FRANKFURTER INSTITUT FÜR TANZTHERAPIE FITT Abschlussarbeit Tanztherapeutische Diagnostik und Intervention in der kinder- und jugendpsychiatrischen Tätigkeit vorgelegt von Astrid Kolter Marburg an der Lahn, 2014 Abstract Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den Fragen, was ist eigentlich Tanztherapie und kann die Tanztherapie eine geeignete Form der Behandlung einer Kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen bei Jugendlichen sein? Der Schwerpunkt in der theoriebasierten Darstellung der Tanztherapie liegt auf strukturierten und strukturierenden Ansätzen der Tanztherapie (beispielsweise der Bewegungsanalysen nach Laban und Kestenberg). Meine Erfahrungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zeigten, dass Kinder und Jugendliche von Struktur profitieren. Eine qualitative Einzelfallanalyse unter der Bedingung einer diagnostizierten Kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen wird in der vorliegenden Arbeit tanztherapeutische Interventionen und den therapeutischen Prozess unter Berücksichtigung von Pathogenese- und Salutogenesekonzepten beschreiben. Schlüsselworte: Tanztherapie, Bewegungsanalyse, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, Salutogenese, Pathogenese, Einzelfallanalyse The present study addresses the following issues: What is Dance/Movement Therapy and is Dance/Movement Therapy applicable as a form of treatment in cases of social behavioural and emotional disorders of youths. The theory-based description of Dance/Movement Therapy is focused on structured and structuring approaches of Dance/Movement Therapy (such as the movement analysis according to Laban and Kestenberg). My experiences in the child and youth psychiatry show that children and youths profit if a structure is given. I will explore movement interventions and the therapeutic process including salutogenetic and pathogenetic concepts for a qualitative single case study of a diagnosed mixed disorders of conduct and emotions. Keywords: Dance/Movement Therapy, movement analysis, child and youth psychiatry, mixed disorders of conduct and emotions, salutogenesis, pathogenesis, single case study „Tanztherapeutische Diagnostik und Intervention in der kinder- und jugendpsychiatrischen Tätigkeit“ Astrid Kolter (Dipl.-Psych.) Steinweg 30 35037 Marburg E-Mail: astrid_kolter(at)gmx.de Frankfurter Institut für Tanztherapie FITT e.V. Schneckenhofstr. 20H2 60596 Frankfurt/Main E-Mail: info(at)tanztherapie-fitt.de 2 Inhaltsverzeichnis Seite Inhaltsverzeichnis 3 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 3 Danksagung 4 1. Einleitung 5 2. Theorie 8 2.1. Tanztherapie 2.1.1. Bewegungsanalyse 8 10 2.1.1.1. Laban 10 2.1.1.2. Kestenberg Movement Profile (KMP) 18 2.2. Diagnostik und Klassifikationssysteme 25 2.2.1. Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen 26 2.3. Tanztherapie bei Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen 27 3. Anwendung 3.1. Therapeutischer Prozess 29 29 3.1.1. Pathogenese 30 3.1.2. Salutogenese 33 3.2. Fall Ronja 35 4. Zusammenfassung und Diskussion 41 Literatur 43 Anhang 45 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Seite Abb.1: Die grafische Darstellung der Efforts nach Laban 14 Tab. 1: Das Verhältnis zwischen Stufen, Phasen und Flächen im KMP 23 3 Danksagung Ein großes Dankeschön gilt meinen Ausbilderinnen des FITT, Andrea Goll-Kopka, Gabriele Grüßges, Petra-Wolgard Hagemann, Erika Kletti-Ranacher, Jacqueline Mayer-Ostrow, Fe Reichelt und Sybille Scharf-Widder von denen ich lernen durfte. Den aktiven Mitglieder im Berufsverband der TanztherapeutInnen Deutschlands danke ich für ihre Zeit und ihr Engagement, das Berufsbild der Tanztherapie zu erweitern und gleichzeitig zu präzisieren, sodass nachfolgende Generationen von Tanztherapeuten eine bessere Ausgangslage auf dem Arbeitsmarkt haben. Der Leitung und meinen Kollegen der Kinder- und Jugendpsychiatrie Vitos Herborn bin ich sehr dankbar für die Gelegenheit mein Wissen anzuwenden und meine Erfahrungen mit den Patienten zu erweitern. Ich erfahre dort eine starke Vertrauensbasis, die ein von Kompetenz und kollegialem Austausch geprägtes therapeutisches Arbeiten ermöglicht. Emotionale Unterstützung habe ich dankenswerter Weise von meinem Ehemann Nikolai Kaufmann-Kolter und meinen Eltern Marianne Kolter und Jürgen Scheffran erfahren, die für Gespräche und Gedankenaustausch über die Arbeit immer ein offenes Ohr hatten. Zu guter Letzt gilt mein Dank den Patienten, die sich in der Tanztherapie mehr oder weniger öffneten und Vertrauen schenkten. Insbesondere danke ich Ronja inkognito sowie ihrer Familie für die Bereitschaft der anonymisierten Veröffentlichung ihres tanztherapeutischen Prozesses. 4 1. Einleitung Was ist eigentlich Tanztherapie? Diese Frage wurde mir in verschiedenen Kontexten des Öfteren gestellt seit ich die Ausbildung zur Tanztherapeutin begonnen habe. Eine Antwort zu finden, die kein Referat von zwei Stunden umfasst, fiel mir immer schwer. Denn, wie bei allen Therapieformen, gehören zu dieser Antwort die Grundannahmen sowie das zugrunde liegende Menschenbild der Therapie, Diagnostik, Ziele, Indikationen, methodische Ansätze der Intervention und bestenfalls veranschaulichende Beispiele. Diese Abschlussarbeit meiner Therapieausbildung habe ich als Chance gesehen, eine umfassende und für mich befriedigende Antwort auf diese Frage zu formulieren. Außerdem gibt es einen weiteren Fragenkomplex, der mich seit einiger Zeit beschäftigt. Mein Universitätsprofessor im Fach Pädagogische Psychologie, den ich so einschätzte, dass er gerne provokante Aussagen formulierte, um uns zum Denken anzuregen, sagte, dass eine Analyse mehr über den Diagnostiker / Therapeuten aussage, als über den Patienten selbst. Zur therapeutischen Arbeit gehören Beobachtungen, Interpretationen und Hypothesen, die nicht immer belegt werden können. Es gibt Therapieformen, die über Standardisierung und Techniken der Objektivierung bestrebt sind, menschliche Fehlerquellen von Missinterpretationen und dem Überstülpen eigener Erfahrungen auf den Patienten zu vermeiden. Ich bin überzeugt, dass dieser naturwissenschaftliche Ansatz der Psychologie, wie ich ihn in Marburg gelehrt bekommen habe, richtig und wichtig ist. Und gleichzeitig bin ich überzeugte angehende Tanztherapeutin, einer Therapieform, die aufgrund ihrer Grundannahmen - überwiegend humanistischer, tiefenpsychologischer und psychoanalytischer Natur - ihrer vielfältigen unterschiedlichen Ausführung und Umsetzung wegen der sehr verschiedenen Grundberufe der Tanztherapeuten, der generellen Komplexität therapeutischer Prozesse sowie aufgrund ihrer noch zaghaften Verbreitung in den Anwendungsfeldern kaum auf der Ebene randomisierter Kontrollgruppenstudien zu evaluieren ist. Jedenfalls nicht im vergleichbarem Ausmaß wie etablierte und kassenärztlich anerkannte Therapieformen. Für mich stellte sich also die Frage, wie bekomme ich mein naturwissenschaftlich geprägtes Bestreben nach Eindeutigkeit, Objektivierbarkeit und messbaren 5 Gütekriterien erfolgreicher Therapie mit meinem durch Erleben geprägten Glauben an die heilende Wirkung von Tanz und Beziehung zusammen? Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch. Im Theorieteil dieser Arbeit stelle ich die Tanztherapie allgemein sowie im Bezug auf die kinder- und jugendpsychiatrische Tätigkeit, d.h. unter Berücksichtigung der gängigen störungsspezifischen Diagnostik und Klassifikationssysteme, vor. Der Schwerpunkt liegt in diesem Teil auf der Diagnostik über die tanztherapeutische Bewegungsanalyse nach Laban und Kestenberg. Im Anwendungsteil beschreibe ich eine qualitative Einzelfallstudie, den Fall Ronja, unter Berücksichtigung des therapeutischen Prozesses. Problemlöse- bzw. Pathogeneseund Salutogenesekonzepte zur Strukturierung und inhaltlichen Erarbeitung des therapeutischen Prozesses werden erläutert und in ihrer Verschiedenheit und Bedeutung für das Gesundheitssystem diskutiert. Mein Drang, extensive Forschung über stark strukturierte Konzepte, wie den Klassifikationssystemen oder dem Problemlöseansatz nach Bartling et al. (2008), mit der intensiven Forschung eines Einzelfalles zu kombinieren, entspricht meinen persönlichen Vorlieben, hat aber noch einen anderen Hintergrund. Wie Bortz et al. (2002) beschreiben, stehen Einzelfallstudien vor dem Problem der Generalisierbarkeit als Ziel wissenschaftlicher Arbeiten. Mir sind die eingeschränkten Aussagefähigkeiten qualitativer Forschung und abhängiger Messungen bewusst. In zwei Jahren Forschungstätigkeit (Grundlagenforschung sowie klinischer Kontrollgruppen-Studien mit Randomisierung soweit möglich) an der Universität Heidelberg sind mir auch die Einschränkungen quantitativer Forschung vor allem in der Operationalisierung der Evaluation therapeutischer Erfolge aufgefallen. Meiner Meinung nach wird es in der Evaluationsforschung von Therapieerfolgen immer mehr darum gehen, quantitative Forschung und qualitative Forschung zu kombinieren. "Die Beschreibung von Einzelfällen regt nicht nur die Hypothesenbildung an, sondern kann […] auch zur Hypothesenprüfung dienen. Für Einzelfälle formulierte Prognosen lassen sich sowohl interpersonal […] als auch intrapersonal […] überprüfen, wobei qualitative und quantitative Daten von Bedeutung sind" (Bortz et al., 2002, S. 324). Bortz et al. führen des Weiteren aus, dass Hypothesen aus Einzelfallstudien Allgemeingültigkeit erlangen, insofern sie an repräsentativen Stichproben bestätigt werden. Wissend, dass quantitative Studien noch fehlen, möchte ich folgende 6 Fragestellung aufgreifen: Kann die Tanztherapie eine geeignete Form der Behandlung einer Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen bei Jugendlichen sein? Die abschließende Diskussion beinhaltet in zusammenfassender Weise Schlussfolgerungen bzgl. der Fragestellung sowie Überlegungen zur Relevanz der vorliegenden Arbeit. Um den Lesefluss des Textes nicht zu stören, wird auf die Darstellung der weiblichen und männlichen Form im Text verzichtet, es sind selbstverständlich immer beide Geschlechter gemeint. 7 2. Theorie Bevor das Fallbeispiel aus der Anwendung der Tanztherapie in der kinder- und jugendpsychiatrischen Arbeit dargestellt wird, möchte ich die theoretischen Hintergründe dieser Arbeit beschreiben. Zuerst werfe ich einen kurzen Blick auf die Tanztherapie generell und schließe mit einer ausführlichen Darstellung der Bewegungsanalyse nach Laban und Kestenberg. Da in der Psychiatrie Erkenntnisse aus der Therapie u. a. in Klassifikationssysteme wie dem International Classification of Diseases (ICD-10) übersetzt werden, soll auch dieses theoretisch beleuchtet werden. 2.1. Tanztherapie "Bewußtwerden des Unbewußten In dem Moment, wo dem Tanzenden, dem Sich-Hingebenden, dem SichBewegenden, die Bewegungen geschehen, wo er sie ausführt, erlebt er sie passiv und aktiv zugleich, d.h. passiv, indem er sie geschehen läßt (erlebt, erleidet, sich erfreut usw.), und aktiv, indem er sie ausführt. Einmal ist also das seelische Erleben vor der Bewegung da, also ihre Ursache, und dann ist das seelische Erleben direkt in und nach der Bewegung wieder da, also durch die Bewegung selbst nochmals hervorgerufen" (Reichelt, 2004, S. 54). Definition: Tanztherapie ist die psychotherapeutische Verwendung von Tanz und Bewegung zur Integration von körperlichen, emotionalen und kognitiven Prozessen des Menschen. Sie wird auch als künstlerische Therapie definiert, die Tanz und Bewegung als Medium zur Persönlichkeitserweiterung nutzt (Berufsverband der TanztherapeutInnen Deutschlands e.V. (BTD), 2013). Die Grundannahmen der Tanztherapie beruhen auf der Einheit von Körper und Geist, vielfältig untersucht u. a. unter der Begrifflichkeit des Embodiment oder Leiblichkeit (Koch, 2011). Erleben und Verhaltenspräferenzen können demnach in der Bewegung, d.h. Muskelspannung, Atmung und Dynamik beobachtet werden. Der Symbolgehalt der Tanzbewegung gibt Aufschluss über emotionale Belange des Einzelnen (BTD, 2013). Diese Grundannahme wird in Diagnostik und Interventionsplanung vom Therapeuten genutzt. Gleichzeitig wirkt die Bewegung, vor allem Veränderungen auf der Bewegungsebene, auf Affekt, Einstellung und Kognition 8 des Bewegenden (Koch, 2011). Diese Erfahrung ist körperlich und somit implizit und explizit wirksam und im Körpergedächtnis gespeichert. "Body memory does not represent the past but re-enacts it. But precisely through this, it also establishes an access to the past itself, not through images or words, but through immediate experience and action. Thus, it may unexpectedly open a door to explicit memory and resuscitate the past as if it were present as such." (Fuchs, 2012, p. 19). Indikationen und Arbeitsfelder der Tanztherapie sind umfangreich und genauer dargestellt auf der Hompage des BTD sowie in der kinder- und jugendpsychiatrischen Tätigkeit Thema der vorliegenden Arbeit. Die Ziele tanztherapeutischer Arbeit sind: "Die Wiedererlangung, Erhaltung und Förderung der Gesundheit und Lebensqualität der Patientinnen und Patienten. Symptome zu beheben, zu reduzieren und/oder anders mit ihnen umzugehen. Psychische, physische und kognitive Prozesse sollen integriert werden, um eine selbstbestimmte Lebensgestaltung zu erreichen." (BTD, 2013, Internetseite). Durch die Nutzung gesunder Persönlichkeitsanteile zur Förderung psychischer Stabilität und Ich-Stärke werden die Ressourcen der Menschen betont. Im Rahmen der Repertoireerweiterung werden alternative Bewegungsmöglichkeiten und Handlungsmodelle erarbeitet. Die Tanztherapie beinhaltet die Möglichkeit zur verbalen Reflexion, um die Bewusstwerdung des Erlebten zu fördern und neue Bewegungserfahrungen zu integrieren (BTD, 2013). In der Tanztherapie kommen verschiedene Ansätze zum Einsatz, u. a.: • Authentic Movement – aktive Imagination • Tanzimprovisation & Traumarbeit • Intermedialer Transfer & Körperbildarbeit • Bartenieff-Fundamentals • Ideokinese • Body-Mind Centering • Spiegeln & Chace-Kreis • Kestenberg Movement Profile • Laban Eine einführende Beschreibung einzelner Ansätze, wie ich sie gemeinsam mit Sabine Koch ursprünglich für einen Fragebogen formuliert hatte, befindet sich im Anhang. 9 2.1.1. Bewegungsanalyse Die Bewegungsanalyse ist ein Instrument zur Diagnostik und Interventionsplanung. Aktuell kann in der Tanztherapie das Kestenberg Movement Profile (KMP) genutzt werden. Basierend auf der Entwicklungstheorie von Anna Freud und der Bewegungsanalyse nach Laban sowie Beobachtungserfahrungen bei Säuglingen und Kindern, ermöglicht das KMP eine Bewegungsanalyse, die unmittelbar mit psychologischen Komponenten verbunden sein kann. Die Entwicklung, die im KMP mit Phasen und Stufen beschrieben wird, wiederholt sich mindestens in der Pubertät und wird wahrscheinlich auch in der Bewältigung von Problemen im Erwachsenenalter teilweise durchlaufen. 2.1.1.1. Laban Das Konzept von Rudolf von Laban dient als Grundlage für Bewegungsanalysen und Bewegungsgestaltung für Tanztherapeuten, aber auch im Schauspiel und Theater. Klein (1993) beschreibt vier Sparten von Bewegungskategorien, die großteils auf Labans Bewegungslehre beruhen: Körperteilanwendung, Raumorientierung oder Raumbezug, Bewegungsantrieb und Körperformen. Ich werde im Folgenden nicht alle Aspekte dieser Bewegungskategorien benennen, sondern exemplarisch Aspekte beschreiben, die meiner Meinung nach für die Fallanalyse relevant oder wichtige Grundlage zum Verständnis des KMP sind. Körperteilanwendung In der Körperteilanwendung geht es zum einen um die Fragen, welches Körperteil Bewegungen initiiert (z. B. peripher oder zentral) oder ob Körperteile isoliert und integriert werden können. Andererseits geht es auch um Aspekte des Kontaktes der Körperteile z. B. im Sinne von Kommunikationsverhalten. Koordination und Gewichtsmobilisierung werden ebenfalls berücksichtigt (Klein, 1993). Raumbezug Der Raumbezug ist in unserem Alltag permanent gegenwärtig, findet aber häufig wenig Aufmerksamkeit. Es geht „um die Orientierung des Menschen in dieser Welt“ (Klein, 1993, S. 107). In dieser Bewegungskategorie gibt es zwei Aspekte, die Kinesphäre und den allgemeinen Raum. Die Kinesphäre ist unser persönlicher Raum, den wir mitnehmen, wenn wir uns im allgemeinen Raum bewegen. Therapeutische Fragen, die 10 sich mit der Kinesphäre beschäftigen, verdeutlichen den Zusammenhang tanztherapeutischer Arbeit mit alltagsrelevantem oder störungsspezifischem Erleben: Wird der persönliche Raum als beispielsweise schützend, einengend oder offen wahrgenommen? Verhält sich der persönliche Raum flexibel oder starr? Innerhalb der Kinesphäre kann das Bewegungsausmaß als nah, mittel oder weit beschrieben werden. "Grundsätzlich kann gesagt werden, daß es im Sinne der psychophysischen Gesundheit wichtig ist, daß der Mensch vom Raum Besitz ergreift und sich auch wieder zurückziehen kann." (Klein, 1993, S. 109). Neben der Kinesphäre wird in der Kategorie Raumbezug auch die Bewegung im allgemeinen Raum betrachtet. Die Bewegung im allgemeinen Raum gibt u. a. Aufschluss über Kontakt- und Abgrenzungsverhalten. Sie kann vollzogen werden in drei Raumebenen, die entsprechende psychische Affinitäten aufweisen: Die tiefe Raumebene (Sicherheit, Geborgenheit, regressionsfördernd), die mittlere Raumebene (vertraut, verbindend zwischen den Ebenen) und die hohe Raumebene (Leichtigkeit, Beschwingt-Sein) (Klein, 1993). Zudem kann die Richtung der Bewegung erfasst werden in sechs Hauptrichtungen und vier Diagonalrichtungen. Die Hauptrichtungen sind vertikal (hoch – tief), horizontal (rechts – links) und sagittal (vor – zurück). Es gibt eine Tanzart, die sich überwiegend nach diesen Hauptrichtungen ausrichtet, der Balletttanz. Als Teilnehmerin und Anleiterin von Freizeit-Ballettgruppen ist mir aufgefallen, dass in diesen Kursen andere Normen und Werte (z. B. Pünktlichkeit) vertreten werden, als beispielsweise in Moderndance-Gruppen – ein Tanz, der die Diagonalrichtungen und Off-Balance nutzt. Es scheint so zu sein, dass es eine gute Passung gibt zwischen dem Ballett mit seiner Ausrichtung in die Hauptrichtungen und seinem strukturierten Stundenaufbau und Menschen mit dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit, Sicherheit und Regelakzeptanz. Diese Erfahrung mache ich mir manchmal zunutze in der Behandlung von Patienten mit oppositionell unsicherem Verhalten, vorausgesetzt es besteht der Wunsch Balletttanz mal auszuprobieren. Mit meiner Eindeutigkeit des Stundenaufbaus komme ich den Bedürfnissen der Patienten entgegen und erlebe meist eine gesteigerte Regelakzeptanz. Die Verunsicherung, die die Diagonalrichtungen auslösen können, beschreibt Klein als „das Wechselspiel zwischen den Polen Stabilität und Labilität“ (Klein, 1993, S. 113), 11 das etwas Mut voraussetze. In anderen Situationen mit den Patienten, die vom Ballett profitierten, kann der Wechsel in die Diagonalrichtungen auch als Befreiung wahrgenommen werden. Die Bewegungsmuster in den Hauptrichtungen sind eindimensional. Ein zweidimensionales Bewegungsmuster vollzieht sich in der dimensionalen Fläche. Insgesamt gibt es drei Flächen, bestehend aus jeweils zwei Hauptrichtungen: Die TürEbene (vertikal / horizontal), die Tisch-Ebene (horizontal / sagittal) und die Rad-Ebene (sagittal / vertikal). Die bereits angesprochenen Diagonalrichtungen ermöglichen ein dreidimensionales Bewegungsmuster (Klein, 1993). Abschließend können noch die Raumwege betrachtet werden. Ein Aspekt des Vollziehens und Erlebens von Raumwegen wird in den Bewegungsantrieben als direkte (gerade, eckige) und indirekte (runde, kreisartige) Bewegungen beschrieben. Dass es nicht darum geht, Bewegungsmuster zu werten, sondern durch unsere Biographie geprägte Präferenzen zu erleben, anzunehmen und ggf. Neues zu entdecken, betont nochmal folgendes Zitat von Petra Klein: "Für Menschen, deren Leben symbolisch gesprochen durch Umwege charakterisiert ist, kann es eine wegweisende Erfahrung sein, einmal auf dem kürzesten, geraden Weg zu einem gesteckten Ziel zu gelangen. Und umgekehrt kann es für sehr geradlinige, zielstrebige Menschen einmal eine Erholung sein, in kurvigen, runden Bewegungen sich über Umwege ihrem Ziel zu nähern." (Klein, 1993, S. 109). Bewegungsantrieb Laban ging davon aus, dass jede Bewegung eine innerpsychische Resonanz hat und sich im Raum (direkt – indirekt), mit zeitlichem Charakter (beschleunigend – verlangsamend), unter Einsatz des Körpergewichtes (Kraft) (stark – leicht) und Anwendung von Muskelspannung (Bewegungsfluß) (gebunden – frei) vollzieht. Das bedeutet Raum, Zeit, Kraft und Bewegungsfluß sind die vier Efforts (bipolare Faktoren des Bewegungsantriebs) in dem Effort-Konzept von Laban. Die Bewegung drückt eine bewusste oder unbewusste Einstellung des Bewegenden gegenüber diesen Faktoren aus, sie kann ankämpfend oder erspürend sein. Ist die Einstellung gegenüber den Faktoren hingebend, d.h. die Bewegung wird ausgekostet, bezeichnen wir den Bewegungsantrieb als erspürend (Klein, 1993). Diese Bewegung wäre im eindeutigsten Fall indirekt, verlangsamend, leicht und frei. Auf der anderen Seite wäre eine eindeutig ankämpfende 12 Bewegung direkt, beschleunigend, stark und gebunden. Derart eindeutige Bewegungen sind selten, meist nutzen Menschen Variationen von Efforts, d.h. nicht nur Bewegungen, die einem Pol des Efforts entsprechen. Und das ist sehr gesund, denn: "Beide Pole einer Polarität haben ihre ihnen eigenen positiven Seiten, die jedoch bei einer einseitigen Übergewichtung negative Züge annehmen können." (Klein, 1993, S. 114). Außerdem gibt es neben den Kombinationen indirekt, verlangsamend, leicht und frei vs. direkt, beschleunigend, stark und gebunden noch andere Kombinationsmöglichkeiten der Efforts, worauf ich bei der Beschreibung der Antriebsaktionen eingehen werde. Häufig kommt es vor, dass nicht alle Efforts gleichzeitig sichtbar oder bewegt werden. Dann geht es darum, das im Vordergrund stehende Thema bzw. den sichtbaren Bewegungsantrieb aufzugreifen. Generell gilt in der psychiatrischen Arbeit, dass die Patienten nicht überfordert werden sollen. Das bedeutet, wenn die Repertoireerweiterung des Patienten therapeutisches Ziel ist, können Patienten beispielsweise über Bilder das Angebot bekommen, aus der bevorzugten indirekten Bewegung in eine direkte Bewegung zu wechseln. Das bedeutet, es wird immer nur an einem Effort gearbeitet. In vielen Fällen wäre es kontraindiziert, aus der indirekten, leichten, verlangsamenden Bewegung in die direkte, starke, beschleunigende Bewegung zu gehen (Klein, 1993). 13 Die Faktoren und ihre Pole können in einer Grafik dargestellt werden: indirekt (erspürend) leicht Raum (erspürend) Kraft direkt (ankämpfend) Bewegungsfluß frei gebunden (erspürend) (ankämpfend) verlangsamend beschleunigend (erspürend) Zeit (ankämpfend) stark (ankämpfend) Abb.1: Die grafische Darstellung der Efforts nach Laban (Herhaus, Referat), die Benennungen der Pole innerhalb der Grafik sind den aktuell gängigen Bezeichnungen angeglichen. Wie erkennen wir nun beispielsweise eine indirekte Bewegung und was kann das im Einzelnen bedeuten? Unsere Einstellung gegenüber dem Raum ergibt sich aus dem Grad der Fokussierung im Raum. Direkte Bewegungen erfordern unsere fokussierte Aufmerksamkeit auf einen kleinen Ausschnitt im Raum. Wir bewegen uns oder ein Körperteil von dem jeweiligen Standpunkt auf direktem Weg zu einem fokussierten Ziel, beispielsweise wenn wir jemandem die Hand geben. Das Gegenüber wäre wahrscheinlich irritiert, wenn wir mit der Hand vorher einen Schlenker machen. Der Fokus auf einen kleinen Ausschnitt im Raum verhindert, dass der Raum in Gänze wahrgenommen und genutzt wird. Deswegen werden direkte Bewegungen als der ankämpfende Pol auf dem Raumfaktor beschrieben (Klein, 1993). Direkte Bewegungen sind u. a. assoziiert mit Klarheit. Bei Übergewichtung können sie allerdings auch als Rigidität empfunden werden. Indirekte 14 Bewegungen erlauben uns, unsere Aufmerksamkeit ohne räumliche Beschränkung in den gesamten Raum zu richten. Sie sind beispielsweise verbunden mit Anpassungsfähigkeit und Überblick oder bei Übergewichtung mit Orientierungslosigkeit und einer geringen Konzentrationsfähigkeit (Klein, 1993). Die eingesetzte Kraft entspricht der Muskelspannung, die wir einsetzen, um der Gravitation des Körpers entgegen zu wirken. Je höher die Muskelspannung und je stärker unser Krafteinsatz, desto eindeutiger befinden wir uns in dem ankämpfenden Modus. Eine starke Bewegung ist z. B. das Heben von schweren Gegenständen. Starke Bewegungen können u. a. Durchsetzungsvermögen oder bei Übergewichtung Unnachgiebigkeit verkörpern. Bei leichten Bewegungen setzen wir gerade die ausreichende Muskelspannung ein, um die Bewegung vollziehen zu können. Sie können einerseits als zart, unbeschwert etc. andererseits als oberflächlich etc. wahrgenommen werden (Klein,1993). Der Zeitfaktor beschreibt unsere Einstellung zur Zeit. Sie kann als ausgedehnt oder verkürzt empfunden werden. Verlangsamende Bewegungen haben häufig keinen eindeutigen Anfang sowie kein eindeutiges Ende. Sie sind beispielsweise assoziiert mit Ruhe und Ausdauer oder andererseits mit Entscheidungsunfähigkeit und Langeweile (Klein, 1993). Beschleunigende Bewegungen können zum Beispiel eingeleitet werden durch das Bild des Laufens über heißen Sand. Sie können erinnern an das Gefühl der Lebendigkeit oder bei Übergewichtung zu Stress führen. Die Präferenz eines Bewegenden im Bewegungsfluß erkennen wir an der eingesetzten Muskelspannung und Kontrolle. Im freien Bewegungsfluß können wir Bewegungen schlecht anhalten und haben eine geringe Kontrolle. Er kann u. a. als Entspannung oder bei Übergewichtung als Kontrollverlust erlebt werden. "Es fühlt sich so an, als wenn der Bewegungsfluß […] über die Körpergrenzen erströmt" (Klein, 1993, S 115). Ein gebundener Bewegungsfluß benötigt eine höhere körperliche Anspannung. In ihm können wir uns als zielgerichtet auf einem guten Aktivierungsniveau empfinden oder bei Übergewichtung als empfindungslos oder eingeengt. "Es fühlt sich so an, als wenn der Bewegungsfluß zur Körpermitte zurückströmt" (Klein, 1993, S 115). Die Bewegungsantriebe Raum, Kraft und Zeit können unterschiedlich kombiniert werden. Wenn drei Antriebe kombiniert werden, sprechen wir von einem Bewegungstrieb bzw. von einer Antriebsaktion. Die Kombination der erspürenden Pole der Efforts (leicht, indirekt, verlangsamend) ergibt die Antriebsaktion namens Schweben. Werden die ankämpfenden Pole (stark, direkt, beschleunigend) kombiniert, 15 so ist die Antriebsaktion das Stoßen. Insgesamt gibt es acht Kombinationsmöglichkeiten / Antriebsaktionen (Klein, 1993): Drücken: stark – direkt – verlangs. Flattern: leicht – indirekt – beschl. Stoßen: stark – direkt – beschl. Schweben: leicht – indirekt – verlangs. Wringen: stark – indirekt – verlangs. Tupfen: leicht – direkt – beschl. Peitschen: stark – indirekt – beschl. Gleiten: leicht – direkt – verlangs. Die Antriebsaktionen können mit Hilfe der Labanotation aufgezeichnet werden. Für das Verständnis ist die grafische Darstellung der Efforts (S. 14) erforderlich. In der Aufzählung der Antriebsaktionen ist exemplarisch die Labanotation für das Stoßen und das Tupfen gezeichnet. Ausgangspunkt des Zeichens für eine Antriebsaktion ist die unterbrochene Verbindungslinie in der Mitte, die in der grafischen Darstellung das vordere und hintere Kreuz verbindet, selbst aber keine inhaltliche Bedeutung hat. Stoßen und Tupfen sind direkte und beschleunigende Bewegungen. Äquivalent der grafischen Darstellung geht der direkte Pol des Faktors Raum von dem hinteren Punkt der Verbindungslinie nach rechts (nicht nach oben). Der einzelne Strich unten rechts (statt unten links) markiert die Beschleunigung. Das Stoßen beinhaltet einen starken Kraftfaktor, der entsprechend der Grafik vom vorderen Punkt der Verbindungslinie nach unten gezeichnet wird, während die Leichtigkeit des Tupfens nach oben gezeichnet wird. In dieser Form können Bewegungen einer Tanztherapieeinheit dokumentiert werden. Körperformen Wie formen wir unseren Körper im Raum? Die ursprünglichste Art unseren Körper zu formen ist der Atem. "Mit dem ersten Schrei, den ein Lebewesen äußert, tritt es alleingelassen in die Bewegung des Atems ein, in der es zuvor durch den Körper der Mutter getragen war, und in der es nun bleibt bis zum Tod. In seiner ererbten Anlage und der 16 gegebenen Situation, in jeder inneren und äußeren Gegebenheit, in jeder Emotion, Tag und Nacht, wird es von seinem Atem bestimmt." (Reichelt, 1993, S. 11/12). Die verschiedenen Aspekte der Körperformen (Formenfluss, körperorientiertes Formen, richtungsorientiertes Formen und Formen / Shaping) beschreiben u. a. die Kontaktgestaltung des Individuums. Während im Formenfluss unsere Aufmerksamkeit regressionsfördernd ausschließlich auf uns selbst gerichtet ist, ermöglicht das körperorientierte Formen einen Bezug zum Umraum. Es können konvexe und konkave Formen unterschieden werden. Konvex bedeutet, der Körper ist bezogen auf den Umraum nach außen gewölbt (heben, ausweiten, vorstreben (ehemals vorrücken)), wie es beim Einatmen geschieht. Konkav bedeutet, der Körper ist nach innen gewölbt (senken, einengen, zurückziehen), wie es beim Ausatmen geschieht. Heben und senken wir unseren Körper (vertikale Dimension) kann das mit dem Erleben von Erhabenheit und Loslassen verbunden sein. Ausweiten und Einengen (horizontale Dimension) können assoziiert sein mit Stolz und Schutz. Vorstreben und Zurückziehen (sagittale Dimension) können verbunden sein mit Offenheit und Anlehnen. Neben diesen positiven Erlebensaspekten können die jeweiligen Bewegungen, wie bei den Efforts, bei Übergewichtung negatives Erleben beschreiben. Beispielsweise kann das Einengen nicht nur Ausdruck eines Erlebens von Schutz sein, sondern auch Ängstlichkeit ausdrücken (Klein, 1993). In jedem Fall des körperorientierten Formens verändern wir unser Körpervolumen im Bezug auf den Umraum. Das richtungsorientierte Formen beschreibt darüber hinaus die Objektbezogenheit, wenn wir uns beispielsweise vorwärts bewegen, um nach etwas zu greifen. So kann eine aktive Beziehung zur Außenwelt entstehen. Das Formen oder Shaping ist die Fähigkeit sich im dreidimensionalen Raum anzupassen und auf äußere Objekte flexibel zu reagieren (Klein, 1993). Das Bild des Samenkorns im Ackerboden, das in der tanztherapeutischen Arbeit mit Kindern häufig auf Freude stößt, bringt Klein in veranschaulichender Art und Weise mit den Körperformen in Verbindung: "Wir räkeln uns im Korn und spüren uns von innen her (Formenfluss). Durch die Sonnenstrahlen erwärmt sich das Samenkorn, wächst und dehnt sich nach oben aus (Körperorientiertes Formen). Nach und nach wird der Halm zur Ähre und streckt sich der Sonne entgegen (Richtungsorientiertes Formen). Dadurch, daß der Wind mal heftiger und mal schwächer weht, paßt sich die Ähre an und 17 verändert dadurch ihre Form (Shaping)." (Klein, 1993, S. 126). Klein (1993) betont immer wieder in der Darstellung der Bewegungskategorien, dass es darum geht, dem Menschen die Erlaubnis zu geben, seine Präferenzen zu erfahren und auszuleben und anschließend das gesamte Bewegungsrepertoire sowie den gesamten Raum zu nutzen. In der Tanztherapie wird meist die Erlaubnis vorerst von Außen gegeben. Insbesondere im Authentic Movement wird der darauf folgende Schritt tanztherapeutischer Arbeit deutlich. Es geht darum, durch die Entwicklung und Stärkung eines Inneren Zeugens mit Hilfe eines Äußeren Zeugens, dem Patienten die Möglichkeit zu eröffnen, sich selbst eigene Präferenzen und Exploration im passenden Moment zu erlauben. Dieser Aspekt kann äquivalent gesehen werden zu der Betonung der eigenverantwortlichen Übernahme von Zielen aus verhaltenstherapeutischen Verstärkerplänen durch den Patienten. Da ich in meiner Arbeit Authentic Movement aufgrund der Psychosegefahr bei psychiatrischen Patienten nicht verwende, möchte ich auf diesen Ansatz nicht weiter eingehen, aber den Aspekt der Stärkung von Inneren Zeugen bei der therapeutischen Präferenzentdeckung und Repertoireerweiterung finde ich überaus wichtig. 2.1.1.2. Kestenberg Movement Profile (KMP) In quantitativen Studien zeigte Koch (2011), dass Eigenbewegung von klinischen Patienten und deren Affekt, Einstellung und Kognition zusammenhängen. Die Eigenbewegung wurde dem KMP entsprechend variiert. Kreistänze mit Hüpfrhythmen wirkten demnach bei Depressionspatienten verglichen mit zwei Kontrollgruppen signifikant verringernd auf den depressiven Affekt und signifikant erhöhend auf Vitalitätswerte. Eine Folgestudie gab Hinweise darauf, dass Hüpfrhythmen auf die Verringerung von Depressivität wirken, während dem KMP entsprechend Wiegerhythmen auf die Verringerung von Ängstlichkeit wirken. Die Studien, die wachsende und schrumpfende Bewegungen variierten, ergaben keine eindeutigen Ergebnisse. Koch (2011) erklärt diese Ergebnisse u. a. mit der Schwierigkeit der Operationalisierung. Denn Wachsen und Schrumpfen sind durch unsere Atmung permanent in der Bewegung vorhanden und experimentell schlecht trennbar. In anderen nichtklinischen Studien werden weitere Zusammenhänge der Anwendung von KMP und dem Erleben von Menschen verdeutlicht (Koch, 2011). Loman et al. (1999) beschreiben das KMP als Möglichkeit zur systematischen Nutzung 18 intuitiven Wissens, Interventionsplanung und Unterstützung von Veränderung in der tanztherapeutischen Arbeit. „Observational skills become fine-tuned, the therapist`s ability to empathize becomes heightened, and work becomes more focused“ (Loman et al., 1999, p. 213). Die Hauptmethoden zum Aufbau von Vertrauen und einem bedeutsamen Kontakt sind nach Loman et al. (1999) das Spiegeln der Bewegung des Patienten und die gemeinsame Freude am Tanz. Die therapeutische Spiegelung von Bewegung setzt eine systematische Bewegungsanalyse unter Berücksichtigung emotionaler Themen voraus. Denn in den meisten Fällen geht es nicht darum, die Bewegung eins zu eins nach- oder mitzumachen, sondern sie in Form und Qualität aufzugreifen und in eigenen Bewegungen zu spiegeln. Ziel dieses Kapitels soll daher sein, die Erfassung einer Bewegung mit Hilfe des KMP und deren Zusammenhang mit psychologischen Komponenten und bestenfalls deren Übersetzung in die Sprache der gängigen Klassifikationssysteme (s. Kapitel „Tanztherapie und Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen“) zu veranschaulichen. Vor der Darstellung des KMP mit dem Schwerpunkt auf die unbewussten Rhythmen möchte ich daran erinnern, dass das KMP ein System ist. Menschen lassen sich nur bedingt in Systeme packen, sie können zwischen beschriebenen Phasen hin und her wechseln und jedes Individuum vollzieht eine Entwicklung in individuellem Tempo. Außerdem haben Phasen in menschlichen Entwicklungsprozessen immer einen Sinn und sind niemals nur destruktiv, auch wenn es sich in der schriftlichen Beschreibung manchmal so anhören kann. Grundsätzlich unterscheidet Kestenberg Bewegungsqualitäten und Bewegungsformen und beschreibt somit zwei Aspekte der Bewegung, für die gleichermaßen gilt: der Mensch durchläuft verschiedene Entwicklungsstufen von unbewussten über vorbewusste bis bewusste Bewegungen. Bewegungsqualitäten Die Entwicklungsstufen werden bei den Bewegungsqualitäten folgendermaßen benannt: unbewusste Spannungsfluss-Rhythmen und Eigenschaften vorbewusste Antriebsvorläufer bewusste Antriebe. Innerhalb der Stufen werden bestimmte Phasen in einer bestimmten Reihenfolge (oral 19 anal - urethral - inner genital und außer genital) durchlaufen. In jeder Phase werden erst erspürende und später ankämpfende Bewegungen gezeigt. Die ankämpfenden Bewegungen ermöglichen die Ablösung aus der Phase und das Eintreten in die nächste Phase. Die Rhythmen: Tanztherapeuten mit KMP-Ausbildung lernen aufgrund der beobachteten Bewegung sogenannte Flußbilder (s. Anhang) zu erstellen. Diese Flußbilder sowie die verbale Beschreibung der Bewegung geben Hinweise auf die präferierten unbewussten Rhythmen der sich bewegenden Person. Ziel einer Therapie kann sein, den Klienten in die bewussten Antriebe zu bringen und somit Ich-Fertigkeiten zu unterstützen. Orale Phase In der oralen Phase bewegt sich ein Säugling häufig in der horizontalen Fläche / Ebene. Die Ebenen sind in der Relation zum Körper definiert. D. h. aus Sicht eines sitzenden oder stehenden Menschens liegt der Säugling in der horizontalen Ebene des aufgerichteten Menschens. Seine Bewegungen geschehen somit aus dieser Perspektive zwar in anderen Ebenen, aber die Bewegung, die der Säugling vollzieht, geschieht aus der Sicht des Säuglings nach vorne / hinten und nach rechts / links (horizontale Ebene des Säuglings), wie ein Regenbogen, der sich über den Bauch des Säuglings spannt. Für aufgerichtete Menschen hat die horizontale Ebene eine Affinität zu Zeit und hauptsächlich Raum. Der Säugling allerdings besitzt noch kein Gefühl für Zeit, in dieser Phase geht es darum, sich alles einzuverleiben und die Umgebung in sich aufzunehmen. Die Grenzen zwischen dem eigenen Körper und dem des anderen sind noch nicht spürbar (Kestenberg et al., 1993). Die frühe orale Phase: erspürend, alias libidinös bewegt sich der Mensch schnell, rund, gleichmäßig und wenig intensiv. Die Objektbeziehungen sind durch Verschmelzungswünsche gekennzeichnet. Ähnlich der Frage wann, wie oft und wie schnell ein weinender Säugling auf den Arm genommen werden soll, stellt sich in der Therapie die Frage, ob wir den Verschmelzungswunsch durch Körperberührung stillen sollen. Es ist ein zweischneidiges Schwert: unser empathisches Gefühl möchte dem Menschen geben, was er sich wünscht. Aber Menschen neigen dazu sich weiterzuentwickeln / neue Strategien zu entwickeln, wenn eine Situation die eigenen Bedürfnisse nicht mehr befriedigt oder umgekehrt werden Strategien eingesetzt, solange sie funktionieren (Trägheit der Masse). In der Therapie möchten wir den Menschen 20 ermuntern sich weiterzuentwickeln, deshalb und aus Gründen der Übergriffigkeit ist die Berührung hier mit Vorsicht einzusetzen, wenn überhaupt. Bei einem Säugling verhält es sich anders (genauer nachzulesen bei Kestenberg et al., 1993, S. 44). Die späte orale Phase: ankämpfend, alias aggressiv bewegt sich der Mensch schnell, scharf, gleichmäßig und wenig intensiv. Aus Frust wird Lust: beim Säugling kommen die Zähne und Schmerz entsteht. Durch das Beißen versucht der Säugling den Schmerz zu lindern und entdeckt dabei, dass Beißen Lust, Spaß, Vergnügen und eigene Grenzen spürbar macht und die dazugehörenden Bewegungen Trennung und Autonomie ermöglichen. Anale Phase Die anale Phase beginnt mit erspürenden (libidinösen), wenig intensiven, sanft windenden und unregelmäßigen (Ver-)Drehbewegungen. Das Baby übt anspannen pressen - loslassen (Kestenberg et al., 1993). Trennung und Autonomie von der Mutter aus der späten oralen Phase treten in den Hintergrund und die Selbstbehauptung in Bezug auf die Mutter (und andere Menschen) werden wichtiger. Das Baby entwickelt eine Beziehung zu Übergangsobjekten, wobei die Meinung der Mutter sehr wichtig ist. Die späte anale Phase: ankämpfend, aggressiv werden intensive und pressende Bewegungen (Drücken) in gebundenem Fluss mit anschließender Entspannung gezeigt. Aus Anspannen / Festhalten und Loslassen entwickelt sich echtes Geben (Kestenberg et al., 1993). Das echte Geben zeigt, dass das Kind lernt sich zu trennen. Der Drang nach Unabhängigkeit und kraftvoller Selbstbehauptung ist in dieser Phase vordergründig. In dieser Phase krabbelt das Kind und zieht sich an Gegenständen in den Stand. Aus der Perspektive des Kindes kommt die vertikale Fläche und damit die Kraft hinzu. Urethrale Phase In der urethralen Phase (Wortanlehnung Urin) ist das Fließen entscheidend. Außerdem verlagert sich die Aufmerksamkeit von dem, was hinter dem Kind passiert auf das, was vor ihm liegt. Das Kind strömt vorwärts und rückwärts; damit kommen die Bewegungen in die saggitale Fläche und das Zeitgefühl entwickelt sich (Kestenberg et al., 1993). Die frühe urethrale Phase ist durch erspürende, freie und endlose Bewegungen gekennzeichnet. Das Fließen nimmt hier kein Ende und wird nicht gestoppt oder unterbrochen. Die Kinder erleben grenzenlose Mobilität, die Erprobung von Nähe und Distanz und das Spiel mit der Zeit. Allerdings erfolgen diese Erfahrungen ohne 21 Kontrolle, was hinfallen, anstoßen und sich verirren zur Folge haben kann. Das Kind möchte die Erfahrung machen, dass die Mutter es auf- bzw. wieder einfängt. In der späten urethralen Phase entwickelt sich der Stopp-Loslassen-Rhythmus mit schnellen scharfen Stopps im Fließen. Nun beherrscht das Kind selbst genug Kontrolle, um sich nicht mehr zu verirren. Es kann Handlungen selbst initiieren und Entschiedenheit und Selbstkontrolle zeigen. Innergenitale Phase Während der innergenitalen Phase verändern sich im Körper der Kinder (bei Mädchen wie bei Jungen) die Geschlechtsorgane und das spüren sie (Kestenberg et al., 1993). Die Bewegungen entsprechen dieser Erfahrung: während der erspürenden Zeit sind die Bewegungen wellenförmig und wenig intensiv (Wiege-Rhythmus). Die Kinder zeigen unterstützende, einschließende und integrierende Verhaltensweisen. In der ankämpfenden Zeit verstärkt sich die Intensivität und die Bewegungen werden wogenförmig und lang andauernd (Gebär-Rhythmus). Die Kinder fangen an zu quengeln und werden weinerlich, sie möchten eine Reaktion anderer Menschen auf ihr Verhalten erleben. Die gesamte innergenitale Phase ist nach Innen gerichtet und von Geheimnissen und das "für sich behalten" geprägt. Außergenitale Phase Wie der Name der Phase schon andeutet, richten sich die Gefühle der zuvor erlebten Phase in der außergenitalen Phase nach Außen und werden der Umwelt gezeigt. Das Kind hat Spaß am eigenen Körper und erlebt ihn als einheitliches Ganzes (Kestenberg et al., 1993). Die frühe außergenitale Phase: erspürend bewegt sich der Mensch mit hoher kurzer Intensität (Hüpf-Rhythmus). Es ist eine aufregend chaotische Zeit. Der schnelle Wechsel zwischen Liebe und Hass, Aktivität und Passivität irritiert die Kinder zuweilen. Die späte außergenitale Phase bringt Ordnung in das Chaos: mit hoher Intensität werden ankämpfende, rammende, stoßende und scharfe Bewegungen (Stoß-Rhythmus) gezeigt. Die Kinder entdecken ihre Genitalität, können aber im Unterschied zur frühen außergenitalen Phase die Erregung über diese Entdeckung beherrschter und zielgerichteter erleben. In der innergenitalen Phase sowie in der außergenitalen Phase gehen die Bewegungen in alle Dimensionen und Flächen (horizontal, vertikal, saggital). 22 Tab. 1: Das Verhältnis zwischen Stufen, Phasen und Flächen im KMP. Oralerspürend Oralankämpfend Analerspürend Analankämpfend Urethralerspürend Urethralankämpfend Innergenitalerspürend Phase Unbewusster Stufe Vorbewusster Bewusster Rhythmus Antriebsvorläufer Antrieb Saugen flexibel indirekt Beißen kanalisierend direkt Verdrehen vorsichtig leicht Drücken vehement stark fließend zögernd verlangsamend Stopp-los plötzlich beschleunigend ankämpfend Wiegen erspürend - Raum spielt eine Rolle Vertikal Kraft kommt hinzu Saggital Zeit kommt flexibel, vorsichtig und Wogen, Gebären erspürend zu ankämpfend eine Erhöhung der Außergenital- Horizontal hinzu zögernd (von Innergenital- Fläche Hüpfen Außergenital- Springen, ankämpfend Stoßen Integration: indirekt, leicht und verlangsamend Intensität) kanalisierend, vehement und plötzlich (von Integration: erspürend zu direkt, stark ankämpfend eine und Veränderung von beschleunigend federnd in springend) Die Tabelle liest sich von links nach rechts (Stufen unbewusst bis bewusst) und von oben nach unten (Phasen oral bis außergenital und Flächen horizontal bis saggital). Die menschliche Entwicklung beginnt also in den unbewussten oral-erspürenden Bewegungen (Saugen) und mündet bestenfalls in den Integrationen indirekter, leichter und verlangsamender bzw. direkter, starker und beschleunigender Bewegungen. 23 Bewegungsformen Bei den Bewegungsformen heißen die Entwicklungsstufen: unbewusster Formenfluss vorbewusste Richtungsbewegungen bewusste Formen in Flächen. Bewegungsanalytisch betrachten wir den Formenfluss (= eine kontinuierliche Veränderung der Bewegung durch wechselnde Formen). Ausgangspunkt ist die Atmung. Auch hier werden die Phasen (oral - anal - urethral - innergenital und außergenital) in den Stufen durchlaufen und es gibt erspürende und später ankämpfende Bewegungen. Da aber bei den Bewegungsformen eben die Form und der Beziehungsaspekt der Bewegung im Vordergrund stehen, werden hier erspürende Bewegungen mit Wachstum (wachsen) und Annäherung (annähern) beschrieben. Äquivalent erkennen wir die ankämpfenden Bewegungen durch schrumpfende und vermeidende Formen. Der unbewusste Formenfluss wird differenziert in bipolaren und unipolaren Formenfluss. Der bipolare Formenfluss (verbreitern und verschmälern; verlängern und verkürzen; auswölben und aushöhlen) bezieht sich auf die (Atmungs-)Ausdehnung und Zurückziehung und gibt Auskunft über das Befinden der Person. Der unipolare Formenfluss (laterales verbreiten und mediales verschmälern; verlängern / verkürzen nach oben und nach unten; auswölben /aushöhlen nach vorne und nach hinten) beschreibt die Bewegungsreaktion auf einen äußeren Reiz. „Bipolarität umfasst eine Wachsen oder Schrumpfen in zwei Richtungen (obenunten, vorne-hinten, rechts-links), während unipolares Wachsen und Schrumpfen eindimensional (also nur oben, nur unten, nur vorne etc.) verstanden wird“ (Protokoll der Arbeitsgruppe Vereinheitlichung der Laban-KMP-MPA Übersetzungen, Mitgliederversammlung BTD, 2009). Die Richtungsbewegungen (Form und Richtung der Bewegung von Körperteilen im Raum: seitwärts und quer; aufwärts und abwärts; vorwärts und rückwärts) sind vorbewusst und geben laut Kestenberg et al. (1993) Auskunft über Selbstschutz, Strukturierung und Lernstile der Person. Beispielsweise Bewegungen, die seitwärts, aufwärts und vorwärts gerichtet sind, weisen auf aktives, offenes und erklärungssuchendes Problemlöseverhalten hin. Die bewussten Bewegungsformen in Flächen (ausbreiten und einschließen; heben und senken; vordringen und zurückweichen) sind Ausdruck komplexer Objektbeziehungen. 24 2.2. Diagnostik und Klassifikationssysteme "Psychodiagnostik ist eine Methodenlehre im Dienste der Angewandten Psychologie. Soweit Menschen die Merkmalsträger sind, besteht ihre Aufgabe darin, interindividuelle Unterschiede im Verhalten und Erleben sowie intraindividuelle Merkmale und Veränderungen einschließlich ihrer jeweils relevanten Bedingungen so zu erfassen, [dass] hinlänglich präzise Vorhersagen künftigen Verhaltens und Erlebens sowie deren evtl. Veränderungen in definierten Situationen möglich werden." (Amelang et al., 2006, S. 3). Die individuellen Störungsmerkmale eines Patienten werden u. a. in Diagnosen über Klassifikationssysteme abgebildet. Grundlage dieser Zuordnung ist eine zuverlässige und umfassende Beurteilung des psychopathologischen Befundes als Statusdiagnostik. Über die längsschnittliche Störungsanamnese kommen weitere wichtige Informationen über den zeitlichen Verlauf der Störung hinzu, der u. a. für die Differenzialdiagnostik relevant ist (Wittchen et al., 2006). Klassifikationssysteme – der Schrecken mancher Prüflinge. In der Vorbereitung einer Prüfung waren Klassifikationssysteme in meiner Wahrnehmung theoretische, emotional ungefüllte Definitionen und Durchschnittswerte, die es auswendig zu lernen galt. Erst in der klinischen Arbeit füllten sich Diagnosen mit Mentalisierungen. Nachdem ich einige Patienten mit der Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen behandelt hatte, bekam ich einen Eindruck, welche Gemeinsamkeiten diese Kinder und Jugendlichen in Abgrenzung zu Patienten mit anderen Störungsbildern zeigten. Um so wichtiger erscheint es mir, quantitative und qualitative Forschung zu kombinieren. Fallanalysen, die leider von unserem Gesundheitssystem nicht zur Forschungsevaluation von Therapieerfolgen anerkannt sind, bieten die Möglichkeit, echte Menschen und therapeutische Prozesse und nicht Durchschnittswerte abzubilden. Für die therapeutische Arbeit mit echten Menschen erschließen sich daraus wertvolle Erkenntnisse. Denn egal wie gut wir ein Störungsbild verstehen, Klassifikationen sind gleichsam unbedingt notwendig für dieses Verständnis, aber auch im Einzelfall nicht das vollständige Abbild. Der individuelle Entwicklungsverlauf beschreibt immer mehr als die Diagnose mit ihren therapeutischen Indikationen. Die individuellen Informationen über Status und vergangenen Verlauf regelmäßig in die Bewusstheit zu holen und auf 25 Relevanz zu überprüfen, ist nach meinem Eindruck eine Aufgabe des therapeutischen Prozesses. In hermeneutischem Verstehen bedeutet das: "Wir verstehen jemanden oder etwas immer nur vorläufig. Durch die zirkuläre Struktur ist der Verstehensprozess immer im Fluss und nie abschließbar. Ein neues Detail kann das Ganze verändern" (Seewald, 2007, S. 27). 2.2.1. Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen Die in dieser Arbeit beschriebene Patientin kam mit der Diagnose Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen. Da in Deutschland die Teilnahme an vertragsärztlicher Versorgung laut § 295 Absatz 1 Satz 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (Abrechnung ärztlicher Leistungen) dazu verpflichtet, eine Diagnose nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (aktuell: die Übersetzung des International Classification of Diseases (ICD-10)) zu erstellen, soll kurz das für diese Arbeit relevante Störungsbild (F92) nach ICD-10 klassifikatorisch beschrieben werden: "Diese Gruppe ist durch die Kombination von andauerndem aggressiven, dissozialen oder aufsässigen Verhalten mit offensichtlichen und deutlichen Symptomen von Depression, Angst oder sonstigen emotionalen Störungen charakterisiert." (Internationale Klassifikation psychischer Störungen – ICD-10 Kapitel V (F) – Klinisch-diagnostische Leitlinien, 2005, S. 303). Differenzialdiagnostisch können Angst, Depression und insbesondere bei Jugendlichen auch Störungen des Sozialverhaltens, wie aggressives und dissoziales Verhalten, über die Anpassungsstörungen (F43.2) abgebildet werden. Bei Kindern gehören regressive Phänomene häufig zu diesem Syndrom. Bei den Anpassungsstörungen handelt es sich: "um Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung […] auftreten." (Internationale Klassifikation psychischer Störungen – ICD-10 Kapitel V (F) – Klinisch-diagnostische Leitlinien, 2005, S. 170). Die Symptome sollten in diesen Fällen nicht länger als sechs Monate anhalten, sonst sollten laut ICD-10 die Z-Kodierungen verwendet werden. Diese sind aktuell aber umstritten, sodass nach anderen Lösungen zur Diagnostik gesucht wird. 26 2.3. Tanztherapie bei Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen Die Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen kann sich also zeigen in Aggression, Opposition, Depression und Angst. Im Folgenden sollen tanztherapeutische Überlegungen zur Bearbeitung dieser klassifikatorisch erforschten Emotionen und Gemütszustände des vorliegenden Störungsbildes erläutert werden. Aggression In der Annahme, dass Aggression eine sekundäre Reaktion auf Kränkungen oder Behinderungen der Selbstentfaltung ist, bekommt die Aggression einen lebensnotwendigen Sinn und darf in der Therapie gelebt werden (Klein, 1993). Wichtig dabei ist, dass die Aggression im therapeutischen Kontext nicht ausschließlich destruktiv und möglicherweise angstauslösend erlebt wird. In der Tanztherapie mit Kindern und Jugendlichen bieten beispielsweise tänzerische Rollenspiele, symbolische Bewegungsbilder wie ein Gewittertanz oder Wettkämpfe eine Möglichkeit des Ausdrucks von Aggression. I.S. des KMP kann die Initiierung von Beiß-, Drück- und Hüpfrhythmen (orale, anale sowie außergenitale Phase) einem aggressiven Erleben entsprechen. Bewegungen dieser Rhythmen ist gemein, dass sie direkt sind. Sie sind überwiegend stark, können im Hüpfen aber auch eine Leichtigkeit entwickeln. Horizontale und vertikale Flächen werden genutzt, die Einstellung zur Zeit ist variabel. Opposition Oppositionelles Verhalten verstehe ich im Kontext kinder- und jugendpsychiatrischer Arbeit u. a. als Ausdruck von Beziehungsverhalten. Insofern stehen diesbezüglich die Bewegungsformen im Vordergrund. Sich verengen, verschmälern (Formenfluss) oder auf Reize nicht mit einer Richtungsbewegung bzw. mit einer entgegen dem Reiz gerichteten Bewegung zu reagieren, kann Ausdruck von Opposition sein. Bevor Übungen wie das oben beschriebene Samenkorn angewandt werden können, muss nach meinem Eindruck die Opposition, ähnlich der Aggression, die Erlaubnis des Auslebens bekommen, ohne dass der Patient einen Liebesentzug oder Beziehungsabbruch durch den Therapeuten riskiert. Beispielsweise kann das Samenkorn vor dem Wachstum ausreichend Zeit im Ackerboden verweilen. Depression Das Bewegungsbild bei Depression ist geprägt von Antriebshemmungen, einer 27 geduckten und nach innen gewölbten Körperhaltung, peripheren Bewegungen, einem eher gebundenen Bewegungsfluss und einer nahen Kinesphäre. Die erspürenden Efforts werden bevorzugt, während die ankämpfenden Antriebe gemieden werden (Klein, 1993). Depressionspatienten beherrschen aufgrund ihrer Objektabhängigkeit meist das Spiegeln von Bewegungen. In der Tanztherapie können wir mit Alltagsbewegungen wie dem Gehen beginnen, um die Patienten in einen bekannten und damit vertrauensvollen Kontext zu bringen. Selbstbestimmtes Handeln wird in einem nächsten Schritt unterstützt, indem z. B. die Patienten die Musik auswählen oder Bewegungskategorien variieren und eigene Präferenzen entdecken (Klein, 1993). Im Rahmen der Bewegungsexploration können die ankämpfenden Efforts geübt werden, um vielleicht eigene Grenzen spüren zu lernen. Wegschieben und Wegdrücken als ankämpfende Efforts können im Bewegungsgespräch mit dem Therapeuten genutzt werden, um ein autonomes Gefühl für Nähe und Distanz zu erspüren und somit aus der abhängig, fordernden Erwartungshaltung, dass der Therapeut die Therapie gestalte, auszutreten (Klein, 1993). Die einzelnen Schritte in der tanztherapeutischen Depressionstherapie werden sanft und mit ausreichend langen zeitlichen Übergängen gestaltet. Angst Die Bewegungsformen, insbesondere der unipolare und bipolare Formenfluss als Ausdruck des Befindens sowie der Reaktion auf äußere Reize, können Hinweise auf Ängste geben. Konkave Bewegungen, wie das Einengen auf der horizontalen Ebene, können beispielsweise nicht nur (wie oben beschrieben) Ausdruck eines Erlebens von Schutz sein, sondern auch Ängstlichkeit ausdrücken. Klein (1993) postuliert, dass das Fehlen einer ganzheitlichen Selbstwahrnehmung, wie sie entsteht, wenn die Bewegungskategorien in ihren verschiedenen Varianten ausprobiert und Präferenzen wahrgenommen wurden, zu einer grundsätzlichen Angst vor dem Leben, Menschen und eigenen Gefühlen führt. Angst als diffuses Gefühl kann schlecht bearbeitet werden, der konkrete Bezug auf die Inhalte der Angst kann hilfreich sein. Tänzerische Gestaltungen können helfen, auf der reinen Bewegungsebene und durch Metaphorisierungen angstbesetzte Inhalte, wie zum Beispiel der Angst in Wettkämpfen zu versagen, zu erkennen und Übungssituationen zu gestalten, die weniger bedrohlich erscheinen als die konkrete Alltagssituation. In diesen Übungssituationen können Alternativerfahrungen zu den angstauslösenden Erfahrungen gemacht werden, die die Angstkurve bestenfalls sinken lassen. 28 3. Anwendung Im Folgenden wird ein Fall und damit ein therapeutischer Prozess meiner tanztherapeutischen Arbeit im Rahmen einer kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung exemplarisch dargestellt. In Diagnostik und Intervention kam u. a. das Kestenberg Movement Profile zum Einsatz. Doch zuvor möchte ich die Konzepte vorstellen, die ich neben dem KMP anwende, um den therapeutischen Prozess zu strukturieren, um möglichst keinen Aspekt zu übersehen, aber auch zu fokussieren. Da ich bereits während der Konzeptbeschreibung beispielhaft den Fall einfließen lassen möchte, erscheint das eher theoriegeleitete Kapitel „Therapeutischer Prozess“ hier und nicht im Theorieteil dieser Arbeit. 3.1. Therapeutischer Prozess Die folgenden Unterkapitel „Pathogenese“ und „Salutogenese“ beschreiben zwei Konzepte des Herangehens an klinische Arbeit. In ihren Grundannahmen sind diese Konzepte derart verschieden, dass Vereinbarkeit kaum möglich erscheint. Trotzdem versuche ich in meiner Arbeit, beides zu berücksichtigen. Zum einen, weil unser Gesundheitssystem einen rein salutogenetischen Ansatz nicht ermöglicht, zum anderen kann ich aber auch beiden Konzepten Gutes abgewinnen. Während die Salutogenese die Ressourcen und Stärken von Patienten betont, bietet der pathogene Ansatz einen strukturgebenden Blick mit Informationen über Ätiologiemodelle und die nach aktuellem Forschungsstand passenden Therapieansätze auf die Patienten. In dem Versuch beide Konzepte in meine Arbeit einfließen zu lassen, kann es passieren, dass die Trennschärfe der Konzepte auch in den folgenden Kapiteln verloren geht. Ich hoffe, die entsprechenden Autoren, auf die ich mich beziehe, mögen mir das verzeihen. Die Tanztherapie und die Freude und Lebenslust, die ich seit meiner eigenen Kindheit mit dem Tanz verbinde, ermöglicht es mir, den Spagat zwischen den Konzepten zu versuchen. Gleichzeitig schafft der Tanz eine Verbindung zwischen den Kindern / Jugendlichen und mir im therapeutischen Raum, was eine positive Therapeut-KlientBeziehung unterstützt. 29 3.1.1. Pathogenese Bartling et al. (2008) beschreiben in ihrer Problemanalyse im psychotherapeutischen Prozess einen strukturierten auf den Lerngesetzen basierenden Leitfaden für die Praxis. Dieser Leitfaden hat nach meinem Eindruck einen hohen Anspruch auf Vollständigkeit und bietet somit eine Strukturierungs- und Orientierungshilfe in der therapeutischen Anwendung. Das Modell umfasst fünf Phasen: 1. Problemstellung, die im Fall Ronja im Vorgespräch mit der Mutter formuliert wurde. Ein häufiges Phänomen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, dass Eltern das Problem benennen und der Patient nicht genuin eigen motiviert kommt. Inhalte / Therapieziele und Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit werden in dieser Phase zwischen Patient und Therapeut vereinbart. Präzision des Suchraumes der Therapieplanung durch Aktivierung störungsspezifischen Wissens und Benennung einer Diagnose auf Grundlage eines psychopathologischen Befundes gehören ebenfalls zu dieser Phase und ermöglichen einen schnellen und fokussierten Austausch unter Fachleuten (Bartling et al., 2008). In meiner Arbeit im klinischen Setting ist dieser Aspekt wichtig, da bestenfalls die Arbeit des zuweisenden Kollegen aus den Stationen oder der Ambulanz und die Tanztherapie aufeinander abgestimmt werden, während die klinische Arbeit zunehmend an Zeitmangel leidet. Ich möchte im folgenden Kapitel u. a. auf die Kehrseite eines so strukturierten Vorgehens nach Bartling et al. unter der Überschrift des Salutogenese-Konzeptes eingehen. Es stellt sich beispielsweise die Frage, ob ein zeitlich entspannter Austausch unter Kollegen über pathogene sowie salutogene Merkmale des Patienten nicht hilfreicher sei als der zeitlich optimierte Austausch. Ich erlebe immer wieder Supervisionen, in denen Raum für einen raumgreifenden, frei assoziierenden Austausch geschaffen wird. Bartling et al. benennen diesen Aspekt unter „Qualitätssicherung und Supervision“ (Bartling et al., 2008). 2. Problemanalyse (Verhalten-in-Situationen; Regeln, Pläne, Motive; Systemregeln), die im Fall Ronja über therapeutischen Kontakt und die Bewegungsanalyse auf Grundlage von Laban und Kestenberg erhoben wurde. Die Tanztherapie war bei dieser Patientin, die die Verbalisierung verweigerte, eine hervorragende Lösung. Die Problemanalyse nach Bartling et al. beginnt auf 30 der horizontalen Ebene aktueller Handlungsabläufe. Das bedeutet es wird eine problemrelevante kritische Situation betrachtet. Im Fall Ronja mit der Diagnose Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, kann diese Situation der therapeutische Kontakt selbst sein. Patient und Therapeut durchlaufen nun einen Wahrnehmungsprozess und eine innere Verarbeitung mit Handlungsvorbereitung. Es folgen Verhalten und Konsequenzen. In Rückkoppelungsschleifen erfolgt durch die Konsequenz eine neue Situation und die Analyse beginnt erneut. Nach dieser sogenannten horizontalen Ebene folgt die Plan- und Motivationsanalyse auf der vertikalen Ebene (Bartling et al., 2008). Im Fall Ronja zeigten sich Pläne und Motive als übergreifende Komponenten der Handlungssteuerung besonders gut im gemeinsamen Spiel und in der Gestaltung von Spielregeln (beispielsweise das Bedürfnis zu gewinnen). Die TherapeutPatient-Beziehung kann diagnostisch also genutzt werden. Es besteht u.U. eine Nähe zwischen diesem Plananalyse-Konzept und analytischen Konzepten der Übertragung und Gegenübertragung, auch wenn die Autoren betonen, dass ihr methodisches Vorgehen ein anderes ist. Der nächste Schritt der Problemanalyse ist die Analyse von Systemregeln. Das Verhalten in Situationen sowie handlungssteuernde Pläne und Motive werden beeinflusst durch die Normen des Umfeldes des Patienten (in der Kinder- und Jugendpsychiatrie besteht das Umfeld häufig aus Familie, vor allem Eltern und Geschwistern, und Schulklassen oder Freizeitgruppen). Rollen, die der Patient in diesen Systemen einnimmt, sind ebenso relevant. Im Fall Ronja wird dieser Aspekt aufgegriffen in der Frage, ob sie ausreichend Raum hat, sich selbst kennenzulernen und entfalten zu können oder ob ihre Rolle von Außen zu festgeschnürt ist. In der Analyse der Genese werden die Zusammenhänge zwischen dem Problem, den Defiziten in den Problemlösefähigkeiten des Patienten und Besonderheiten der familiären Situation auf Grundlage biographischer Anamnesen betrachtet. Die daraus entstehenden Hypothesen und Ansatzpunkte unterstützen die Zielanalyse und Veränderungsplanung. 3. Zielanalyse mit der Erfassung von Veränderungsvoraussetzungen und Zielbestimmung. In dieser Phase kommen ressourcenorientierte Ansätze zum 31 Einsatz, vorausgesetzt das Ziel wird nicht als Abwesenheit von Krankheit, sondern als Entwicklung eines Wunschzustandes formuliert. Z. B. Integration in die Gruppe statt Reduktion sozialer Isolation. Die Motivation des Patienten spielt hier eine wichtige Rolle. Im Fall Ronja gab es allerdings die bereits beschriebene Schwierigkeit, dass der Behandlungsauftrag nicht von der Patientin, sondern von ihrer Mutter kam. Da die Patientin Verbalisierung vermied, konnten auch in den Therapiestunden keine Ziele über den anfangs formulierten Behandlungsauftrag hinaus vereinbart werden. Deswegen war es auf der Bewegungsebene um so wichtiger, durch Spiegelung und Aufgreifen zaghafter explorierender Impulse der Patientin etwas wie eine nonverbale Kooperation in der Stundengestaltung entstehen zu lassen. Bartling et al. betonen in dieser Phase die Wichtigkeit der Therapeut-PatientBeziehung. Zur Analyse schlagen sie u. a. folgende Fragestellung vor: "Welche Änderungen im Interaktionsverhalten und in der Einstellung sind notwendig für eine hilfreiche therapeutische Beziehung im Sinne der Veränderungsziele?" (Bartling et al., 2008, S. 91). Tanztherapeutisch kann ich z. B. einen Effort nach Laban im Zuspielen von Bällen variieren und die Reaktion des Patienten sowie die Wirkung auf die Interaktion beobachten. 4. Mittelanalyse auf Grundlage der Hypothesen der Problemanalyse. Es werden Veränderungsansätze auf den drei Ebenen der Problemanalyse gesucht und Veränderungsprinzipien eingeführt. Problem und Mittel werden direkt miteinander verknüpft und ein konkreter Therapieplan erstellt. Vereinfacht dargestellt, könnte eine tanztherapeutische Mittelanalyse wie folgt aussehen: Ein pubertierender Patient leidet unter Traurigkeit, spricht aber nicht über seine Gefühle (horizontale Problemanalyse). Seine Eltern können das nicht verstehen und betonen, ihr Sohn sei immer sehr fröhlich gewesen (Systemregeln). Der Patient kommt in die Tanztherapie, sagt es gehe ihm ganz schlecht und lächelt dazu (horizontale Problemanalyse). Aus der Problemanalyse ergibt sich das Ziel, mit dem Patienten den Zugang zu seinen Gefühlen zu üben. Mittel: Synchronisation von Gefühl und Ausdruck über die Erweiterung des Ausdrucksrepertoires. Mögliche Übungen wären gemeinsames Fratzen ziehen oder in der Gruppe Raten, welches Gefühl gerade von einem anderen 32 Teilnehmer bewegt wird. Äquivalent zu einem Schlüsselmoment im Fall Ronja (der Erlaubnis, sich an ihrem „Wohlfühlort“ aufzuhalten) wäre in diesem hypothetischen Fall die ausdrückliche Erlaubnis, in der Therapie Trauer zeigen zu dürfen und damit Systemregeln neu zu definieren, entscheidend. 5. Erprobung und Bewertung mit den Optionen an einem neuen Problem bzw. an allgemeinen Problemlösefähigkeiten zu arbeiten oder die Therapie zu beenden. Erprobung und Bewertung finden während der Therapiesitzung und außerhalb, z. B. mit der Erstellung von Zwischenbilanzen in Intervisionen, statt (Bartling et al., 2008 ). Im Fall Ronja war beispielsweise das Ergebnis einer Zwischenbilanz, dass ein nächster Schritt eingeleitet wurde. Zu Beginn der Behandlung verweigerte Ronja die Tanztherapie, sodass der Beziehungsaufbau im Einzelsetting stattfand. Ergebnis der Zwischenbilanz war die Einschätzung, dass Ronja ausreichend selbstsicher in der Tanztherapie angekommen war, um in die Gruppe zu wechseln. Während der Phasen ist es immer möglich, zu einer vorhergehenden Phase zurückzukehren, bzw. innerhalb einer Therapieeinheit greifen die Phasen nach meinem Eindruck ineinander. 3.1.2. Salutogenese Während Bartling et al. einen ausführlichen Problemlöseansatz beschreiben, erläutert Franke die praxisrelevanten Grundgedanken des Salutogenese-Konzeptes: "Eine der wesentlichen Implikationen des Salutogenese-Konzeptes besteht darin, daß die Dichotomie von gesund und krank aufgehoben wird. […] Unsere gesamte medizinische Versorgung und alle Sozialleistungen basieren darauf, daß ein Zustand wie „Krankheit“ eindeutig diagnostizierbar ist. Gibt man diesen Grundgedanken auf, so geraten nicht nur alle Diagnose- und Klassifikationsschemata ins Wanken, sondern der gesamte „Gesundheitssystem“ genannte Apparat." (Franke, 1997, S. 41 / 42). Ich empfinde es als ein Dilemma, in dem ich mich als Therapeutin befinde. Für meinen Arbeitslohn ist eine kapitalistisch geprägte Effektivität und Effizienz, möglichst viele Patienten in möglichste kurzer Zeit zu versorgen, ausschlaggebend. Gleichzeitig brauchen Reifungsprozesse von Patienten Zeit und eine Beschleunigung ist häufig 33 kontraindiziert. Bisher wurde der Beschleunigung in der klinischen Arbeit durch die Vorgaben der Krankenkassen nach meinem Eindruck u. a. mit der Betonung der Wichtigkeit von Qualitätssicherung begegnet. Reflexionsmomente, die es auch erlauben unter Kollegen über die Fähigkeiten und Stärken des Patienten und seine Einbindung in soziale Systeme zu sprechen, sind in manchen Kliniken noch während der Arbeitszeit in Supervisionen möglich. Doch leider geht die Entwicklung dahin, dass diese Angebote generell weniger werden und aufgrund der Arbeitsverdichtung von den Mitarbeitern weniger bis gar nicht genutzt werden, um in dieser Zeit beispielsweise Patientenkontakte zu ermöglichen oder Dokumentationen vorzunehmen. Doch wenn wir ausschließlich mit dem Patienten im Kontakt stehen und darauf verzichten, die Sichtweise und Wahrnehmung der Kollegen, die einen entfernteren Blick auf den Patienten haben, einzuholen, kann es passieren, dass wir nur noch problemorientiert handeln und psychosoziale Aspekte sowie implizite Bedürfnisse des Patienten übersehen. Im Moment werden wir die Dichotomie von gesund und krank nicht aufheben können, aber einen anderen Gedanken der Salutogenese können wir in der therapeutischen Arbeit implementieren. In der Zielanalyse geht es nicht darum, „Störungen zu beseitigen, sondern Gesundheit aufzubauen“ (Franke, 1997, S. 43). Dieser Gedanke spiegelt sich im Gespräch mit dem Patienten über seine positiv formulierten Behandlungsziele wieder. Für mich verstärkt die Logik der Salutogenese eine wichtige Erkenntnis in der klinischen Arbeit. Mittlerweile ist es gängige Praxis, dass Widerstände von Patienten nicht mit der Brechstange behandelt werden. Vielmehr haben Widerstände bzw. Abwehrmechanismen die Funktion des Selbstschutzes und sind somit ein „gesunder“ oder „kranker“ Anteil des Patienten? Im Umgang mit Widerstand brauche ich als Therapeutin jedenfalls eher Geduld, Kreativität und den Glauben an die selbstheilenden Kräfte des Patienten, als die Bewusstheit, dass der Patient möglichst schnell von der Krankheit befreit werde und die Therapie beendet werden kann. 34 3.2. Fall Ronja Ronja war zum Zeitpunkt der Therapie 14 Jahre alt und lebte mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester in einem Haushalt. Diese und alle weiteren persönlichen Daten wurden im Sinne des Datenschutzes verändert. Ronja nahm im Zeitraum von drei Sommermonaten an zehn Tanztherapieeinheiten teil. Acht Therapieeinheiten fanden im Einzelsetting einmal wöchentlich à 40 Minuten statt. Die letzten beiden Therapieeinheiten à 60 Minuten erlebte und gestaltete Ronja im Gruppensetting mit einer weiteren Patientin und einer Praktikantin. Die Tanztherapie wurde aufgrund der terminlichen Überschneidung mit der Schule beendet. Problemstellung Diagnose: Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (ICD-10: F92) Psychopathologischer Befund im Erstkontakt unter Anwesenheit der Mutter (Vorgespräch): Wache, bewusstseinsklare, allseits voll orientierte Patientin, ohne erkennbare Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten und mnestischen Funktionen. Ronja war in der Lage zu sprechen, verweigerte dies jedoch überwiegend oppositionell. Auf den Versuch einen Code zu nutzen, reagierte Ronja mit Witz: sie bekam eine Frage, die sie mit Ja (einmal Achselzucken) oder Nein (zweimal Achselzucken) beantworten konnte und zuckte dreimal mit den Achseln. Affektiv wirkte Ronja anfangs neugierig und angemessen aufgeregt, zum Ende des Gespräches Kontakt vermeidend (Einwickeln in einen Vorhang), ängstlich, angespannt, unsicher und bedrängt. Ronja wirkte schwingungsarm. Motorisch unauffällig. Kein Anhalt für formale oder inhaltliche Denkstörungen. Keine Hinweise für Sinnestäuschungen, akute Suizidalität oder selbstverletzende Verhaltensweisen. Aggressive Impulse und Geschwisterrivalität wurden berichtet. Behandlungsauftrag: Integration in die Gruppe; Erwerb neuer Möglichkeiten von Beziehungsgestaltung und Handlungskompetenz; Verwirklichung individueller Bedürfnisse im Einklang mit sozialer Kompetenz. Eine Einschätzung darüber, ob sich Ronja Kontakt wünsche oder welche Fähigkeiten sie zur angemessenen Kontaktgestaltung entwickeln möchte und könne, wurde von der Mutter sowie der 35 zuweisenden Kollegin gewünscht. Problemanalyse Aktuelle Handlungsabläufe in der therapeutischen Interaktion als kritische Situation: Ronja zeigte zu Beginn der Behandlung eine deutliche Entwertung von Kontakt und Interaktion. Sie konnte sich schlecht auf die therapeutische Beziehung einlassen. Blickkontakt wurde vermieden. In der ersten Stunde drehte sie sich wie im Vorgespräch in einen Vorhang, der als Raumteiler diente, und setzte sich eingewickelt in eine Raumecke. Das Eindrehen, der Drehrhythmus zu Beginn der Stunde wirkte sich verschließend, aber auch sich aus der Therapie herauswindend. Ronja initiierte Bewegungen fast ausschließlich aus der Peripherie. Die anschließende Kinesphäre in der Raumecke war nah, in der tiefen Raumebene mit konkaven Körperformen. Psychologische Komponenten bzw. das Erleben dieser Bewegungen kann Ausdruck sein von Schutz, Sicherheit, Abgrenzung, auf sich gerichtet sein und Autonomie. In dieser Reinheit und Eindeutigkeit der Bewegungskategorien ist eine negative übergewichtete Wirkung anzunehmen, in diesem Fall ging ich von einem ängstlichen und isolierten Erleben aus. Ich vermutete, dass Aggressionen festgehalten wurden und keinen adäquaten Ausdruck fanden. Intervenierend spiegelte ich ihre Körperhaltung in ca. fünf Metern Abstand und schob auf dem Boden Bälle in ihre Richtung. Sie beantwortete dies mit eindimensionalen stoßenden Bewegungen (stark, direkt, beschleunigend, also ankämpfenden Antrieben). Da das Stoßen des Beines im Sitzen nach vorne gerichtet war, habe ich es als Bewegung der sagittalen Dimension (Vorrücken und Zurückziehen, assoziiert mit Offenheit und Anlehnen) als Reaktion auf einen äußeren Reiz (richtungsorientiertes Formen) gesehen. Stoßen als der unbewusste Rhythmus der außergenital-ankämpfenden Phase kann verbunden sein mit psychologischen Komponenten der Aggression, der Präzision sowie des Dramas. Ronja reagierte scheinbar auf das Kontaktangebot in aggressiver Weise. Es entstand der Eindruck, dass Ronja ein Bedürfnis nach Interaktion habe, aber ihr Affekt erstmal der Wunsch nach Abgrenzung zu sein schien. Nichtwissend, ob meine Interpretation von Ronjas Verhalten ihrem Erleben entsprach und ob die Impulse von Außen auf sie bedrohlich und beziehungsschädigend wirkten oder ihr die Möglichkeit gaben, einen Ausdruck für ihren affektiven Standpunkt zur therapeutischen Beziehung im positiven Sinne zu finden, variierte ich die zeitlichen Abstände der Impulse, was ihre Reaktion nicht beeinflusste. 36 In der zweiten Stunde verweigerte Ronja, den Tanztherapiesaal zu betreten. Sie saß auf den Stühlen vor dem Saal und schaute in den Gang. Diesmal entschied ich mich, Ronja nur ein ganz bewusstes Angebot zu machen und danach ihr die Entscheidung zu überlassen. Als ich mich in ihr Blickfeld setzte, drehte sie sich demonstrativ mit ihrem gesamten Körper in die andere Richtung. Doch immerhin, es war wiederholt eine Reaktion auf Verhalten ihres Gegenübers, sodass erneut Hinweise auf die affektive Beschäftigung mit Kontakt existierten. Diese zweite Stunde verbrachten wir schweigend und auf den Stühlen ruhend, Ronja in der Körperhaltung abgewendet, miteinander. Gelegentlich formulierte ich die Situation, dass wir hier zusammen sitzen. In der Zielund Mittelanalyse war ich nicht so recht weitergekommen, sodass ich Ronja zur ersten Bewertung in eine Supervision einbrachte. Dort fiel auf, dass ich mich an Ronjas nonverbales Kommunikationsverhalten stark angepasst hatte und die Verbalisierung kaum genutzt hatte. In der dritten Stunde betrat Ronja den Tanztherapiesaal und wirkte deutlich entspannter. Sie wickelte sich grinsend in den Vorhang und setzte sich in die Ecke. In Anerkennung und auch Erleichterung über Ronjas Entspannung und Öffnung (ihr Grinsen interpretierte ich als Aufforderung, die Bälle auszupacken), benannte ich den Eindruck, dass die Ecke mit dem Vorhang so etwas wie ihr Wohlfühl-Rückzugsort sein könnte. Ihre Antwort: „vielleicht“. Es verging einige Zeit, bis Ronja anfing mit den Füßen zu wackeln. Ich rollte einen Ball in ihre Richtung und Ronja schob ihn sanft zurück in meine Richtung. In dieser Weise gestaltete sie den Kontakt dieser Stunde, manche Bälle behielt sie bei sich, um dann einige Bälle gleichzeitig zu mir zu werfen. Im Verlauf der Therapiestunden suchte Ronja sich immer wieder den Vorhang. In der vierten Stunde hatte ich mir zusätzlich zu den Bällen Stäbe mit Schaumstoff (Batakas) zurecht gelegt. Ich hatte die Idee, ein Kommunikationsmedium zu nutzen, das nicht wie die Bälle einen Körper verlassen muss, um Impulse an andere Körper weiterzugeben, sondern eine Verlängerung des Armes darstellen kann. Um die Batakas einsetzen zu können, musste der räumliche Abstand von bisher ca. fünf Metern zwischen uns verringert werden. So fingen wir das gewohnte „Bälleschieben-Spiel“ an und ich näherte mich verbal rückversichernd mit Nachfragen „ob das in Ordnung sei“. Ronja antwortete mit dem bekannten grinsenden „vielleicht“. Mit ca. zwei Metern Abstand nahm ich in tupfender Weise über die Batakas Kontakt zu ihrem Fuß auf. Die Kontaktaufnahme über die Peripherie erschien logischerweise weniger bedrohlich und das Tupfen sollte Ronjas Stoßen mit der Variation des Krafteinsatzes aufgreifen. Die 37 Batakas gingen schnell in Ronjas Besitz über. In der fünften Stunde richtete Ronja ihre Bewegungen in der mittleren Raumebene aus. Sie wickelte die Bälle, wie bisher sich selbst in den Vorhang, in Tücher ein und schleuderte sie mittels Zentrifugalkraft gegen eine an der Wand stehende Matte. Die Bewegung des Armes vollzog sich in der Rad-Ebene (zweidimensionales Bewegungsmuster). Ich spiegelte die Bewegungsqualität (Anspannungsrhythmus) und benannte in anfeuernder Weise die Würfe, einer ging weit nach oben, einer verlief flach zum Boden etc. Krafteinsatz und Durchsetzungsvermögen schienen in dieser und weiteren Stunden im Vordergrund. Ronja gab mir Bälle und Tücher in die Hand und wir eiferten mit den Würfen um die Wette. Als Ronja bemerkte, dass sie höher warf als ich, sagte sie, „wer höher wirft, gewinnt“ und zählte die Punkte. Die sechste, siebte und achte Stunde gestaltete Ronja in einer Mischung aus Raufen – Fangen – Verstecken. Häufig dachte sie sich Spiele aus, bei denen sie nur gewinnen konnte. Denn sie gab die Regeln vor. Ronja war nicht in der Lage, sich auf meine Vorschläge einzulassen. Es wirkte wie ein Erüben von Erfolg. Die Körperspannung während dieser Therapiestunden war flexibel wechselnd zwischen hoch und niedrig und somit als Ressource zu betrachten. Ronjas Spontanbewegungen waren weiterhin geprägt von überwiegend ankämpfenden Antrieben (direkt, stark, beschleunigend). Konvexe Körperformen traten auf. Der Wechsel zwischen „Wachsen“ und „Schrumpfen“ vollzog sich spielerisch (bipolarer Formenfluss). Insgesamt ergriff Ronja zunehmend Raum. In dieser Zeit berichtete Ronjas Mutter, dass Ronja sich weigere, Schwimmturniere mitzumachen, was sie nicht verstehe, da Ronja so gerne und gut schwimme. Pläne und Motive: Das Bedürfnis zu gewinnen stand im Vordergrund. Systemregeln: Ich hatte den Eindruck, dass Ronja wenig Raum habe, um ihre Persönlichkeit zu entfalten und im Rahmen der Pubertät sich selbst kennen zu lernen, da bereits ein Bild ihrer Rolle als beispielsweise guter Schwimmerin existiere. Das Moment Siegen und Gewinnen von Wettkämpfen war auf der emotionalen Ebene in den Therapien deutlich spürbar. Fragen, wie `darf Ronja zu Hause gewinnen´ oder `ist das ihrer Schwester vorbehalten´ oder `muss Ronja gewinnen´, blieben unbeantwortet. Analyse der Genese und Hypothesen: Den Berichten der zuweisenden Kollegin war zu entnehmen, dass möglicherweise eine Selbstwertproblematik vor dem Hintergrund schwieriger familiärer Bedingungen durch die Trennung der Eltern mit einem Loyalitätskonflikt vorliege, sodass differenzialdiagnostisch die Anpassungsstörungen 38 (F43.2) berücksichtigt wurden. Ronjas Mutter berichtete in der Anamnese, dass Ronja eine Teilleistungsstörung in Form einer Lese-Rechtschreibstörung (ICD-10: F81.0) bei durchschnittlicher Intelligenz diagnostiziert bekommen habe. In diesem Zusammenhang habe es eine Empfehlung des Nachteilsausgleichs bzw. des Verzichts auf Leistungsbewertung, um Folgeerscheinungen im seelischen Bereich (z. B. Selbstwertverlust, Leistungsverweigerung, etc.) zu vermeiden bzw. in Grenzen zu halten, gegeben. Vielleicht hatte Ronja soziale Isolation als Lösung entwickelt, um Versagen zu vermeiden. Nach dieser Hypothese schien Versagen eine Bedrohung des Selbstkonzeptes und des Selbstwertgefühls darzustellen. Es war zu vermuten, dass die Bedrohung durch eine Bewertung von Außen sowie von Ronja selbst ausging. Zielanalyse In der Annahme, dass Ronja sich aus dem Kontakt zurückzog, um Explorationsverhalten mit der möglichen Konsequenz der Zurückweisung ihrer Person zu vermeiden, sollte das Ziel eine Angstreduktion in subjektiv bedrohlichen Bewertungssituationen sein. In der therapeutischen Interaktion war es demnach notwendig, Ronja die Erfahrung zu ermöglichen, dass Exploration eine Anerkennung und ein Annehmen ihrer Person durch sich selbst sowie durch andere zur Folge haben kann. Mittelanalyse Die Anerkennung der Person Ronja durch die Außenwelt, in diesem Fall die Therapeutin, fand in der Tanztherapie u. a. statt durch Spiegeln ihrer Bewegungsqualitäten. Die verbalisierte Erlaubnis, in ihrer nahen Kinesphäre und konkaven Körperform zu verweilen und sie jederzeit wieder einnehmen zu können, ohne einen Beziehungsabbruch zu riskieren, war nach meiner Einschätzung unbedingte Voraussetzung für eine emotionale Stabilisierung, die Exploration ermöglichte. Diese Situation war ein Schlüsselmoment der Therapie. Auf diesem Vertrauensverhältnis aufbauend, konnte Ronja Exploration zeigen und die Erfahrung machen, dass ihre Regeln und Vorstellungen angenommen wurden. Das Annehmen der eigenen Person in Form einer starken inneren Zeugin, die auch ungewohnte Bewegungskategorien ausprobiert und eigene Präferenzen (Beispiel ankämpfende Antriebe) in der Bewegung variiert, sollte in der Tanztherapie durch die Erweiterung des Bewegungsrepertoires (beispielsweise durch Ausprobieren erspürender Antriebe) weiter geübt werden. 39 Erprobung und Bewertung Das Ergebnis einer Intervision zur Zwischenbilanz war der Wechsel von Ronja aus dem Einzelsetting in eine passende neu entstehende Gruppe. Wir hatten den Eindruck, dass Ronja sich ausreichend mit dem Raum und der tanztherapeutischen Situation vertraut gemacht hatte. In Absprache mit ihr besuchte sie zweimalig die Gruppe. Leider war ein Fortführen, das eigentlich von allen Beteiligten erwünscht gewesen wäre, aufgrund schulischer Termine nicht möglich. Ronja nutzte die Gruppensituation sehr gut. In einem kämpferischen Spiel zeigte sie hervorragende soziale Kompetenzen. Im Spiel mit Erwachsenen (Therapeutin und Praktikantin) wurde sie sehr heftig und intensiv in ihren Bewegungen. Ihre aus der Einzelsituation bekannten Bewegungsmuster traten auf. Sie zeigte Aggressionen in angemessener Form. Wie angemessen Ronja mittlerweile Kraft einsetzen konnte, zeigte sich im Kampf mit der Mitpatientin, die kleiner und zierlicher als die Erwachsenen war. Im Spiel mit der gleichaltrigen Mitpatientin bewegte Ronja sich zurückhaltender und sanfter, leichte und runde Bewegungen (dreidimensionales Bewegungsmuster) waren zu beobachten. Es wirkte, als sei ihr bewusst, dass die Mitpatientin im Unterschied zu den Erwachsenen Ronjas Heftigkeit eventuell nicht halten könnte. Die Mitpatientin bezog Ronja in ihr Spiel mit ein und akzeptierte deren Regeln. Die Mitpatientin durfte gegen Ronja gewinnen. In der Abschiedssituation reflektierte Ronja ihre Entwicklung der letzten Wochen sowie ihre aktuelle gezeigten Eigenschaften und ihr Verhalten verbal in angemessener Form. Zusammenfassung: Ronja wirkte wie ein pubertierendes Mädchen, das wenig Raum zur Entfaltung seiner Persönlichkeit und wenig Übung in angemessenem Krafteinsatz hatte. U. a. in der Folge dieser Einschränkungen schien sie sich Rückzug als Problemlösestrategie gesucht zu haben. Das Bedürfnis nach Kontakt und im Verlauf der Tanztherapie sichtbar auch die Kompetenzen, Kontakt gut gestalten zu können, schienen vorhanden. Ronja konnte in die Gruppe integriert werden und zeigte dort Lustgewinn am gemeinsamen Spiel. Als Übergang in diese erfolgreiche Entwicklung schien Ronja die Erlaubnis, Abgrenzung und Aggression zeigen zu können, gebraucht zu haben. Die Therapie von zehn Stunden bildet nur einen kleinen Ausschnitt der Persona Ronja ab. Zudem bleibt das Thema Leistung und Erfolg unter familiendynamischen Aspekten angesprochen bzw. bewegt, aber unbearbeitet. Es wäre wünschenswert, Ronja einen entsprechenden Raum im weiteren Verlauf ihrer pubertären Entwicklung zur Verfügung zu stellen. 40 4. Zusammenfassung und Diskussion Die Tanztherapie ist neben anderen Indikationen geeignet zur Behandlung der Kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen bei Kindern und Jugendlichen (zur Einschränkung der Generalisierbarbeit dieses Ergebnisses s. Einleitung dieser Arbeit). Der Fall Ronja zeigt die Schwierigkeit der Behandlung von Patienten, die vordergründig keine Eigenmotivation mitbringen und die Verbalisierung meiden. Insbesondere die Ausführungen von Klein (1993), dass es darum gehe, den Patienten zu vermitteln, dass sie sein dürfen, wie sie sind und erst eine ausreichende emotionale Sicherheit in der therapeutischen Situation eine Erweiterung der Bewegungskategorien ermöglicht, gaben mir wichtige Impulse für die Therapiegestaltung. Wahrscheinlich ist aus der Arbeit auch deutlich geworden, dass ich eine Therapeutin bin, die Struktur als Orientierung bevorzugt. Diesbezüglich kommen mir Laban, Kestenberg und Bartling et al. mit ihren (Bewegungs-)Analysen sehr entgegen. In diesen Strukturen nicht zu rigide zu werden und den individuellen Beziehungsaspekt salutogenetisch und phänomenologisch zu berücksichtigen, ist mir gleichfalls wichtig. Meinen Blick auf diese im Einzelfall eher uneindeutigen und somit für mich verunsichernden Konzepte durfte ich schärfen während meiner Tätigkeit im Projekt „Körpersprache von Tanz und Bewegung“ von Prof. Dr. Sabine C. Koch, Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs und Prof. Dr. Cornelia Müller. Diese insgesamt theoriegeleiteten Konzepte konnte ich in meiner sechs-jährigen Tanztherapieausbildung am Frankfurter Institut für Tanztherapie bewegen, erleben und erfahren, sodass nach meinem Eindruck ein ganzheitlicher Ansatz entstanden ist. So gesehen stellt diese Abschlussarbeit meiner Therapieausbildung eine mehr oder weniger detaillierte Darstellung meines aktuellen (tanz-)therapeutischen Wissens dar. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit tauchte die Frage der Veröffentlichung der Arbeit unter dem Aspekt ethischer Fragestellungen auf. Die Daten sind anonymisiert, es war aber denkbar, dass Ronja selbst bzw. ihre Familie bei Sichtung der Arbeit bemerken, dass sie beschrieben wird. Daher erschien es ethisch wichtig, Ronja und ihre Familie zu informieren und ein Einverständnis der anonymisierten Veröffentlichung einzuholen. Ein therapeutisches Nachgespräch sollte das geschriebene Wort in einen mündlich 41 besprochenen Kontext der Therapie stellen und Ronja bzw. ihrer Familie die Möglichkeit geben, Rückfragen zu stellen. In diesem therapeutischen Gespräch wurden die aus der Therapie bisher unbeantworteten Fragen aufgegriffen. Diese Abschlussarbeit meiner Therapieausbildung war somit selbst zu einem therapeutischen Instrument geworden. 42 Literatur Amelang, M., Schmidt-Atzert, L. (2006). Psychologische Diagnostik und Intervention. Heidelberg: Springer Medizin Verlag. Bartling, G., Echelmeyer, L., Engberding, M. (2008). Problemlöseanalyse im psychotherapeutischen Prozess. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. Berufsverband der TanztherapeutInnen Deutschlands e.V. (2009). Protokoll der Arbeitsgruppe Vereinheitlichung der Laban-KMP-MPA Übersetzungen. Berufsverband der TanztherapeutInnen Deutschlands e.V. – Internetseite. Tanztherapie: Prozess, Ziele, Indikationen und Arbeitsfelder. Gelesen am 11.12.2013, auf http://www.btd-tanztherapie.de/Tanztherapie.htm sowie den Folgeseiten. Bortz, J., Döring, N. (2002). Forschungsmethoden und Evaluation. Berlin: Springer. Franke, A. (1997). Praxisrelevante Grundgedanken des Salutogenese-Konzeptes. In F. Lamprecht & R. Johnen (Hrsg.), Salutogenese – Ein neuses Konzept in der Psychosomatik? (S. 41-45). Frankfurt am Main: Verlag für Akademische Schriften. Fuchs, T. (2012). The phenomenology of body memory. In S. C. Koch, T. Fuchs, M. Summa & C. Müller (ed.), Body Memory, Metaphor and Movement (pp. 9-22). Amsterdam: John Benjamins Publishing Company. Herhaus, A. R. Referat – Die Efforts nach Rudolf von Laban und ihre Anwendung. Kestenberg, J., Kestenberg-Amighi, J. (1993). Kinder zeigen, was sie brauchen – wie Eltern kindliche Signale richtig deuten. Freiburg: Herder-Spektrum. Klein, P. (1993). Tanztherapie – Ein Weg zum Ganzheitlichen Sein. München: Verlag J. Pfeiffer. Knauß, A. R. (1998). Kreativitätstherapie und Intermedialer Transfer in der Tanztherapie. Zeitschrift für Tanztherapie – Körperpsychotherapie (5. Jahrgang). Köln: Claus Richter Verlag. Koch, S. C. (2011). Embodiment – Der Einfluss von Eigenbewegung auf Affekt, Einstellung und Kognition – Empirische Grundlagen und klinische Anwendungen. Berlin: Logos Verlag. 43 Loman, S., Merman, H. (1999). The KMP as a Tool for Dance/Movement Therapy. In J. Kestenberg-Amighi, S. Loman, P. Lewis & K. M. Sossin (Ed.), The Meaning of Movement – Developmental and Clinical Perspectives of the Kestenberg Movement Profile (pp. 211-234). Amsterdam: Gordon and Breach Publishers. Mayer-Ostrow, J. (2006). Authentic Movement und die Kunst Zeuge zu sein. 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Heidelberg: Springer Medizin Verlag. 44 Anhang A Eine einführende Beschreibung einzelner tanztherapeutischer Ansätze B KMP-Flußbilder 45 A Eine einführende Beschreibung einzelner tanztherapeutischer Ansätze Authentische Bewegung: eine Methode, die auch in der Jung´schen Analyse eingesetzt und u. a. durch Mary Whitehouse und Dr. Janet Adler geprägt wurde. Mit geschlossenen Augen und meist ohne Musik bewegt sich der Körper und wird gleichzeitig bewegt. Die Bewegerin richtet ihre Aufmerksamkeit nach Innen und folgt ihren Körperimpulsen. Dadurch werden unbewusste Inhalte in Bewegung verkörpert und sichtbar. Mit der Übung von Authentischer Bewegung entwickelt sich eine Wachsamkeit / innere Zeugin gegenüber der eigenen bewussten sowie unbewussten Welt von Psyche, Soma und Emotionen. Diese Entwicklung geschieht durch eine allmähliche Internalisierung einer während der Authentischen Bewegung anwesenden äußeren Zeugin. Die äußere Zeugin ist für die Bewegerin präsent und handelt als Container, der einen sicheren Raum für die Authentische Bewegung bietet. Dabei begegnet die äußere Zeugin ihrer eigenen Welt sowie der Welt der Bewegerin ohne einzugreifen. Nach der Bewegung werden die Erfahrungen besprochen oder in anderen Formen verdeutlicht (vgl. Mayer-Ostrow, J., 2006*). "Autehntic Movement ist bewegte Imagination, Meditation und Kommunikationstraining zugleich." (*Mayer-Ostrow, J., 2006. Authentic Movement und die Kunst Zeuge zu sein. Zeitschrift für Tanztherapie Körperpsychotherapie. Claus Richter Verlag, 23/2006, 13. Jahrgang). Bewegungsarbeit nach Laban: jede Bewegung hat eine innerpsychische Resonanz. Laban beschreibt Bewegungs-Efforts (Raum, Kraft, Zeit und Fluss) und acht Antriebsaktionen (Drücken, Flattern, Stoßen, Schweben, Wringen, Tupfen, Peitschen und Gleiten). Das Praxismodell beschreibt den therapeutischen Wechsel immer über lediglich EINE Effortänderung, beispielsweise vom Flattern (leicht-flexibelPLÖTZLICH) zum Schweben (leicht-flexibel-ALLMÄHLICH). Der therapeutische Wechsel dient u. a. der Erweiterung des Bewegungsrepertoires und somit auch der innerpsychischen Resonanz. Chace-Kreis: eine Kreistechnik, bei der die Therapeutin Bewegungsmuster und Stimmungen der Teilnehmer aufgreift, spiegelt und modifiziert. Dabei kann sie die Bewegung beschreiben und den Namen der Person, von der die Bewegung initiiert 46 wurde, benennen. Die Gruppe kann die Bewegungen übernehmen, also ebenfalls spiegeln, sodass gemeinsam gestaltete Bewegungen entstehen. Für die einzelnen Teilnehmer entwickelt sich das Gefühl des "Gesehenwerdens" sowie eine Verdeutlichung der eigenen Bewegungsstrukturen und der Rolle des Patienten in der Gruppe. Gruppenthemen manifestieren sich in Bewegung und können dann verbal aufgenommen werden. Bei diesem gruppendynamisch orientierten Ansatz ist der (gemeinsame) Rhythmus wichtig. Kestenberg: die Bewegungsarbeit nach Kestenberg wird mit einzelnen Klienten aber auch in Eltern-Kind-Dyaden eingesetzt. Sie dient der Analyse persönlicher Präferenzen sowie der Interaktionsanalyse zwischen Eltern und Kind oder auch Partnern. Das KMP gibt dem Praktiker vielfältige Arbeitshypothesen an die Hand zu den Bereichen: Bedürfnisse, Temperament, Affekt, Lernstile, Abwehrmechanismen, Antriebe, Affekt und Einstellung gegenüber Selbst und Objekten/Personen, einfache und komplexe Relationen mit der Umwelt/Personen wie sie sich jeweils in Bewegung äußern. Durch den entwicklungspsychologischen Bezug lassen sich Verbindungen zu frühen Störungen herstellen und bearbeiten. Körperbildarbeit: Körperbilder können im therapeutischen Setting gemalt und besprochen werden und sich über die Zeit verändern. Sie können im großen Widerspruch zur Realität stehen oder fragmentiert sein (z. B. bei Anorexie). Ziel der Arbeit mit Körperbildern ist die Integration und Hilfestellung zur Identitätsentwicklung. Der eigene Körper als Mittel zur Autonomiegewinnung (vgl. Knauß , A. R., 1998*). "Um zu einem stabilen Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl zu gelangen, ist es wichtig, eine klare Vorstellung zum Körper-Ich zu entwickeln." (*Knauß, A. R., 1998. Kreativitätstherapie und Intermedialer Transfer in der Tanztherapie. Zeitschrift für Tanztherapie - Körperpsychotherapie. Claus Richter Verlag, 8/1998, 5. Jahrgang). [Zur Begriffsdefinition von Körperbild und Körperschema s. Lausberg, H. (2009); Bewegungsanalyse in der Diagnostik von Körperschema- und Körperbildstörungen. In P. Joraschky, T. Loew & F. Röhricht (Hrsg.), Körpererleben und Körperbild (S. 125133). Stuttgart: Schattauer.] 47 B KMP-Flußbilder 48 49 50 51