vo n m ar ia n n e fr ei di g *18 *10 *17 *08 *14 *15 *09 *16 † NEUES A.B.C. BUCH, WELCHES ZUGLEICH EINE ANLEITUNG ZUM DENKEN FÜR KINDER ENTHÄLT, 1790 Hund frisst Gras. heuschrecken von Oliver Bukowski 10 RETTUNG 14 STEINKES HUND FRISST GRAS Ein Mann sitzt an einem Tische. Auf dem Tische liegt ein Buch. In dem Buch hat der Mann gelesen. Der Mann denket nach. Ich lese in diesem Buche. Nachher mache ich das Buch zu. Dann muß ich nachdenken, was ich gelesen habe. Das Buch liegt vor mir. Das Denken ist in mir. Das Buch kann man mir wegnehmen. Das Denken kann man mir nicht wegnehmen. Du weißt nicht, was ich denke. Ich weiß nicht, was du denkest. Ich kann dich wohl sehen. Aber das Denken in dir kann ich nicht sehen. m eVO i kN e B h IaLuJ cAkN A S R B L J A N OV I Ć SS CC HH AA UU SS PPII EE LLSSTT UU TT TT GGAA RRTT SC HAU S PI E LSTUT TGART at st ater uttga rtt A R T S C H st AstaUaat Sst Phe IheEater L S sTsttut U Ttga T rG st a at st he ater s t ut tga r t st a at st he ater s t ut tga r t A N T ON R E I SE R nach Karl Philipp Moritz uraufführung Premiere am 22. Juni 2006 im Depot im Rahmen des Festivals DEPOT X SCHNELLER / WEITER Keine Pause. SC HAU S PI E LSTUT TGART st a at st he ater s t ut tga r t w w w. s ta at s t h e at e r - s t u t t g a r t. d e SCHAUSPIELSTUTTGART SCHAUSPIELSTUTTGART a n ton r eiser a n ton r eiser Besetzung Thomas Eisen Sebastian Schwab Peter Sikorski regie bühne kostüme dr amaturgie künstlerische mitarbeit regie a ssistenz bühnenbilda ssistenz kostüma ssistenz dr amaturgie a ssistenz inspizienz souffleuse bühnenbildhospitanz kostümhospitanz Anja Gronau Katrin Hieronimus Olaf Habelmann Frederik Zeugke Marcel Luxinger Clemens Kaiser Karin von Kries / Frank Holldack Nora Erdle Sabrina Glas Hans Beck Jutta Blumenthal Munz Anne Marie de Paola Jana Garstecki Technische Direktion: Karl-Heinz Mittelstädt // Technische Direktion Schauspiel: Andreas Zechner // Technische Einrichtung : Matthias Morys // Licht: Volker von Schwanenflügel // Ton: Maik Waschfeld // Requisite: Norbert Eitel // Maschinerie: Hans-Werner Schmidt // Leitung Dekorationswerkstät ten : Bernhard Leykauf // Malsaal: Michael Döring // Bildhauerei: Michael Glemser // Dekorationsabteilung: Donald Pohl // Schreinerei: Frank Schauss // Schlosserei: Patrick Knopke // Leitung Maske: Heinz Schary // Maske: Renate Löw // Kostümdirektion: Werner Pick // Produktionsleitung Kostüme: Brigitte Simon // Gewandmeisterinnen: Elke Betzner, Ellen Deilke (Herren) // Färberei: Martina Lutz Wir danken dem schauspielfrankfur t für die freundliche Unterstützung. s: 4 ˚ s: 5 ˚ SCHAUSPIELSTUTTGART SCHAUSPIELSTUTTGART a n ton r eiser a n ton r eiser MORIT Z + REISER genannt werden« könne. Es ist die Passionsgeschichte eines Anton Reiser ist ein Grübler, ein Zweifler, ein Bewunderer, können meint, indem er in die Rollen anderer flieht – ein Verschmähter, ein Flüchtiger, ein Suchender, einer und dessen Unglück immer sein eigenes Dasein bleibt. Jungen, eines Schwärmers, der sein Glück nur zu finden der findet – und das Gefundene bis zur Bedeutungslosigkeit abwertet, weil selbst er es ja hat erreichen können. Anton Moritz’ Leben beginnt in ärmlichen Verhältnissen, wo er Reiser ist wohl einer der erfolgreichsten Scheiternden, einer »von der Wiege an unterdrückt ward«. Im zutiefst zerstrittenen der erfolglosesten Gewinner. Er ist der Dreh- und Angel- Elternhaus schickt der Vater das Kind nach schwersten Krank- punkt im gleichnamigen Roman und einer von vielen in der heiten aus dem »Haus der Unzufriedenheit, des Zorns, der Wirklichkeit. Im wahren Leben heißt Anton Reiser Karl Tränen und der Klagen« in eine Lehre zu einem Hutmacher. Philipp Moritz. Doch während der erste versucht, sich aus Den aufgezwungenen Weg in die nächste Unterdrückung be- dem Meer voll Klagen seiner Jugend in eine bessere Zukunft zahlt er fast mit dem Leben. Nach einem Selbstmordversuch empor zu kämpfen, taucht der andere tief hinab in seine erfährt er die »Wonne des Denkens«. Er lernt lesen, die Bücher Kindheit. Der erste droht zu Grunde zu gehen, der andere eröffnen ihm ungeahnte Welten. Seine besondere Begabung will sich auf den Grund gehen. wird erkannt, Lehrer und sogar ein Prinz fördern ihn, er darf studieren (1776, Theologie in Erfurt), findet Arbeit (1778, Karl Philipp Moritz beginnt 1785 anton reiser zu veröffentli- Militär-Waisenhaus, Potsdam), erlangt den Grad eines Magis- chen. Bis 1790 werden es vier Bände sein. Er nennt sie einen ters (1779, Wittenberg), wird Professor (1784, Berlin) – und »psychologischen Roman«, der »auch allenfalls eine Biografie schreibt ab 1779 sprachtheoretische, pädagogische, journalisti- s: 6 ˚ s: 7 ˚ SCHAUSPIELSTUTTGART SCHAUSPIELSTUTTGART a n ton r eiser a n ton r eiser sche, poetische, philosophische Schriften, auch ein Schauspiel Jungen des 4. Standes wird 1791 ein Königlich Preußischer (1781, blunt oder der gast), die ‚Fortsetzung‘ seines Hofrat. Als Mitglied der Akademie der Wissenschaften plötzlich abbrechenden anton reiser: andreas hartknopf heiratet er die (15 Lenze zählende) Schwester seines Verlegers, (1785 und 1790), insbesondere das magazin zur erfah- quittiert nach einer Aufsehen erregenden Entführung seiner rungsseelenkunde (1783-1793) ist 100 Jahre vor Freud ein Frau durch einen Liebhaber die Ehe, erobert sie zurück, verhei- 10-bändiges Füllhorn für die Psychoanalyse. ratet sich aufs Neue mit ihr – und stirbt kurz darauf, mit 36 Jahren, lungenkrank, am 26. Juni 1793. Was sagt Moritz über Eine Gedenktafel seines Berliner Wohnhauses erinnert an seinen Anton: »Eigentlich kämpften in ihm, so wie in tausend den »Mittler zwischen Aufklärung und Romantik«. Moritz’ Seelen, die Wahrheit mit dem Blendwerk, der Traum mit der Romanfigur Anton Reiser kommt auf der Suche nach einem Wirklichkeit, und es blieb unentschieden, welches von beiden höheren Sinn schwärmerisch nicht vom Theater los. Das obsiegen würde, woraus sich die sonderbaren Seelenzustände, Schlüpfen in andere Biografien ermöglicht Anton, viele andere in die er geriet, zur Genüge erklären lassen.« Leben auszuprobieren. Hier ist seine Liebe. Er erlernt die fr eder ik zeugk e Rollen, ausfüllen kann er sie nicht. Und sie wiederum können ihn nicht erfüllen. Das ist sein Leben. Antons Suche nach einer Existenz auf dem Theater wird jäh vom Leben unterbrochen: sein Ensemble wurde kurzerhand aufgelöst, sein Dasein im Theater bleibt Utopie. Karl Philipp Moritz’ Leben wiederum endet tatsächlich wie auf dem Theater: Aus dem s: 8 ˚ s: 9 ˚ s : 10 ˚ SCHAUSPIELSTUTTGART SCHAUSPIELSTUTTGART a n ton r eiser a n ton r eiser s : 11 ˚ s : 12 ˚ SCHAUSPIELSTUTTGART SCHAUSPIELSTUTTGART a n ton r eiser a n ton r eiser s : 13 ˚ SCHAUSPIELSTUTTGART SCHAUSPIELSTUTTGART a n ton r eiser a n ton r eiser Der Vogel im Käficht Ein Vogel flog in der freien offnen Natur umher, und sang, und ergötzte sich selber an seinem Liede; selten dass einmal ein menschliches Ohr ihn hörte . ----Er wurde gefangen und in einen Käficht geset zt; nun hörte ihn jedermann mit Entzücken singen, und der schöne Vogel freute sich, daß er gefangen war, weil er den Menschen Vergnügen erwecken konnte. ----Endlich sehnte er sich doch aber wieder ins Freie, und der gütige Zufall sorgte, dass die Türe seine s Käfichts und das Fenster im Zimmer einmal zugleich eröffnet wurden, da entfloh’ er wieder, und genoß der Wonne, anstatt seines kleinen Käfichts und des Zimme rs, das ihn umgab, die ganze schöne Natur wieder vor sich zu sehen. ----Nun hüpfte er fröhlich von einem Baume zum andern, und flog vergnügt von einem Walde zum andern, nachdem er eine kleine Weile eingeschlossen war, um den Menschen Freude zu machen. ----saß, hörte einmal ein Käficht im noch Als der Vogel glaubte, daß der Dieses singen. ihn Kind unverständiges vieles beitrüsehr Vogels des Gesange Käficht zu dem et, und der vergold schön und ich ansehnl ge, weil er so wäre. nlich unanseh so Vogel ----entflohen war, so sagte Käficht dem Als er nun aus nun kann er doch nicht Vogel, arme der das Kind: ach, mehr singen! ----n, würde bald im Himmel, besitze wir Der Geist, den von einem Sterne zum würde er sein, bald auf Erden weite Schöpfung ganze die immer und andern eilen, den Körper durch nicht er wenn wollen, durchfliegen en eine derselb auf um würde, lt gefesse an diese Erde andrer Glück zum und sein, zu h nützlic kleine Weile agen. beizutr seinige das n Mensche Die große Loge, 1793 s : 14 ˚ s : 15 ˚ SCHAUSPIELSTUTTGART SCHAUSPIELSTUTTGART a n ton r eiser a n ton r eiser „Sie besuchen. Ich höre, Sie sind krank.” „Ja, das bin ich, und zwar sehr krank.” „Warum bleiben Sie nicht auf ihrem Zimmer?” „Ich befinde mich hier wohler – und brauche die Kräuterkur, den Heuduft. Er stärkt mich, denn er ist balsamisch. Machen Sie die Dachsteine wieder zu. Das Tageslicht ist mir zuwider. Ich liebe das Helldunkel.” „Aber hier können Sie sich doch nicht beschäftigen?” „Warum nicht? – Ich meditire im Heu. Drängen mich meine Gedanken zu viel, so krieche ich hervor zu meiner Lektüre, die Sie hier um mich sehen, – und lese, – Dinge, an die ich nie gedacht habe. Bald ist es ein medicinisches, ökonomisches, politisches, theologisches, philosophisches, grammatisches, oder ein anderes närrisches Blatt, und das gibt mir wieder einen andern Schwung; ich verlasse meine quälenden Gedanken, und vergesse so lange meine Krankheit. Und das ist doch gut. Finden Sie das nicht? Wie?” NUR EIN SCHWACHES SEITENLICHT VOM DACHFENSTER LIESS MICH EINE MENGE PAPIERBLÄTTER ODER GEDRUCKTE MAKULATUR-BOGEN, DIE AUF DEM HEU UMHERGESTREUT WAREN, ERKENNEN. ICH RIEF HIERAUF DEN NAMEN MORITZ! LAUT AUS, UND HÖRTE EINE DUMPFE ANTWORT, WIE AUS DER TIEFE EINES GRABES: „Was gibt’s? Wer ist da?” ICH ANTWORTE IHM, WER IHN SUCHE, UND ÖFFNE IHM NICHT NUR DAS BODENFENSTER, SONDERN ZIEHE AUCH EINIGE DACHSTEINE IN DIE HÖHE, UM DIE DUNKLE REGION UNTER DEM DACHSTUHLE MEHR ZU ERHELLEN. NUN SAH ICH EINEN MENSCHENKOPF AUS EINEM LOCHE IM HEU MIT FÜRCHTERLICHEN BLICKEN HERVORRAGEN, ALS WÄRE ES MACDUFS GESTALT IM MACBETH ÜBER TISCHE, WIE SIE IM SCHAUSPIELE ERSCHEINT. DIESER KOPF GEHÖRTE, WIE ICH DESSEN SPRACHE VERNAHM, DEM PROF. MORITZ! SEIN HAAR WAR VERWORREN, DIE MIENE GRINSEND, DER BLICK WILD, SEIN HALS ENTBLÖSST, UND DER GANZE EINDRUCK SCHRECKLICH. ‚Was wollen Sie hier?” - FRAGTE ER AUF EINE MICH BEFREMDENDE, LANGSAME UND PATHETISCHE ART. s : 16 ˚ T. G. DITTMAR, KARAKTERZÜGE AUS DEM LEBEN DES PROF. HOFRATHS MORITZ IN BERLIN, 1808 s : 17 ˚ impressum textnachweis Karl Philipp Moritz, Blunt oder der Gast. Unveröffentlichtes Programmheft der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin 1994 Karl Philipp Moritz, Werke, Bd. 1 und 3, herausgegeben von Horst Günther, Insel Verlag Frankfurt am Main 1981 herausgeber Schauspiel Stuttgart / Staatstheater Stuttgart intendant Hasko Weber redaktion Frederik Zeugke g e sta lt u n g strichpunkt, Stuttgart / www.strichpunkt-design.de druck Engelhardt & Bauer s : 18 ˚