Depressive Erkrankungen – was bringt die stationäre Behandlung? 16.10.2013, ASIM Basel Dr. med. E. Hindermann, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik Barmelweid Das Konzept der depressiven Episode nach ICD-10 (Laux 2002) Hauptsymptome Zusatzsymptome Somatisches Syndrom • deutlicher Interessensverlust / • depressive Verstimmung • Verlust von Interesse / Freude • Verminderung des Antriebs Konzentrationsstörung Mangelndes Selbstwertgefühl,vertrauen Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit Pessimistische Zukunftsperspektiven Suizid Schlafstörungen Appetitverminderung Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten • mangelnde Fähigkeit emotional zu reagieren • Früherwachen • Morgentief • objektivierte psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit • deutlicher Appetitverlust / mehr als 5% Gewichtsverlust • deutlicher Libidoverlust Depressive Episode F 32 2 2 leicht 2 3-4 mittel rezidivierend F 33 3 >4 schwer biphasisch F 31 Dauer der Symptome (> 2 Wochen) Schweregrad monophasisch Verlauf ICD 10 Weitere Formen von depressiven Störungen • • • • • Dysthymie ICD-10 F34.1 Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion ICD-10 F43 Angst und Depression gemischt ICD-10 F41.2 Organische bedingte Depressionen ICD-10 F06.32 Schizodepressive Störung ICD-10 F25.1 • • • • Postpartale Depression Atypische Depression Altersdepression Saisonale Depression Depressionen Häufigkeit: 6,9% 1-Jahresprävalenz bei 18-65 jährigen Lebenswahrscheinlichkeit: Männer 12% Frauen 17% Verlauf Auftreten: Dauer: 50% der Erstmanifestationen < 40 Jahren Unbehandelt - mehrere Monate ~ 6 Monate Behandelt - individuell sehr unterschiedlich Remission: in 50% - 66% - 80% einzelne Symptome (Müdigkeit, Konzentrationsstörungen) können persistieren Rezidive: häufig (in 5 Jahren bei 75% der Patienten Rezidive) rezidivierende depressive Störungen meist als Folge von Traumatisierungen im Kindes- und Jugendalter AUF: depressive Störung: vermehrt AUF-Tage, Invaliditätsrisiko: USA: 5x BRD: 40% der Berufsunfähigkeitsrenten für psychische Störungen , davon Versorgung: hauptsächlich bei Grundversorgern (11% der hausärztlichen Patienten) ~ 50% werden nicht erkannt / behandelt Mortalität: 3-4% versterben an Suizid erhöhte kardiovaskuläre Mortalität 2004 Versorgungsgeschehen ICD-10 F32/33 2002-2004 Stoppe et al. 2006 Komorbidität Stoppe et al. 2006 Somatische Komorbidität • • • • • • • Diabetes CHK Chronisches Schmerzsyndrom, Fibromyalgie COPD Cerebrovaskuläre Erkrankungen MS, M. Pakinson Endokrine Störungen Volkswirtschaftliche Konsequenzen Stoppe et al. 2006 Swiss Med Forum 2010 Schweiz. Med Forum 2010 Leitlinie Schweiz. Med Forum 2010 Leitlinie Behandlung in speziellen Situationen In speziellen Situationen muss die Therapie einer depressiven Episode angepasst werden. Zu diesen Situationen zählen Depressionen, die komorbid mit anderen psychiatrischen Erkrankungen auftreten (z.B. Angststörungen, Substanzmissbrauch), Depressionen bei älteren Menschen, somatische Erkrankungen als Ursache oder bei schwangeren oder stillenden Frauen. In diesen Fällen wird empfohlen, einen Psychiater oder Spezialisten auf dem Gebiet hinzuzuziehen. Schweiz Med Forum 2010 Leitlinie Therapieresistente Depressionen Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition der Therapieresistenz. Sie ist wahrscheinlich, wenn der Patient auf mindestens zwei Behandlungszyklen mit unterschiedlichen Antidepressivaklassen nicht anspricht. Bei Therapieresistenz wird die Überweisung an einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie empfohlen. Schweiz Med Forum 2010 Zusätzliche Therapien • • • • • • • Lichttherapie Antipsychotika Tranquilizer Schlafentzug Körperliches Training Transcranielle Magnet-Stimulation Vagusnerv-Stimulation Swiss Med Forum 2012 Psychotherapie der Depression Spezielle Psychotherapieverfahren: • • • Kognitive Verhaltenstherapie CBASP (Cognitive Behavioral Analysis System for Psychotherapy) ITP Interpersonelle Psychotherapie Psychoanalytische Therapie Gesprächspsychotherapie Leitlinie Bei schweren und rezidivierenden sowie chronischen Depressionen, Dysthymie und Double Depression sollte die Indikation zur Kombinationsbehandlung aus Pharmakotherapie und geeigneter Psychotherapie vorrangig vor einer alleinigen Psychotherapie oder Pharmakotherapie geprüft werden Schweiz Med Forum 2010 Auf der anderen Seite dürfen Leitlinien nicht überschätzt werden. Da sie sich so eng an einen Forschungskatalog anlehnen, der Einseitigkeiten enthält, ergeben sich Diskrepanzen zwischen klinischer Erfahrung und den Forschungsbefunden. Diese Diskrepanz ist dann gut, wenn sie eine Initiative zur besseren Erforschung auch psychotherapeutischer Verfahren darstellt. Sie wird nur lähmen, wenn systematisch bestimmte Behandlungsformen unterbewertet werden. Schweiz Med Forum 2010 Akutmedizin (Akutpsychiatr. Hospitalisation) Rehabilitationsmedizin • Schutz vor Selbstschädigung (Suizidalität) • Intensivierte Diagnostik und Behandlung • Milieutherapie - Milieutherapie - intensivierte Diagnostik und Behandlung zur Klärung von Chronifizierungsbedingungen - Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung - Einleitung von Massnahmen zur Teilhabe am sozialen und beruflichen Leben Stationäre Rehabilitation bei depressiven Störungen (BRD) Köllner et al. 2013 2010 Deutsche Rentenversicherung 18% Langzeit-AUF Stellenverlust 996‘000 Reha-Massnahmen (teil-) oder stationär 125‘787 psychische / psychosomatische Erkrankungen 52% affektive Störungen verschlechtert Prognose berufliche Reintegration anstreben AUF > 6 Wochen wenn ᴓ möglich Indikation zur stationären Rehabilitation prüfen Indikationen für rehabilitative Hospitalisation • • • • AUF > 6 Wochen Erfolgter sozialer Rückzug Keine geordnete Tagesstruktur Wesentliche Komorbidität (somatisch / psychisch) Voraussetzungen für Rehabilitation • • • • Keine akute Suizidalität Genügend Antrieb, um am Rehabilitationsprogramm teilzunehmen Gruppenfähigkeit Prognose bezüglich beruflicher Wiedereingliederung günstig Das bio-psycho-soziale-Modell der ICF Aufgabe der medizinischen Rehabilitation Verband deutscher Rentenversicherungsträger 1991, 1992 • Fähigkeit zum angemessenen Umgang mit der somatopsychischen bzw. psychosomatischen Erkrankung und deren psychosozialen Folgen • (Wieder-)Erlangung von Autonomie und sozialkommunikativer Kompetenz als Voraussetzung für Leistungsfähigkeit im Berufs- und Alltagsleben • Wiederherstellung oder Erhalt von Erwerbsfähigkeit bzw. Rückkehr ins Berufsleben bzw. Rückkehr ins Berufsleben • Verminderung sozialer Abhängigkeit im Alter • Vermeidung zukünftiger Pflegebedürftigkeit Fachbereiche Rehabilitation BRD Psychosomatische Rehabilitation in der BRD Am 31.12.2001: • 175 Fachabteilungen, 15.421 Betten, Bettenbelegung 83% • Durchschnittliche Aufenthaltsdauer 38,2 Tage 2002: • 140.460 Patienten stationäre Rehabilitation • (40.000 Patienten mit Suchterkrankung) Warum finanziert die deutsche Rentenversicherung die psychosomatische Rehabilitation? Steigende Arbeitsanforderungen Physische / physikalische Stressoren Generell: • Qualifikationsdruck • Verdichtung von Anforderungen • Neue Informationstechnologien • Flexibilisierung von Arbeitsstrukturen • Bedrohung durch Arbeitslosigkeit Individuell: • Fehlende Autonomie • Keine angemessene Honorierung • Angst um den Arbeitsplatz • Kränkungserleben psychomentale Stressoren Kosten Kostenverhältnis 1: 3,78 Psychosomatische Rehabilitation / stationäre Psychotherapie Definition: • Spezifisches Angebot der medizinischen Rehabilitation, bei dem im Rahmen eines ganzheitlichen Rehabilitationskonzeptes psychotherapeutischen Interventionen ein besonderer Stellenwert zukommt • Multimodale Therapieprogramme / Interdisziplinarität Behandlungsmethoden der psychosomatischen Rehabilitation / stationären Psychotherapie interdisziplinär und methodenpluralistisch • • • • • • • • • • • • Medizinische Versorgung und medikamentöse Therapie Psychotherapie ärztlich und psychologisch (Einzel- und Gruppe) Pflege / Milieutherapie Kreativtherapien / Ergotherapie Musikpsychotherapie Physiotherapie Sport- und Bewegungstherapie Entspannungsverfahren (Progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training) Achtsamkeit, Biofeedback Ernährungsberatung- und Therapie Sozialberatung und Hilfestellung zur Reintegration in Alltag und Beruf, Finanzen, Versicherungsfragen Beurteilung der Arbeitsfähigkeit Indikationen für eine (teil-) stationäre Therapie (Rehabilitation) von Patienten mit depressiven Störungen • • • • • • • • • Längere AUF (> 6 Wochen) Distanzierung vom häuslichen Umfeld erforderlich Verschlechterung unter ambulante Therapie Fehlende Tagesstruktur Ausgeprägtes Vermeidungsverhalten, sozialer Rückzug Wesentliche somatische Komorbidität / somatische Symptome stehen im Vordergrund Rezidivierende und chronifizierte depressive Störung Erhebliche psychiatrische Komorbidität (Angstsymptomatik, somatoforme Störung, schwere Schlafstörung, ADHD) Stark verminderte psychophysische Belastbarkeit Bedarf an durchgängiger Stützung / Strukturierung / engmaschiger Betreuung und kontinuierliche verfügbare Kriseninterventionsmöglichkeiten und Fremdkontrolle von schädlichen Verhaltensweisen (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation BAR 2003) Charakteristik von Personen, die eine IV-Rente in Basel Stadt wegen einer psychischen Störung beantragten 2002 2004 Psychiatrische Diagnose, die Arbeitsfähigkeit reduziert 83% 73% Irgendwelche Behandlung 64% 74% 20% 37% -- 30% Adäquate medikamentöse Behandlung (SerumSpiegel) Irgendeine Psychotherapie Swiss med Weekly 2008 JU 14, 138 (23-24) 348-54 Apfel und Riecher-Rössler Umsetzung von Therapieempfehlungen Empfehlung Inanspruchnahme von psychiatrisch – psychotherapeutischer Behandlung Umsetzung Vor Gutachten 32% Nach Gutachten 58% Empfehlung hinsichtlich medikamentöser Behandlung Umsetzung in 43% Empfehlung einer psychotherapeutischen Behandlung Umsetzung in 9% Empfohlener Klinikaufenthalt Umsetzung in 14% Fortschritte Neurol. Psych. 2008 March 76 (3) 160-65 Nussbaum, Riecher-Rössler et al. Take Home Message Depressive Erkrankung – was bringt die stationäre Behandlung? 1. Psychiat. Akuthospitalisationen bei Suizidalität / psychotischen Anteilen / Selbstvernachlässigung • • • Schutz vor Selbstschädigung Struktur und Verbesserung der Stabilität Intensivere Diagnostik und Therapie 2. Rehabilitative multimodale Therapie bei längerer AUF / sozialem Rückzug / fehlender Besserung im ambulanten Setting / Notwendigkeit der Distanzierung vom häuslichen Milieu • • • • Intensivere Diagnostik und Therapie Tagesstruktur Soziale Reintegration Berufliche Reintegration Hinweise für Kosteneffektivität vorhanden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! [email protected]