1. Sy m phonie kon zer Saison t 2011 | 2 012 Chr ist i an T hi eleman Tzimon n Dir ig Bar to K ent l av ier o r ts w e c h s e l . 1. Sy m phonie kon zer Saison t 2011 | 2 012 Besuchen Sie den Ort, an dem Automobilbau zu einer perfekten Komposition wird: die Gläserne Manufaktur von Volkswagen in Dresden. w w w.g l a e s e r n e m a n u fa k t u r . d e PA R T N E R D E R S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N Christi Chef an Thie d ir ig Sir Coli Ehre leman n ent a b 201 2 n Davis N d ir ig ent s a 0 3 . 0 9.11 17 U h r S e mp e r o p e r | s o 0 4 . 0 9.11 2 0 U h r 1. Symphoniekonzert Dir igent Christian Thielemann K l av i e r Tzimon Barto Programm Ferruccio Busoni (18 6 6 -19 2 4 ) »Nocturne symphonique« op. 43 Sostenutissimo – Tranquillo – Adagio – Allegretto tranquillo Hans Pfitzner (18 6 9 -19 4 9 ) Konzert für Klavier und Orchester Es-Dur op. 31 1. Pomphaft, mit Kraft und Schwung 2. Heiterer Satz. Ziemlich schnell, in einheitlich atemlosem Zeitmaß 3. Äußerst ruhig, versonnen, schwärmerisch 4. Rasch, ungeschlacht, launig Pau s e Musikalische Antipoden Fritz Busch schätzte sie beide: den Konservativen Hans Pfitzner, dessen Klavierkonzert er 1923 in der Semperoper zur Uraufführung brachte, und den Visionär Ferruccio Busoni, dessen »Doktor Faust« er 1925 an gleicher Stelle posthum uraufführte – und den Pfitzner in seinem Pamphlet »Futuristengefahr« so heftig geschmäht hatte. Der zukünftige Chefdirigent der Staatskapelle, Christian Thielemann, verbindet die Antipoden in diesem Programm mit Johannes Brahms, der seinerseits den einen als konservativ, den anderen als fortschrittlich galt. Johannes Brahms (18 3 3 -18 9 7 ) Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68 1. Un poco sostenuto – Allegro – Meno Allegro 2. Andante sostenuto 3. Un poco Allegretto e grazioso 4. Adagio – Più Andante – Allegro non troppo, ma con brio – Più Allegro Kost en lose Ei n f ü h ru ngen j e w ei ls 4 5 M i n u t en vor Begi n n i m Op e r n k e l l e r d e r S e mp e r o p e r Au fzeich n u ng du rch M DR F ig a ro. S e n d e t e r m i n : 1 3 . S e p t e mb e r 2 0 1 1 , 2 0 . 0 5 U h r 2 3 1. SYMPHONIEKONZERT Christian Thielemann Chefdir igen t der Sächsischen Sta atsk a pelle Dr esden a b 2012 C hristian Thielemann wurde in Berlin in eine musikbegeisterte Familie hineingeboren. Seine berufliche Laufbahn begann er 1978 als Korrepetitor an der Deutschen Oper Berlin. Nach Stationen in Gelsenkirchen, Karlsruhe und Hannover wurde er 1985 Erster Kapellmeister an der Düsseldorfer Rheinoper. 1988 trat er als jüngster Generalmusikdirektor Deutschlands in Nürnberg an, bevor er 1997 für sieben Jahre in gleicher Position an die Deutsche Oper Berlin zurückkehrte. Von 2004 bis 2011 war Thielemann Generalmusikdirektor der Münchner Philharmoniker. Im Sommer 2012 übernimmt er als Chefdirigent die Leitung der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Christian Thielemann hat ein breites Repertoire, das von Bach bis zu Henze und Gubaidulina reicht. Seine Interpretationen des deutschromantischen Opern- und Konzertrepertoires gelten weltweit als exemplarisch. Seit seinem Bayreuth-Debüt im Jahr 2000 (»Die Meistersinger von Nürnberg«) hat er die Festspiele alljährlich durch Maßstab setzende Dirigate geprägt. Bei den Salzburger Festspielen 2011 leitete Thielemann eine umjubelte Neuproduktion der »Frau ohne Schatten« von Richard Strauss. Thielemanns Diskographie ist umfangreich und umfasst zahlreiche Aufnahmen symphonischer Werke und Opern bei der Deutschen Grammophon. Mit den Wiener Philharmonikern erarbeitete er sämtliche BeethovenSymphonien, deren Mitschnitt im Herbst 2010 auf DVD veröffentlicht wurde. Mit der Staatskapelle Dresden sind bereits Bruckners achte Symphonie, Beethovens »Missa solemnis« und der Mitschnitt des ZDF-Silvesterkonzertes 2010 aus der Semperoper erschienen. Ab 2013 übernimmt Christian Thielemann die Künstlerische Leitung der Osterfestspiele Salzburg, deren Orchester die Sächsische Staats­ kapelle Dresden sein wird. 4 5 1. SYMPHONIEKONZERT »Ich kann nur sagen: Zurück in die Zukunft!« Christian Thielemann im Gespräch Herr Thielemann, Sie dirigieren im heutigen Symphoniekonzert Werke von Busoni und Pfitzner – zwei Komponisten, deren ästhetische Standpunkte als unvereinbar gelten. Wie bringen Sie die beiden trotzdem zusammen? Die Musik bringt die beiden zusammen! Der Busoni klingt zwar stellenweise wie Berg und Schönberg, führt aber stilistisch ideal zu dem Pfitzner hin. Und der Pfitzner ist auch sehr eigen und klingt stellenweise sogar wie Tschaikowsky und Prokofjew … Also das eine leitet das andere ein, was auch damit zu tun hat, dass das »Nocturne« ein sehr ruhiges, pastelliges Stück ist und das Klavierkonzert sehr vielgestaltig. Meiner Meinung nach passen die Stücke sehr gut zusammen. Das ist interessant. Eigentlich würde man ja vermuten, dass Busoni eher in die Zukunft und Pfitzner eher in die Vergangenheit weist. Also das ist Ihrer Meinung nach hier anders? Ja, der Pfitzner wird gerne missverstanden. Es ist erstaunlich, wie sehr er eigentlich in die Moderne gehört. Wolfgang Rihm hat das einmal sehr gut formuliert: dass Pfitzner nämlich deshalb so zwischen allen Stühlen steht, weil er letzten Endes nicht modern genug ist, um als modern zu gelten, aber auch nicht konservativ genug, um als konservativ zu gelten. Das macht ihn eigentlich aus. Sie haben schon viel Pfitzner dirigiert, zum Beispiel als junger Generalmusikdirektor in Nürnberg den »Palestrina«, und sich damit nicht nur Freunde gemacht. Pfitzner ist bis heute als Persönlichkeit sehr umstritten – was schätzen Sie dennoch an seiner Musik? 6 7 Ich halte es für wenig hilfreich, immer danach zu fragen, wie die Leute persönlich waren. Das hilft häufig nicht weiter. Es gibt eben Äußerungen, die wenig sympathisch und manchmal sogar unangenehm sind. Das ist schlimm, aber in der Musik kommt dies – wie wir von anderen berühmten Beispielen, vor allem Wagner, wissen – nicht zum Ausdruck. Mich interessiert aber vor allem die Musik, und zwar, ob sie mir gefällt oder nicht. Das Klavierkonzert von Pfitzner gefällt Ihnen seit langem. Sie haben es bereits in Nürnberg dirigiert, jetzt machen Sie es am Ort der Uraufführung. Was hat Sie denn schon damals an dem Werk interessiert? Ich habe damals viele Werke von Pfitzner für mich entdeckt, das Violinkonzert, Ouvertüren, Auszüge aus »Die Rose vom Liebesgarten« und eben den »Palestrina«, den ich danach an vielen Orten dirigiert habe. Irgendwann bin ich auf das Klavierkonzert gestoßen, das mir auch sehr, sehr gut gefallen hat, und so habe ich es dann dirigiert. Was ist für Sie das Besondere an diesem Werk? Es ist aus der Perspektive der Entstehungszeit ein sehr modernes Werk, und doch ist es von hohem Wiedererkennungswert. Der erste Satz hat einige Stellen, die sich wiederholen, also sehr eingängig sind; der zweite Satz, ein Scherzo, ist sehr humorvoll und mitunter auch etwas bissig. Und dann gibt es einen unglaublich schönen, atmosphärischen und wunderbar instrumentierten langsamen Satz. Wer den »Palestrina« kennt, wird hier vieles wiedererkennen. Der letzte Satz ist ein heiterer Kehraus, mit der Überschrift 1. SYMPHONIEKONZERT Einer Ihrer Vorgänger in Dresden, Fritz Busch, hat neben dem Klavierkonzert Pfitzners auch Busonis »Doktor Faust« in der Semperoper uraufgeführt und damit demonstriert, dass verschiedene ästhetische Handschriften nebeneinander stehen können. Sicher, die 1920er Jahre waren in dieser Hinsicht ungeheuer vielfältig. Es ist sehr interessant zu sehen, welche Werke in dieser Zeit und auch etwas früher in Dresden herauskamen. Diese »Novitäten« sind ja bis heute noch neu und vielfach unbekannt. Denken Sie an die »Romantische Suite« von Max Reger, die wir Ende der letzten Saison gespielt haben: Auch hundert Jahre nach der Dresdner Uraufführung ist dieses Werk noch immer eine Entdeckung. »ungeschlacht«, was positiv gemeint ist – insgesamt ist das Werk also bei allem energischem Zugriff doch sehr humorvoll, was man bei Pfitzner nicht unbedingt vermuten würde. Er konnte ja auch sehr garstig sein. In Dresden spielt Tzimon Barto den gefürchteten Solopart, der zahlreiche Schwierigkeiten bereithält. O ja, das Konzert verlangt einen gesunden Zugriff! Ich bin sehr froh, dass Tzimon Barto, mit dem ich schon früher zusammengearbeitet habe, das Stück extra gelernt hat. Schon bei den Proben hat er es in einer Weise gespielt, dass einem Mund und Nase offen standen. In der Fachliteratur liest man ja immer wieder, das Werk sei unaufführbar. Durch Tzimon Barto bin ich nun ganz sicher, dass dies nicht stimmt: Es ist sehr aufführbar! Auch in der zweiten Konzerthälfte hören wir eine Entwicklung »durch Nacht zum Licht«: die erste Symphonie von Johannes Brahms. Deren Klangsprache ist uns sehr vertraut. Auf wen hat Sie aber Ihrer Meinung nach stärker gewirkt – auf Pfitzner oder auf Busoni? Das ist eine schwierige Frage. Letztendlich hat sie wohl auf beide gewirkt. Denn es war wie bei Beethoven: An ihm kam keiner vorbei, der im 19. Jahrhundert eine Symphonie komponierte. Und so hat auch Brahms noch weit ins 20. Jahrhundert gewirkt. Es gibt sowohl bei Busoni als auch bei Pfitzner viele Anklänge an Brahms – zum Beispiel dieses Dunkle, Verhüllte und Unsentimentale. Wahrscheinlich liegt es daran, dass beide trotz aller Unterschiede letztlich doch aus der gleichen Tradition kommen. Ist Brahms für Sie eher ein Konservativer oder ein Fortschrittlicher? Busoni ist ein Komponist, den man in Ihrem Repertoire bislang nicht gefunden hat. Haben Sie auch Lust und Interesse an diesem Komponisten gefunden? Ja, allerdings, und ich bin sehr begeistert, wie gut sich das »Nocturne« mit dem Klavierkonzert mischt. Dieses Nachtstück ist ja eines der Lieblingsstücke der Musikwissenschaftler, weil es harmonisch wirklich sehr weit in die Zukunft weist. Man hört Berg und den späten Schönberg, bis hin zu »Moses und Aron«. Auch für Busonis Verhältnisse scheint mir das sehr avanciert, denn er konnte auch sehr melodiös schreiben, zum Beispiel im »Doktor Faust«. Aber hier hat er diese fahlen Klangfarben, die mich sehr an den abgedeckten »Parsifal«-Klang erinnern. Es ist ein Klang, in dem keine Stimme heraussticht, bei dem es auf die Mischung ankommt. Und das kommt der Kapelle natürlich sehr entgegen. 8 9 Ich halte grundsätzlich nicht viel von solchen Einordnungen, die sich häufig als Irrtümer herausstellen. Interessant ist bei Brahms doch das Paradoxe: Der Rückgriff auf ältere Dinge, den man bei ihm findet, hat ihn doch eigentlich erst zum Fortschrittlichen gemacht. Das haben viele Zeitgenossen nicht gesehen. Ich erkenne da auch eine Parallele zur heutigen Zeit. Manche Entwicklungen oder Auswüchse muss man abbrechen, um einen neuen Weg zu finden. Dabei hilft meistens die Besinnung darauf, wo wir herkommen. Ich kann nur sagen: Zurück in die Zukunft! Das ist genau das, was Brahms gemacht hat. Er hat auf alte Formen zurückgegriffen und damit neue Türen geöffnet. Und das verbindet ihn mit Pfitzner und Busoni. D i e F r ag e n s t e l lt e T ob i a s N i e de r s c h l ag . 1. SYMPHONIEKONZERT Musik jenseits der Weltanschauung M anchmal ist Musik mehr als Klang. Manchmal ist sie eine Welt. Und manchmal sogar eine Weltanschauung. Alle Komponisten haben die gleichen zwölf Töne zur Verfügung. Jeder versucht sie nach seinen Vorstellungen zu ordnen, eigene Kosmen zu schaffen – sich in die Musikgeschichte einzuordnen und an ihrer Zukunft mitzuschreiben. Der Dirigent Daniel Barenboim hat einmal gesagt: »Musik ist nie politisch« – für ihn ist sie eine Welt ohne Worte, ein Reich ohne Ideologie. Für Barenboim ist Musik zunächst einmal unschuldig. Und so ähnlich sieht das auch Christian Thielemann. In seinen Interpretationen sucht er nicht nach Weltanschauungen. Ihm geht es nicht um Agitation, sondern um die Ideen, die Logik und die Sinnlichkeit innerhalb der Musik. Aber natürlich wirkt Musik auch wie ein historischer Schwamm. Wenn wir über sie reden, ordnen wir sie in unsere Zeit ein. Dann saugt sie die Vergangenheit und die Gegenwart auf. Auch deshalb geht es in der Musik immer auch darum, in welchen Zusammenhang wir sie stellen. Seit Jahren bekennt sich Christian Thielemann zum Werk des Komponisten Hans Pfitzner. Er schätzt seine harmonischen Strukturen, seine komplexen Arrangements und seine epische Erzählweise. Für manche ist das verdächtig, weil der Komponist ein Vorzeige-Antisemit war, ein Künstler, dessen Weltanschauung sich nach dem Ersten Weltkrieg radikalisierte und der nach dem Dritten Reich die Judenverfolgung relativierte. Gleichzeitig hat sich Pfitzner – und das darf man nicht vergessen – gegenüber Hitler durchaus für seine jüdischen Freunde eingesetzt, Gustav Mahler und seine jüdischen Förderer nie verraten – er war nie Parteimitglied der NSDAP. Die Ideologie spielt in seinen Klangwelten kaum eine Rolle. Pfitzner hat Musik als Musik geschrieben. Er hat versucht, die Musikgeschichte von Wagner und Mahler in seine Zeit zu retten. Er hat die Vergangenheit als Impuls verstanden und versucht, eine moderne Romantik zu schaffen. Für Pfitzner war der Weg in die Zukunft nicht ohne einen Blick in den Rückspiegel der Musikgeschichte zu haben. 10 11 Diese Rückbesinnung wagte auch Ferruccio Busoni. Der Pianist und Komponist gab Werke von Bach und Liszt heraus, veränderte sie aber und wurde dafür heftig kritisiert. Doch es gehörte zu Busonis Überzeugung, dass gute Musik sich nicht durch den Tonsatz auszeichnet, sondern durch den Akt des Schöpfens. Und dieser Akt verlangte für ihn uneingeschränkte Freiheit und Kreativität – auch im Umgang mit dem Bewährten. Busoni suchte ein neues Tonsystem, entwarf eigene Skalen und wollte durch Sechsteltöne die Musikwelt revolutionieren. Außerdem dachte er bereits die elektronische Musik vor. Auch seine Werke sind an sich unpolitisch, nichts anderes als Töne ohne Worte. Aber sie sind aus einem vollkommen anderen Blick auf seine Gegenwart entstanden als die Werke seines Zeitgenossen Hans Pfitzner. Busoni und Pfitzner haben in zahlreichen Schriften über die Positio­ nierung der Musik gestritten. Nachdem Busoni in seinem Essay »Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst« (1907 / 1916) neue Freiheiten forderte, konterte Pfitzner mit seinem Traktat »Futuristengefahr« (1917). Heute scheint die Frage, was passiert, wenn man die Werke der beiden jenseits aller Ideologie aufeinanderprallen lässt, wesentlich spannender als die his­ torische Debatte. Was steht wirklich in ihrer Musik? Was passiert, wenn man Busoni und Pfitzner nur in ihren Klängen reden lässt? G enau das will Christian Thielemann im ersten Symphoniekonzert der Saison herausfinden. Er will die Kompositionen der beiden Antipoden entideologisieren und auf das reduzieren, was sie sind: Musik. Dafür stellt er Busonis »Nocturne symphonique« Pfitzners Klavierkonzert in Es-Dur gegenüber. Musik, die sich der Zukunft öffnet und Musik, die sich aus dem Fundus der Vergangenheit speist. Es könnte sein, dass die beiden ideologischen Widersacher in ihren Klangwelten eigentlich gar nicht so weit auseinander liegen wie wir vermuten. Zumal beide Komponisten schon in ihrer Zeit die gleichen Förderer hatten: Der Dirigent Fritz Busch hat beide in Dresden aufgeführt. 1923 dirigierte Busch die Uraufführung von Pfitzners Klavierkonzert, 1925 an gleicher Stelle, kurz nach dessen Tod, Busonis Meisterwerk »Doktor Faust«. Christian Thielemann und die Staatskapelle setzen diese Tradition nun fort. Sie ergänzen das Programm mit Johannes Brahms erster Symphonie. Und vielleicht könnte ausgerechnet der alte, unangefochtene Meister eine Brücke schlagen. Schließlich lieferte Brahms sich ebenfalls ideologische Schlachten mit seinem Erzrivalen Anton Bruckner – und heute wissen wir, dass die Musik der beiden problemlos nebeneinander stehen kann. A x e l B r ü g g e m a n n 1. SYMPHONIEKONZERT Ferruccio Busoni * 1 . Ap r i l 1 8 6 6 i n Emp o l i b e i F l o r e n z † 2 7. J u l i 1 9 2 4 i n B e r l i n »Nocturne symphonique« op. 43 Sostenutissimo – Tranquillo – Adagio – Allegretto tranquillo e n tsta n de n Besetz u ng zwischen Oktober 1912 und Juli 1913 größtenteils während einer Konzertreise nach St. Petersburg, Riga, Moskau und Warschau 3 Flöten, 1 Oboe, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott, 3 Hörner, Pauken, Schlagzeug (2 Spieler), Harfe, Celesta, Streicher u r au f g e f ü h r t am 12. März 1914 in Berlin (Berliner Philharmonisches Orchester, Dirigent: Ferruccio Busoni) V e r l ag Breitkopf & Härtel, Wiesbaden/Leipzig Dau e r g e w i dm e t dem Dirigenten und Komponisten Oscar Fried 12 13 ca. 8 Minuten »aus Nervenfäden gewebt« Zu Ferruccio Busonis »Nocturne symphonique« Ferruccio Busoni stand als Komponist dem eigentlichen Futurismus, zumal dessen musikalischen Vertretern, völlig fern; er befand, der sogenannte Futurismus sei, »wo er Gegenwart wird, schon passé.« Dennoch besuchte er 1912 und 1913 die Ausstellungen der italienischen Gruppe in London und Paris. »Gegen diese Kunst … ist Schönbergs Pierrot lunaire eine laue Limonade!«, schrieb er gut gelaunt dazu an seine Frau. Und er pflegte mit dem Maler Umberto Boccioni bis zu dessen Tod 1916 einen engen Gedankenaustausch, ließ sich auch von ihm porträtieren und erwarb eine der großen visionären Stadtlandschaften Boccionis für seine Berliner Wohnung. Aber zur selben Zeit, als Tommaso Marinetti als Wortführer der Futuristen in seinem zweiten Futuristischen Manifest unter dem Schlachtruf »Kampf dem Mondschein« die Elektrizität feierte, entwarf Busoni die schattenhaft ineinanderfließenden Nachtgestalten seiner »Nocturne symphonique« (und Arnold Schönberg seinen »Pierrot lunaire«). Gegen Ende seines »Entwurfs zu einer neuen Ästhetik der Tonkunst« hatte der Komponist einige Jahre zuvor um Mitstreiter für eine nach Freiheit strebende, gleichsam naturhafte Musik geworben und gewünscht: »Befreien wir sie von architektonischen, akustischen und ästhetischen Dogmen; lassen wir sie reine Erfindung und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen und Klangfarben (denn Erfindung und Empfindung sind nicht allein ein Vorrecht der Melodie); lassen wir sie der Linie des Regenbogens folgen und mit den Wolken um die Wette Sonnenstrahlen brechen; sie sei nichts als die Natur in der menschlichen Seele abgespiegelt und von ihr wieder zurückgestrahlt …«. Nie ist er diesen Vorstellungen in seinem eigenen Komponieren so nahe gekommen, wie in seinem symphonischen Nachtstück, über das er seiner Frau in einem Brief vom 18. Juli 1913 mitteilt, es scheine ihm, »nach definitiver Prüfung und Durchsicht, eine Art Vollkommenheit an sich zu haben.« Mit den ineinanderfließenden gedämpften Farben, den sich ständig verändernden Klangkombinationen, der Annäherung an Geräuschhaftes und der Vielfalt der harmonischen Bildungen erinnert diese Nocturne unterschwellig eher an eine Großstadtszene mit dem seltsamen Zwielicht eines Bildes von Ernst Ludwig Kirchner als an ein Naturstück. Dazu passt trotz ihrer Ironie des Wohlgeordneten die Auskunft, die Busoni einer Ber- 1. SYMPHONIEKONZERT liner Zeitschrift 1907 über seine Arbeit als Komponist gab: »Die musikalische Erfindung und die erste leichte Ausführung kommt mir gewöhnlich auf der Straße, beim Spazierengehen, am liebsten in lebhaften Vierteln, des Abends. Die Ausführung geht zu Hause, an freien Vormittagen vor sich.« Gewidmet hat Busoni seine Komposition dem Dirigenten Oscar Fried, in der Frage von Druckgestaltung und Aufführungen zeigt er sich außergewöhnlich skrupulös. Er schreibt, ebenfalls an seine Frau: »So schätze ich Boccioni sehr, möchte aber kein Titelblatt von ihm bestellen.« Und zu einer späteren Anfrage von Hans Pfitzner, der das Stück mit seinem neugegründeten Orchester im 1918 deutsch gewordenen Straßburg aufführen möchte, meint er, er werde sich »hüten, diesem rohen Orchester das Nocturne P r o g r a mm z e t t e l d e r D r e s d n e r U r au f f ü h ru ng von Buson is o p e r » D o k t o r Fa u s t« ( 1 9 2 5 ) . Busoni verstand das »Nocturne Symphonique« als eine Vorstudie zu seinem Opus ultimum. zu geben; welches Stück aus Nervenfäden gewebt ist.« Die Uraufführung leitete Busoni selbst, im Frühjahr 1914 in Berlin. Einige Momente der Musik dieses Stückes erscheinen in der 1922 bei Busonis Tod nicht ganz vollendet hinterlassenen »Faust«-Oper wieder. Der Anfang fließt in das Vorspiel der Oper mit dem um Frieden bittenden Chor ein, und die mystisch klingenden Quartakkorde der drei parallel geführten Flöten vertreten in der Oper als Klangfigur die Erscheinung der Helena. Die Tonalität der »Nocturne« bewegt sich in einem Schwebezustand. Schwerpunkte deuten sich zwar immer wieder in Motivpartikeln an, Liegeklänge im Bass bilden Fundamente, von denen sich das übrige Geschehen aber mehr oder weniger ablöst. Kurz vor Schluss suggeriert dann eine wie von weitem eingeblendet wirkende Kadenz der drei Hörner einen Augenblick der Identität, des Wiedererkennens. Die Musik weckt eine Erinnerung an etwas außerhalb ihrer selbst. Es ist die Tonart Es-Dur, die nun im Untergrund festgehalten wird, ein schattenhafter Nachklang heroischer Konzertabende des Pianisten Busoni mit Beethovenschen und Lisztschen Klavierkonzerten … Ä s t h e t e i n e r n e u e n T on k u ns t: F e r rucc io Buson i ( u m 1910) 14 15 M a rt in W ilk ening 1. SYMPHONIEKONZERT »eine Inspiration, bei der es kein Bessern und Basteln gibt« Zu Hans Pfitzners Klavierkonzert Hans Pfitzner * 5. M a i 1869 i n Mosk au † 2 2 . M a i 1949 i n Sa l z bu rg Konzert für Klavier und Orchester Es-Dur op. 31 1. Pomphaft, mit Kraft und Schwung 2. H eiterer Satz. Ziemlich schnell, in einheitlich atemlosem Zeitmaß 3. Äußerst ruhig, versonnen, schwärmerisch 4. Rasch, ungeschlacht, launig e n tsta n de n Besetz u ng größtenteils im Sommer 1922; Abschluss der Partitur am 13. November 1922 Klavier solo; 3 Flöten (3. auch Piccolo), 3 Oboen, 3 Klarinetten, 3 Fagotte (3. auch Kontrafagott), 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug (1 Spieler), Harfe, Streicher u r au f g e f ü h r t am 16. März 1923 in der Dresdner Semperoper (Solist: Walter Gieseking, Sächsische Staatskapelle, Dirigent: Fritz Busch) 16 V e r l ag Schott Music, Mainz g e w i dm e t Dau e r dem Dresdner Generalmusikdirektor Fritz Busch (nach dessen Vertreibung 1933 getilgt) ca. 40 Minuten 17 »Was falsch, was verbrauchtes Cliché geworden, der Kanon bestimmt es. Tonale Klänge, Dreiklänge in einer Komposition mit dem technischen Horizont von heute – überbieten jede Dissonanz. Als solche allenfalls sind sie zu brauchen, – aber behutsam und nur in extremis, denn der Choc ist ärger als früher der bitterste Mißklang.« Was der Teufel hier in Thomas Manns 1941 vollendeten Roman »Doktor Faustus« dem deutschen Tonsetzer Adrian Leverkühn einflüstert, könnte, auf etwas verdrehte Weise auch schon Hans Pfitzner durch den Kopf gegangen sein, als er 1922 sein Klavierkonzert schrieb. Dessen unerwartete Es-Dur-Emphase tritt allerdings alles andere als behutsam auf, sie wird im ersten Satz zunächst mit einem ganz ungebrochenen Pomp des Virtuosen ausgebreitet, der tatsächlich etwas Schockierendes besitzt. Aus der Überrumpelung des Anfangs, der auftrumpfend unvermittelten Setzung ihres sich selbst bejubelnden Einfalls, der wie ein Blitz aus der Vergangenheit in die schlechte Gegenwart einschlägt, wird im zweiten Thema eine grüblerische Unklarheit. Wirkt dieser Blick ins Innere, mit seinen umhertas­tenden harmonischen Fortspinnungen und wie im Vorbeigehen eingestreuten Kadenzierungsseligkeiten, im Kontrast auch um einiges differenzierter, so bleibt doch die Frage, warum so wenig davon die Fassadenwelt des Es-Dur-Themas erreicht. Pfitzner hat andere, formal viel freiere Konzertmodelle ausprobiert, etwa in der schweifenden Form seines ein Jahr später entstandenen Violinkonzertes. Hier, wo die Gespaltenheit der Ausdruckswelten gleichzeitig den Themenkontrast eines Sonatenhaupsatzes vertritt, gewinnt die Form etwas geisterhaft Schematisches. Daran ändern auch die bei den seltenen Aufführungen gerne praktizierten Kürzungen in der Reprise nichts (die am heutigen Abend auch nicht zur Anwendung kommen). Im Zentrum von Pfitzners Musikästhetik steht der Begriff des »Einfalls«, den der schriftstellerisch ungemein produktive Komponist besonders seit seiner »Futuristengefahr« immer wieder fast fetischartig umklammert, so auch in dem Pamphlet »Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz«, das 1920, kurz vor dem Klavierkonzert, erschien. Während Pfitzner in der ersteren Schrift die Autonomie des künstlerischen Einfalls vor allem von einem programmatisch geprägten thesenhaften Kunstwollen bedroht sieht, 1. SYMPHONIEKONZERT Ap o l o g e t d e s m u s i k a l i s c h e n » E i n f a l l s « : H a n s P f i t z n e r ( u m 1 9 2 0 ) In Dresden wurden seine Werke zwischen 1905 und 1954 regelmäßig gespielt, wobei Pfitzner 1929 (Erstaufführung seiner Oper »Der arme Heinrich«) und 1930 auch selbst am Pult der Sächsischen Staatskapelle stand. 18 19 geht es in der zweiten Schrift, obwohl sie in der unfeinen Anspielung des Titels die Fehde gegen Busoni fortsetzt, vor allem gegen ein aus Ideen statt aus Tönen abgeleitetes Musikverständnis, konkret gegen das Beethoven-Bild des einflussreichen Musikwissenschaftlers Paul Bekker. Pfitzners Apologetik des Einfalls um seiner selbst willen und als Hüter des Über-Rationalen in der Kunst ist oft genug Zielscheibe des Spotts geworden, am treffendsten wohl in Alban Bergs Entgegnung auf Pfitzners Analyse-Verweigerung zu Robert Schumanns »Träumerei«. Die Unschuld, die Pfitzner dem Einfall als Quell einer von rationalen Thesen, von Kunstwollen und Materialdenken ungetrübten Inspiration zuschreibt, hat dieser offenbar längst verloren, wenn er derart zum Gegenstand obsessiver Polemik wird. Thomas Mann, der sich mit Pfitzner auseinandergesetzt hat wie kein anderer Zeitgenosse, erkennt im Einfall gar etwas Diabolisches. Im Disput mit dem Teufel, der sich im »Doktor Faustus« unter den nachgelassenen Papieren Adrian Leverkühns befindet, tritt der Verführer hier gerade nicht als Anwalt der Spekulation, des konstruierten oder glänzenden, jedenfalls seelenlosen Kunstwerks, sondern als einziger Garant des offenen Weges zum freien, unabgeleiteten, genialen und unschuldigen Einfall: »Eine wahrhaft beglückende, entrückende, zweifellose und gläubige Inspiration, eine Inspiration, bei der es keine Wahl, kein Bessern und Basteln gibt, bei der alles als seliges Diktat empfangen wird, der Schritt stockt und stürzt, sublime Schauer den Heimgesuchten vom Scheitel zu den Fußspitzen überrieseln, ein Tränenstrom des Glücks ihm aus dem Auge bricht, – die ist nicht mit Gott, der dem Verstande zu viel zu tun übrigläßt, die ist nur mit dem Teufel, dem wahren Herrn des Enthusiasmus möglich.« Auch in Pfitzners Einfalls-Ästhetik sucht man allerdings vergebens eine schlüssige konkrete Definition des fortwährend verwendeten Begriffs des Einfalls. Was ist ein musikalischer Einfall? Ein Thema, ein Motiv, ein bestimmtes gestalthaftes Zusammentreffen von Melodik und Harmonik, etwas Gestisches oder gar eine Art Opus-Fantasie, die Vorstellung eines ganzen Stückes? So sehr auch die triumphierende Eingangsgeste des Klavierkonzertes für sich die Funktion eines Einfalls im landläufigen Sinne zu reklamieren scheint und damit auch musikalisch gegen die in Pfitzners Augen heruntergekommene Kunstwelt antritt, so sehr erscheint doch als eigentliche Substanz des Stückes das stockende Grübeln hinter dem Gestus auftrumpfender Selbstbehauptung. Dieser bleibt, seiner zentralen Stellung zum Trotz, beinahe episodisch und unvermittelt zu seiner Umgebung. In seinen Schriften verklärt Pfitzner die Musik als Kunst der Inspiration und des Einfalls auch zu einer spezifisch deutschen Kunst. Die schrillen nationalistischen und bald auch offen antisemitischen Töne erscheinen dort ganz unverstellt, im Gegensatz zu dem gebrochenen Tonfall seiner Musik. Während Pfitzner sich in seinem Violinkonzert, im späten Streichquartett 1. SYMPHONIEKONZERT 20 oder in vielen Klavierliedern auf ganz eigenwillige Weise außerhalb aller Konventionen bewegt, demonstriert das Klavierkonzert mit der Fortsetzung des heroischen Es-Dur-Konzerttypus‘ nach Beethoven, Liszt und – um nur einen von vielen Nachfolgern zu nennen – Felix Draeseke, vor allem eine Haltung, die sich bewusst in Gegensatz zu den fortschrittlichen Strömungen ihrer Zeit stellt. Auch dies, und nicht erst seine trostlosen politischen Ausfälle und seine Ergebenheitsadressen an die Nationalsozialisten, hat Pfitzner für spätere Generationen von Hörern und Komponisten zu einer schwierigen Person werden lassen. Es bedurfte schon der Souveränität eines musikschriftstellernden Komponisten wie Wolfgang Rihm, um Pfitzner wie Busoni gleichermaßen Recht widerfahren zu lassen. In seinem aus dem Pfitzner-Schrifttum einsam herausragenden Text »Zur Aktualität Pfitzners« verteidigt Rihm aus der gegen alle Dogmen des Komponierens gerichteten Perspektive von 1981 heraus Pfitzners Einfallsästhetik auch gewissermaßen gegen ihn selbst: »Einfall aber ist Wandel, unvorhergesehener Sprung, Herein-(ins Vertraute)Fall, plötzlicher Sturz. Darin liegt auch die Aktualität von Pfitzners Einfalls-Apologie. Nicht das systematisch Abgeleitete, sondern das unvermutet Eintretende verleiht einer Kunst Leben.« Wie das zweite Klavierkonzert von Brahms oder das von Reger ist Pfitzners Konzert viersätzig. Auch damit stellt Pfitzner sein Werk also in eine spezifisch deutsche Tradition. Der Gegensatz zwischen den beiden Themen des ersten Satzes wird in der Folge auf die beiden Mittelsätze übertragen. Zwischen diesen allerdings liegt die einzige Pause des Werkes, denn Satz eins und zwei gehen ebenso wie das folgende Satzpaar ineinander über. Der »Heitere Satz«, der als eine Art Scherzo an zweiter Stelle steht, zeigt mit der eingängigen Symmetrie seiner Phrasen wieder etwas Fassadenhaftes, auch wenn die Dreiklangswelt immer wieder in bitonale Doppelbödigkeit zersplittert. Im langsamen Satz herrscht dagegen, bis er schließlich in einen Choral einmündet, die ungebundene Rede der Improvisation, wird das Ornamentale des Klaviersatzes aufgefangen in der spröden, zunehmend sich auflösenden Tonalität. Aus ihr ruft dann der Choral zurück zur etwas angestrengt verfremdeten Volkstümlichkeit des Schlusssatzes. »Ungeschlacht, launig« will Pfitzner ihn vorgetragen und verstanden wissen, und als Höhepunkt solch vorsätzlich launigen Übermuts gestaltet sich die Kadenz als Fuge, erscheint die am stärksten gebundene Form als inspirierter Augenblick der Improvisa­t ion. Pfitzners Klavierkonzert bewegt sich also in einer erstaunlichen Fülle von Gegensätzen, die einander widerstreiten, es ist ein Werk seiner zerrissenen Zeit, der Jahre um 1920, in die das 19. Jahrhundert auf gespenstisch übermächtige Weise noch hineinragt. Die Schatten, die es wirft, besitzen etwas Beunruhigendes. »Das letzte Sinfoniekonzert der Reihe B brachte die bemerkenswerteste Uraufführung dieses Konzertwinters nicht nur für Dresden, sondern für Deutschland überhaupt: das erst vor vier Monaten fertig gewordene Klavierkonzert von Hans Pfitzner, seine neueste Komposition. Von den Meisterhänden Walter Giesekings schlichtweg vollendet gespielt, von der Kapelle unter Busch mit äußerster Sorgfalt begleitet, erhielt das Werk in der Hauptprobe und am Abend viel Beifall, für den Pfitzner, der mit Gieseking zusammen stürmisch gefeiert wurde, selbst dankte. … Ob sich das Stück von sich aus bei den Pianisten bald einbürgern wird, läßt sich ohne weiteres nicht sagen. Der Name Pfitzner hilft ihm jedenfalls die Wege ebnen. Denn: ›ein Gedicht von Hans Sachs, das will was bedeuten.‹« E u g e n T h a r i i m D r e s d n e r A n z e i g e r , 1 8 . M ä r z 1 9 2 3 M a rt in W ilk ening 21 T i t e l b l a t t d e r P a r t i t u r a u s g a b e d e s K l av i e r k o n z e r t e s m i t d e r W i dm u n g a n F r i t z B u s c h Pfitzner widmete das Konzert dem Dresdner Generalmusikdirektor, der sich während seiner Amtszeit intensiv für Pfitzners Werke einsetzte. Der Komponist dankte ihm dies allerdings nicht: Nach der Vertreibung Buschs durch die Natio­nalsozialisten im März 1933 ließ er die Widmung kurzerhand tilgen. 1. SYMPHONIEKONZERT Tzimon Barto Klavier A ls einer der führenden amerikanischen Pianisten seiner Generation begeistert Tzimon Barto seine Fangemeinde auf beiden Seiten des Atlantiks mit außergewöhnlichen und mitreißenden Konzerten. Das Magazin »Der Spiegel« nannte ihn kürzlich »einen der vielschichtigsten, unerschöpflichsten und besten Pianisten der Gegenwart«. Aufgewachsen in Florida, erhielt er seinen ersten Klavierunterricht von seiner Großmutter. Sein Studium absolvierte er an der New Yorker Juilliard School bei Adele Marcus und gewann darauf zweimal in Folge den Gina Bachauer Wettbewerb. Der internationale Durchbruch erfolgte Mitte der 1980er Jahre, als Tzimon Barto auf Einladung Herbert von Karajans im Wiener Musikverein und bei den Salzburger Festspielen auftrat. Seither ist Tzimon Barto mit nahezu allen international bekannten Orchestern aufgetreten, insbesondere mit den großen amerikanischen Orchestern in Philadelphia, New York, Cleveland, Chicago und Boston sowie mit den Berliner Philharmonikern, dem London Philharmonic Orchestra oder dem Orchestre de Paris. Tzimon Barto ist häufiger Gast bei so bedeu­tenden Festivals wie dem Ravinia Festival in den USA oder dem White Nights Festival in St. Petersburg. In seiner nunmehr gut 25-jährigen Karriere arbeitete er besonders intensiv mit dem Dirigenten Christoph Eschenbach zusammen, mit dem ihn eine ebenso lange Freundschaft verbindet. Tzimon Barto hat zahlreiche Aufnahmen eingespielt, darunter Klavierkonzerte von Rachmaninow, Prokofjew und Bartók sowie Solowerke von Chopin, Schumann und Liszt. Zuletzt erschienen hoch gelobte CDs mit Werken von Rameau, Haydn, Schumann und Ravel. Barto hat sich immer aktiv für die zeitgenössische Musik eingesetzt und rief im Jahr 2006 einen internationalen Kompositionswettbewerb für Klavier solo – den »Barto Prize« – ins Leben. Nach seinem Debüt bei der Sächsischen Staatskapelle im Oktober 1997 mit George Gershwins »Concerto in F« kehrt Tzimon Barto nun mit dem Klavierkonzert von Hans Pfitzner in die Semperoper zurück. 22 23 1. SYMPHONIEKONZERT Johannes Brahms * 7 . M a i 1 8 3 3 i n H a mb u r g † 3 . Ap r i l 1 8 9 7 i n W i e n Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68 1. Un poco sostenuto – Allegro – Meno Allegro 2. Andante sostenuto 3. Un poco Allegretto e grazioso 4. Adagio – Più Andante – Allegro non troppo, ma con brio – Più Allegro e n tsta n de n Besetz u ng zwischen 1862 und 1876; abgeschlossen im Sommer 1876 in Lichtental (Baden-Baden) 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Streicher u r au f g e f ü h r t am 4. November 1876 in Karlsruhe (Großherzoglich Badische Hof­ kapelle, Dirigent: Otto Dessoff) V e r l ag Breitkopf & Härtel, Wiesbaden/Leipzig Dau e r ca. 45 Minuten 24 25 Durch Nacht zum Licht Zu Johannes Brahms’ erster Symphonie Kein anderes seiner Werke hat Johannes Brahms so lange beschäftigt wie die erste Symphonie: Nicht weniger als 14 Jahre liegen zwischen den ersten Skizzen aus dem Jahr 1862 und der endgültigen Fertigstellung im Sommer 1876. Mehrere Entwürfe zu der Symphonie hat Brahms verworfen oder zu anderen Werken umgearbeitet (aus einem ursprünglichen d-Moll-Satz ging beispielsweise das erste Klavierkonzert hervor, andere Teile finden sich im »Deutschen Requiem« wieder). Ein Hauptgrund für die »Komplikationen« lag darin, dass Brahms die Symphonien Beethovens als übermächtiges Vorbild empfand; er selber sprach vom »Riesen Beethoven«, den er ständig »hinter sich marschieren« hörte. Brahms, der bei Abschluss der Partitur bereits 43 Jahre alt war, legte dem Werk die Tonart c-Moll zugrunde, die bereits durch einige bedeutende Werke Beethovens – darunter das dritte Klavierkonzert oder die fünfte Symphonie – vorgeprägt war und dort in der Regel in einem pathetisch-schicksalhaften Zusammenhang stand. Wie Beethoven in seiner Fünften wählte auch er eine Entwicklung »per aspera ad astra« (»Durch Nacht zum Licht«), die sich nach einem düsteren Beginn in einer abschließenden Aufhellung, einem Durchbruch nach C-Dur widerspiegelt. Mit einer äußerst beziehungsreichen Themen- und Variantenbildung aber ging Brahms in seiner Symphonie neue, eigene Wege. Der erste Satz hebt mit einer düsteren Einleitung an (»Un poco sostenuto«), die motivische Keimzelle des ganzen Satzes wird hier vorgestellt: Über lastenden Paukenschlägen stimmen die Violinen eine in Halbtonschritten aufsteigende Linie an, aus der schließlich das energische Hauptthema des Allegro-Teils hervorgeht. In diesem Hauptteil ist – neben einem lyrischen Seitenthema der Oboe – auch ein heftiges Staccato-Motiv von Bedeutung, das in der Durchführung choralartig fortgeführt wird. Der Satz endet mit einer resignativen Coda: die Konfliktspannung wird vorübergehend eingestellt. 1. SYMPHONIEKONZERT d a s a r b e i t s z i mm e r i m b r a h m s h a u s i n b a d e n - b a d e n - L i c h t e n t a l Hier schloss Brahms im Sommer 1876 nach 14-jähriger Arbeit die Partitur der c-Moll-Symphonie ab. Die beiden mittleren Sätze haben den Charakter von kurzen Intermezzi. Der lyrische Andante-Satz basiert auf einer kantabel strömenden Streichermelodie, die Bezüge zum Hauptthema des ersten Satzes erkennen lässt. Eine poesievolle Oboenmelodie leitet in den Mittelteil über, dessen fließende Bewegung auch bei der späteren Wiederkehr des Anfangsteils beibehalten wird. Am Ende steht ein schwelgerischer Abgesang von Solo­ violine und Horn. Kammermusikalisch intim gibt sich darauf der dritte Satz (»Un poco Allegretto e grazioso«), der weit entfernt ist von den energischen ScherzoSätzen Beethovens oder Bruckners. Mit einer anmutig fließenden Melodie stimmt die Klarinette den Hauptteil an; in einem späteren 6/8-Mittelteil nimmt die Musik lebhaftere, bisweilen emphatische Züge an. Ziel und krönender Abschluss der Symphonie ist das Finale, das an die Konflikte des Kopfsatzes anknüpft. Auch dieser Satz beginnt mit einer lastenden Einleitung (»Adagio«), die motivisch bereits auf den schnellen Hauptteil vorausweist. Pizzicati und wilde Streicherläufe steigern sich zum Einsatz einer hymnischen Hornmelodie (»Più Andante«), die Brahms einem schweizerischen Alphornthema ablauschte; die Blechbläser antworten mit einem feierlichen Posaunenchoral. Erst danach setzt der berühmte Allegro-Teil ein, dessen Hauptthema in den Streichern eine auffallende Ähnlichkeit zum »Freudenthema« aus Beethovens neunter Symphonie aufweist. Auch die Durchführung ist zunächst von dieser Streichermelodie 26 27 K o n s e r va t i v u n d f o r t s c h r i t t l i c h : J o h a n n e s B r a h m s i m j a h r 1 8 7 6 Zehn Jahre später empfahl Brahms den jungen Ferruccio Busoni ans Konservatorium in Leipzig, wo dieser die Bekanntschaft mit Tschaikowsky, Mahler und Grieg machte. 1. SYMPHONIEKONZERT Programm 1 Anton Bruckner Symphonie Nr. 8 c-Moll D e r D i r i g e n t u n d K o mp o n i s t O t to Dessof f ( u m 1880) Dessoff war ein enger Freund von Brahms und leitete als Großherzoglich Badischer Hofkapellmeister in Karlsruhe 1876 die Uraufführung der ersten Symphonie. Zuvor war er von 1862 bis 1875 »Abonnementdirigent« der Wiener Philharmoniker. In Wien unterrichtete er u.a. Ernst von Schuch und Arthur Nikisch und nahm damit indirekt Einfluss auf die spätere Entwicklung der Orchesterkultur in Dresden und Leipzig. geprägt und mündet – nach dramatischen Entwicklungen – in einen explosiven Höhepunkt, auf dem erneut die Schweizer Hornmelodie erklingt. Damit ist der Weg frei für eine brillante Coda (»Più Allegro«), die das Werk unter Choralklängen mit einer jubelnden Stretta beschließt. Nach der erfolgreichen Uraufführung im November 1876 in Karlsruhe wurde Brahms schon bald als würdiger Nachfolger Beethovens angesehen, der Dirigent Hans von Bülow etwa prägte das Wort von Beethovens »zehnter Symphonie« – was Brahms aber äußerst verärgerte. Mit seiner ers­ ten Symphonie gelang ihm, ausgehend von der Tradition Beethovens, ein ganz eigener symphonischer Ansatz. Gleichzeitig durchbrach er mit dem Werk auch seine große Hemmschwelle gegenüber der Gattung: Bereits im Sommer 1877 komponierte er in nur wenigen Wochen seine lyrische zweite Symphonie. T o b i a s N i e d e r s c h l a g 28 29 Europa-Tournee mit Christian Thielemann Dirigent Christian Thielemann K lavier Tzimon Barto 6. September 2011 Essen, Philharmonie (1) 7. September 2011 Wien, Musikverein (1) 9. September 2011 Lucerne Festival, Kultur- und Kongresszentrum Luzern (1) 10. September 2011 Lucerne Festival, Kultur- und Kongresszentrum Luzern (2) 12. September 2011 Musikfest Berlin, Philharmonie Berlin (2) Programm 2 Ferruccio Busoni »Nocturne symphonique« op. 43 Hans Pf itzner K lavierkonzer t Es-Dur op. 31 Johannes Brahms Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68 1. Symphoniekonzert 2011 | 2012 Orchesterbesetzung 1. Violinen Michael Neuhaus 1. Konz e rt m e i st e r Solo Thomas Meining Michael Frenzel Christian Uhlig Volker Dietzsch Johanna Mittag Jörg Kettmann Susanne Branny Martina Groth Wieland Heinze Anja Krauß Roland Knauth Anselm Telle Sae Shimabara Franz Schubert Renate Hecker Andreas Schreiber Anya Muminovich Michael Horwath Michael Schöne Ulrich Milatz Ralf Dietze Claudia Briesenick Susanne Neuhaus Juliane Böcking Milan Líkař Uta Scholl 2. Violinen Reinhard Krauß Konz e rt m e i st e r Frank Other Annette Thiem Stephan Drechsel Jens Metzner Ulrike Scobel Olaf-Torsten Spies Alexander Ernst Mechthild von Ryssel Emanuel Held Kay Mitzscherling Martin Fraustadt Lisa Werhahn Katharina Schumann* 30 Bratschen Roland Straumer 31 Violoncelli Isang Enders Konz e rt m e i st e r Friedwart Christian Dittmann Solo Tom Höhnerbach Martin Jungnickel Uwe Kroggel Andreas Priebst Bernward Gruner Johann-Christoph Schulze Jörg Hassenrück Jakob Andert Kontrabässe Andreas Wylezol Christoph Bechstein Reimond Püschel Thomas Grosche Flöten Miklós Takács Norbert Dausacker* Trompeten Mathias Schmutzler Andreas Kißling Solo Solo Siegfried Schneider Sven Barnkoth Bernhard Kury Jens-Jörg Becker Oboen Posaunen Nicolas Naudot Bernd Schober Solo Solo Jürgen Umbreit Frank van Nooy Sibylle Schreiber Volker Hanemann Klarinetten Wolfram Große Tuba Hans-Werner Liemen Solo Solo Dietmar Hedrich Christian Dollfuß Fagotte Joachim Hans Solo Hannes Schirlitz Andreas Börtitz Hörner Solo Erich Markwart Christoph Schmidt* Solo Solo Robert Langbein Petr Popelka Torsten Hoppe Helmut Branny Solo Harald Heim Manfred Riedl Pauken Thomas Käppler Solo Schlagzeug Christian Langer Jürgen May Harfen Astrid von Brück Solo * als Gast 1. SYMPHONIEKONZERT H a p py Bir t hd ay, Israel P h i l ha r m S o n d er onic O k o n z er t zum rc O r c he s Sächsis ter s au c h en S Di r ig e n t Isaac Albéniz Auszüge aus der »Iberia«-Suite Nikolai Rimski-Korsakow »Capriccio espagnol« op. 34 Claude Debussy »Images« für Orchester Nr. 2 (»Ibéria«) Maurice Ravel »Boléro« 32 33 75. G e bu r tsta g de s du ng d er taatsk a pelle D r e s d en S o n n tag 10 . 0 9. 2 0 11 2 0 : 4 5 U h r Zubin Mehta f E in la hest ra! Vorschau S o n n t ag 0 9.10 .11 11 U h r M o n t ag 10 .10 .11 2 0 U h r D i e n s t ag 11 .10 .11 2 0 U h r S e mp e r o p e r Manfred Honeck Dirigent Katia und Marielle Labèque Klavier Alfred Schnittke »(K)ein Sommernachtstraum« für Orchester Wolfgang Amadeus Mozart Konzert für zwei Klaviere und Orchester Es-Dur KV 365 Antonín Dvořák Symphonie Nr. 9 e-Moll op. 95 »Aus der Neuen Welt« I m p ress u m Bildnachweise Sächsische Staatsoper Dresden Intendantin Dr. Ulrike Hessler Christian Thielemann, Zubin Mehta: Matthias Creutziger; historische Abbildungen zu Busoni, Pfitzner und Brahms: Archiv der Sächsischen Staatsoper Dresden; Arbeitszimmer im Brahmshaus Baden-Baden-Lichtental: Mit freundlicher Genehmigung der Brahmsgesellschaft Baden-Baden e.V.; Tzimon Barto: Malcolm Yawn; Gohrisch: Arne Walther Spielzeit 2011|2012 Herausgegeben von der Intendanz © September 2011 R edak t ion Tobias Niederschlag Te x t nachweise Sämtliche Texte sind Originalbeiträge für die Publikationen der Sächsischen Staats­ kapelle Dresden. Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht werden konnten, werden wegen nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. G es t alt u ng u nd L ay o u t schech.net Strategie. Kommunikation. Design. D r u ck Union Druckerei Dresden GmbH Frankfurter Allgemeine Zeitung Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet. Auch 2011 wieder herausragende Konzerte an besonderem Ort Mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden, Michail Jurowski, Igor Levit, Sergei Nakariakov, Christian Friedel u.v.a. Karten in der Schinkelwache am Theaterplatz A n z eigen v er t rie b Keck & Krellmann Werbeagentur GmbH i.A. der Moderne Zeiten Medien GmbH Telefon: 0351/25 00 670 e-Mail: [email protected] www.kulturwerbung-dresden.de www. staat ska pelle-dresden.de 16. – 18. September 2011 34 www.schostakowitsch-tage.de 2. Symphoniekonzert „Hier gelang etwas Einzigartiges, das man sonst eher von Festivals wie in Salzburg oder Bayreuth erwarten würde.” 4 MF