„Raus aus der Depression!“ Home Treatment – eine innovative Idee auch für depressiv erkrankte Menschen PD Dr. Karel Frasch Bezirkskrankenhaus Donauwörth Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Donau-Ries Klinik Donauwörth 2. Fachtag der Bezirkskliniken Schwaben, Memmingen, 21.06.2017 Historische Entwicklung • • • Ursprung in den 1960er und 1970er Jahren im angloamerikanischen und skandinavischen Raum (u.a. Niederlande, England, USA, Australien) In den 80ern ursprünglich im Rahmen großer Enthospitalisierungsprogramme als Bestandteil von ACT etabliert (Stein et Test 1980) Heute flächendeckende Integration in nationale Versorgungsprogramme z.B. in den USA, Australien, England und Norwegen Deutschland: • Psychiatrie-Enquête 1975 mit grundlegender Reform des psychiatrischen Versorgungssystems => Forderung von mehr gemeindenaher Versorgung • Erstes HT-Modell in Deutschland 1996 in Krefeld • Implementierung von HT in Deutschland sehr schwierig, häufig Probleme bei der Finanzierung • Ausdrückliche Empfehlung einer gemeindenahen psychiatrischen Versorgung in aktueller S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ der DGPPN Widmann F, Becker T, Frasch K. Psychiatrische Akutbehandlung im gewohnten Umfeld. DNP-Der Neurologe und Psychiater 2013; 14: 48-54 Patientenerwartungen an Home Treatment • schnelles Eingreifen und gute Erreichbarkeit mit direktem Kontakt zu Hause • Unvoreingenommenheit gegenüber dem Patienten • Einbezug des Krankheitsmodells sowie der eigenen Kompetenz des Patienten bezüglich seiner Erkrankung • Bessere Berücksichtigung der individuellen Patientensituation Winness M.G., Borg M., Kim H.S. Journal of Mental Health 2010; 19: 75-87 Home Treatment in Stichworten organisatorische Aspekte Akutbehandlung „statt Krankenhaus“, aber im Hinblick auf Effekt zumindest ebenbürtig: • Behandlung im vertrauten Lebensumfeld des Patienten • multidisziplinäres Behandlungsangebot mit möglichst geringer Mitarbeiterfluktuation(„Beziehungs-/Behandlungskontinuität“ <-> Therapieabbrüche) • Möglichkeit schneller Krisenintervention, 24-7 Erreichbarkeit • kurze Behandlungsdauer (z.B. 4 - 6 Wochen) angestrebt • „gate-keeping role“: ggf. Organisation einer möglichst reibungslosen stationären Aufnahme Winness M.G., Borg M., Kim H.S. Journal of Mental Health 2010; 19: 75-87 Weinmann et al. Nervenarzt 2009; 80: 31-39 Home Treatment in Stichworten Berücksichtigung sowohl klinischer als auch psychosozialer Aspekte: • flexible Kommunikation mit dem Patienten und seinem sozialen Netzwerk • Medikamentengabe und Supervision der Einnahme zu Hause • kontinuierliche Betreuung bis zum Ende der Krise und Gewährleistung / Organisation / Erprobung einer bedarfsgerechten Weiterversorgung (z.B. Vermittlung in gemeindenahe komplementäre Dienste) • Bessere Erkennung und Nutzung persönlicher oder sozialer Ressourcen des Betroffenen • Steigerung sowohl der Patienten- und Bezugspersonenzufriedenheit als auch der Zufriedenheit der Behandler Winness M.G., Borg M., Kim H.S. Journal of Mental Health 2010; 19: 75-87 Weinmann et al. Nervenarzt 2009; 80: 31-39 Vorstellungen und Ziele • Bewältigungsstrategien können in der Gemeinde besser aktiviert bzw. (wieder-) erlernt werden • „Need Adaptation“: Frequenz / Dauer der Hausbesuche und Besetzung des Teams kann den Bedürfnissen angepasst werden ⇒ Reduktion stationärer Verweildauer bei vergleichbarer Besserung der Symptomatik, besserem sozialem Funktionsniveau und höherer Patientenund Angehörigenzufriedenheit Zusammenfassende Begriffsbestimmung Home Treatment bedeutet / umfasst: • Akutbehandlung zu Hause • anstatt Krankenhausbehandlung, etwa gleich lang • multiprofessionelles Behandlungsteam • Verfügbarkeit möglichst rund um die Uhr • individueller Behandlungsplan; mit Patient/in vereinbart • Alle notwendigen psychiatrischen, pflegerischen und psychosozialen Behandlungsmaßnahmen Stand der Forschung ältere kontrollierte Studien (1964-1998) • Überblick in Berhe et al. 2005 und Gühne et al. 2011, u.a. Cochrane Review (Joy et al. 2006) und NICE Metaanalyse 2009: Reduktion der Krankenhaus-Behandlungstage, HT bezüglich psychopathologischer Symptome der stationären Behandlung gleichwertig, in vielen Studien sogar günstiger („Real life outcome“; Berufstätigkeit, Wohnung) • Für Betroffene und Angehörige z.T. attraktiver • In der Regel kostengünstigere Alternative gegenüber KH-Behandlung • Anzahl der Studien mit „reiner“ Akutbehandlung gering, keine Ergebnisse zur langfristigen Wirksamkeit (>1 Jahr) • Insbesondere bei den frühen Studien wurde HT häufig mit TAU in psychiatrischen Großkrankenhäusern verglichen, deren Behandlungskonzepte mehr auf Schutz und Versorgung der Patienten fokussierten Stand der Forschung, ältere Studien II • Bis zu 40% der in randomisierten kontrollierten Studien untersuchten Patienten brechen HT zugunsten KHBehandlung ab • Übertragbarkeit auf BRD Schnittstellenproblematik) schwierig (Stichwort • Forschungsbedarf: Für welche Betroffenen ist HT (in Deutschland) zu welchem Zeitpunkt eine geeignete Intervention ? Neuere Studien • London (RCT!): Nach 8 Wochen weniger Klinikeinweisungen und größere Behandlungszufriedenheit in HT ggüb. TAU Gruppe (Johnson et al. BMJ 2005) und Gesamtbehandlungskosten niedriger (McCrone et al. Epidemiol Soc Psychiatry 2009) • Norwegen (unkontrollierte naturalistische Studie): Verbesserungen der klinischen Beeinträchtigung (HoNOS) und des psychosozialen Funktionsniveaus (GAF) in HT Gruppe (insgesamt 8 Teams; Hasselberg et al. 2011) • Deutschland: Bechdolf et al. 2011 (Krefeld) - unkontrollierter prä-post-Vergleich von 14 F20-Patienten: deutliche klinische Besserung Sturm et al. 2016 (Düsseldorf) – modularisierte Intervention bei F20-Patienten und Vergleich mit Parametern aus der Vorgeschichte im Hinblick auf Machbarkeit und Patientenakzeptanz Munz et al. 2011 / Kilian et al. 2016 (Günzburg) „hauseigene“ Forschung I Vergleich stationär-psychiatrischer Routinebehandlung mit wohnfeldbasierter psychiatrischer Akutbehandlung („Home Treatment“) • 60 HT- (2006-2008) vs. 18 TAU- (2008) Pat. • PANSS, HAMD, HoNOS an Beginn und Ende • ITT; mixed-effects regression models; missing at random; propensity score method • HT-Kollektiv „kränker“; analoge klinische Besserung in beiden Gruppen; ØVD HT 63d vs. TAU 38d („Therapiedichte“) • Kritik: Datenerhebung durch HT Team („Bordmittel“), kleines n in TAUGruppe, unterschiedl. Erhebungszeiträume / keine Randomisierung, nur Aussagen zu kurzfristigen Effekten ableitbar Munz I, Ott M, Jahn H, Rauscher A, Jäger M, Kilian R, Frasch K. Comparison of „Home Treatment“ with Traditional Inpatient Treatment in a Mental Hospital in Rural Southern Germany. Psychiat Prax 2011; 38: 123-128 „hauseigene“ Forschung II Neuere Daten (GZ) • den 60 HT-Pat. stehen nunmehr 58 TAU-Pat. gegenüber • Diagnoseverteilung in beiden Gruppen ähnlich: Schizophrenie HT n=25, TAU n=21, affektive Störung HT=TAU n=26 • Behandlungsdauer noch immer sign. länger in HT-Gruppe • HT war klinisch (HAMD, HoNOS) überlegen und gleichzeitig kostengünstiger (durchschnittl. -7151 € pro Episode) • eine evtl. Generalisierbarkeit dieser Befunde auf andere Regionen muss durch weitere methodisch bessere Studien untersucht werden Kilian R, Becker T, Frasch K. Neurology, Psychiatry and Brain Research 2016; 22: 81-86 Veränderungen der HAMD Rohwerte Kilian R, Becker T, Frasch K. Neurology, Psychiatry and Brain Research 2016; 22: 81-86 Veränderung des HAMD Gesamtwertes nach Diagnosegruppen F3 und andere Diagnosen verbessern sich stärker als F2. Stand der Forschung - Zusammenfassung • ⇒ ⇒ ⇒ ⇒ ⇒ Internationale Daten: starke Evidenz - HT vs. TAU: Reduktion der Krankenhaus-Behandlungstage weniger stationäre Aufnahmen weniger Therapieabbrüche höhere Patienten- und Angehörigenzufriedenheit höhere Kosteneffektivität • Empirische Datenbasis in Deutschland spärlich ⇒ In Einzeluntersuchungen Hinweise auf Gleichwertigkeit bezüglich der Behandlungsergebnisse im Vergleich zur stationären Regelbehandlung und, wie eben gesehen, höhere Kosteneffektivität Widmann F, Bachhuber G, Riedelsheimer A, Schiele A, Ullrich S, Kilian R, Becker T, Frasch K. Home Treatment. Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 2016; 84: 42-49 „klassisches“ HT Krankenhausanbindung Krefeld + + Itzehoe + + Frankfurt am Main + Nauen + + Geesthacht + + + + Weissenau + + + + Solingen + + + Berlin (Pinel) + + Awolysis gGmbH + Berlin (St. Hedwig) + iV-Verträge / Regionale Budgets Krisenwohnungs- / -pensionsanbindung Ergänzung zur ambul. Behandlung + + + Stralsund Köln + + + Detmold + + + Berlin-Brandenburg + Weinsberg + Hanau + Günzburg + + Donauwörth + + + + Home Treatment in Donauwörth • • • • • • Beginn September 2013 Einzugsgebiet Landkreis Donau-Ries (Einwohnerzahl ca. 130 000) und vereinzelt angrenzende Landkreise kleines Team bestehend aus 1,5 VK Fachpflege, 0,2 VK Ass.-A. und 0,2 OA, 0,2 VK Sozialdienst Behandlung von bis zu 8 Patienten gleichzeitig möglich 24 h-Erreichbarkeit durch Klinikstrukturen gewährleistet Regulär 3 Hausbesuche pro Woche, davon 1 mit Arzt Einschlusskriterien Akute psychische Erkrankung, die eine (teil-) stationäre Behandlung notwendig machen würde Ausreichende Kooperationsfähigkeit des Patienten und ggf. dessen Bezugsperson(en) Wohnsitz des Patienten im „Einzugsgebiet“ des HT-Teams Ausschlusskriterien mangelnde Kooperationsfähigkeit / Akzeptanz des Patienten und / oder der Bezugsperson(en) akute Eigen- und / oder Fremdgefährdung im Vordergrund stehender florider Suchtmittelkonsum akute oder chronische schwere organisch bedingte psychische Störung Minderjährigkeit fehlende Indikation für Krankenhausbehandlung Widmann F, Bachhuber G, Riedelsheimer A, Schiele A, Ullrich S, Kilian R, Becker T, Frasch K. Home Treatment. Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 2016; 84: 42-49 GZ und DON HT Teams im Vergleich VK HT GZ (n= 30; 3 Autos) HT DON (n=8; 2 Autos) Arzt 1,2 (1,0 AssA + 0,2 OA) 0,4 (0,2 AssA + 0,2 OA) Pflege 3,5 1,5 SozD 0,75 0,2 HT Donauwörth - Zielgruppe • Psychisch „akut“ / krisenhaft / „schwer“ erkrankte Menschen im Einzugsgebiet • Übernahme aus kurzzeitiger (teil-)stationärer Behandlung • Übernahme zur „Wiedereingliederung“ nach längerer (teil-)stationärer Behandlung • Geringe räumliche Distanz zum Behandlungsteam (max. ca. 40 km bzw. ca. 40 Min. Fahrzeit) • Kooperationsbereitschaft / -fähigkeit des Patienten und der Angehörigen, nicht unbedingt Krankheitseinsicht im engeren Sinn HT Donauwörth - Arbeitsablauf, „Philosophie“ I • Hausbesuche (zentrales Therapieelement, ca. 20/Wo; Dauer im Schnitt um 1 h), Telefonate • Intensität der Kontakte individuell bis hin zu mehrmals täglich, vor Entlassung seltener, jedoch nicht unter 3 (2) Besuche / Woche, davon mindestens ein Arztbesuch • Mind. wöchentliche Fallbesprechungen im Plenum • Klinik „im Rücken“ via Station; „Krisenbett“ • Psychotherapie: Pragmatischer „Mix“, RessourcenBezugspersonenorientierung; Patientenbeteiligung und HT Donauwörth - Arbeitsablauf, „Philosophie“ II • Pharmakotherapie: Zurückhaltung hinsichtlich Präparateanzahl, Dosis und Dosierungszeitpunkten in enger Absprache mit dem Patienten, insbesondere Vermeidung oder Rückführung abenteuerlich anmutender Medikamentenkombinationen • Anbieten praktischer Alltagshilfen • „Networking“, z.B. Vermittlung von gemeindepsychiatrischen Angeboten / enge Kooperation mit z.B. SpDis, Tagesstätten, WfbMs Vorbereitung / Erprobung einer individualisierten vernetzten ambulanten Weiterbehandlung Daten nach 3 Jahren HT Donauwörth Anzahl der Behandlungen 140 Verweildauer: 53,9 Tage (Spanne 1 209) Tatsächliche Kontaktanzahl: 21,2 (Spanne 1 85) 120 100 Zuweisung 4mal (4) 80 3mal (4) 60 2mal (14) 40 1mal (105) 7% 2% 4% Station/TK PIA Pat. selbst 15% BKH GZ 20 12% 60% amb. Ärzte 0 Pat. gesamt = 127 anderweitig (IFD, Notaufnahme, ZK Augsburg) Daten nach 3 Jahren HT Donauwörth Hauptdiagnosen Entlassung 50% 40% stationär 23% 30% 20% 13% ext. amb. 24% 10% 40% 0% F2 F3 F4 53% Doppel-/Mehrfachdiagnosen PIA anderweitig (HA/PSOM/andere PIA/unkl.) Wochenminuten pro Patient Ärztliches Personal 50 Minuten Pflegepersonal 150 Minuten Sozialdienst 20 Minuten „Politische“ Situation • PsychVVG („Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen“): Psychiatrische Krankenhäuser / Abteilungen können in medizinisch geeigneten Fällen, wenn eine Indikation für eine stationäre psychiatrische Behandlung vorliegt, anstelle einer vollstationären Behandlung eine stationsäquivalente psychiatrische Behandlung im häuslichen Umfeld erbringen • Derzeit Vorschlag der Fachgesellschaft in Abstimmung mit den maßgeblichen Verbänden zur Leistungsbeschreibung von StäB als Verhandlungsgrundlage für Partner der Selbstverwaltung (DKG / KV-Spitzenverband) in Finalisierung • Perspektive: HT (bzw. „StäB“) kommt flächendeckend! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit ! www.bezirkskliniken-schwaben.de www.bkh-donauwoerth.de [email protected] [email protected] Bezirkskrankenhaus Donauwörth Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Donau-Ries Klinik Neudegger Allee 6, 86609 Donauwörth