40 Zahnmedizin Differentialdiagnosen odontogener Zysten Ameloblastom unter dem klinischen Bild einer infizierten follikulären Zyste am Weisheitszahn Christian Walter, Martin Kunkel Fotos: Walter In dieser Rubrik stellen Kliniker Fälle vor, die diagnostische Schwierigkeiten aufgeworfen haben. Die Falldarstellungen sollen den differentialdiagnostischen Blick unserer Leser schulen. Abb. 1: Orthopantomogramm nach Abszessinzision. Es zeigt sich eine ausgedehnte zystisch imponierende Osteolyse im rechten Kieferwinkel. Der Zahn 48 ist offensichtlich an den basalen Unterkieferrand verdrängt. Auffällig und für die spätere Diagnose eines Ameloblastoms typisch sind die deutlichen Resorptionen an den Zähnen 46 und 47. Die im Lumen der Osteolyse erkennbaren Strukturen stellen die Silikondrainagen der Abszessbehandlung dar. Eine 21-jährige Patientin mit bekanntem Pickwick-Syndrom (kardiopulmonales Syndrom der Adipösen) und Hypothyreose wurde aufgrund einer stark schmerzhaften, derben, den Unterkieferrand umgreifenden Schwellung unter dem klinischen Verdacht auf einen perimandibulären Abszess mit submandibulärer Ausbreitung stationär aufgenommen. Klinisch imponierte ein typisches entzündliches Infiltrat über der Kieferwinkelregion mit überwärmter und geröteter Haut. Enoral zeigte sich der Zahn 47 gelockert und war ebenso wie der Zahn 46 nicht sensibel. Es erfolgte zunächst die umgehende Abszessinzision in Intubationsnarkose als Notfallbehandlung, wobei sich bereits intraoperativ aufgrund eines tastbaren Knochendefektes ein erster Anhaltspunkt für eine größere Osteolyse ergab. Auf dem postoperativ angefertigten Röntgenbild (Abb. 1) zeigte sich dann auch eine scharf begrenzte von regio 45 bis zur Mitte des aufsteigenden Unterkieferastes reichende, den Unterkiefer in voller Höhe durchsetzende, scharf begrenzte Osteolyse. Der Zahn 48 war bis an den Unterrand des Kiezm 95, Nr. 5, 1. 3. 2005, (564) erfolgte eine Zystektomie mit Einlage einer stabilisierten Eigenblutfüllung. Die histopathologische Aufbereitung des Präparates erbrachte schließlich nicht die Diagnose einer follikulären Zyste, sondern eine follikuläre Form eines Ameloblastoms mit Zystenbildung. Diskussion In der Differentialdiagnose der radiologisch als zystisch imponierenden Knochenläsionen stellt das Ameloblastom die wichtigste Differentialdiagnose der odontogenen Zysten dar. Das radiologische Bild ist sehr variantenreich und reicht von einem waben- bezie- Abb. 2: Bei der Revision von enoral stellte sich das typische Bild einer follikulären Zyste mit einer in das Zystenlumen hineinragenden Krone des Zahnes 48 dar. fers verdrängt, die Radices der Zähne 46 und 37 zeigten deutliche Resorptionen. Nach Abklingen des akuten Abszessgeschehens wurde der Situs von enoral unter Bildung eines Knochendeckels revidiert. Es zeigte sich das klassische intraoperative Bild einer follikulären Zyste mit einer in das Zystenlumen ragenden Zahnkrone 48 (Abb. 2). Der N. alveolaris inferior war in typischer Weise nach caudal verdrängt (Abb. 3). Es Abb. 3: Intaoperativer Situs nach vollständiger Zystektomie. Der N. alveolaris inferior verläuft gut abgegrenzt am Boden der Läsion ( ➞ ). Fazit für die Praxis Neu: Ab sofort können Sie auch für den „Aktuellen klinischen Fall” Fortbildungspunkte sammeln. Mehr bei www.zm-online.de unter Fortbildung. hungsweise seifenblasenartigen, multizystischen Muster bis hin zu einem vollständig homogenen, unizystischen Erscheinungsbild [Scholl et al., 1999]. Eine sichere radiologische Abgrenzung zu odontogenen Zysten ist praktisch unmöglich und wird zusätzlich dadurch erschwert, dass zahlreiche, vor allem zystische Ameloblastome, sehr häufig im Zusammenhang mit retinierten Zähnen auftreten [Philipsen and Reichart, 1998]. Auch im vorliegenden Fall war die Annahme einer follikulären, durch den intraoperativen Befund einer in das Zystenlumen hineinragenden Zahnkrone durchaus nahe liegend. Ein erster Hinweis auf die spätere Diagnose ergab sich aber durch die sehr auffälligen Zahnresorptionen an den Zähnen 46 und 47, die zwar auch im Zusammenhang mit odontogenen Zysten auftreten können, sehr viel typischer aber beim Ameloblastom anzutreffen sind [Neville et al., 2002]. Für die zahnärztliche Praxis sollte dieser Fall noch einmal daran erinnern, das auch bei hochgradigem klinischem Verdacht auf eine einfache follikulärer Zyste grundsätzlich eine vollständige Entfernung und histopathologische Untersuchung des Zystenbalges erfolgen muss. Für die aktuelle wissenschaftliche Diskussion um die prophylaktische Entfernung retinierter Weisheitszähne [Sign, 2000; Song et al., 2000; Strietzel et al., 2001] weist die Entstehung odontogener Neoplasien auf der Basis retinierter Zähne auf die Notwendigkeit einer regelmäßigen radiologischen Kontrolle der im Kiefer belassenen Zähne hin. ■ Das Ameloblastom ist eine der wichtigsten Differentialdiagnosen der radiologisch als zystisch imponierenden Knochenläsionen. ■ Eine eindeutige intraoperativ-klinische oder radiologische Abgrenzung ist nicht möglich, so dass grundsätzlich die histopathologische Untersuchung des Zystenbalges gefordert werden muss. ■ Zahnresorptionen sind ein wichtiger Hinweis auf ein neoplastisches Geschehen, sie können aber selten auch bei normalen odontogenen Zysten auftreten. Dr. Christian Walter Privatdozent Dr. Dr. Martin Kunkel Poliklinik für Mund-, Kiefer und Gesichtschirurgie der Universität Mainz Augustusplatz 2, 55131 Mainz Die Literaturliste können Sie in der Redaktion anfordern. Den Kupon finden Sie auf den Nachrichtenseiten am Ende des Heftes. zm 95, Nr. 5, 1. 3. 2005, (565) 41