriculture” Anmerkungen: • es besteht eine positive Einwirkung von „quality material multiplier“ zu „quality of life“, die hier nicht gut sichtbar ist. • grau gekennzeichnete Variable („shadow variables“) sind in einem anderen Blatt definiert und werden hier als Stellvertreter aufgeführt, die zwar selber ändern, die aber nicht hier geändert werden können (Bsp. Population, pollution ratio, crowding, food ratio, quality food multiplier). Shadow variables werden erstellt mit dem Symbol eines schräg nach oben zeigenden Pfeils; befindet sich rechts im Vensim-Program neben dem Symbol für Flußvariable. 5 Pollution & Natural Resources switch time 6 <Time> pollution per capita normal 1 pollution per capita normal Pollution pollution generation pollution absorption pollution initial pollution absorption time pollution capital multiplier pollution capital mult tab pollution ratio <capital ratio> pollution standard natural resource fraction remaining natural resource extraction multiplier natural resource extraction mult tab pollution absorption time tab <Population> switch time 2 <Time> Natural Resources natural resources initial natural resource utilization nat res matl multiplier <material standard of living> natural resource utilization normal 1 natural resource utilization normal natural resource material mult tab Figure 4: The subsystems “Natural Resources” and “Pollution” Figure 5: Mit zunehmendem pollution ratio (xAchse, Werte von 0 bis 60) steigt die Zeit, die notwendig ist, um eine Pollution-Einheit abzubauen. Current pollution absorption time tab 20 15 10 5 0 Die Zustandsvariable pollution wird zur Ermittlung des pollution ratio mit der normalen 0 Hintergrundbelastung („pollution standard“) so normiert, dass der anfängliche Wert von pollution ratio ca. 0.05 beträgt, also sehr gering ist. Normierung erlaubt die Verwendung von handlichen Werten. 30 -X- 60 Verwendung von multipliers in Forresters World Dynamics: Die Geburtenzahl wird durch vier Multiplier beeinflusst, siehe auch Figure 6: birth material multiplier birth crowding multiplier birth food multiplier birth pollution multiplier 6 INITIAL TIME Time (births) deaths Figure 6: Faktoren, die die Geburtenzahl („births“) bestimmen. Population population initial birth rate normal birth rate normal 1 crowding births crowding multiplier births crowding mult tab births food ratio births food multiplier births food mult tab material standard of living births material multiplier births material mult tab pollution ratio births pollution multiplier births pollution mult tab switch time 1 Jeder von diesen Multiplikatoren beeinflusst die Geburtenrate (zunächst) unabhängig von der Wirkung der anderen Multiplikatoren: zunehmende Bevölkerungsdichte („crowding“, xAchse) verringert die Geburtenzahl, siehe Figure 7, da die Geburten mit diesem Multiplikator multipliziert werden: Current Figure 7Births from crowding multiplier Current births food mult tab 2 1.5 1 0.5 0 0 2 -X- 4 births crowding mult tab 2 1.6 1.2 0.8 0.4 0 2.5 -X- 5 Figure 8: Birth from food multiplier, x-Achse: food ratio Ganz analog verändert (hier erhöht) eine zunehmende Verfügbarkeit von Nahrung pro Kopf (food ratio) die Geburtenrate durch Multiplikation mit dem „birth food multiplier“, Figure 8. 7 Der in WD unterstellte Zusammenhang zwischen materiellem Lebensstandard (material standard of living, d.h. Pro Kopf Einkommen) wird in Figure 9 dargestellt. Current Figure 9: Zusammenhang zwischen materiellem Lebensstandard (x-Achse) und Geburtenzahl births material mult tab 2 1.65 1.3 0.95 0.6 0 2.5 -X- 5 Geringes Einkommen führt zu höherer Geburtenzahl als normal; der multiplier ist für x <1 größer als 1; für x = 1 ist er 1, und fällt dann allmählich auf den Wert 0.7. In der Realität scheint steigendes Einkommen die hier als normal unterstellte Geburtenrate von 40 pro 1000 (4%) sehr viel stärker abzusenken als nur maximal auf den Faktor 0.7; in einigen entwickelten Ländern beträgt sie seit ca. 1990 ca. 9 pro 1000 Einwohner und Jahr (0.9%). Dies reicht nicht aus, um die Bevölkerungszahl zu halten, vielmehr sinkt bei diesen Werten die Bevölkerungszahl (negativ exponentiell, also ähnlicher Verlauf wie in Figure 9) allmählich ab. Der Wert von 0.9% beispielsweise würde durch einen Multiplikator-Endwert von circa 0.22 erreicht werden, nicht durch einen Endwert von 0.7 Allein dieses Phänomen zeigt, wie wichtig die Verwendung von Szenarien ist. Wie in der Vorlesung dargestellt, werden für die Erstellung von Systemmodellen stets drei Grundszenarien verwendet: a) die Projektion des status quo, b) ein extremes Szenario für sehr ungünstige Entwicklung sowie ein extremes Szenario für sehr günstige Entwicklung. Forrester hat in WD eine Eingriffsmöglichkeit für die Veränderung der Geburtenrate vorgesehen; man kann auch einen Zeitpunkt angeben, zu dem diese Änderung erfolgt. (Man könnte auch die Geburtenrate als zeitabhängige Tabellenfunktion eingeben – dies wird jedoch von System Dynamics Puristen nicht gern gesehen, da ein Modell stets autonom laufen können soll, also auch die Gründe für die Absenkung der Geburtenrate selbst darstellen und korrekt auswerten können sollte.) Der vierte Multiplier stellt die Einwirkung zunehmender Umweltbelastung auf die Geburtenzahl dar. In den 1970er Jahren (WD ist von 1971) herrschte massive Sorge, ob die zunehmende Umweltbelastung durch den Menschen beherrschbar werden würde oder nicht. (In ähnlicher Weise beherrschen seit ca. dem Jahr 2000 die Pessimisten bezüglich anthropogener Current Klimaänderung das Feld, die im deutschen Sprachraum births pollution mult tab – nur dort – das Wort „Klimakatastrophe“ geprägt 2 haben. Auch „Waldsterben“ war eine Vorstellung, die 1.5 es nur im deutschen Sprachraum gab; „le Waldsterben“ 1 sagten die Franzosen). 0.5 0 0 30 60 Figure 10: Multiplier für Geburtenrückgang durch -XPollution ratio 8 Dieser Multiplikator nimmt für extreme Umweltbelastung (pollutio ratio = 60) den Wert 0.1 an; die Geburtenrate würde hiernach auf 10% der normalen sinken. Entsprechend verändern diese vier Einflussfaktoren (material standard of living, crowding, food und pollution) die Zahl der Sterbefälle, ebenfalls dargestellt durch vier Multiplikatoren. Anmerkung zu „le Waldsterben“ und „le Klimakatastrophe“: Derzeit ist das Phänomen globaler (und damit auch regionaler) Klimawandel so wenig einschätzbar, wie es in den frühen 1980er Jahren das Phänomen der „neuartigen Waldschäden“ war. Energische Maßnahmen gegen Luftschadstoffe, die zum Waldsterben beitrugen, wurden in Europa erst unternommen, als die Gebirgsländer Österreich und Schweiz um ihren Fortbestand angesichts der Drohung des Verlustes ihrer Schutzwälder durch Waldsterben fürchteten (Einführung des Drei-Wege-Katalysators im Jahr 1985 durch Österreich, Schweiz und die sehr fortschrittlichen Schweden; dadurch massiver Druck auf die Autoindustrie und auf die anderen westeuropäischen Länder – zu dieser Zeit war der Katalysator in Japan und USA schon weit verbreitet). In analoger Weise scheint es Fortschritte bei der Verminderung der Treibhausgase nur deshalb zu geben, weil es gut begründete Aussagen zu massivem, anthropogen verursachten Klimawandel gibt. Schon die Vorhersage von Anfang 1980 eines kommenden, weit verbreiteten Waldsterbens war schwer zu begründen (die Erklärung „saurer Regen“ war komplex, kaum zu verifizieren und letztlich falsch, vielmehr scheinen photochemische Oxidantien die weitaus meisten Schäden zu verursachen – die dann u.a. durch den Katalysator deutlich vermindert wurden). Derzeit können Aussagen über globalen, massiven Klimawandel noch viel schwerer wissenschaftlich unanfechtbar belegt werden; zu viele Faktoren wirken im Klimageschehen mit. Dennoch, da die Delays zwischen Treibhausgas-vermindernden Maßnahmen und Klimastabilisierung Jahrzehnte betragen, wäre es gröblichst unklug (töricht, eventuell verbrecherisch), zu sagen, dass wir nichts unternehmen sollten, weil die Beweise nicht eindeutig sind. In ähnlicher Weise hat Forrester schlimmste Folgen zunehmender Pollution unterstellen müssen, damit sein Modell derartige Phänomene korrekt abhandeln kann. 9