Essstörungen

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Essstörungen
Priv.-Doz. Dr. med. Dipl.-Psych. Grabhorn
Was bedeutet Krankheits-Widerstand
Widerstand ist ein Nichtwissen-Wollen aufgrund von
Schamgefühlen und Angst vor Verletzungen (Freud 1895).
Als Widerstand können alle Einstellungen und
Verhaltensweisen betrachtet werden, die sich gegen den
Fortschritt in der Behandlung richten (Ermann 2000).
Historie
Anorexie:
•Frühe Fallbeschreibungen: Margarethe von Ungarn 1245
•Krankheitsbezeichnung: 1873 Lasegue,1888 Gull
•60er Jahre: systemische Erforschung durch Bruch, Crisp, Russel
•70er Jahre: erste Überblicks- und Sammelbände zu Diagnostik
und Therapie
Bulimie:
•Erste Fallbeschreibung: 1932 von Wulff
•1980: Eingang des Krankheitsbildes in das DSM-III Schema
•1987: Definition der Bulimia nervosa in der ICD-10
Essstörungen
(DSM IV)
Anorexie
restriktiv
bulimisch
Bulimie
purging
non purging
NNB
Binge Eating
Störung
Epidemiologie
Anorexie
Erkrankungsalter 14. – 18.
Häufigkeit
1% (d. gefährd. Altersgruppe)
Bulimie
16. – 35. LJ
3 % (d. gefährd. Altersgruppe)
Verhältnis
Frauen : Männer 10 : 1
10 : 1
gehäuft in höheren Sozialschichten Verteilung nicht eindeutig
Risikogruppen für Anorexie und Bulimie:
• Sportlerinnen, Ballettschülerinnen
• Gymnasiastinnen, Studentinnen
Diagnostische Kriterien der Anorexia
nervosa nach ICD-10
• BMI von 17,5 oder weniger (z.B. 50,6 kg/1,70 m)
• Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeiden von
hochkalorischen Speisen und/oder
–
–
–
–
selbstinduziertes Erbrechen
selbstinduziertes Abführen
körperliche Aktivität
Appetitzügler und/oder Diuretika
• Körperschemastörung: Angst vor dem Dickwerden als tief verwurzelte
überwertige Idee bei sehr niedriger Gewichtsschwelle
• Endokrine Störung (Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse):
Amenorrhoe (b. Männern: Libido- u. Potenzverlust)
Es werden der restriktive Typus und der bulimische Typus unterschieden.
Diagnose der Bulimia nervosa (ICD-10)
(Definition der Bulimia nervosa in der ICD-10 erstmals 1987)
1. Andauernde Beschäftigung mit dem Essen, unwiderstehliche Gier
nach Nahrungsmitteln, Essanfälle
2. Vermeidung von Gewichtszunahme durch eine oder mehrere der folgenden
Maßnahmen:
- selbst induziertes Erbrechen
- selbst induziertes Abführen
- zeitweiliges Fasten
- Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika
3. Krankhafte Furcht, dick zu werden, scharf definierte Gewichtgrenze
4. In der Vorgeschichte häufig Episoden einer Anorexie bzw. von
anorektischem Verhalten
Binge Eating Störung (Essstörung mit
„Fressanfällen“) nach DSM- IV
A. Wiederholte Episoden von „Fressanfällen“:
– Essen einer Nahrungsmenge in einem abgegrenzten Zeitraum (z.B. zwei Stunden)
– definitiv größer als die von den meisten Menschen in ähnlicher Zeit unter ähnlichen Umständen
gegessene
– Gefühl des Kontrollverlustes über das Essen während der Episode
B. Die Episoden von „Fressanfällen“ treten gemeinsam mit mindestens drei der folgenden Symptome auf:
– wesentlich schnelleres Essen als normal
– Essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl
– Essen von großen Nahrungsmengen ohne körperliches Hungergefühl
– Allein Essen aufgrund von Schamgefühlen wegen der Menge
– Im Nachhinein Gefühle von Selbstekel, Deprimiertheit oder starker Schuld
C. Deutliches Leiden wegen der „Fressanfälle“
D. Durchschnittliches Auftreten der „Fressanfälle“ an mindestens 2 Tagen in der Woche für 6 Monate
E. Auftreten nicht in Kombination mit regelmäßigem kompensatorischen Verhalten (z.B. Erbrechen,
Fasten) oder ausschließlich im Verlauf einer Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa
Körperliche Veränderungen bei
Magersucht und Bulimie
• Störungen der Hunger- und Sättigungsregulierung
• Störungen des Hormonhaushaltes
• Wachstumsstörungen
• Herz- und Kreislaufstörungen
• Magen- und Darmbeschwerden
• Schädigung der Knochensubstanz, Haut, Zähne, Haare
Problem „Diät-Halten“
• Diät-Halten trotz Normalgewicht
- 47% der Frauen und 32% der Mädchen halten Diät um Gewicht zu verlieren
(Stephenson et al 1987, Biener & Heaton 1995, Moses et al 1989)
• Ungesunde Gewichtskontrollmaßnahmen häufig
(Fasten, einseitige Ernährung, Appetitzügler, Laxantien)
- 43% Mädchen und 13% Jungen fasteten oder ließen Mahlzeiten aus
- 8% der Mädchen und 2% der Jungen benutzten „Diätpillen“ oder Speed
- 2% aller Jugendlichen benutzen Laxantien (Klassen 9 - 12, N=133794!)
(Minnesota Dept 1998)
• Diät-Halten als Risikofaktor (Restraint-Theorie)
- 35% der Mädchen hielten Diät, Essstörung nach 12 Monaten bei 21%
(Patton et al 1990)
- Diäthäufigkeit ≈ Eßstörungssymptomen, Körperunzufriedenheit, Depressivität,
Ineffektivität, Selbstunsicherheit (Ackard et al 2002)
Was ist gezügeltes Essverhalten?
Ein Essverhalten, dass auf Gewichtsabnahme und Vermeidung von
Gewichtzunahme ausgerichtet ist. Gezügeltes Essverhalten
erfordert eine massive kognitive Verhaltenskontrolle, im Vergleich
zu normalem Essverhalten, das sich an Appetit, Hunger und
Sättigung orientiert.
wiederholtes Diäten
Auslassen von Mahlzeiten
Vorzeitiges Beenden von
Mahlzeiten
Fastentage
Kalorienzählen
Bilanzieren von Mahlzeiten
Vermeiden hochkalorischer
Nahrungsmittel
Gebrauch von Diätprodukten
und Süßstoffen
Konsequenzen aus dem gezügeltem
Essverhalten
Erhöhtes Risiko für Entstehung einer Essstörung (insb. bulimische
Symptomatik)
Aufrechterhaltung von Essstörungen
Neuropsychologische Veränderungen (Konzentrationsstörungen)
Endokrinologisch-metabolische Veränderungen (verminderter
Energieverbrauch, Zyklusstörungen, herabgesetzte Insulin- und
Noradrenalinsekretion)
In der Behandlung von Essstörungen mit Essanfällen ist deshalb
der Wiederaufbau einer ausgewogenen und kalorisch ausreichenden
Ernährung eine zentrale Intervention zum Abbau des
symptomatischen Verhaltens.
Psychodynamik
Anorexie als ein Versuch zur „Lösung“
von Entwicklungskonflikten
(Reich 2004)
Als Kern der Störung wird die Unsicherheit des Selbst (niedriger Selbstwert)
angesehen. Es besteht deshalb große Angst, die Grenzen zu wichtigen
Bezugspersonen und Umwelteinflüssen nicht aufrechterhalten zu können.
Ein Festhalten an der Symptomatik ist deshalb so wichtig, weil damit
1. das gestörte Selbstwertgefühl gehoben wird (Schlankheitsideal,
Perfektionismus, Askese- Ideologie).
2. der ängstigende Autonomie-Schub der Pubertät aufgehalten wird.
3. die ängstigende sexuelle Entwicklung zum Stillstand kommt.
4. eine erfolgreiche Kontrolle des („guten“) Geistes über den („bösen“) Körper
erfolgt.
5. die Unabhängigkeit von der Familie und anderen Personen betont werden kann
(Autarkie-Ideal).
Bedeutung von Scham für die
Essstörungen
Bulimie galt lange als „die heimliche Erkrankung“, die oft
Jahre lang unerkannt im Verborgenen praktiziert wird
Anorexie ein Schamsyndrom: „Der Körper ist schmutzig,
hässlich und soll nicht mehr gesehen werden.“(Wurmser 1993)
Scham ist meist ein intensiver negativer Affekt, eine
„charakteristische Trias von Schwäche, Schmutzigkeit und
Defekt“.
Bulimie als Lösungsversuch von Konflikten
1. Durch den Essanfall werden unerträgliche affektive Spannungen
abgebaut (Essen als „Trost“, Beruhigung, Ersatzbefriedigung).
2. Der Spannungsabbau findet ohne Kontakt zu anderen Personen statt.
Die Betroffene kann ihre (Pseudo-) Autonomie wahren.
3. Durch gegensteuernde Maßnahmen wird dem Ideal von Schlankheit
und Attraktivität Rechnung getragen.
4. Durch die Heimlichkeit der Symptomatik wird nach außen das Bild
von „Normalität“ und „Funktionieren“ aufrechterhalten.
Teufelskreismodell der Essstörungen
Interpersonelle Probleme (Arzt-Patient-Beziehung)
Biologie
Familie
Gesellschaft
Ich-Ideale (Perfektionismus) - niedriger Selbstwert - Autonomiekonflikt
Affekt- (Gefühle von Schuld, Scham,
Ekel) und Konfliktabwehr:
Verschiebung auf den Körper
Überbewertung des Körpers (Körperbild)
Strikte Diät und Gewichtskontrolle
Niedriges Gewicht
Essattacken
„Hungersyndrom“
Erbrechen/Laxanzien
Die ärztliche und
therapeutische Arbeit
21-Jahres-Katamnese Anorexia nervosa
(Zipfel et al. 2000)
77 Patientinnen (ursprünglich n = 84)
• 50,6% voll geheilt
• 20,8% mittleres Ergebnis
• 26,0 % schlechtes Ergebnis:
- 10,4% Vollbild der Anorexie nach DSM IV
- 15,6 % verstorben
• 2,6% verstorben an Erkrankungen ohne direkten Bezug zur
Anorexie
12-Jahres-Katamnese bei Bulimie
(Fichter u. Quadflieg 2004)
• 196 Patientinnen mit Bulimia nervosa („purging type“)
• 5 Messzeitpunkte:
Behandlungsbeginn und -ende, 2, 6 und 12 Jahre nach Behandlung
• Ergebnisse nach 12 Jahren:
– 70% keine Essstörung
– 13 % nicht näher bezeichnete Essstörung
– 10 % weiterhin Bulimie („purging type“)
– 2 % verstorben
• Bester Prädiktor für die Ergebnisse:
– psychische Komorbidität
Beahandlungsgrundsatz für
Essstörungen
Eine störungsspezifische Psychotherapie ist
die Methode der Wahl in der Behandlung
von Essstörungen.
Mittel- und langfristige Behandlung
der Anorexie und Bulimie
1. Stabilisierung des Essverhaltens/Gewichtes
2. Regelmäßige körperliche Untersuchung
3. Psychotherapie
• Psychodynamische Therapie
• Verhaltenstherapie
• Gruppentherapie
• Stationäre Therapie
4. Einbeziehung der Familie/Familientherapie
Anitidepressiva
• Therapie der zweiten Wahl
• bzw. Kombinationstherapie
v. a. zu Beginn der Behandlung
Anitidepressiva bei der Bulimie
•
•
•
•
Schwere Störung der Impulskontrolle
Schwere depressive Symptomatik
Bereits im Vorfeld der Essstörung
Persistieren der Depression nach Besserung
der Essstörung
• Andere Komorbidität
Indikationen zur stationären
Behandlung
• Ausgeprägte Symptomatik
• Ausgeprägte Komorbidität
– Depression, Suizidalität
– Persönlichkeitsstörung
– Substanzmißbrauch
• Nicht verfügbare oder ambulante
Behandlung
• Instabile soziale Situation
Psychotherapie von Ess-Störungen:
Instrumente
• Therapievereinbarung (“Vertrag”)
– Regelmäßige Teilnahme
– Essplan von Anfang an, Regelmäßiges Führen von (Eß-) Tagebuch und Wochenplan
– Gewichtsveränderung nach Krankheitsbild, Wiegen
• Essensplan (Ernährungsberatung)
– Drei Hauptmahlzeiten, davon eine warm, ggf. 2 Zwischenmahlzeiten
– Festgelegte Mindestmengen an Kohlehydraten (in “optischen Einheiten”)
• Tagebuch
– Ess- und Trinkverhalten
– Situation und Auslöser, Befindlichkeit, Selbstwahrnehmung
• Wochenplan
– Strichliste über Essverhalten (Menge, Zeit), Alkohol-/Medikamentenkonsum,
Ereignisse
Therapieelemente des Frankfurter
stationären Essstörungsprogramms
• Störungsspezifische ambulante Diagnostik
• Schriftliche Therapievereinbarung vor Aufnahme mit
Bedenkzeit
• Vereinbarte symptomorientierte Therapieziele
• Somatische Betreuung
• Symptomzentrierte Ess-Therapie 2 x die Woche
• Psychodynamische Einzeltherapie 2 x die Woche
• Psychodynamische Gruppentherapie 3 x die Woche
• Gestaltungstherapie (Gruppe) 2 x die Woche
• Körpertherapie (Gruppe) 2x die Woche
• Musiktherapie (Gruppe) 2x die Woche
• Achtsamkeit (Gruppe) 3x die Woche
Zusammenfassung
• Essstörungen sind oft chronische Erkrankungen mit fluktuierendem
Verlauf und hoher Komorbidität
• Sie erfordern in besonderem Maße die Berücksichtigung
soziokultureller, psychischer und somatischer Aspekte
• Oft zahlreiche Behandler (die nicht immer voneinander wissen)
• Ihre Behandlung umfasst oft mehrere - konsekutive aber auch
parallele Episoden in verschiedenen Settings
• Die Befundlage zur längerfristigen Wirksamkeit von Therapien ist
unbefriedigend (vor allem bei der Anorexia nervosa)
• Essstörungen sind quantitativ und qualitativ unterversorgt
• Die vorhandenen Versorgungsstrukturen erschweren eine evidence
basierte Versorgung
• Die Behandlung sollte in spezialisierten Einrichtungen erfolgen
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