Essstörungen Orientierungshilfe für die Suchtprävention Herausgeberin Stadt Zürich Suchtpräventionsstelle Röntgenstrasse 44 8005 Zürich www.stadt-zuerich.ch/suchtpraevention Verfasserin: Christa Berger Projektleiterin, Grundlagen Zürich, 23. Oktober 2009 Eine Fachstelle des Schul- und Sportdepartements Seite 2 Inhalt Abstract 4 1 Einleitung 1.1 Annäherung an das Phänomen Essstörungen 1.2 Die Ambivalenz der Suchtprävention 1.3 Schritte zur Rollenklärung 5 5 7 9 2 Kenndaten 2.1 Begriffliche Klärung 2.2 Verbreitung 2.3 Phänomenologie der Essstörungen 2.4 Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen 2.5 Essstörungen und Substanzmissbrauch 2.6 Zusammenfassung 9 9 10 11 15 17 17 3 Rolle der Suchtprävention 3.1 Grundsätze für die Prävention von Essstörungen 3.2 Universelle, selektive und indizierte Prävention 3.3 Zielgruppen und Zielsetzungen 3.4 Ansätze für die Suchtprävention 3.5 Mögliche Kooperationen 18 18 21 22 25 25 4 FAZIT 27 5 Literatur 28 Seite 3 Die Geschichte vom Suppenkaspar (aus: H. Hoffmann, der Struwwelpeter, 1858) Seite 4 Abstract In Abgrenzung zu den substanzbezogenen oder verhaltensbezogenen Süchten gehören Essstörungen nicht zu den Suchterkrankungen im engeren Sinn, zeigen aber in ihrer Dynamik häufig suchtartige Verhaltensauffälligkeiten. Essstörungen sind ernsthafte psychosomatische Erkrankungen und stellen ein erhebliches Gesundheitsproblem dar. Etwa 1 bis 2% aller 12- bis 25-Jährigen entwickelt eine Anorexie (Magersucht) und etwa 2 bis 4% erkranken an einer Bulimie (Ess-BrechSucht). Essstörungen mit Übergewicht und Adipositas wie die Binge-EatingStörung (Essstörung mit Essanfällen) treten noch häufiger auf (ca. 6% der Bevölkerung). Bei Anorexie und Bulimie dominiert mit bis zu 95% der Betroffenen eindeutig das weibliche Geschlecht, bei der Binge-Eating-Disorder ist das Verhältnis ausgeglichener. Im Gegensatz zur Behandlung und Therapie ist die Prävention von Essstörungen noch nicht weit entwickelt. Bisher gibt es keine Profession, die sich für die Prävention von Essstörungen explizit zuständig fühlt. Es sind vielmehr Vereine und Non-Profit-Organisationen, die sich präventiv engagieren und Angebote entwickelt haben. Suchtfachleute aus den Bereichen Prävention, Beratung und Therapie sehen sich in der Praxis wiederkehrend mit dem Thema „Essstörungen“ konfrontiert, obwohl ihre Zuständigkeit in diesem Themenfeld alles andere als geklärt ist. Die folgende Auseinandersetzung soll Suchtpräventionsfachleuten eine Orientierungshilfe für ihre spezifische Rollenklärung geben. Dabei wird die Haltung vertreten, dass die Suchtprävention in Bezug auf die Prävention von Essstörungen zurückhaltend agieren sollte, dass sie aber ihr komplementäres Knowhow reflektiert und verstärkt einbringt. Seite 5 1 Einleitung 1.1 Annäherung an das Phänomen Essstörungen Essen gehört wie Trinken oder Schlafen zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Ernährung respektive Essen ist ein wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen ist die Esskultur bzw. sind die Ernährungsgewohnheiten einem steten Wandel unterworfen. Angesichts von längeren Arbeitswegen, kürzeren Mittagspausen und neuen Familienstrukturen erfährt der Schnellimbiss (Fastfood) als rasche, unkomplizierte Verpflegung wachsende Beliebtheit, vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Parallel dazu hat aber auch ein verstärktes Gesundheitsbewusstsein im Zusammenhang mit der Ernährung eingesetzt. Essen beeinflusst Körper und Seele, davon zeugen Redewendungen wie „ich habe dich zum Fressen gern“ oder „das finde ich zum Kotzen“. Essen befriedigt elementare Bedürfnisse und ist ein lebensnotwendiger, wiederkehrender Bestandteil des Alltags. Essen ist aber viel mehr als blosse Ernährung. Mit Hilfe von Essensritualen konstituieren wir sozialen Zusammenhalt und vergewissern uns der Zuneigung und Fürsorge der uns nahe stehenden Menschen. Und über die Art und Weise, wie und was wir essen, geben wir viel über unseren Lebensstil und unseren sozialen Status preis. Der Nahrungsüberfluss hat nun nicht unbedingt Lust und Genuss, sondern Ängste und Askese beim Essen befördert. Ausdruck dafür ist eine polarisierte Wahrnehmung und Beurteilung von „gutem“ und „schlechtem“ Essen, was gelegentlich zu einer übertriebenen Fixierung auf gesunde Lebensmittel führen kann1. Essstörungen gehören in der westlichen Gesellschaft zu den häufigsten psychosomatischen Erkrankungen. Sie äussern sich durch ein gestörtes Essverhalten, 1 Dieses Phänomen wird „Orthorexie“ („Krankhaftes Gesundessen“) genannt. Im Unterschied zu den klassischen Formen der Essstörungen (Anorexie, Bulimie und Binge Eating) ist „Orthorexie“ in der Fachwelt als Krankheitsbegriff nicht anerkannt. Seite 6 begleitet von einem problematischen Verhältnis zum Essen und zum eigenen Körper sowie psychischen Symptomen. Es gibt verschiedene Formen von Essstörungen, wobei Mischformen häufig und die Übergänge oft fliessend sind. Essstörungen haben soziale, psychische und biologische Ursachen und führen meist zu erheblichen gesundheitlichen, seelischen und sozialen Beeinträchtigungen. Nach aussen zeigen Betroffene teilweise Verhaltensweisen mit Suchtcharakter. So zum Beispiel der Kontrollverlust, der Wiederholungszwang und die soziale Isolation, welche die Krankheitsbilder und den Alltag der Betroffenen bestimmen. In den letzten Jahren haben sich Essstörungen und ihre Folgen – nicht nur bei Frauen, sondern zunehmend auch bei Männern und Kindern – zu einer Problematik mit hoher sozial- und gesundheitspolitischer Relevanz entwickelt2. Der Diskurs wird allerdings stark vom Thema „Adipositas“ (chronisches Übergewicht) bestimmt, obwohl Adipositas im ICD-103 unter Kapitel IV „Endokrine, Ernährungsund Stoffwechselkrankheiten“ aufgeführt ist und damit nicht unter die eigentlichen Essstörungen fällt4. Aber rund 30% der Übergewichtigen zeigen Anzeichen einer Essstörung. Die Dominanz des Adipositas-Themas hat zur Folge, dass die Zielsetzung „gesundes Körpergewicht“ mehrheitlich mit der Reduktion respektive der Vermeidung von Übergewicht gleichgesetzt wird. Eine Abweichung vom gesunden Körpergewicht nach unten wird dabei ausgeblendet. Diese einseitig geführte Diskussion über Gewichtsprobleme verstärkt unverhofft den von Medien und Modeindustrie 2 Bundesamt für Gesundheit (2008): Nationales Programm Ernährung und Bewegung 2008 – 2012. 3 Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, Version 1.3 (ICD-10). 4 Adipositas ist eine chronische Krankheit, die auch als Fettleibigkeit bezeichnet wird. Sie ist definiert als eine über das Normalmass hinausgehende Vermehrung des Körperfettes. Als Berechnungsgrundlage dient der Body Mass Index (BMI), ein Quotient aus Gewicht und Körpergrösse zum Quadrat (kg/m2). Adipositas liegt bei einem BMI > 30/m2 vor. Seite 7 propagierten Schlankheitswahn und führt mitunter dazu, dass sich selbst Normalgewichtige zu dick fühlen5. Esstörungen sind „heimliche“ Krankheiten. Die durchschnittliche Frist bis zur Inanspruchnahme erster Hilfe beträgt 5 bis 7 Jahre. Das bedeutet, dass die Früherkennung bisher ungenügend greift und gegenüber den Beratungs- und Therapieangeboten noch unterentwickelt ist. 1.2 Die Ambivalenz der Suchtprävention Die im Juni 2006 auf dem Weltkongress der Academy for Eating Disorders (AED) in Barcelona verabschiedete Charta für Essstörungen enthält einen differenzierten Forderungskatalog für eine qualitativ hochstehende Beratung und Behandlung von Betroffenen auf der ganzen Welt. Ausser einem allgemeinen Appell für vermehrte Information und Aufklärung enthält die Charta dagegen kaum Ausführungen für eine adäquate Präventionsarbeit. Dies erstaunt vor dem Hintergrund, dass Fachleute der Prävention grundsätzlich eine hohe Bedeutung zumessen. Es besteht aber eine Kluft zwischen der Proklamierung von Präventionsmassnahmen und der effektiven Umsetzung. Zum einen fehlt es in Bezug auf Essstörungen sowohl an überzeugenden Präventionskonzepten als auch an bewährten und evaluierten Präventionsprogrammen. Dies mag unter anderem damit zusammenhängen, dass die Ursachen von Essstörungen sehr komplexer Natur sind, was eine gezielte und wirksame Prävention erheblich erschwert. Zum anderen gibt es bisher keine Profession, die sich für die Prävention von Essstörungen wirklich zuständig fühlt und differenzierte Angebote entwickelt hat. Wir haben es hier mit einer weitgehend brachliegenden Lücke im Versorgungssystem zu tun. So gelangen ratsuchende Eltern oder Lehrpersonen nicht selten an die Suchtpräventionsstellen, bei der sie sich mangels Alternativen am ehesten kompetente 5 Bereits im Alter von sechs bis sieben Jahren wollen Mädchen dünner sein als sie sind. Mehr als ein Drittel der Kinder zwischen 7 und 13 Jahren haben schon einmal einen Diätversuch unternommen (Deutscher Kinder- und Jugendgesundheitssurvey KiGGS 2007). Seite 8 Präventionshilfe versprechen. Während es für die einen Suchtpräventionsstellen keine Frage ist, auch im Bereich der Essstörungen präventiv aktiv zu sein, ist es für andere Suchtpräventionsfachleute nicht klar, inwiefern sie hier überhaupt zuständig sind oder sein sollen. Eine kurze Internetrecherche hat ergeben, dass nur wenige Deutschschweizer Suchtpräventionsstellen zum Thema „Essstörungen“ offensiv agieren und Präventionsangebote aufführen6. Die Befürworter/innen einer suchtpräventiven Zuständigkeit im Bereich „Essstörungen“ argumentieren unter anderem mit dem Hinweis, Essstörungen als stoffungebundene, exzessive Verhaltensweise zu verstehen. Sie machen Abhängigkeitssymptome geltend (Gedankenabsorption, eingeengter Verhaltensspielraum, Fortsetzung des Verhaltens trotz schädigender Folgen, Kontrollverlust), die auch bei Essstörungen zu beobachten sind. Ebenso seien die Schutz- und Risikofaktoren grundsätzlich dieselben, so dass universelle Suchtprävention immer auch Prävention von Essstörungen mit beinhalte. Andere Suchtpräventionsfachleute verweisen hingegen darauf, dass es sich bei Essstörungen nicht um Abhängigkeitserkrankungen, sondern um psychosomatische Störungen handelt und somit andere Akteure dafür zuständig seien, namentlich Psychiater/innen, Kinderärztinnen und Kinderärzte sowie Klinische Psychologinnen und Psychologen. Des Weiteren machen sie darauf aufmerksam, dass Fachleute von einer spezifischen Präventionsarbeit im Bereich der Essstörungen abraten, weil konträre Effekte befürchtet werden. Eine fundierte, klärende Auseinandersetzung im Hinblick auf eine allfällige Rolle der Suchtprävention im Bereich der Essstörungen ist deshalb nötig7. 6 Z.B. Berner Gesundheit, Fachstelle Suchtprävention Drogenforum Innerschweiz. Der Fachverband Sucht führt gegenwärtig gemeinsam mit der Fachhochschule Nordwestschweiz ein Studienprojekt durch, das sich der Frage annimmt, welche Rolle die Suchtfachstellen im Bereich der essensbezogenen Süchte in Zukunft wahrnehmen sollten (Suchtspiegel 2/2008). 7 Seite 9 1.3 Schritte zur Rollenklärung Dieses Papier möchte Suchtpräventionsfachleuten Orientierungshilfe bieten und Anregung zur Rollenklärung im Themenfeld der Essstörungen geben. Ansatzpunkte für eine reflektierte Präventionsarbeit im Verbund und in Kooperation mit anderen Akteuren sollen aufgezeigt werden. Dabei wird wie folgt vorgegangen: Zunächst werden die verschiedenen Essstörungen in Bezug auf die Begrifflichkeit, Verbreitung und Phänomenologie beschrieben. Danach werden die für die Suchtprävention relevanten Themenbereiche näher beleuchtet (Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen, Essstörungen und Substanzmissbrauch). Danach werden die allgemeinen Grundsätze für die Prävention von Essstörungen dargelegt. Es werden die Zielgruppen und Zielsetzungen benannt und im Anschluss daran mögliche Ansatzpunkte für die Suchtprävention erörtert. Schliesslich werden die relevanten Kooperationspartner in Bezug auf ihre Funktion und Rolle im Bereich der Essstörungen aufgeführt und mögliche Schnittstellen der Zusammenarbeit vorgeschlagen. 2 Kenndaten 2.1 Begriffliche Klärung Die alltagssprachlichen Begriffe „Magersucht“, „Ess-Brech-Sucht“ oder „FressSucht“ legen eine Zuordnung der Essstörungen zu den Abhängigkeitserkrankungen nahe. Essstörungen sind aber keine Abhängigkeitserkrankungen gemäss der Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV. Gemäss ICD-10 sind sie im Kapitel „Psychische und Verhaltensstörungen“ unter „Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren“ (F50-F59) klassifiziert. Substanzmissbrauch und – abhängigkeit fällt im ICD-10 hingegen unter die „Psychische und Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen“ (F10-19). Essstörungen ist ein Überbegriff, der im wesentlichen die Anorexia nervosa, (griech.: nervliche bzw. psychische Appetitlosigkeit), die Bulimia nervosa (griech.: Seite 10 nervlicher bzw. psychischer Ochsenhunger), die Binge Eating Disorder (engl. to binge = verschlingen) sowie die atypischen und sonstigen Essstörungen8 umfasst. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Erscheinungsbildern sind fliessend, Anorexie und Bulimie treten auch als Mischformen auf. 2.2 Verbreitung Über die Prävalenz von Essstörungen gibt es keine exakten Daten. Unabhängig von genauen Zahlen besteht jedoch Klarheit darüber, dass das Risiko für diese Störungen in der Bevölkerung keineswegs gleich verteilt ist. Die Prävalenz ist vor allem durch die Variablen Geschlecht, Alter und soziale Schicht determiniert. Die folgende Tabelle zeigt die entsprechenden Risiken und Verteilungen in der Übersicht (vgl. Tab. 1). Tab. 1: Epidemiologische Risiken Anorexie Bulimie Binge Eating Disorder Frauen: 0,5-1% Männer: 0,1% Frauen: 2-4% Männer: 0,5% 3% der Gesamtbevölkerung 95% der Betroffenen sind weiblich 95% der Betroffenen sind weiblich 75% der Betroffenen sind weiblich, 25% männlich Alter Ersterkrankung 12-23 Jahre, Gipfel bei 14-16 Jahren 20-30 Jahre 20-30 Jahre 45-55 Jahre Soziale Schicht Tendenziell höhere Mittelschicht Tendenziell Mittelschicht Tendenziell Unterschicht Prävalenz Geschlecht Quellen: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen DHS 2004, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2008 8 Bei den atypischen Essstörungen sind nicht alle Kriterien für die Diagnose Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa erfüllt. Unter sonstige Essstörungen fallen der psychogene Appettitverlust sowie krankhafte Essgelüste auf Ungewöhnliches, Ungeniessbares oder Ekliges. Seite 11 Anorexie und Bulimie treten meist während der Adoleszenz auf. Vor allem Mädchen und jüngere Frauen sind davon betroffen9. In Deutschland leiden 0,5 bis 1% der weiblichen und 0,1 bis 0,5% der männlichen Adoleszenten an Anorexie. Bei der Bulimie sind es rund 4% der Frauen zwischen 15 und 35 Jahren bzw. 0,5% der gleichaltrigen Männer (prävention essstörungen praxisnah pep 2009). Binge-Eating-Patientinnen und –patienten fallen häufig durch Fettleibigkeit auf. Das starke Übergewicht ist Folge der wiederholten Essanfälle. Fachleute gehen davon aus, dass 30 bis 40 % der übergewichtigen Menschen – rund 3% der Bevölkerung – an einer behandlungsrelevanten Essstörung leiden. Die Zunahme von schweren Formen der Magersucht ist nicht erwiesen. Jedoch scheint es, dass Bulimie und leichtere Formen von Magersucht häufiger auftreten. Es gibt viele Jugendliche, die ein gestörtes Essverhalten zeigen, ohne jedoch die diagnostischen Kriterien für eine Essstörung zu erfüllen. Bei jungen Frauen ist die Beschäftigung mit Gewicht und Figur ausgeprägt, oft aber ohne dass das Vollbild einer Essstörung vorhanden ist. Latente Essstörungen können aber Vorboten einer ausgeprägten Form einer behandlungsbedürftigen Essstörung sein oder den Einstieg in eine manifeste Essstörung begünstigen. 2.3 Phänomenologie der Essstörungen Die Hauptcharakteristika der drei Essstörungen Anorexie, Bulimie und Binge Eating Disorder werden in einer Übersichtstabelle (siehe folgende Seite) zusammengefasst aufgeführt. Es handelt sich dabei nicht um eine umfassende Beschreibung der drei Störungsbilder. Festgehalten sind die wesentlichen, typischen Merkmale, welche die verschiedenen Störungsbilder charakterisieren. Das äussere Erscheinungsbild der Betroffenen variiert von extrem mager über normalgewichtig bis hin zum extremen Übergewicht. Menschen mit Anorexie und Bulimie beschäftigen sich ständig gedanklich und emotional mit den Themen Es- 9 Eine Erkrankung, die vor allem bei Männern zu beobachten ist, nennt man den “Adoniskomplex”, oder auch “Biggerexie”, “Muskeldysmorphie” oder “Muskelsucht” genannt. Beim Adoniskomplex wollen Männer mit exzessivem Sport, strenger Diät und der Einnahme von Nahrungsergänzungs- oder Dopingmitteln ihren Körper möglichst perfekt formen. Seite 12 sen, Figur und Körpergewicht und versuchen mit Hilfe eines ungesunden Essverhaltens, das Gewicht im jeweils angestrebten Sinne zu verändern. Ähnlich wie bei der Bulimie leiden die Betroffenen bei der Binge Eating Störung unter unkontrollierten Essanfällen. Dabei werden unterschiedlich grosse Mengen an Nahrung schnell und oft wahllos durcheinander bis zu einem unangenehmen Völlegefühl verzehrt. Während Anfang und Ende der Essanfälle bei der Bulimie klar erkennbar sind, kann es bei der Binge Eating Störung über mehrere Stunden immer wieder zur unkontrollierten Nahrungsaufnahme kommen. Damit verbunden sind grosse Scham, Schuld- und Ekelgefühle. Anders als bei der Bulimie behalten Binge Eating Betroffene aber die Nahrung bei sich. Seite 13 ANOREXIE BULIMIE BINGE EATING DISORDER LEITSYMPTOM Bewusst herbeigeführter markanter Gewichtsverlust (15-25% unter Normalgewicht) Wiederkehrender Heisshunger mit anschliesenden Essanfällen und kompensatorischen Massnahmen zur Gewichtsregulierung Heisshungerattacken gefolgt von Essanfällen, ohne Gegenmassnahmen zu ergreifen HAUPTMERKMALE Ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme Ständiges Wiegen und Kalorienzählen Streng kontrolliertes Essen Gestörte Körperwahrnehmung Auffallend dünne Erscheinung Verharmlosung/Ausblendung Übermässige Angst vor dem Dicksein Verzehr von grossen Mengen an Nahrungsmitteln auf einmal Unangemessenes Kompensationsverhalten (u.a. Erbrechen) Normalgewichtig, äusserlich unauffällig Kontrollverlust Anfallartiges Überessen Verschlingen von grossen Mengen bis man sich unangenehm voll fühlt Die Essanfälle treten an mind. 2 Tagen pro Woche auf STRATEGIEN Hungern, Fasten, Nahrungsverweigerung Medikamente (Appetitzügler, Abführmittel) z.T. selbst herbeigeführtes Erbrechen, exzessiver Sport FOLGEN Eingeschränktes Denken und Fühlen, depressive Symptome Endokrine Störungen, körperliche Entwicklung beeinträchtigt, Ausfallen der Menstruation Chronifizierung bei 20-30%, 5-15% der Betroffenen sterben Substanzmissbrauch / Abhängigkeit Selbstinduziertes Erbrechen Medikamente (Abführmittel, Brechmittel) Strenges Fasten, Diäten, exzessiver Sport Vorübergehend übermässig streng kontrolliertes Essverhalten Verzerrte Köperwahrnehmung Schuld- und Schamgefühle, depressive Symptome Schädigungen der Zähne und Schleimhäute, körperliche Veränderungen Sozialer Rückzug Substanzmissbrauch / Abhängigkeit Übergewicht, manche Binge Eater behalten allerdings ihr Normalgewicht Schuld- und Schamgefühle, depressive Symptome Herz-Kreislaufkrankheiten, Bluthochdruck Sozialer Rückzug Seite 14 Für die Prävention sind Kenntnisse der Ursachen für die Entwicklung einer Essstörung von hoher Bedeutung. Die genauen Ursachen sind allerdings nicht bekannt. Die Entstehungsgründe für Essstörungen sind vielfältig und kommen individuell unterschiedlich zum Tragen. Man geht von einem multifaktoriellen Ursachenmodell mit einer Vielzahl externer und interner Risikofaktoren aus. Es werden im Folgenden störungsübergreifende und störungsspezifische Ursachen und Motive aufgeführt Störungsübergreifende Ursachen und Motive Soziokulturelle Faktoren • Gesellschaftliches Schlankheitsideal als Verheissung von Attraktivität, Anerkennung und Erfolg, stark forciert durch Werbung, Modebranche, TV-Shows etc. • Widersprüchliche Rollenanforderungen an Frauen Familiäre Faktoren • Mangelnde Abgrenzung untereinander, geringe Akzeptanz von Autonomie einzelner Familienangehöriger, hohe Bedeutung des familiären Zusammenhalts, überfürsorglicher Erziehungsstil, Spannungen in der Familie, hohe Konfliktvermeidung • Emotionale Vernachlässigung, körperlicher und/oder sexueller Missbrauch Individuelle Faktoren und Motive • Stark vermindertes Selbstwertgefühl • Angst vor dem Dickwerden, Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper • Störung der Identitäts- und Autonomieentwicklung • Gestörtes Essverhalten zur Spannungsreduktion, Problembewältigung, Gefühlsregulierung und Trostsuche Störungsspezifische Ursachen und Motive bei Anorexie Körperliche Faktoren • Frühe Pubertät, chronische Krankheiten wie z.B. Diabetes, perinatale Störungen wie z.B. Frühgeburtlichkeit Seite 15 Soziokulturelle / Familiäre Faktoren • Hohe Leistungserwartungen Neurobiologische Faktoren • Anorexie geht mit Störungen in den Belohungsschaltkreisen des Gehirns einher. Folge: Die Betroffenen sind zwar unfähig, Essen zu geniessen, erleben aber Hunger wie einen Rausch. Individuelle Faktoren und Motive • Perfektionsdrang • Grenzen austesten (weibliches Risikoverhalten) • Distinktionsbedürfnis (sich von anderen abheben können) • Autonomie erlangen über Manipulation des Körpers (auch bei Bulimie) 2.4 Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen Essstörungen zählen im Kindes- und Jugendalter zu den häufigsten chronischen Gesundheitsproblemen. Gemäss den Ergebnissen aus dem deutschen Kinderund Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) weisen mehr als 20% der Kinder und Jugendlichen im Alter von 11-17 Jahren Symptome von Essstörungen (inkl. Adipositas und atypische Essstörungen) auf, Mädchen fast doppelt so häufig wie Jungen. Bei den 11-Jährigen ist der Anteil der auffälligen Kinder mit ca. 20% bei beiden Geschlechtern etwa gleich hoch. Im Lauf der Pubertät geht der Anteil der gefährdeten Jungen auf etwa 13% zurück. Bei den Mädchen ist die Entwicklung umgekehrt. Etwa jedes 3. Mädchen im Alter von 14 bis 16 Jahren weist Symptome einer Essstörung auf (vgl. Tab. 3). Seite 16 Tab. 3: Prävalenz von Essstörungen (inkl. Adipositas und atypische Essstörungen) 11-13 14-17 Gesamt Jungen Mädchen 17,8% 23,5% 13,5% 32,3% 15,2% 28,9% Migranten Einheimische 30,1% 18,5% 30,4% 21,2% 30,3% 20,2% Niedriger sozioökon. Status Mittlerer Status Hoher Status 28,3% 19,1% 13,2% 27,2% 22,6% 17,2% 27,6% 21,3% 15,6% Gesamt 20,6% 22,7% 21,9% Quelle: Hölling, H., Schlack, R: (2007): Bundesgesundheitsblatt 5/6 Mit Beginn der Pubertät steigt die Inzidenz der Anorexie sprunghaft an. Betroffen ist ca. 1% aller 15-19-jährigen Mädchen, ein erster Erkrankungsgipfel liegt bei 14 Jahren. Betroffene zeigen ähnliche Symptomatik wie Erwachsene. Fasten in Kombination mit körperlicher Hyperaktivität (Sport) steht jedoch eindeutig im Zentrum. Ein grosser Teil leidet an depressiven Verstimmungen, nicht selten werden, bezogen auf Essenssituationen, Zwänge und Rituale beobachtet. 10-20% aller Schulkinder sind übergewichtig, vor allem die Mädchen haben in den letzten Jahren stark zugelegt. 6,3% der Kinder weisen eine Adipositas auf. Damit hat jedes 7. Kind ein oberhalb der Norm liegendes Körpergewicht, das Beginn oder Folge einer krankhaften Essstörung sein kann. Kinder und Jugendliche mit Essstörung weisen deutlich mehr psychische Probleme auf als Kinder und Jugendliche mit einem unauffälligen Essverhalten. 14- bis 17-jährige Jungen und Mädchen mit einer Essstörung zeigen gegenüber ihren unauffälligen Altersgenossen erhöhte Raucherraten, insbesondere in Bezug auf den täglichen Tabakkonsum. Zudem zeigte sich ein hoch signifikanter Zusammenhang zwischen erfahrener sexueller Belästigung und vorhandenen Essstörungen für Mädchen und Jungen im Alter von 11 bis 13 Jahren. Auch die Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen unterscheidet sich bedeutsam von den Unauffälligen in Bezug auf Erfahrungen mit sexueller Belästigung. Das Risiko, eine Essstörung zu entwickeln, ist für Kinder aus sozial benachteiligten gesellschaftlichen Milieus deutlich erhöht. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund weisen eine um etwa 50% höhere Quote an Essstörungssymptomen auf als einheimische Kinder und Jugendliche. Seite 17 2.5 Essstörungen und Substanzmissbrauch Essstörungen und Substanzmissbrauch treten oft gemeinsam auf und entwickeln sich in enger Verzahnung miteinander. Insbesondere Frauen setzen Suchtmittel ein, um die Funktion des gestörten Essverhaltens zu unterstützen. Man denke hier unter anderem an den Mythos der schlankmachenden Zigarette. Unter den rauchenden weiblichen Jugendlichen sind es fast zwei Drittel, die mit ihrem Körper nicht zufrieden sind. Eine Studie des Instituts für Therapie- und Gesundheitsforschung (IFT-Nord) in Zusammenarbeit mit der Universität Kiel hat ergeben, dass eine bessere Figur für 41% der jungen Frauen Grund genug ist, um zu rauchen. Mehr als ein Drittel gibt der Zigarette gar den Vorzug vor dem Essen. Frauen setzen auch psychoaktive Substanzen ein, um die Essstörung besser auszuhalten, indem sie zum Beispiel regelmässig appetitvermindernde Medikamente und/oder Abführ- und Brechreizmittel einnehmen. Oder sie versuchen, das Hungergefühl mit Hilfe von Alkohol zu dämpfen. Dabei kann es zu einer Verlagerung des Störungsbildes Richtung Substanzabhängigkeit kommen. Bei Personen mit Erstdiagnose aus dem Bereich der Essstörungen soll bei etwa 10-30% Missbrauch oder Abhängigkeit von Substanzen vorliegen. Besonders verbreitet ist Alkoholabhängigkeit unter übergewichtigen Männern. Bei Personen mit Erstdiagnose Alkohol- und Medikamentenmissbrauch liegt der Anteil mit einer manifesten Essstörung bei schätzungsweise 20-30%. 2.6 Zusammenfassung Folgende Erkenntnisse lassen sich in Bezug auf das Phänomen „Essstörungen“ festhalten: • Die Grenze zwischen normalem und gestörtem Essverhalten ist fliessend. Gestörtes Essverhalten ist gekennzeichnet durch die ständige Beschäftigung mit dem Thema „Essen“ bzw. panische Angst vor einer Gewichtszunahme. • Esstörungen sind keine Abhängigkeitserkrankungen, sondern ernsthafte psychosomatische Störungen. Das gestörte Essverhalten kann aber bisweilen Suchtcharakter aufweisen. • Adipositas ist in den internationalen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV nicht unter den Essstörungen aufgeführt. Übergewicht kann aber sowohl Ursache als auch Folge einer Essstörung sein. Seite 18 • Zwar liegt die Prävalenzrate der Anorexie und Bulimie deutlich unter jener für andere psychische Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen. Aber gegen 10% der bis 35-Jährigen weisen deutliche Symptome und subklinische Ausprägungen einer Essstörung auf. • Essstörungen treten zwar über die gesamte Altersspanne auf. In der Zeit der Pubertät besteht allerdings das grösste Risiko, eine Essstörung zu entwickeln. • An Essstörungen erkranken überwiegend Mädchen und junge Frauen zwischen 12 und 30 Jahren. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund tragen ein auffallend höheres Risiko, an einer Essstörung zu erkranken. • Essstörungen gehen oft einher mit einem Substanzmissbrauch und/oder einer Substanzabhängigkeit. • Viele Menschen mit einer Essstörung (bis 70%) zeigen zusätzlich Auffälligkeiten im psychiatrischen Bereich: Zwangs-, Angst-, Persönlichkeitsstörungen sowie Depressionen. • Die genauen Ursachen für die Entwicklung einer Essstörung sind unbekannt. Sicherlich spielen aber das gesellschaftliche Schlankheitsideal, geschlechtsspezifische Rollenerwartungen, ein geringes Selbstwertgefühl sowie verschiedenartige individuelle Belastungen und Probleme eine wichtige Rolle. • Häufige Motive zur gesundheitsschädigenden Manipulation des Körpers durch ungesundes Essverhalten sind Anpassungsversuche an körperliche Idealvorgaben, Kontroll- und Autonomiegewinn, Erlangung von Selbstsicherheit und Selbstbestätigung, Spannungsabfuhr, Problembewältigung und Gefühlsregulation (Trostspender, Angst- und Schamreduktion). 3 Rolle der Suchtprävention 3.1 Grundsätze für die Prävention von Essstörungen Prävention von Essstörungen erfolgt bisher eher marginal und punktuell, oft als Teilaspekt im Rahmen von universellen Präventionsaktivitäten. Dies mag zum einen damit zusammenhängen, dass Prävention von psychosomatischen Störungen an sich ein schwieriges Unterfangen ist; zum anderen gibt es bisher keine klare professionelle Zuständigkeit für die Präventionsarbeit. Es sind vielmehr Ver- Seite 19 eine und Non-Profit-Organisationen wie zum Beispiel die Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES, das Experten-Netzwerk Essstörungen ENES oder Prävention Essstörungen praxisnah pep, die sich für die Prävention von Essstörungen engagieren. AES und pep haben verschiedene Angebote, Unterrichtsmaterialien sowie Broschüren und Anspielvideos/DVD’s entwickelt10. Kommt die Schwierigkeit hinzu, dass die wissenschaftlichen Ergebnisse, insbesondere bezüglich der anhaltenden Wirkung präventiver Programme, widersprüchlich sind: Es ist noch weitgehend offen, ob Jugendliche und junge Erwachsene durch Vorbeugung abgehalten werden von Diäten und dem Risiko einer Essstörung oder ob sie nicht genau dadurch erst darauf gebracht werden. Expertinnen und Experten warnen zudem vor dem universellen oder altersunangemessenen Einsatz von Präventionsprogrammen. Ergebnisse universeller Präventionsprogramme machen deutlich, dass sich zwar das Wissen über gestörtes Essverhalten verbessert, eine Verhaltensänderung hingegen nicht erreicht wird. Ansätze selektiver und indizierter Prävention hingegen zeigen ermutigende Resultate. So haben unbehandelte Essstörungen ab- und die Behandlungserfolge deutlich zugenommen. Interessant sind die Ergebnisse einer kontrollierten Evaluationsstudie, welche die Wirksamkeit eines Präventionscurriculums in den USA überprüft hat11. Dabei hat sich gezeigt, dass sich zwar das Wissen über gestörtes Essverhalten bei den Risikoschülerinnen, nicht aber bei den Nicht-Risiko-Jugendlichen, verbesserte und dass sich bei keiner der beiden Gruppen eine Verhaltensänderung zeigte. 10 Beispiel: „Nie genug und immer zuviel“ (In Zusammenarbeit mit der Luzerner Fachstelle für Suchtprävention): Module und Materialien für den Unterricht inklusive Weiterbildung für Schulteams oder „Body Talk“-Kurzfilme, die Jugendlichen Orientierung geben in der Pubertät sowie Anregung zu Gesprächen über Tabuthemen und Hilfe bieten, sich selbst und andere besser zu verstehen. 11 Killen et al. (1993): An attempt to modify unhealthful eating attitudes and weight regulation practices of young adolescent girls. In: International Journal of Eating Disorders 13, S. 369-384. Seite 20 Die Autoren plädieren deshalb für spezifische Interventionen nur für RisikoAdoleszente12. In Bezug auf die Prävention von Essstörungen müssen folgende Grundsätze beachtet werden: • Keine störungsspezifische Prävention betreiben: Der aktuelle Fokus auf die Adipositas-Problematik mit der Sensibilisierung für bewusstes und gesundes Essen kann wie eine Aufforderung zur Beachtung von „guten“ und „schlechten“ Speisen wirken und damit die Neigung zu essgestörtem Verhalten verstärken. • Keine Informationen über die Erkrankung vermitteln: Die meisten Betroffenen sind in der Regel über die Krankheitsbilder der Essstörungen sehr gut informiert. Es sollen möglichst keine detaillierten Informationen über die Erkrankung vermittelt werden, da die Gefahr der Nachahmung besteht. • Nicht die schädlichen Aspekte fokussieren, sondern das Augenmerk auf die Persönlichkeitsstärkung bzw. die Schutzfaktoren lenken. Eine einseitige Konzentration präventiver Bemühungen auf Essen, Gewicht und Figur ist zu vermeiden. Stattdessen müssen das Selbstwertgefühl, das Selbstvertrauen und die Selbstwahrnehmung sowie körperliche Bewegung und ein positives Körpergefühl im Vordergrund stehen. • Geschlechtsspezifische Ansätze: Nachhaltige Prävention setzt bei den unterschiedlichen Ressourcen, Bedürfnissen Erfahrungen und Lebensrealitäten von weiblichen und männlichen Jugendlichen bzw. Männern und Frauen an. Angesichts der ungleich stärkeren Betroffenheit von jungen Frauen bei den Essstörungen drängen sich geschlechtsspezifisch Ansätze besonders auf. • Risikopopulationen gezielt ansprechen. Im Unterschied zur universellen Prävention soll hier über Problemzusammenhänge aufgeklärt werden, damit sich Betroffene selbst wieder erkennen können. 12 Jugendliche, die durch folgende Merkmale auf sich aufmerksam machen: Ständiges Diäthalten, hohe Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, dauernde Beschäftigung mit Figur und Gewicht, ständige Gewichtskontrolle, gestörtes Essverhalten. Seite 21 • Früherkennung und Frühintervention etablieren. Hier geht es darum, eine Chronifizierung zu verhindern und die Motivation zu einer möglichst früh beginnenden Behandlung zu fördern. Die relevanten Zielgruppen sind hier Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen sowie relevante Professionsgruppen wie Lehrpersonen, Jugendarbeiter/innen, Trainer/innen, Schulärztinnen und Schülärzte, Kinderärztinnen und Kinderärzte und Frauenärztinnen und Frauenärzte. • Multiplikatorenschulung: Für eine effektive Früherkennung und Frühintervention ist die Vermittlung der relevanten Risikofaktoren und Erkennungsmerkmale (ständiges Diäthalten, negative Einstellungen gegenüber dem eigenen Körperbild) zentral. Darüber hinaus müssen Leitlinien entwickelt werden, um Betroffene an die richtigen Fachstellen weiter zu vermitteln. 3.2 Universelle, selektive und indizierte Prävention Universelle Präventionsansätze zur Verhinderung von Essstörungen sind in Bezug auf ihren Nutzen umstritten. Man kennt auch die Ursachenzusammenhänge der verschiedenen Essstörungen noch zu wenig differenziert, um adäquate Präventionsprogramme zu entwickeln. Spezifische Massnahmen universeller Prävention gibt es denn auch nur ansatzweise, wobei deren Erfolg wenig erforscht ist. Stattdessen überwiegt eine allgemein die Lebenskompetenzen fördernde und ressourcenorientierte Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Sinne der Stärkung individueller Schutzfaktoren. Dazu gehören die Förderung sozialer Beziehungen, der Körperwahrnehmung, des Umgangs mit Gefühlen, von Handlungskompetenzen, einer positiven Geschlechtsidentität und des Selbstwertgefühls. Die Hessische Landesstelle für Suchtfragen HLS hat in Anlehnung an die Ottawa-Charta weitere wichtige Lebenskompetenzen im Hinblick auf die Prävention von Essstörungen herausgearbeitet: Kritisches Denken, Entscheidungsfindung, Selbstbehauptung, Selbstwahrnehmung sowie Widerstand gegen Gruppendruck. Selektive Prävention richtet sich an Teilgruppen, bei denen man aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Essstörung annimmt. Folgende Risikogruppen sind dabei besonders relevant: • 11-13-jährige weibliche Jugendliche und junge Frauen • Jugendliche Raucherinnen Seite 22 • Kinder und Jugendliche aus benachteiligten gesellschaftlichen Milieus • Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen (Angststörungen, Depression) • Kinder und Jugendliche, die von sexuellem Missbrauch betroffen sind • Übergewichtige Kinder und Jugendliche • Jugendliche mit chronischen Krankheiten (z.B. Diabetes) • Ballett- und Tanzschüler/innen • Talentierte Sportler/innen, insbesondere aus den Bereichen Ausdauersport, Eiskunstlauf, Skispringen und Kunstturnen, wo ein geringes Körpergewicht sehr bedeutsam ist. Die Zielsetzung selektiver Präventionsansätze besteht darin, die Entwicklung einer Essstörung zu verhindern und beinhaltet im Wesentlichen Sensibilisierung, Enttabuisierung, Problembewusstsein schaffen sowie Ressourcenstärkung. Mit Hilfe indizierter Präventionsansätze arbeitet man gezielt mit Einzelpersonen, die aufgrund bestimmter Symptome oder Verhaltensweisen bereits auffällig geworden sind, die aber noch nicht das klinische Vollbild einer Essstörung zeigen. Folgende Merkmale treten dabei besonders in Erscheinung: Strenges Diäthalten und ständige Gewichtskontrolle, rigide kontrolliertes Essverhalten, ständige Unmutsäusserungen in Bezug auf den eigenen Körper, Einnahme von gewichtsregulierenden Medikamenten sowie sozialer Rückzug. Im Zusammenhang mit der Anorexie ist zu beachten, dass Betroffene oft sehr leistungsorientiert und perfektionistisch sowie sehr gute Schüler/innen sind. Mit Hilfe von Früherkennung und Frühintervention geht es darum, Betroffene einer adäquaten Behandlung/Therapie zuzuführen, um ein Fortschreiten der Erkrankung und die Entwicklung einer voll ausgeprägten Störung zu verhindern und allfälligen gesundheitlichen und sozialen Folgeschäden vorzubeugen. 3.3 Zielgruppen und Zielsetzungen Familie, Schule, Lehrbetrieb, Jugendarbeit, Sportvereine sowie weitere Freizeitorganisationen für Kinder und Jugendliche (z.B. Pfadi) sind zentrale Orte, an denen Prävention von Essstörungen sinnvollerweise ansetzen kann. Da sind zunächst die Zielgruppen für direkte Präventionsarbeit. Im Zentrum stehen zunächst Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern. Kinder und Jugendliche Seite 23 sollen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gestärkt werden. Sie sollen darüber hinaus ermutigt werden, mögliche Anzeichen einer Verhaltensauffälligkeit im Zusammenhang mit Ernährung und Gewicht bei ihren Freundinnen und Freunden anzusprechen und sich allenfalls an eine Vertrauensperson zu wenden. Eltern sollen in Bezug auf ihre Erziehungs- und Wahrnehmungsfähigkeiten Unterstützung erhalten. Des Weiteren übernehmen Schlüsselpersonen in den genannten Lebensfeldern von Kindern und Jugendlichen Verantwortung für die Präventionsarbeit. Als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren werden insbesondere Lehrpersonen, Schulärztinnen und Schulärzte, Schulpsychologinnen und -psychologen und Schulsozialarbeiter/innen, Jugendarbeiter/innen, Erzieher/innen sowie Ausbildner/innen zur Früherkennung und Triage befähigt. Sie sollen für die Problematik der Essstörungen sensibilisiert werden und über spezialisierte Fachstellen informiert sein. Schliesslich gibt es noch die spezifischen Zielgruppen für präventive Massnahmen. So zum Beispiel die Sporttrainer/innen, insbesondere Ballett- Kunstturn- und Tanzlehrer/innen. Sie sollten zum einen für das Problem „Essstörungen“ sensibilisiert werden und allfällige Risikomerkmale bei den Juniorinnen und Junioren erkennen können. Zum anderen sollten sie ihre Rolle in Bezug auf die Gewichtskontrolle ihrer Schützlinge erkennen und kritisch hinterfragen. Auch die Vertreter/innen aus der Mode-, Lebensmittel- und Pharmaindustrie, von Modelagenturen sowie die Macher/innen von Fernsehshows von Formaten wie z.B. „Deutschland sucht das Topmodel“ sollten vermehrt in die Verantwortung genommen werden. Im Folgenden werden die relevanten Zielsetzungen für die einzelnen Zielgruppen tabellarisch festgehalten (vgl. Tab. 4). Seite 24 Tab. 4: Zielgruppen und Zielsetzungen Zielgruppen Zielsetzungen Prävention Essstörungen Kinder Jugendliche Freude und Genuss am Essen Die normale Körpergewichtsentwicklung während der Pubertät kennen Medienbotschaften kritisch hinterfragen Die Risiken von Diäten kennen Freude an Bewegung und Entspannung Motivation für gesundes Essverhalten und aktiven Lebensstil Stabiles Selbstwertgefühl Positives Körpergefühl Akzeptanz der Verschiedenheit von Körperformen Anleitung zur Peer-to-peer-Unterstützung Eltern Multiplikatoren Universelle Präventionsarbeit (Lehrkräfte) Früherkennung/Frühintervention Anzeichen von Essstörungen erkennen Hintergründe von Essstörungen verstehen Handlungskompetenzen im Umgang mit Betroffenen Weiterführende Hilfsangebote kennen, Triage Spezifische Zielgruppen Sensibilisierung Anzeichen von Essstörungen erkennen Eigene Rolle kritisch reflektieren Triage Allgemeine Erziehungskompetenzen stärken Selbstwert und Selbstbewusstsein der Kinder stärken Gesundes Körperbewusstsein der Kinder fördern Essen nicht als Belohung, Bestrafung oder zum Trost einsetzen Genussvolles Essen vorleben Den eigenen Umgang mit Körper und Figur kritisch reflektieren Offene Gesprächs- und Streitkultur, gegenseitige Wertschätzung, Grenzen respektieren Seite 25 3.4 Ansätze für die Suchtprävention Im vorigen Kapitel wurden die relevanten Zielgruppen und Zielsetzungen für die Prävention von Essstörungen dargelegt. Es ist aber noch nicht geklärt, welche Profession die Verantwortung für die konkrete Umsetzung der Präventionsarbeit effektiv wahrnimmt bzw. wahrnehmen soll. Es kann nicht die Aufgabe der Suchtprävention sein, diese Lücke zu füllen. Dafür gibt es gewichtige Gründe: • Fehlender Auftrag: Die relevanten rechtlichen Grundlagen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene sehen keine Führungsrolle der Suchtprävention im Bereich der Essstörungen vor. • Fehlende Ressourcen: Die Suchtpräventionsstellen verfügen nicht über genügend Ressourcen, um den Ansprüchen einer qualitativ hoch stehenden, differenzierten Prävention von Essstörungen wirklich gerecht zu werden. • Mangelnde Erfahrung mit indizierten und selektiven Ansätzen: Früherkennung und Frühintervention sind innerhalb der Suchtprävention noch in Entwicklung und Erprobung. • Andere professionelle Zuständigkeiten: Essstörungen sind keine Abhängigkeitserkrankungen, sondern ernsthafte psychosomatische Störungen und gehören deshalb primär in die professionelle Zuständigkeit des psychosozialen-medizinischen Bereichs. Mit Sicherheit verfügen Suchfachleute über komplementäres Knowhow zum psychiatrisch-medizinischen Bereich und sind deshalb in der gesamten Behandlungskette von Essstörungen wichtige Partner. Die Präventionsaktivitäten in Bezug auf Essstörungen müssen intensiviert werden. Die Suchtprävention kann darin - insbesondere aufgrund ihres methodischen Knowhows - durchaus bestimmte Funktionen übernehmen. Im folgenden Kapitel werden mögliche Kooperationspartnerschaften für die Suchtprävention aufgezeigt. 3.5 Mögliche Kooperationen Zur Verbesserung und Stärkung der bisherigen Präventionsaktivitäten im Bereich der Essstörungen sollen in Zukunft vermehrt gezielte Kooperationen eingegangen werden. Es werden im Folgenden die relevanten Professionen und ihre Zuständigkeit im Bereich der Essstörungen dargelegt. Auf dieser Grundlage können dann Kooperationsoptionen mit der Suchtprävention aufgezeigt werden. Seite 26 • Hausärztinnen und Hausärzte sowie Kinder- und Jugendärztinnen und ärzte sind häufig diejenigen, die eine Essstörung zuerst erkennen, diagnostizieren und in ihrer Praxis behandeln. Sie leisten zudem auch Anghörigenarbeit. • Die Psychiatrie, das Kinderspital und andere Spitäler sowie spezialisierte medizinische Fachstellen sind die Hauptzuständigen für Betroffene von Essstörungen. Sie stellen die Diagnose, führen Behandlungen und Therapien durch und leisten Angehörigenarbeit. Die Suchtprävention könnte in Zusammenarbeit mit diesen Fachleuten Angebote im Rahmen der selektiven Prävention entwickeln und mit durchführen. Zielgruppen wären Personen mit einer diagnostizierten Essstö rung, bei denen ein Risiko für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung vorliegt. • In der Schule fällt die Hauptzuständigkeit in das Handlungsfeld der Schulärztinnen und Schulärzte. Sie nehmen die Früherkennung wahr, beraten Betroffene und ihre Angehörigen und weisen sie an spezialisierte Stellen weiter. Darüber hinaus sensibilisieren sie die Lehrkräfte und leisten Präventionsarbeit. Dabei arbeiten sie oft mit Ernährungsberaterinnen und Ernährungsberatern zusammen.13 Die Suchtprävention kann die Schulärzte/innen in ihren Präventionsaktivitäten unterstützen und beratende Hilfe anbieten. Im Rahmen der Befähigung der schulischen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zur Früherkennung soll das Thema „Essstörungen“ miteinfliessen. Die Fachleute der Suchtprävention vermitteln den Lehrkräften Lehrmittel sowie den Kontakt zu den relevanten Organisationen und Vereinen (pep, AES, ENES). • 13 In Kinder- und Jugendheimen übernehmen die Erzieher/innen wichtige Funktionen im Bereich der Früherkennung. Der Schulärztliche Dienst der Stadt Zürich hat eigene Ernährungsberaterinnen im Dienst, arbeitet eng mit der Ernährungsberatung des Kinderspitals und den kinderpsychiatrischen Diensten zusammen . Seite 27 Die Suchtprävention könnte ihr Knowhow in Sachen Früherkennung in Zusammenarbeit mit spezialisierten Fachleuten einbringen und Schulungen von Heimteams vornehmen. • Sporttrainer/innen der exponierten Sportarten wie Ballett und Kunstturnen spielen eine zentrale Rolle im Umgang mit dem Körpergewicht. Zudem sind sie bedeutsam für die Früherkennung. Die Suchtprävention könnte Workshops für Sporttrainer/innen durchführen und sie sensibilisierenauf ihre spezifische Verantwortung. • Jugendarbeiter/innen sowie Lehrlingsverantwortliche übernehmen wichtige Funktionen in Bezug auf Früherkennung und Triage. Die Suchtprävention könnte die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in Sachen „Früherkennung“ schulen und sie zur Triage befähigen. Sie könnte zudem über die Organisationen und Vereine (pep, AES, ENES) informiert und allenfalls die nötigen Kontakte herstellen. • AES, pep und ENES leisten bereits wichtige Präventions- und Sensibilisierungsarbeit. Die Suchtprävention kann in regelmässigem Kontakt und Austausch mit diesen Organisationen stehen und punktuell methodische Unterstützung anbieten, zum Beispiel wenn es darum geht, eine spezielle Zielgruppe anzusprechen oder eine Kampagne zu lancieren. 4 FAZIT Aufgrund der bisherigen Ausführungen kann das professionelle Selbstverständnis der Suchtprävention in Bezug auf Essstörungen wie folgt auf den Punkt gebracht werden: Kein Führungsanspruch, dafür fachliche Kooperation. Die aufgezeigten Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Fachleuten aus anderen Berufssparten müssen allerdings erprobt oder zum Teil erst etabliert werden. Die Suchtprävention sollte dabei offensiv auf ihre potentiellen Partner zugehen, um die bereits bestehenden qualifizierten Präventionsansätze von AES, pep und ENES zu stärken und die weitere fachliche Auseinandersetzung voran zu treiben und mit zu gestalten. Seite 28 5 Literatur Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES: www.aes.ch, Bundesministerium für Gesundheit: www.bmg.bund.de: Essstörungen, Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KIGGS). Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, www.bzga-essstoerungen.de und www.bzga-kinderuebergewicht.de. Budenberg-Fischer, Barbara (2000): Früherkennung und Prävention von Essstörungen. Essverhalten und Körpererleben bei Jugendlichen. Stuttgart: Schattauer Verlag. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (2004): Essstörungen, Suchtmedizinische Reihe, Band 3. Eger, Johana (2004): Essstörungen und Suchterkrankungen. Dissertation, Fakultät für Medizin, Universität München. Experten-Netzwerk Essstörungen: www.netzwerk-essstoerungen.ch Gerlinghoff, M. und Backmund, H. (2002): Essstörungen aus ärztlicher Sicht. In: Bayerisches Arzteblatt 1, S. 4-7. Hessische Landesstelle für Suchtfragen (HLS): HLS-Empfehlungen zur Prävention von Essstörungen, pdf-datei unter http://www.fachstelle-praevention.de. Hölling, H. und Schlack, R. 2007): Essstörungen im Kindes- und Jugendalter. Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS). In: Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, S. 794-799. Krause-Girth, Cornelia (2007): Essstörungen – Zeichen einer gefährlichen Entwicklung. In: Seidenstücker, Bernd, Mutke, Barbara: Praxisratgeber zur Betreuung und Beratung von Kindern und Jugendlichen, Band 1, Kap. 2.1.4, S. 1-30. PEP Prävention von Essstörungen Praxisnah: www.pepinfo.ch Sonnenmoser, Marion (2006): Essstörungen. Bei Prävention ansetzen. In: Deutsches Ärzteblatt, Heft 7, S. 314-316. 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