B e w e rt u n g s ko mp e t e n z Geographiedidakt ische Sicht | grundlagen C h r i s tiane Meyer, Dirk Felz mann, K arl W . H o ffma n n Ethische Urteilskompetenz Wesentlicher Bestandteil eines zukunftsfähigen Geographieunterrichts Ein reflektiertes Urteil erfordert die ­Beachtung und das Hinterfragen verschiedener Perspektiven und Standpunkte. ­Steigende Urteilskompetenz ist verbunden mit Fachwissen und ethischen Grundlagen, analytischem und multiperspektivischem Denken sowie kommunikativen Fähigkeiten und daher mit Selbstbildung und Bildung des Selbst. Ein Urteil ist schnell gefällt, so denken viele Erwachsene und Schüler. Häufig wird dabei allerdings eine reine Meinungs­ äußerung mit einer reflektierten Urteilsfällung verwechselt. Ethische Kompetenz Ethik wird gemeinhin als Theorie der Moral und somit als Re­ flexion auf Moral verstanden. Unter Moral kann „ein gelebtes System von Werten und Normen“ (Dietrich 2007, S. 36) ver­ standen werden, d. h. die Interdependenz von Kognitionen, Emotionen, Motivationen und Handlungen. Ethische Urteilskompetenz beinhaltet stets die reflektierte Verknüpfung von Sachwissen sowie von subjektiven bzw. ge­ sellschaftlichen Wertvorstellungen. Sie ist die Basis für Ur­ teile bzw. Entscheidungen in Handlungssituationen. „Ohne Fachwissen ist verantwortliches Handeln letztlich ebenso we­ nig möglich wie ohne moralische Urteilsfähigkeit“ (Lind 2002, S. 269). Urteilskompetenz erfordert nicht nur das Begründen von Urteilen bzw. das Fällen von Entscheidungen, sondern auch Bewertungsstrukturwissen (vgl. Bögeholz/Barkmann 2003), sodass auf einer Metaebene der Bewertungsprozess mit allen seinen normativen Teilentscheidungen reflektiert werden kann. Struktur und Dimensionen ethischer Urteilskompetenz Als Grundmodell ethischer Urteilskompetenz kann der so ge­ nannte praktische Syllogismus (vgl. Abb. 1) herangezogen werden. Dabei untergliedert sich die Argumentation in eine ­präskriptive Prämisse (z. B. „Natur soll nicht zerstört wer­ den.“), eine deskriptive Prämisse (z. B. „Durch den Bau ei­ ner Umgehungsstraße wird Natur zerstört.“) und einen fall­ bezogenen präskriptiven Schluss/Konklusion (z. B. „Also soll die Umgehungsstraße nicht gebaut werden.“). Die Reihenfol­ ge der Prämissen kann bei Bedarf umgekehrt werden. Aller­ dings ist es logisch nicht richtig, die präskriptive Prämisse wegzulassen, da nicht vom Sein auf das Sollen in der Konklu­ sion geschlossen werden kann (vgl. Dietrich 2007, S. 40 f.). Für den Geographieunterricht muss dies im Zusammenhang mit Inte­ressennutzungskonflikten zudem aus verschiedenen und vielfältigen Perspektiven geleistet werden. Bei einem Urteil Praxis Geographie 5|2010 müssen also die Gründe, Voraussetzungen, Einschränkungen, die Folgen sowie die Haltungen der jeweiligen Entscheidung bzw. der Konklusion mitbedacht werden. Ethische Kompetenz ­erfordert demnach drei Teilkompetenzen: • „die Fähigkeit zur Wahrnehmung einer Situation als ethisch relevanter mit der dazu gehörigen begrifflichen und empirischen Prüfung der Situationsbeschreibung (wahrnehmen), • die Fähigkeit zur Formulierung von einschlägigen ver­ schiedenen vielfältigen präskriptiven Prämissen zusam­ men mit derer begrifflicher und argumentativer Prüfung (bewerten) sowie • die Fähigkeit zur logischen Schlussfolgerung und deren be­ grifflicher wie argumentativer und empirischer Prüfung (schließen)“ (ebd.). Ethische Urteilskompetenz im Unterricht Im Unterricht können beim Bewusstmachen von ethischem Urteilen zwei Herangehensweisen (vgl. Beispiel Kinderarbeit) berücksichtigt werden. Zum einen können im konstruktiven Sinne zunächst verschiedene Meinungen im Hinblick auf ihre deskriptiven und präskriptiven Prämissen ent­wickelt werden. Zum anderen können im rekonstruktiven Sinne Meinungen oder Standpunkte analysiert werden. In der Hinführung zum bewussten ethischen Urteilen ist es vermutlich einfacher, zu­ nächst fertige Standpunkte zu analysieren. Ein Beispiel: Kinderarbeit in Pakistan Unterrichtsphase 1: Wahrnehmung der Situation auf der Objektebene Die fiktive Firma „Transdyn“ ist ein in Deutschland ansäs­ siges internationales Logistikunternehmen mit mehreren tausend Mitarbeitern weltweit. Vor kurzem hat die Konzern­ führung über das Internet ein Foto entdeckt, das bei einem ihrer ­pakistanischen Subunternehmer aufgenommen wurde. ­Darauf sind Kinder zu sehen, die beim Abladen von ­Paletten helfen. Kinderarbeit ist in Deutschland verboten (Idee aus Hemel 2007, S. 10). Soll das Unternehmen so tun, als ob es nichts weiß und somit Kinderarbeit zulassen, obwohl diese in Deutschland verboten ist? B e w e rt u n g s ko mp e t e n z Geographiedidakt ische Sicht | grundlagen Zugrundeliegende Fragestellungen bzw. Feststellungen innerhalb des Argumenta­ tionsmodells: Wertmaßstab Erster Teil (= deskriptive Prämisse): Wie ist die Situation gekennzeichnet? Was können wir tun/kann ich tun? Welche Ent­ scheidungs- und Handlungsmöglichkeiten haben wir/habe ich? Welche Folgen sind mit diesen jeweils verbunden? Zweiter Teil (= präskriptive Prämisse): Was sollen wir tun? Wofür stehen wir/stehe ich oder welche Werte vertritt die Gesell­ schaft/vertrete ich? Dritter Teil (= Konklusion): Das tun wir/dazu stehen wir bzw. das tue ich/dazu stehe ich aus bestimmten Gründen. Dazu werden entsprechende deskriptive und präskriptive Prämissen herangezogen, die gewichtig für unseren bzw. meinen Stand­ punkt sind. Norm Situation Urteil Daten Einschränkung Abb. 1: Der praktische Syllogismus im unterrichtlichen Kontext nach: Toulmin 1995, in Vankan et. al. 2007 Standpunkt deutscher Mitarbeiter Standpunkt pakistanischer Mitarbeiter Es ist moralisch verwerflich, Kinderarbeit zu tolerieren. Die Charta der Menschenrechte ist allgemein anerkannt, und sie ge­ steht Kindern bestimmte Rechte zu ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung zu. Solche Rechte werden durch Kinderarbeit be­ einträchtigt. Würden westliche Firmen bei ihren Lieferanten Kinder­ arbeit um eines Kostenvorteils willen dulden, dann würden sie sich der Ausbeutung der Schwächsten der Schwachen schuldig machen. Darüber hinaus könnte ein Lohndumping mit billiger Kinderarbeit in Deutschland zum Verlust von Produktionsarbeitsplätzen führen, weil wir mit unseren deutschen Löhnen sicher nicht mit dem Lohn für Kinderarbeit konkurrenzfähig sein können und wollen. Die Lebenserwartung in Pakistan lag im Jahr 2008 bei 66 Jahren, bei einer Bevölkerung von 180 Millionen Menschen und einer Kindersterblichkeit, die bei über 10 Prozent aller Neugeborenen zum Tod vor dem Erreichen des fünften Lebensjahres führt, ist jeder Beitrag zum Familieneinkommen ein direktes Mittel zum Überleben einer Familie. Die zur Schau getragene moralische Überlegenheit westlicher Wertanschauungen ist in Wirklichkeit eine verkleidete Form von Überheblichkeit und Kolonisation. Die Verweigerung von Arbeitsmöglichkeiten ist in einigen Fällen das sichere Todesurteil für die Betroffenen. Argumentationslinie 1 Situation: Kind in Pakistan schleppt Paletten. Norm: Kinderarbeit soll nicht stattfinden. Allgemein: Die Schwächs­ ten der Schwachen sollen nicht ausgebeutet werden. Wertemaßstab: Menschenrechte der Kinder zur körperlichen und geistigen Entwicklung. Konklusion: Transdyn soll nicht mehr mit dem Subunternehmer zusammenarbeiten. Argumentationslinie 1 Situation: Kind in Pakistan schleppt Paletten. Kinderarbeit ist ein direktes Mittel zum Überleben einer Familie. Norm: Jeder Beitrag zum Familieneinkommen soll gewährt werden. Allgemein: Alles was zum Überleben der Menschen notwendig ist, soll erlaubt sein. Wertemaßstab: Schutz/Überleben von Menschen Konklusion: Transdyn soll weiter mit dem Subunternehmen ­zusammenarbeiten. Argumentationslinie 2 Situation: Verlust von Arbeitsplätzen in Deutschland durch ­Lohndumping möglich. Deutsche Löhne nicht mit dem Lohn für Kinderarbeit konkurrenzfähig (Lohndumping). Norm: Arbeitsplätze in Deutschland sollen geschützt werden. Wertemaßstab: Ethnozentrismus/Nationalismus. Konklusion: Transdyn soll nicht mehr mit dem Subunternehmer zusammenarbeiten. Argumentationslinie 2 Situation: Die moralische Überlegenheit westlicher Weltanschau­ ung ist in Wirklichkeit eine verkleidete Form von Überheblich­ keit und Kolonisation. Pakistan war eine Kolonie des Westens. Norm: „Moralisch korrumpierte“ Personen/Nationen sollen keine Vorschriften machen. Wertemaßstab: Recht auf Maßregelung und Selbstbestimmung Konklusion: Das westliche Unternehmen Transdyn soll dem pakis­ tanischen Subunternehmen keine Vorschriften machen. Abb. 2: Argumentationsebenen beim Unterrichtsbeispiel „Kinderarbeit in Pakistan“ Praxis Geographie 5|2010 Unterrichtsphase 2: Perspektiven auf die Situation Die Schüler können in Gruppen den weiteren Verlauf mit möglichen Konsequenzen und den dazugehörigen Argu­ menten entwickeln. Je nachdem, wie weit ihr Bewusstsein über ethisches Urteilen ausgeprägt ist, werden sie dann (zu­ nächst unbewusst, durch Übung schließlich bewusster) ver­ schiedene präskriptive Prämissen heranziehen und nach der Bewertung dieser schließlich eine höher gewichten, die letzt­ lich zur Entscheidung bzw. zum Urteil führt. Wichtig ist bei einem konstruktiven Vorgehen, dass viel­ fältige Argumente berücksichtigt werden. Soll das deutsche Unternehmen weiterhin mit dem Subunternehmen in Pa­ kistan zusammenarbeiten oder diesem kündigen? Soll das deutsche Recht auch für die Situation in Pakistan angewen­ det werden? Wie könnte das pakistanische Subunterneh­ men argumentieren, warum es Kinderarbeit ermöglicht? Wie könnten die ­Kinder argumentieren, warum sie bei dem pakis­ tanischen Subunternehmen arbeiten? Welche Folgen haben die jeweiligen Entscheidungen? Welchen Standpunkt wür­ dest du für das deutsche bzw. das pakistanische Unterneh­ men ­vertreten? Unterrichtsphase 3: Deutung der Standpunkte auf der Metaebene Im Unterricht müssen die Perspektiven auf einer Metaebe­ ne dahingehend analysiert werden, welche Normen und Wer­ te darin zum Tragen kommen. So lässt sich feststellen, dass es in diesem Beispiel eine vordergründige und eine hinter­ gründige Argumentation gibt (vgl. Abb. 2). Auf einer Meta­ ebene ­höherer Ordnung kann darüber diskutiert werden, ob man eher der deontologischen Ethik oder dem Konsequen­ tialismus folgen sollte. Bei der deontologischen Argumenta­ tion würde man sich auf absolute bzw. axiomatische Werte stützen, so wie dies im ersten Teil des Standpunkts des deut­ schen Mitarbeiters zum Ausdruck kommt. Die konsequentia­ listische Argumentation hingegen stützt sich auf die Konse­ quenzen eines Urteils wie im ersten Teil des Standpunkts des pakistanischen Mitarbeiters. Wenn man anschließend die zweiten Argumentations­ linien gegenüberstellt, bekommt man einen Einblick auf der Beziehungsebene. Hier ist die Situation an sich weniger be­ deutsam als die Rolle des jeweiligen Landes in Bezug auf die wirtschaftlichen Verflechtungen. Der deutsche Mitarbeiter ar­ gumentiert in diesem Fall konsequentialistisch mit nationa­ listischen/ethnozentrischen Motiven, wohingegen der pakis­ tanische Mitarbeiter sich letztlich auf die Tugendethik beruft, mit dem Schwerpunkt auf Gerechtigkeit. Bedeutung ethischen Urteilens Welchen Mehrwert hat also diese akribische Analyse von ethischen Urteilen? Eine kurze Antwort könnte lauten: Wir können dabei unseren Blick schärfen und entdecken, worauf sich unsere Argumente stützen und wir lernen zu interpretie­ ren und zu hinterfragen, worauf ein ethisches Urteil basiert. Dabei stellen wir auch fest, dass wir keinesfalls alles sofort für wahr nehmen dürfen, was wir zunächst über die Situation und dazugehörige Standpunkte nicht im visuellen, sondern im intellektuellen Sinne wahrnehmen bzw. spontan konstru­ ieren. Wir müssen also dekonstruieren und rekonstruieren, Praxis Geographie 5|2010 um zu einem vertieften Verständnis zu gelangen. Anstelle von Breite bekommt Unterricht Tiefe, es gelingt, was Ramonet for­ dert: „Geographie ist (...) die Kunst, die Welt zu enthüllen, ver­ borgene Tendenzen und verdeckte Veränderungen fassbar zu machen“ (Ramonet 2003). Ethische Urteilskompetenz als Weg zum Selbst Wenn wir uns im Geographieunterricht mit Urteilen und ­darin implizierten Werthaltungen auseinander setzen, dann ist zwar ein erster Zugang darüber geschaffen, sich diese aus einer Fremdperspektive klar zu machen. Der wichtigere Schritt ist hingegen, anschließend auch noch bewusst die Selbstperspek­ tive einzunehmen, d. h. es ist unabdingbar, dass darüber re­ flektiert wird, welchen Standpunkt jeder für sich persönlich einnimmt und somit, welchen Werten und Normen persönlich Priorität eingeräumt wird. Ethische Urteilskompetenz bedeu­ tet somit letztendlich vor allem, sich selbst bzw. das Selbst zu erkennen – das ist unsere Selbst-Bildung. Selbstbildung heißt im wahrsten Sinne des Wortes zum einen, sich ein Bild von sich selbst in Situationen zu machen, zum anderen das eige­ ne Selbst zu bilden, d. h. dieses weiterzuentwickeln, es zu ent­ falten und zu formen, indem unter anderem andere in ihren jeweiligen Situationen wahrgenommen werden. Aufgabe der Lehrkräfte und des Faches Geographie ist es, die Schüler in ihrer Selbstbildung und der Bildung ­ihres Selbst zu fördern und sie dadurch in ihrer Persönlichkeit zu stärken. Hierbei spielt die ethische Urteilskompetenz als ­Brücke zwischen Wis­ sen/Können und Haltungen/Handlungen eine wichtige Rol­ le. „Moralische Bildung im Sinne der Förderung wirklicher Handlungsfähigkeit kann also nur gelingen, wenn vertraute Arbeitsteilungen zwischen Fach und Moral, zwischen Kogni­ tion und Emotion überwunden und eine integrative Bildung ­angestrebt werden“ (Lind 2009, S. 25). L i t e r at u r Bögeholz, S. und Barkmann, J.: Ökologische Bewertungskompetenz für reale Entscheidungssituationen: Gestalten bei faktischer und ethischer Komplexität. In: DGU-Nachrichten, Jahresheft 2003, 27/28, S. 44–53 DGfG – Deutsche Gesellschaft für Geographie: Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss – mit Aufgaben­ beispielen. 5. Aufl. Bonn 2008 Dietrich, J.: Was ist ethische Kompetenz? Ein philosophischer Versuch einer Systematisierung und Konkretion. In: Ammicht-Quinn, R., u. a. (Hrsg.): Wertloses Wissen? Fachunterricht als ethische Reflexion. Bad Heilbrunn 2007, S. 30–51 Hemel, U.: Wert und Werte. Ethik für Manager – Ein Leitfaden für die Praxis. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. München 2007 Lind, G.: Ist Moral lehrbar? Ergebnisse der modernen moralpsycholo­ gischen Forschung. 2. Aufl. Berlin 2002 Lind, G.: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis mora­ lischer und demokratischer Bildung. 2. überarbeitete und aktuali­ sierte Auflage. München 2009 Ramonet, I.: Im Labyrinth der Gegenwart. In: LE MONDE diplomatique (Hrsg.), Atlas der Globalisierung Berlin 2003, S. 5 Vankan, L., Rohwer, G. und Schuler, S.: Diercke Methoden – Denken lernen mit Geographie. Braunschweig 2007