Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch Störungen des Sprechens und der Sprache, Stimmstörungen sowie Schluckstörungen M 10 Überblick über Störungen des Sprechens, der Sprache und der Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 M 11 Allgemeine und spezifische Sprachentwicklungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 M 12 Stottern: Unterscheidungshinweise zur „altersgemäßen Sprechunflüssigkeit“, zum „beginnenden Stottern“ und zum „chronischen Stottern“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 M 13 Kindliche Stimmstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 M 14 Myofunktionelle Störungen: Störungen der Zungenfunktion und der Mundmuskulatur . . 86 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Thieme-Verlag Herr Elm Thieme-Verlag Herr Elm Sommer-Druck Feuchtwangen 10 M Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch Überblick über Störungen des Sprechens und der Sprache: Fachausdrücke und Erläuterungen █ █ Ziel Die Leser sollen mit den Fachausdrücken vertraut gemacht werden, die in der Logopädie, Sprachheilpädagogik und Phoniatrie verwendet werden. Sie sollen dabei die einzelnen Störungsbilder kennen lernen und voneinander unterscheiden können. █ Einsatzmöglichkeiten Für alle Zielgruppen geeignet. █ Aussprachestörungen Neben dem Begriff der Aussprachestörung werden verschiedene Begriffe parallel verwendet: z. B. Dyslalie, Artikulationsstörung, Sprechstörung, Lautbildungsstörung, phonetisch-phonologische Störung. Man unterscheidet organische und funktionelle Formen der Aussprachestörung. █ Organische Aussprachestörungen Störungen der Aussprache liegen bei einem organischen Befund vor und können z. B. bedingt sein durch eine angeborene Hörstörung, Spaltbildung im Lippen-Kiefer-Gaumen-Bereich, geistige Behinderung oder durch neurologische Befunde, wie z. B. bei einer Zerebralparese (hirnorganisch bedingte Spastik oder Lähmung von Muskeln). █ Funktionelle Aussprachestörungen Störungen der Aussprache ohne Vorliegen eines organischen Befunds werden als funktionelle Aussprachestörungen bezeichnet. Dabei werden folgende Formen unterschieden: 64 • • • • Artikulationsstörung Verzögerung der Ausspracheentwicklung konsequente phonologische Störung inkonsequente phonologische Störung Artikulationsstörung Die Kinder zeigen eine rein artikulatorische Fehlbildung ihrer Aussprache; im Deutschen werden hier vor allem Störungen der Sibilanten (Zischlaute) diagnostiziert: die Laute „s“ (Sigmatismus) und/ oder „sch“ (Schetismus) werden inkorrekt gebildet. Ursächlich kommen eine Zungenfehlfunktion oder ein inkorrekt erlernter Artikulationsort infrage. Diese Symptomatik bildet sich ohne logopädische Intervention selten von allein zurück. Verzögerung der Ausspracheentwicklung Von einer solchen Störung spricht man, wenn die Ausspracheentwicklung bei den Kindern rein zeitlich um mindestens 6 Monate verzögert ist (sog. phonologische Verzögerung). Beispielsweise zeigt sich das daran, dass: Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Inhalt Es werden die wichtigsten Störungen des Sprechens und der Sprache, des Sprechablaufs, der Kommunikation sowie der Stimme mit ihren Fachausdrücken vorgestellt, anschaulich beschrieben und anhand von Beispielen erläutert. Thieme-Verlag Herr Elm Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch • Laute bzw. Lautverbindungen vereinfacht wer- • • den: statt Kaffee – Taffee, statt Garten – Darten (Verlagerung der Lautbildung in den vorderen Mund-/Zungenbereich); Laute bzw. Lautverbindungen ersetzt werden: – schwierige Zischlaute durch leichtere: statt „ich“ – „is“, statt „Schule“ – „Sule“; – schwierige Verschlusslaute durch leichtere: statt „Roller“ – „Holler“; Konsonantenverbindungen reduziert werden: statt „Blume“ – „Lume“, statt „Schnecke“ – „Necke“. Konsequente phonologische Störung Wird eine phonologische Störung diagnostiziert, bedeutet dies, dass eine von der regelgerechten Ausspracheentwicklung abweichende Sprachentwicklung vorliegt. Kinder mit einer konsequenten phonologischen Störung zeigen mindestens eine Form von Lautersetzungen und/oder Auslassungen, die Kinder mit normaler physiologischer Entwicklung zu keinem Zeitpunkt zeigen. Zusätzlich können sie auch entsprechende phonologische Muster der normalen physiologischen Entwicklung aufweisen. Typische pathologische Fehlbildungen sind: • Ort der Lautbildung im Mundraum ist rückverlagert: statt „Tomate“ – „Komake“; • alle Reibelaute werden ersetzt durch Verschlusslaute: statt „Schule“ – „Dule“, statt „Fuß“ – „Put“, statt „suchen“ – „duken“; • alle Wortanfänge werden beispielsweise durch den Laut „h“ ersetzt: „Pferd“ – „Hert“, „Brille“ – „Hille“; • Laute wie „f“ oder „w“ werden durch den Laut „s“ ersetzt: statt „Fahne“ – „Sahne“, statt „Wolle“ – „Solle“; • Wortanfänge oder Wortenden werden ausgelassen: statt „Kanne“ – „Anne“, statt „Hut“ – „Hu“. Inkonsequente phonologische Störung Bei Kindern tritt eine solche phonologische Störung nur selten auf. Es handelt sich dabei um die schwerste Form einer funktionellen Aussprachestörung, bei der ein Kind ein und dasselbe Wort fast jedes Mal anders ausspricht (z. B. Frosch: Fosch, Schof, Rotsch, Bosch), sodass auch die enge Familie sich nicht in das Sprechen des Kindes einhören kann. Manche dieser Kinder geben aufgrund ihrer Unverständlichkeit das Sprechen fast auf und kommunizieren hauptsächlich über Gestik und Mimik (bei altersgemäßem Sprachverständnis). Sprachentwicklungsstörungen Auch bei den Störungen der Sprache werden verschiedene Begriffe parallel verwendet: Sprachentwicklungsstörung, -verzögerung, -behinderung. Teilweise werden nur Teilsymptome benannt, so wird z. B. bei einem gestörten Grammatikerwerb teilweise noch von Dysgrammatismus gesprochen. Am häufigsten wird allerdings mittlerweile der Begriff Sprachentwicklungsstörung (SES) verwendet. Man unterscheidet 2 Arten von Sprachentwicklungsstörungen, die hinsichtlich ihrer Ursachen voneinander abweichen. Von ihren Symptomen her unterscheiden sie sich allerdings nicht. Bei beiden Arten beträgt der Sprachentwicklungsrückstand mindestens 6 Monate: • spezifische Sprachentwicklungsstörung • allgemeine Sprachentwicklungsstörung █ Spezifische Sprachentwicklungsstörung Von einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung wird gesprochen, wenn eine Sprachentwicklungsstörung vorliegt ohne vorausgehende organische, mentale oder emotionale Schädigungen. Ein Kind kann demnach gut hören, gut sehen und ist geistig und körperlich weitgehend normal entwickelt. Sein Elternhaus gibt ihm optimale Entwicklungsbedingungen und trotzdem hat es in der Entwicklung seiner Sprache erhebliche Schwierigkeiten und ist sprachauffällig. Sprachlich auffällig können sein: • die Aussprache des Kindes (Dyslalie; s. oben) • das Sprachverständnis • die Grammatik (Dysgrammatismus; Satzbau und Wortendungen) 65 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. M 10 Überblick über Störungen des Sprechens TEIL 2 Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter dialogischen Fähigkeiten Allgemeine Sprachentwicklungsstörungen Von einer allgemeinen Sprachentwicklungsstörung wird gesprochen, wenn organische, mentale oder emotionale Schädigungen vorliegen, z. B. Höroder Sehbeeinträchtigungen, geistige Retardierungen oder emotionale Belastungen, und dabei die Sprachentwicklung beeinträchtigt wird. Die sprachlichen Symptome müssen sich nicht von einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung unterscheiden. █ Symptome der spezifischen und der allgemeinen Sprachentwicklungsstörung Die Symptome können vielfältig sein und sich bei jedem Kind in anderer Ausprägung und Form zeigen. Folgende sprachliche Symptome treten auf: • phonologische Störung • lexikalische Störung • semantische Störung • Störung der Grammatik • Störung der Kommunikation Phonologische Störung Es handelt sich um eine verzögerte oder abweichende Organisation des phonologischen Systems, wobei die Artikulationsfähigkeit intakt ist. Die bedeutungsunterscheidende Funktion der Phoneme ist den Kindern häufig noch unbekannt. Ursachen können in peripheren (z. B häufige Mittelohrentzündungen) auch vorübergehenden Hörbeeinträchtigungen liegen, in zentralauditiven Verarbeitungsstörungen (s. M 5) und in einer genetischen Disposition. Die Aussprache ist abweichend. Sie lässt sich mit phonologischen Ersetzungs- und Strukturprozessen, die beim Kind ablaufen (Strukturstrategien, die das Kind nutzt) beschreiben. Abweichungen der Aussprache kommen auch im normalen Entwicklungsprozess des kindlichen Spracherwerbs vor, werden aber früher überwunden. 66 29.9.2010 Umbruch Materialien zur Früherkennung und Beratung • der (eingeschränkte) Wortschatz und/oder • die (eingeschränkten) kommunikativen und █ TN 778506 WN 013444/01/06 Lexikalische Störung Zu den lexikalischen Störung zählen 4 Untergruppen, die sogenannten Late Talker, die Störungen im Wortverständnis, die Störungen in der Wortproduktion und die kindliche Wortfindungsstörungen. Late Talker Kinder mit verspätetem Sprechbeginn werden als Late Talker bezeichnet. Mit etwa 24 Monaten produzieren diese Kinder keine 50 Wörter. Auch erste Wortkombinationen werden von den Kindern nicht geäußert. Im Laufe des dritten Lebensjahres holt ein Teil der Kinder (etwa 35–50 %) den Entwicklungsrückstand weitgehend auf. Sie werden auch als Late Bloomers (Spätblüher) bezeichnet. Die anderen Kinder (50 %) zeigen ab dem 3. Geburtstag sprachliche Auffälligkeiten im Sinne einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung. Störung des Wortverständnisses Störungen im Wortverständnis sind die früheste Ausprägung von Sprachentwicklungstörungen. Betroffene Kinder lernen weniger Wörter und können diese schlechter abspeichern als Kinder, die in ihrem Spracherwerb ungestört sind. Störungen des Wortverständnisses werden begleitet von Störungen der Wortproduktion. Störung der Wortproduktion Die Störung der Wortproduktion zeigt sich als eine der häufigsten und eine der frühesten Formen einer Sprachentwicklungsstörung. Wortarten wie Nomen, Verben und Funktionswörter können von der Störung unterschiedlich betroffen sein. Meistens werden Verben und Funktionswörter von Kindern im frühen Stadium gar nicht produziert. Kindliche Wortfindungsstörung Der Wortabruf gelingt Kindern nur teilweise. Das Störungsbild ist anhaltend, sodass die Zugriffsprobleme zu häufig auftreten, um als Versprecher gelten zu können. Betroffene Kinder bedienen sich häufig Umschreibungen oder machen mit Mimik und Gestik kenntlich, was sie möchten. Semantische Störung Störungen der Semantikentwicklung oder Störungen der Bedeutungsentwicklung werden selten als eigenständige Störung diagnostiziert. Semantische Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Thieme-Verlag Herr Elm Thieme-Verlag Herr Elm Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch M 10 Überblick über Störungen des Sprechens Störungen zeigen sich nicht in der Quantität von Wörtern, sondern eher in der qualitativen Vernetzung von Bedeutungen. Kinder mit semantischen Störungen haben Schwierigkeiten mit Sortier- und Zuordnungsaufgaben, insbesondere das Finden von Oberbegriffen fällt diesen Kindern schwer. • fehlende/fehlerhafte Form: • – mangelnde Übereinstimmung zwischen Artikel und Substantiv („der Mädchen“), – mangelnde Übereinstimmung zwischen Subjekt und Verb („ich geht“, „du macht“); falsche Stellung der Wörter im Satz („Heute nach Hause ich gehe“). Störung der Grammatik Störung der Kommunikation Unter kommunikativen Sprachschwierigkeiten werden sozioemotionale Störungen verstanden. Sie sind Folge einer Spracherwerbsstörung. Aufgrund fehlender kommunikativer Kompetenz (z. B. ein Gespräch zu führen) können kommunikative Situationen nicht adäquat gemeistert werden. Häufig werden Kinder mit Kommunikationsstörungen als unreifer eingeschätzt. Betroffene leiden häufig unter einem negativen Selbstwertgefühl. Alalie (Nichtsprechen) Hierbei handelt es sich um das sehr seltene Ausbleiben der Sprachentwicklung – eine extreme Form der zuvor beschriebenen Sprachentwick- lungsstörung liegt vor. Das Kind beherrscht keine bzw. sehr wenige Wörter oder verwendet sehr stereotyp immer wieder nur dieselben Lautgebilde. Störungen des Redeflusses █ Stottern (Balbuties) Das Sprechen ist durch Störungen des Redeflusses gekennzeichnet: Es treten Wiederholungen von Silben und Lauten, Dehnen von Lauten und/oder Blockaden auf, die durch mehr oder weniger starke Verspannungen/Kraftanstrengungen gekennzeichnet sind. Bei chronischem Stottern sind typisch: • pressendes Verharren in einer Artikulationsstellung (Blockaden) • auffällige Bewegungen der Mimik und Körpermotorik (sog. Mitbewegungen) • emotionale Begleiterscheinungen (Angst-, Wut-, Schamreaktionen) • sprachliches und/oder soziales Vermeidungsverhalten Oft ist die gesamte Kommunikation (auch das Verhalten des Gesprächspartners) beeinträchtigt. Des- halb wird Stottern auch als Kommunikationsstörung bezeichnet. Ist das Stottern vor allem durch Wiederholungen gekennzeichnet, wird es klonisch genannt; treten vor allem Pressen und Stillstände im Sprechablauf auf, bezeichnet man es als tonisch (s. vertiefende Hinweise in M 12 und M 22). █ Poltern Poltern zeigt sich als eine Störung des Sprechablaufs, die durch ein überhastetes, dabei oft unregelmäßiges Sprechtempo und eine verwaschene bzw. undeutliche Aussprache gekennzeichnet ist. Laute und Silben werden ineinander gezogen (Verschmelzungen), weggelassen oder in ihrer Abfolge umgestellt, Satzteile bleiben häufig unvollständig oder werden wiederholt. (Die Wiederholungen 67 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Gemeint sind Störungen beim Erwerb und Gebrauch der Grammatik, d. h. der Wort- und Satzbildung. Die Störungen können sich zum einen als zeitliche Abweichungen zeigen (Stehenbleiben auf einem früheren Entwicklungsstand, Verzögerungen der Sprachentwicklung), zum anderen als qualitative Abweichungen vom normalen Ablauf der Sprachentwicklung (strukturelle Störungen): • Auslassungen von Wörtern und Satzteilen (sog. „Telegrammstil“: „Timo Hause“, „Mama Ball“, „Susi Tisch steht“); Thieme-Verlag Herr Elm TEIL 2 Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch Materialien zur Früherkennung und Beratung weisen eine gewisse Nähe zum klonischen Stottern auf.) Auch bei den Inhalten der Aussage kann es zu Verwechslungen kommen. Dabei beschränken sich die Schwierigkeiten, Handlungsabläufe in einer vorgegebenen Abfolge auszuführen, nicht nur auf den sprachlichen Bereich, sondern werden (nach neueren Theorieansätzen) als umfassendere Störung der Wahrnehmung zeitlicher Abfolgen interpretiert. Stimmstörungen Kindliche Dysphonie (Stimmstörung) • Offenes Näseln: Beim Sprechen entweicht ver- Stimmklang und/oder Lautstärke und/oder Tonhöhe sind verändert. Die Stimme klingt z. B. piepsig oder heiser bis zur Stimmlosigkeit (Flüstern). █ Näseln (Rhinophonie) • stärkt Luft durch die Nase statt durch den Mund. Um dies zu verhindern, wird häufig mit zu viel Druck gesprochen. Die Stimme wird höher, der Sprecher wirkt kurzatmig, die Sprache scheint „nach vorne herauszufallen“. Geschlossenes Näseln: Der Luftstrom kommt verstärkt durch den Mund statt durch die Nase (z. B. bei „Polypen“ und schwerem Schnupfen). Sprechen mit näselndem Stimmklang (oft auch als Rhinolalie bezeichnet); 2 Arten werden unterschieden: Mutismus Beim Mutismus handelt es sich um eine Störung der Kommunikation. Kinder, die bereits Sprache erworben haben, sprechen nicht mehr bzw. teilen sich lautsprachlich nicht mehr mit. Bei intakter Hör- und Sprechfähigkeit kann die Sprechverweigerung total sein (totaler Mutismus) oder nur gegenüber bestimmten Personen (z. B. fremden Erwachsenen) oder in bestimmten Situationen (z. B. im Kindergarten) auftreten (elektiver Mutismus). Eine direkte Ursache ist noch unbekannt. In Betracht gezogen werden müssen sowohl Milieuschädigungen, neurotisierende Traumata und Konflikte als auch somatische Faktoren wie frühkindliche Hirnschädigungen, familiäre Veranlagungen (Dispositionen) u. a. 68 Die Wissensvermittlung zum Themenbereich „Störungen des Sprechens und der Sprache“ kann durch folgende Gruppenübungen unterstützt werden: • Übung 3: „Zeitlupensprechen“ (Teil 3, S. 168), • Übung 4: „Bauchredner“ (Teil 3, S. 169f), • Übung 6: „Hochgeschwindigkeitssprechen“ (Teil 3, S. 172), • Übung 7: „Die Bieftäger tommt“ (Teil 3, S. 173). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. █ Thieme-Verlag Herr Elm Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch Spezifische Fachliteratur Amorosa H, Noterdaeme M. Rezeptive Sprachstörungen. Ein Therapiemanual. München: Reinhardt; 2003 Bahr R. Wenn Kinder schweigen. Redehemmungen verstehen und behandeln. Ein Praxisbuch. 2. Aufl. Düsseldorf: Walter Fox A. Kindliche Aussprachestörungen – Phonologischer Erwerb, Differenzialdiagnostik, Therapie. Idstein: Schulz-Kirchner; 2003 Franke U. Logopädisches Handlexikon. 8. Aufl. München: Reinhardt; 2008 Grimm H. Störungen der Sprachentwicklung. Grundlagen, Ursachen, Diagnose, Intervention, Prävention. Bern: Huber; 2003 Grohnfeldt M. Lexikon der Sprachtherapie. Stuttgart: Kohlhammer; 2007 Grohnfeldt M. Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie, Bd 2: Erscheinungsformen und Störungsbilder. Stuttgart: Kohlhammer; 2009 Keilmann A, Büttner C, Böhme G. Sprachentwicklungsstörungen. Interdisziplinäre Diagnostik und Therapie. München: Reinhardt; 2009 Sandrieser P, Schneider P. Stottern im Kindesalter. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008 Schöler H, Welling A, Hrsg. Sonderpädagogik der Sprache. Bern: Huber; 2007 Sick U. Poltern. Theoretische Grundlagen, Diagnostik, Therapie. Stuttgart: Thieme; 2004 Siegmüller J, Bartels H. Leitfaden Sprache, Sprechen, Stimme, Schlucken. 2. Aufl. München: Elsevier, Urban & Fischer; 2010 Weinrich M, Zehner H. Phonetische und Phonologische Störungen bei Kindern. 3. Aufl. Berlin: Springer; 2008 Wendlandt W. Stottern im Erwachsenenalter. Grundlagenwissen und Handlungshilfen für die Therapie und Selbsthilfe. Stuttgart: Thieme; 2009 69 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. M 10 Überblick über Störungen des Sprechens Thieme-Verlag Herr Elm M Sommer-Druck Feuchtwangen 11 Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch Allgemeine und spezifische Sprachentwicklungsstörung Sandra Niebuhr-Siebert & Wolfgang Wendlandt Inhalt In diesem Kapitel werden 2 Formen der Sprachentwicklungsstörung beschrieben, die „spezifische“ und die „allgemeine“ Sprachentwicklungsstörung. Es wird aufgezeigt, wie sie sich voneinander abgrenzen lassen (diagnostische Abgrenzungskriterien) und auf welchen unterschiedlichen Ebenen sich die Störungen zeigen (Auswirkungsebenen). Dabei geht es um Störungen auf der Ebene der Phonologie (der Fähigkeit, Laute voneinander unterscheiden zu können), auf der Ebene der Semantik (der Wortbedeutung) und der Lexik (des Wortschatzes), auf der Ebene der Morphologie und Syntax (der Grammatik) und auf der Ebene der Pragmatik (der Kommunikation). Zur Veranschaulichung werden einzelne Äußerungen von Kindern lautsprachlich nebeneinander gestellt (s. Tab. 11.1). Die meisten dieser Äußerungen beziehen sich auf die abgedruckte Bildabfolge (Abb. 11.1). █ Ziel Es soll eine klare Abgrenzung der Störungen voneinander und ein Eindruck von der Erscheinungsweise der Störungen auf den einzelnen Auswirkungsebenen vermittelt werden. █ Einsatzmöglichkeiten Gut für alle Zielgruppen geeignet; besonders hilfreich bei der Schulung diagnostischer Kompetenzen (Wahrnehmung █ von Störungen des Sprechens und der Sprache); in Kombination mit Übung 7 (S. 173) gut einsetzbar. Von Sprachentwicklungsstörungen (SES) wird gesprochen, wenn die Sprachentwicklung des Kindes mindestens auf einer sprachlichen Ebene gestört ist. Die Auswirkungsebenen lassen sich unterteilen in: • Störungen auf der Ebene der Phonologie • Störungen auf der Ebene der Wortbedeutung und des Wortschatzes (Sprachverständnisstörung) • Störungen auf der Ebene der Grammatik • Störungen auf der Ebene der Kommunikation (Kommunikationsstörung) Sowohl bei der spezifischen wie auch bei der allgemeinen Sprachentwicklungsstörung können die genannten Auswirkungsebenen betroffen sein. Die allgemeinen und die spezifischen Sprachentwicklungsstörungen werden vor allem hinsichtlich ihrer Verursachung voneinander unterschieden: • Eine spezifische Sprachentwicklungsstörung liegt vor, wenn die Sprachentwicklungsstörung nicht im Zusammenhang mit anderen Beeinträchtigungen auftritt, wenn beispielsweise keine Hörstörungen oder andere körperliche Auffälligkeiten, keine mentalen Retardie- 70 • rungen und auch keine schwerwiegenden sozial-emotionalen Probleme vorliegen. Die Störung bezieht sich also „spezifisch“ nur auf die Sprache des Kindes und zwar sowohl auf das Sprachverständnis als auch auf die Sprachproduktion; das Sprachverständnis ist meist weniger betroffen. Eine allgemeine Sprachentwicklungsstörung hingegen wird durch primäre Beeinträchtigungen verursacht: Störungen der Aussprache können z. B. durch primäre Hörstörungen verursacht sein, Störungen des Erwerbs von Wortbedeutungen durch mentale Retardierungen. Sprachtherapeuten erkunden bei ihren sprachdiagnostischen Untersuchungen, ob primäre Störungen erkennbar sind. Liegen diese nicht vor, definieren sie die vorliegende Sprachentwicklungsstörung eines Kindes als „spezifisch“: Die Diagnose ergibt sich also aus dem Ausschluss primärer Störungen. Die Frage, die nun bleibt, lautet: „Was sind die Ursachen einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung?“ Dies ist im Einzelfall nicht immer klar erkennbar, prinzipiell müssen allerdings immer 3 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. █ Thieme-Verlag Herr Elm Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch M 11 Allgemeine und spezifische Sprachentwicklungsstörung Ursachen in Betracht gezogen werden, die durch Forschungen der letzten Jahre ermittelt werden konnten: • Zum einen handelt es sich um Defizite in der Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung (Informationen werden zu langsam verarbeitet). • Zum anderen besteht ein Defizit bei der Kapazität, die für die Informationsverarbeitung zur • Verfügung steht: Um Informationen verarbeiten zu können, müssen diese gespeichert werden; bei einer zu geringen Speicherkapazität kann es zu Verarbeitungsproblemen kommen, weil wichtige Informationen nicht abgespeichert wurden. Darüber hinaus wurden Defizite des phonologischen Arbeitsgedächtnisses festgestellt (s. Kasten unten). Im Allgemeinen können phonologische Störungen im Hinblick auf folgende Prozesse unterschieden werden: • Einschränkungen des kategorialen Lautinventars: Das Kind verfügt nicht in ausreichendem Maße über die Lautkategorien, nach denen unterschiedliche Laute zusammengefasst werden. • Einschränkungen bei Silben- und Wortstrukturen: Das Kind erkennt Silben in Wörtern wie „To-mate“ oder Wortgrenzen in einem Satz nicht: „Der-Junge-spielt-mit-dem-Hund.“ • Probleme in der Lautdifferenzierung: Das Kind • kann z. B. den ähnlich gebildeten Laut „k“ nicht von dem Laut „t“ unterscheiden. fehlerhafte Wortbetonungsmuster: Das Kind betont z. B. nicht die 1. Wortsilbe, wie es das Deutsche vornehmlich verlangt. Was ist das phonologische Arbeitsgedächtnis? Dieser Begriff beschreibt ein Erklärungsmodell, das man sich folgendermaßen vorstellen kann: Um Sprache zu erwerben, müssen gehörte „Lautketten“ kognitiv verarbeitet werden. Stellen wir uns einen Ort vor, an dem Menschen eine uns unbekannte Sprache sprechen. Was hören wir? Wir nehmen lediglich einen Lautstrom wahr. Wir wissen, dass die Menschen sich unterhalten, wir wissen aber nicht, was sie sagen – kennen also die Bedeutung der Wörter nicht. Auch können wir nicht feststellen, wann die Menschen in ihrer fremden Sprache ein Wort sagen, denn wir erkennen weder den Anfang noch das Ende des Wortes. Würden wir als Zuhörer nun aufgefordert werden, einfach nur zu wiederholen, was ein Mensch in der uns fremden Sprache gesagt hat – wir bräuchten ja eigentlich nur nachahmend zu wiederholen –, wären wir dazu kaum in der Lage, wir könnten die uns fremden Laute nur bedingt wiedergeben. Einem Kind, das eine Sprache lernt, ergeht es ähnlich. Es hört zunächst nichts als einen Lautstrom, es erkennt weder die Laute im Einzelnen, noch weiß es, was ein Wort oder die Bedeutung eines Wortes ist. Darüber hinaus weiß es auch nichts über Sätze, also Wortgefüge, die in jeder Sprache bestimmten Regeln folgen, und es weiß nichts darüber, wie wir miteinander kommu- nizieren: also dass wir beispielsweise abwechselnd miteinander sprechen, dass Sätze sich aufeinander beziehen können und wir so in der Lage sind, ganze Geschichten zu erzählen. Da die mündliche Kommunikation flüchtig ist und das Kind keine Möglichkeit hat, sie aufzuschreiben, um dann in aller Ruhe darüber nachzusinnen, was mit einer Äußerung – also einem Lautstrom – gemeint sein könnte, hilft ihm (und auch jedem Erwachsenen) das phonologische Arbeitsgedächtnis. Wir können es uns als einen Speicher für sprachliche Lautketten vorstellen. Hier werden die Äußerungen gespeichert, werden Klang und Beschaffenheit des Lautstroms für eine kurze Zeit festgehalten. Das Kind greift auf dieses phonologische Arbeitsgedächtnis zurück und ist so in der Lage, Laute, Wörter und allgemeine Zusammenhänge zwischen einzelnen Wörtern zu erkennen. Es sucht in dem abgespeicherten Lautstrom nach Regeln, die dem Geäußerten zugrunde liegen, und es tut dies auf allen sprachlichen Ebenen. Ist die Arbeitsweise des phonologischen Arbeitsgedächtnisses unzureichend, hat das Kind Probleme, sprachliche Regeln zu erkennen. Es können Störungen in der Sprachentwicklung entstehen. 71 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Störungen der Phonologie Thieme-Verlag Herr Elm TEIL 2 Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch Materialien zur Früherkennung und Beratung Kinder können Schwierigkeiten haben, Wortbedeutungen (Seme) zu erwerben und Wortbedeutungen zu behalten. Um z. B. das Wort „Ball“ zu erwerben, muss ein Kind wissen, für welches Ding das Wort „Ball“ steht und was man mit ihm machen kann. Das Kind muss begriffen haben, dass ein Ball rund ist, dass man mit ihm spielen kann und er sich fangen und rollen lässt. Und das Kind muss eine solche Wortbedeutung speichern und sich an sie erinnern können. Es kann also sowohl der Erwerb als auch der Zugriff auf Wortbedeutungen gestört sein. Im Einzelnen lassen sich folgende Störungsprozesse unterscheiden: • Störungen der Organisation des „mentalen Lexikons“ (des Sprachspeichers): Derartige Störun- • • gen zeigen sich beim Kind z. B. daran, dass es einzelne Wortgruppen nicht zueinander in Beziehung zu setzen vermag. Das kann daran liegen, dass ihm die Leistungen des Kategorisierens fehlen, beispielsweise Über- und Unterordnungen (Tier – Säugetier – Hund). Einschränkungen im Erwerb verschiedener Wortarten: Das Kind produziert vorrangig Hauptwörter, nur wenig Tätigkeitswörter und kaum Eigenschaftswörter. Störungen bei der Wortfindung und im Wortzugriff: Das Kind findet die richtigen Worte nicht, beispielsweise sagt es zu „Kühlschrank“ nur „Kühler“. Störungen der Grammatik Störungen beim Erwerb der Grammatik werden als Dysgrammatismus bezeichnet. Die Störungen betreffen hierbei die Satzebene und die Wortebene. Auf der Satzebene werden Wörter in einem Satz nicht an ihre richtige Stelle gesetzt. So steht im Deutschen das Verb im Hauptsatz an 2. Position: „Peter spielt Ball.“ Ein dysgrammatisch sprechendes Kind würde nun beispielsweise das gebeugte Verb an die letzte Position im Satz stellen: „Peter Ball spielt.“ Auf der Wortebene werden Wörter falsch oder gar nicht gebeugt (dekliniert und konjugiert). Zusammenfassend können Störungen des Erwerbs der Grammatik folgende Aspekte betreffen: Satzebene: • Eingeschränkte Satzlänge, kaum Mehrwortsätze: Das Kind sagt: „Peter Ball“ statt: „Peter holt den Ball.“ • Eingeschränkte Satzkomplexität: Z. B. werden kaum Präpositionalphrasen verwendet: Das 72 • • • Kind sagt: „Katze bei Sofa liegt“ statt „Die Katze liegt auf dem Sofa.“ Fehlen von Satzgliedern: Beispielsweise wird das Objekt, das mit dem Gebrauch eines Verbs gefordert ist, nicht genannt: Das Kind sagt: „Mama Buch schenkt“ statt: „Mama hat Peter ein Buch geschenkt.“ Falsche Wortstellung: Die Regel, dass das gebeugte Verb in Hauptsätzen an 2. Stelle steht, wird nicht beachtet: Das Kind sagt: „Ich Tomate hole“ statt „Ich hole eine Tomate“. Fehlerhafte „Verneinung“: Z. B.: „Ich nich komme“ statt „Ich komme nicht.“ Wortebene: • Fehlerhafte oder unterbleibende Übereinstimmung von Subjekt und Verb: Z. B.: „Ich fahren“ statt „Ich fahre.“ • Fehlerhafter Gebrauch der Fälle: Beispielsweise wird in Dativkontexten der Akkusativ verwendet: Das Kind sagt: „Ich kaufe mich das“ statt „Ich kaufe mir das.“ Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Störungen beim Erwerb von Wortbedeutungen und beim Erwerb eines umfangreichen Wortschatzes Thieme-Verlag Herr Elm Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch M 11 Allgemeine und spezifische Sprachentwicklungsstörung Störungen der Kommunikation werden bei der Betrachtung von allgemeinen und spezifischen Sprachentwicklungsstörungen häufig vernachlässigt. Dabei ist die Fähigkeit zur Kommunikation eine zentrale Voraussetzung für den Kontakt und die gelungene Gestaltung von Beziehungen. Diese kommunikativen Fähigkeiten werden auch in der sprachdiagnostischen Situation erkennbar und lassen sich dort ermitteln. Bei Sprachentwicklungsstörungen zeigen sich vor allem 2 Arten von Beeinträchtigungen, entweder allgemein-kommunikative Störungen (die dialogischen Fähigkeiten sind begrenzt, ein Gespräch kann nicht angemessen geführt werden). Und/ oder es liegen Einschränkungen beim Erzählen von Geschichten vor (die narrativen Fähigkeiten sind nicht ausreichend ausgebildet). Störungen hinsichtlich der Fähigkeiten, einen Dialog zu führen, zeigen sich beispielsweise wie folgt: • Nichtaufnehmen von Blickkontakt • Sprecherrollenwechsel gelingt nicht angemessen (du-ich-du oder ich-du-ich) • Ergreifen der Initiative unterbleibt, wodurch das Aufrechterhalten eines Dialogs misslingt • Gesprächspartnern wird nicht angemessen Rückmeldung gegeben • relevante Informationen werden den Gesprächspartnern nicht in ausreichendem Maße mitgeteilt • eingeschränkte Verfügbarkeit verschiedener Sprechakte: Auffordern, Bitten, Fragen etc. Störungen hinsichtlich der Fähigkeiten, eine Geschichte zu erzählen, können folgende sein: • Die Hauptfigur oder andere wichtige Figuren werden beim Erzählen einer Geschichte nicht beschrieben (keine Aktanteneinführung): Das Kind sagt „Pussi hat den aufgehoben“, statt „Pussi, das ist ein kleiner Bär. Der hat den verletzten Vogel aufgehoben.“ • Es wird nicht deutlich, wo die Geschichte anfängt beziehungsweise wo sie endet (Markierung fehlt). • Die Strukturierung von Informationen ist eingeschränkt: Unklar bleibt, wer tut wem was und warum? • Die Stimmigkeit der Informationen in einer Geschichte und der Zusammenhalt der Geschichte sind unzureichend: Das Kind sagt: „Vincent … Höhle ist ganz warm. Vincent liebt Höhlen. Lernt die Welt nicht kennen.“ Statt: „Es war einmal ein kleiner Bär. Sein Name war Vincent. Der kleine Bär wohnte in einer Höhle. Dort war es im Unterschied zu allen anderen Höhlen warm und wonniglich. Und so liebte der kleine Bär seine Höhle, ging nie aus seiner Höhle und lernte deshalb auch nie die Welt kennen.“ Weitere Beispiele sind aus Tab. 11.1 zu entnehmen, die sich inhaltlich auf Abb. 11.1 bezieht. 73 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Störungen der Kommunikation Thieme-Verlag Herr Elm Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch Materialien zur Früherkennung und Beratung Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. TEIL 2 Sommer-Druck Feuchtwangen Abb. 11.1a–d Bildvorlage „Ich schicke einen Brief“ (dient auch als Material für Übung 7; gezeichnet von Sibylle Reinshagen, Berlin). 74 „richtigen“ Worte zu finden: Statt „Briefträger“ sagt es beispielsweise nur „Onkel“. • Das Kind hat Schwierigkeiten, die Störungen bei der Wortfindung und im Wortzugriff: Nomen („Brief“, „Post“, „Kasten“), statt zusätzlich Verben und Adjektive oder Präpositionen („Brief schreiben“, „einen langen Brief“, „einen Brief an Oma schreiben“). • Das Kind benutzt vorwiegend Einschränkungen im Erwerb verschiedener Wortarten: hält nur einen Brief an die Oma für einen Brief, alle anderen möglichen Briefe erkennt es nicht als Brief an. • Untergeneralisierung: Das Kind Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. lediglich einzelne Sätze, ohne diese sinnvoll miteinander zu verbinden durch z. B. „und dann“. • Fehlende Kohärenz: Das Kind äußert dass es sich um einen Brief handelt, den es selbst gemalt hat, sondern sagt z. B. nur: „Da eingesteckt“. Der Gesprächspartner weiß somit nicht, was das Kind wo eingesteckt hat. • Das Kind erwähnt im Gespräch nicht, Eingeschränkte Fähigkeiten, eine Geschichte zu erzählen: nicht diejenigen Informationen, die das Verstehen sichern: So lässt es z. B. aus, dass es sich um einen Brief an Oma handelt und erzählt nur, dass es zum Briefkasten gegangen ist. • Das Kind gibt dem Gesprächspartner TN 778506 WN 013444/01/06 Hinweis: Weitere Beispielsätze sprachauffälliger Kinder finden sich in den Übungen 13 u. 14 zur Gruppenarbeit (s. „Verbesserte Wiederholung“, S. 181–181) anders: z. B. wird „Frosch“ zu „Poss“, „Fosch“, „Sosch“ oder „Rot“. • Das Kind bildet das gleiche Wort immer „g“ und „ng“ ersetzt: „Das Kink hak einge Feuerwehr geseheng“ (Das Kind hat eine Feuerwehr gesehen). • „Der Brief gleich rausgefallt“. • „Klappe nicht geht zu.“ Falsche Stellung der Wörter im Satz: macht.“ • „Bei die Post der sein Tasche auf einstecken.“ • „Briefträger der Brief in Tasche hat Gebrauch von Fällen, Tätigkeitswörter fehlerhaft gebeugt: • Verwechseln von Artikeln, falscher Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter • Die Laute „t“, „d“ und „n“ werden durch „k“, „h“: „Das Kind hat eine Seuersehr gesehen“ (Das Kind hat eine Feuerwehr gesehen). • Alle „fließenden“ Laute werden zu „s“ oder und „ch2“ werden „gestoppt“: „Dat Kind hat eine Peuerbehr gedehen“ (Das Kind hat eine Feuerwehr gesehen). • Alle „fließenden“ Laute „f“, „w“, „sch“, „ch1“ einen hangen Hauch“ (Die hatte einen langen Schlauch). • Fast alle Wörter fangen mit „h“ an: „Die hatte Ungewöhnliche Lautentwicklung: • „Is sehe einen Swan“ (sch/ch1→s) Lautverbindungen werden reduziert (schw→s; fr→f) Gespräch etwas sagen soll, es wartet den Gesprächsbeitrag des anderen nicht ab oder reagiert nicht auf eine an ihn gerichtete Frage, z. B. auf: „Hast du den Brief an Oma in den Briefkasten gesteckt?“ • Das Kind weiß nicht, wann es im Eingeschränkte Fähigkeiten, einen Dialog zu führen: Kommunikation Sommer-Druck Feuchtwangen Fehlende/fehlerhafte Formen: • Falsche Über- und Unterordnung • „Kind Briefkasten (geht)“ • „Kind Brief ein(ge)steckt“ • „Kasten hoch ist“ • „Posthorn schwarz“ • „Das Tint deht in denTinderdarten“ (k/g→t/d) • „Mein S[.]ester hat eine F[.]eundin“; von Begriffen: Das Kind ordnet einen „einzelnen Brief“ nicht unter den Oberbegriff „Postsendung“. Für das Kind hat das Wort „Brief“ nichts mit dem Begriff „Postsendung“ zu tun. Störungen der Organisation des mentalen Lexikons: Auslassen von Wörtern und Satzteilen: • „Ich habe einen Holler“ (r→h) Verzögerter Lauterwerb: Wortbedeutungen und Wortschatz Grammatik Störungen der Phonologie, Grammatik, Semantik und des Wortschatzes sowie der Kommunikation. Phonologie Tab. 11.1 Thieme-Verlag Herr Elm 29.9.2010 Umbruch M 11 Allgemeine und spezifische Sprachentwicklungsstörung 75 TEIL 2 Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter 29.9.2010 Umbruch Materialien zur Früherkennung und Beratung Weiterführende Literatur für Eltern, Erzieher und andere Interessierte Mannhard A, Scheib K. Was Erzieherinnen über Sprachstörungen wissen müssen. Mit Spielen und Tipps für den Kindergarten. 2. Aufl. München: Reinhardt; 2007 Spezifische Fachliteratur Amorosa H, Noterdaeme M. Rezeptive Sprachstörungen. Ein Therapiemanual. München: Reinhardt; 2003 Böhme G. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) im Kindes- und Erwachsenenalter. Defizite, Diagnostik, Therapiekonzepte, Fallbeschreibungen. 2. Aufl. Bern: Huber; 2008 Clahsen H. Normale und gestörte Kindersprache: linguistische Untersuchungen zum Erwerb von Syntax und Morphologie. Amsterdam: Benjamins; 1988 Fox A. Kindliche Aussprachestörungen. Phonologischer Erwerb, Differenzialdiagnostik, Therapie. Idstein: Schulz-Kirchner; 2003 Franke U. Logopädisches Handlexikon. 8. Aufl. München: Reinhardt; 2008 Gebhardt W. Entwicklungsbedingte Sprachverständnisstörungen bei Kindern im Grundschulalter. Status und Diagnostik im klinischen Kontext. München: Herbert Utz; 2001 Grimm H. Störungen der Sprachentwicklung. Grundlagen, Ursachen, Diagnose, Intervention, Prävention. Bern: Huber; 2003 76 TN 778506 WN 013444/01/06 Grohnfeldt M. Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie, Bd 2: Erscheinungsformen und Störungsbilder. Stuttgart: Kohlhammer; 2009 Hacker D, Wilgermein H. Aussprachestörungen bei Kindern – plus CD-ROM mit dem AVKIA-Test. Ein Arbeitsbuch für Logopäden und Sprachtherapeuten. München: Reinhardt; 2001 Jahn T. Phonologische Störungen bei Kindern. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006 Keilmann A, Büttner C, Böhme G. Sprachentwicklungsstörungen. Interdisziplinäre Diagnostik und Therapie. München: Reinhardt; 2009 Kannengieser S. Sprachentwicklungsstörungen. Grundlagen, Diagnostik und Therapie. München: Elsevier Urban & Fischer; 2009 Sandrieser P, Schneider P. Stottern im Kindesalter. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008 Schrey-Dern D, Stiller U, Tockuss D. Sprachentwicklungsstörungen. Logopädische Diagnostik und Therapieplanung. Stuttgart: Thieme; 2006 Sick U. Poltern. Theoretische Grundlagen, Diagnostik, Therapie. Stuttgart: Thieme; 2004 Siegmüller J, Bartels H. Leitfaden Sprache, Sprechen, Stimme, Schlucken. 2. Aufl. München: Elsevier, Urban & Fischer; 2010 Spital H. Stimmstörungen im Kindesalter. Ursachen, Diagnose, Therapiemöglichkeiten. Stuttgart: Thieme; 2004 Weinrich M, Zehner H. Phonetische und Phonologische Störungen bei Kindern. 3. Aufl. Berlin: Springer; 2008 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Thieme-Verlag Herr Elm Thieme-Verlag Herr Elm M Sommer-Druck Feuchtwangen 12 Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch Stottern: Hinweise zur Unterscheidung von altersgemäßer Sprechunflüssigkeit, beginnendem und chronischem Stottern Inhalt Redeunflüssigkeiten treten in der Sprachentwicklung unserer Kinder zwischen 2½ und 5 Jahren auf. Sie sind als „altersgemäße Sprechunflüssigkeiten“ bekannt, stellen aber keine Störungen dar, obwohl sie Ähnlichkeiten mit dem beginnenden Stottern aufweisen. Die Merkmale der altersgemäßen Sprechunflüssigkeit und des beginnenden Stotterns werden beschrieben, voneinander abgegrenzt und in einer tabellarischen Gegenüberstellung veranschaulicht (Tab. 12.1). Dabei wird auch das chronische Stottern mit seinen Begleitsymptomen berücksichtigt. █ Ziel Die Leser sollen auf einen Blick Unterscheidungshinweise für 3 verschiedene Zustandsbilder von Redeunflüssigkeiten erhalten, die in der Praxis oft nicht richtig voneinander abgegrenzt werden. Die Vermittlung dieser Wissenseinheit dient der Früherkennung des Stotterns. █ Einsatzmöglichkeiten • Für alle Zielgruppen gut geeignet. • Tabelle auch in Plakatform/Folie bei Informationsveranstaltungen einsetzbar. Bei Kindern zwischen 2½ und 5 Jahren zeigen sich in der Regel Unflüssigkeiten im Redefluss, sog. altersgemäße Sprechunflüssigkeiten (früher auch Entwicklungsstottern genannt). Sie klingen zwar ähnlich wie ein Stottern, gehören in diesem Lebensalter aber zum normalen kindlichen Sprechverhalten und stellen damit keine Störung dar. Altersgemäße Sprechunflüssigkeit und beginnendes Stottern lassen sich beim flüchtigen Hinhören nur schwer voneinander unterscheiden, da es bei beiden Sprechweisen zu ähnlichen Auffälligkeiten kommt: Es treten Wiederholungen auf, Laute werden gedehnt (Langziehen von Anfangsbuchstaben) und es kommt zu Unterbrechungen im Redefluss durch Pausen. Bei genauerer Analyse erkennt man aber die Unterschiede: • Wiederholungen: – sie beziehen sich bei der altersgemäßen Sprechunflüssigkeit vor allem auf Satzteile („da war, da war, da war …“), Wörter („diedie“), manchmal auch Silben („ei-eine“); – während sie beim beginnenden Stottern vor allem kleinere Einheiten betreffen: Silben und insbesondere einzelne Laute. Diese Wiederholungen treten bei einer Silbe bzw. ei- • • █ nem Laut nicht nur ein-, zweimal, sondern mehrfach auf („ei-ei-ei-ei-eine“, „d-d-d-dder“). Dehnungen: – sie sind bei der altersgemäßen Sprechunflüssigkeit nur kurz („aaaber“); – beim beginnenden Stottern ist das Langziehen einzelner Anfangslaute hingegen deutlich länger („aaaaaaber“). Pausen: – bei der altersgemäßen Sprechunflüssigkeit signalisieren Pausen, dass das Kind innehält, um das richtige Wort zu finden oder den Ablauf des Satzes neu zu planen; – beim beginnenden Stottern sind die Pausen hingegen Ausdruck von körperlichen Anspannungen: Das Kind bleibt an einem Laut „hängen“ („kkk … kkann“), oder das Aussprechen eines Wortes ist ganz blockiert, das Kind stockt kurzfristig im Redefluss, um dann (mit mehr oder weniger Kraftanstrengung) wieder weiter zu sprechen. Die Redeflussunterbrechungen beim beginnenden Stottern können mit Verspannungen vor allem im Mund- und Gesichtsbereich einhergehen (sog. Mitbewegungen). 77 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. █ TEIL 2 Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter 29.9.2010 Umbruch Materialien zur Früherkennung und Beratung • allgemein: – Bei der altersgemäßen Sprechunflüssigkeit lässt sich erkennen, dass die Fähigkeit, flüssig zu sprechen, ohne sich zu verhaspeln oder hängen zu bleiben, erst noch erworben bzw. gefestigt werden muss, genauso wie es beim Erlernen des Laufens anfangs üblich ist zu zögern, zu stolpern, hinzufallen und sich dann wieder aufzurappeln. – Bei einem richtigen Stottern erkennt man hingegen, dass die inhaltliche Aussage bereits gedanklich präsent ist, das Aussprechen aber – häufig durch zu viel Krafteinsatz der am Sprechen beteiligten Muskulatur – beeinträchtigt ist. In der Regel dauern altersgemäße Sprechunflüssigkeiten nicht länger als ein halbes Jahr an. Wird dieser Zeitraum überschritten, müssen Eltern Acht geben, dass sich die Unflüssigkeiten nicht zu einem echten Stottern entwickeln. Als zusätzliches Erkennungszeichen eines beginnenden Stotterns gilt der sog. Schwa-Laut, der wie das „e“ am Ende von „eine“ und „beinahe“ klingt. Bei Wiederholungen ist nun dieser „e“-Laut zu hören, obwohl er in der Lautabfolge des Wortes nicht vorkommt: Statt „Ba-ba-banane“ sagt das Kind „Be-be-be-banane“. Wenn sich das beginnende Stottern verfestigt hat, kann es bei Wiederholungen zu dem Phänomen der Sprechtempoerhöhung kommen: Das Tempo der Wiederholungen wird z. B. bei einer Silbe zunehmend schneller. Oder bei Dehnungen ist ein Ansteigen der Lautstärke bzw. der Tonhöhe zu verzeichnen. Auch können Blockaden im Sprechablauf auftreten, die das Kind registriert und gegen die es anzukämpfen versucht: Es beginnt die Symptome bewusst oder intuitiv bewältigen zu wollen und zeigt dabei unterschiedliche Reaktionsweisen: • Zunahme von Krafteinsatz beim Sprechen (Ankämpfverhalten). • Austauschen von Wörtern (Vermeidung). • Einsatz von Floskeln („nun ja“) als so genannte Starter, um leichter in das gefürchtete Wort hinein zu kommen. • Verwenden von Einschüben, um das gefürchtete Wort hinauszuzögern (Aufschubverhalten). • Vielleicht zeigt sich beim Kind auch schon eine gewisse Sprechunlust oder Sprechscheu: Es spricht nicht zu Ende, bricht resigniert ab nach dem Stottern, blickt zu Boden oder ärgert bzw. 78 TN 778506 WN 013444/01/06 schämt sich. Oder es will bestimmten Sprechsituationen ganz aus dem Weg gehen. Bei Kindern mit einem beginnenden Stottern liegt nicht immer ein Bewusstsein von der Gestörtheit des eigenen Sprechens vor, und selbst wenn ein solches Störungsbewusstsein existiert, verhalten sich viele stotternde Kinder (zumindest in der ersten Zeit) noch völlig unbefangen ihrem eigenen unflüssigen Sprechen gegenüber. Es muss also nicht zwangsläufig ein Leidensdruck mit dem Stottern einhergehen. Ganz anders beim chronischen Stottern: Hier liegt in der Regel ein stärkerer Leidensdruck vor mit einer ganzen Reihe von Begleitsymptomen (Sekundärsymptomen). Diese zeigen sich nicht nur im Sprechverhalten, sondern haben Auswirkungen auf das Kommunikationsverhalten und die emotionale Befindlichkeit des Kindes. In diesem Sinne kann es zu deutlichen Beeinträchtigungen der psychischen und sozialen Entwicklung des stotternden Menschen und seiner Lebenssituation kommen. ! Unflüssiges Sprechen wird vom Kind nicht absichtsvoll produziert und lässt sich auch nicht durch Hinweise und Ermahnungen einfach „abstellen“. Eltern und Erzieher, die sich wegen der Sprechunflüssigkeiten ihres Kindes sorgen, sollten sich nicht scheuen, eine schnelle fachkundige Abklärung vornehmen zu lassen (s. M 26 bis M 28). Im Einzelfall ist es für Laien nicht leicht zu entscheiden, ob bereits eine behandlungsrelevante Störung vorliegt. Durch eine rechtzeitige Diagnostik und Frühberatung kann beginnendes Stottern in den meisten Fällen gestoppt werden. Und auch chronisches Stottern lässt sich heutzutage erfolgreich behandeln. In Tab. 12.1 sind die beschriebenen Punkte noch einmal gegenübergestellt. Weitere Einzelheiten zur altersgemäßen Sprechunflüssigkeit, zum beginnenden Stottern und zum chronischen Stottern sowie Empfehlungen für angemessenes Erziehungsverhalten finden sich in dem Beratungsbrief für Eltern und Erzieher stotternder Kinder (M 22, S. 122ff). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Thieme-Verlag Herr Elm Dehnungen Pausen als Blockade/Pressen („Hängenbleiben“ an einem Laut) vor und im Wort • von Lauten („k-kein“, „T-T-Tür“, „o-o-o-ohne“) Dehnungen eines Lautes, länger als 1 Sekunde („mmmmmmein“, „aaaaaaaber“) (Stille) Pausen • vor oder im Satz • ggf. innerhalb eines Wortes • „Hängenbleiben“ an einem Laut: Das Weitersprechen • von ganzen Wörtern („Ich, ich, ich weiß nicht.“) • selten von Silben („Ei-Eisenbahn“, „Ba-Banane“) Dehnungen (Langziehen) eines Lautes, kürzer als 1 Sekunde („mmmein“, „aaaber“) Stille Pausen, Abbrüche, Neubeginn Vor dem Satz wird gezögert und/oder die Äußerung wird abgebrochen und eine Pause (…) eingelegt, in der geeignete Wörter bzw. das richtige Sprachmuster gesucht werden (sprachliche Planung): „Und dann, dann ist das, das … Kaninchen gekommen und hat … also, es ist mit den Füßen am, also am Gitter so hoch … hat sich so so hochgestellt.“ Symptomproduktion (Fixierungen) TN 778506 WN 013444/01/06 • Unbeweglichkeit von Mimik und Gestik • „Einfrieren“ von Bewegungen im Moment der Starrheit der Körperhaltung telbar am Sprechen beteiligt sind (Augen, Hände, Arme, Beine, ganzer Körper) • Bewegungen von Körperpartien, die nicht unmit- Mitbewegungen Sprechen beteiligten Muskulatur, z. B. Zittern/ Zucken der Lippen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. beteiligten Muskulatur (z. B. Pressen der Lippen, Zucken des Mundwinkels) • ggf. Anzeichen von Verspannungen in der am Sprechen • mit und ohne Ton/Stimme • verbunden mit Kraft und Anstrengung der am • länger als 1 Sekunde • Anspannung im Mundbereich, Gesicht, Hals • mit Anstieg der Tonhöhe • mit Anstieg der Lautstärke Wiederholung öfter als zweimal • Silben (mit Schwa-Laut: „Be-Be-Be-Be-Banane“) • Laute („k-k-k-kein“, „g-g-g-gut“) Frequenz der Sommer-Druck Feuchtwangen bzw. das Bilden des nächsten Lautes gelingt nicht • Sprechtempoerhöhungen bei Wiederholungen • von Silben („Ei-Ei-Ei-Eisenbahn“, ggf. Schwa-Laut2: „Be-Be-Be-Banane“) • von Satzteilen („Und dann bin ich, und dann bin ich weggerannt“) Wiederholungen Wiederholungen Wiederholungen Chronisches Stottern3 Beginnendes Stottern1 Abgrenzung altersgemäße Sprechunflüssigkeiten – beginnendes Stottern – chronisches Stottern. Altersgemäße Sprechunflüssigkeit Tab. 12.1 Thieme-Verlag Herr Elm 29.9.2010 Umbruch M 12 Stottern: Hinweise zur Unterscheidung von altersgemäßer Sprechunflüssigkeit 79 80 negativen Einstellungen sich selbst, anderen Menschen und dem Leben gegenüber geprägt ist 2 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. TN 778506 WN 013444/01/06 • in der Regel ausgeprägtes Störungsbewusstsein • hoher Leidensdruck • eventuell Selbstwertproblematik, die von sozialen Ängsten und Störungsbewusstsein • Peinlichkeits- und Schamgefühle in Kommunikationssituationen • allgemeine Unsicherheit • Identitätsprobleme wegen des Stotterns • Angst vor dem Stottern • allgemeine Sprechangst • Logophobie (spezifische Lautangst4) • situative Erwartungsangst, Misserfolgsvorwegnahme • Ärger- und Wutreaktionen bezogen auf auftretendes Stottern • Hilflosigkeit, Gefühle des Ausgeliefertseins (Kontrollverlust) Emotionale Beeinträchtigung • Vermeiden von Kontaktsituationen, soziales Rückzugsverhalten nen • Vermeiden von Kommunikation und üblichen Sprechsituatio- sprechen • andere Personen dazu bewegen, dass sie für den Stotternden Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter (Wortkargheit kann fälschlicherweise den Eindruck geistiger Undifferenziertheit vermitteln) • Wortabbrüche, Verschlucken von Silben/Wörtern • Redeabbrüche, Schweigen • Zeichensprache (Zeigen statt Sprechen) • allgemeine „Sprechfaulheit“, Redeunlust, Einsilbigkeit bei sich ankündigenden oder auftretenden Symptomen • „Ankämpfreaktionen“ (Krafteinsatz, Anstrengungsverhalten) benutzt, um Blockaden auszuschalten bzw. besser ins Reden zu kommen • „Starter“ (Bewegungen, Geräusche oder Wörter) werden Floskeln und stereotypen Redewendungen („gewissermaßen“, „wollen wir mal sagen“) • Gebrauch von Flickwörtern/Einschüben („naja“, „also“), ständlich) • Umkonstruieren des Satzes (Aussage bleibt teilweise unver- (Synonyma) • Ersetzen „schwieriger“ Begriffe/Wörter durch gleichartige Sprachliches Vermeidungsverhalten • Kaschieren der Symptomatik (z. B. Kopf abwenden, Hand vor • abgewandt bei Symptom • allgemein abgewandt, unstet den Mund nehmen) Soziales Vermeidungsverhalten Blickkontakt gestört Chronisches Stottern3 Sommer-Druck Feuchtwangen Störungsbewusstsein muss beim Kind nicht vorliegen. Schwa-Laut klingt wie das „e“ am Ende von „eine“ und „beinahe“, gilt als Warnzeichen für den Beginn des Stotterns. 3 Die hier aufgeführten Merkmale chronischen Stotterns treten nicht immer gemeinsam bei einer Person auf. 4 Bestimmte Buchstaben werden vom Betroffenen als extrem schwierig erlebt, Wörter mit entsprechenden Anfangslauten als typische Stotterwörter betrachtet. 1 (Fortsetzung). TEIL 2 Altersgemäße Beginnendes Sprechunflüssigkeit Stottern1 Tab. 12.1 Thieme-Verlag Herr Elm 29.9.2010 Umbruch Materialien zur Früherkennung und Beratung Thieme-Verlag Herr Elm Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch M 12 Stottern: Hinweise zur Unterscheidung von altersgemäßer Sprechunflüssigkeit Bundesvereinigung Stotter-Selbsthilfe, Hrsg. Mein Kind stottert – was nun? Köln: Demosthenes-Verlag der Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe; 2010 Hood S. An einen Stotterer. 7. Aufl. Köln: DemosthenesVerlag der Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe; 2004 (als Lektüre auch für stotternde Jugendliche geeignet) Literatur für Fachleute Katz-Bernstein N. Aufbau der Sprach- und Kommunikationsfähigkeit bei redeflußgestörten Kindern. Ein sprachtherapeutisches Übungskonzept. 6. Aufl. Luzern: Verlag Schweizerische Zentralstelle für Heilpädagogik; 1995 Natke U. Stottern. Erkenntnisse, Theorien, Behandlungsmethoden. 2. Aufl. Bern: Huber; 2005 Ochsenkühn C, Thiel M, Ewerbeck C. Stottern bei Kindern und Jugendlichen. 2. Aufl. Heidelberg: Springer; 2010 Sandrieser P, Schneider P. Stottern im Kindesalter. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008 Wendlandt W. Stottern im Erwachsenenalter. Grundlagenwissen und Handlungshilfen für die Therapie und Selbsthilfe. Stuttgart: Thieme; 2009 81 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Weiterführende Literatur für Eltern, Erzieher, interessierte Laien und betroffene Jugendliche Thieme-Verlag Herr Elm M Sommer-Druck Feuchtwangen 13 Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch Kindliche Stimmstörungen Inhalt Nach einer allgemeinen Beschreibung von Stimmstörungen werden deren Ursachen diskutiert und es wird über die Notwendigkeit und Art ihrer Behandlung informiert. Abschließend werden wichtige Hinweise zur Prävention von Stimmstörungen gegeben. █ Ziel Es soll der Tendenz entgegengewirkt werden, Auffälligkeiten der Stimme zu „überhören“, sie zu vernachlässigen beziehungsweise sie unbehandelt zu lassen. █ Einsatzmöglichkeiten Gut für alle Zielgruppen geeignet; besonders wichtig für Eltern, Erzieher sowie für Lehrer der ersten Schulklassen. █ Allgemeine Hinweise zu Stimmstörungen „Wie lustig sich Peter anhört!“ Die Erzieherinnen schmunzeln. Der kleine, zarte Peter spricht mit gespitztem Mund und piepsigem Stimmchen, das ganz zu seinem zarten Wesen zu passen scheint. Marie hingegen, mal wieselflink, mal Tollpatsch, hat eine krächzende „Reibeisenstimme“, sodass man sich jedes Mal räuspern möchte, wenn man sie hört. Das ist ihre Eigenart; alle kennen und lieben sie so. Und keiner findet etwas Auffälliges an Peter und Marie. Eine kindliche Stimmstörung (Dysphonie) wird oft „übersehen“: Eltern und Erzieher sind durch den täglichen Kontakt mit dem Kind so an sein Sprechen gewöhnt, dass sie das Ungewöhnliche der Stimme gar nicht mehr bemerken. Die Stimmstörung wird wie eine Eigenschaft betrachtet, die zum Kind dazu gehört, nicht wie eine Störung, die behandelt werden sollte. Dabei ist für einen Fremden die Auffälligkeit meist sehr deutlich erkennbar: Der „normale“ Klang der Stimme ist verändert, Lautstärke bzw. Tonhöhe zeigen deutliche 82 Abweichungen. Kindern mit Stimmstörungen begegnen wir häufiger als gemeinhin angenommen. Eine gestörte Stimmbildung ist erkennbar an • Atem- und/oder Haltungsfehlern (Brustatmung, Schultern beim Atmen hochgezogen, krumme Haltung beim Sitzen oder Gehen); • pathologischen (zu harten, zu verhauchten) Stimmeinsätzen; • einer zu hohen oder zu tiefen Sprechstimmlage; • einer undeutlichen, spannungslosen, gepressten oder heiseren Sprechweise; • Auffälligkeiten beim Singen (Kind singt häufig zu laut und/oder trifft die Melodie nicht) • subjektiv empfundenen Stimmbeschwerden; • Fehlspannungen der Gesichts-, Hals- und Atmungsmuskulatur; • einer eingeschränkten Belastbarkeit der Stimme. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. █ Thieme-Verlag Herr Elm Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch M 13 Kindliche Stimmstörungen Bei dem größten Prozentsatz stimmgestörter Kinder liegt eine funktionelle Dysphonie vor. Sie ist gekennzeichnet durch eine Störung des Stimmklangs und der stimmlichen Leistungsfähigkeit. Eine krankhafte Veränderung des Stimmapparats liegt nicht vor beziehungsweise kann nicht gefunden werden. Fachleute unterscheiden hyperfunktionelle Dysphonien von hypofunktionellen Dysphonien. Auch gibt es Dysphonien mit einer gemischten Symptomatik. Bei hyperfunktionellen Dysphonien ist der Stimmklang oft rau, heiser und gepresst. Meist wird mit zu viel Kraftanstrengung gesprochen – ein Übermaß an Spannung liegt vor. Die Stimme wird über lange Zeit durch hohes oder lautes Sprechen, Schreien oder Singen überbeansprucht. Die Muskelspannung des gesamten Körpers ist erhöht. Beim Sprechen wird auffällig gepresst. Manchmal werden dabei sogar die Venen am Hals sichtbar. Die Atmung ist auffällig mühsam. Am Ende eines Tages können diese Kinder – durch die Überbeanspruchung der Stimmlippen – manchmal gerade noch flüstern. Spricht das Kind gewohnheitsmäßig in dieser Art und Weise, können sich an den Stimmlippen („Stimmbänder“; sie sind für den Klang unserer Stimme verantwortlich) stecknadelkopfgroße Gewebepolster bilden, die sog. Stimmlippen- oder Schreiknötchen. Die Stimmlippen sind dann in ihrer Schwingungsfähigkeit beeinträchtigt und schließen nicht mehr richtig. Die Luft entweicht, die eigentlich zur Stimmbildung benötigt wird. Das führt nicht selten dazu, dass das Kind bei der Stimmgebung nun noch stärker presst. Die Stimme hört sich heiser an. Häufig ist ein Räusperzwang die Folge. Beim Singen zeigt sich die hyperfunktionelle Störung darin, dass die Stimmlage oft zu hoch und der (musikalische) Stimmumfang eingeschränkt sind. Die Singstimme klingt verhaucht, brüchig und gepresst. Die Tonhaltedauer ist deutlich verkürzt. Bei hypofunktionellen Dysphonien wirkt der Stimmklang kraftlos, die Stimme wenig tragfähig. Beim Sprechen und Singen entweicht „wilde Luft“, was zu einem erhöhten Luftverbrauch führt. Die Stimmgebung ist meist zu leise, eine Lautstärkesteigung nur eingeschränkt möglich. Das Sprechen wirkt monoton. Die Singstimme wirkt wenig tragfähig. Ursachen von Stimmstörungen Beim normalen Stimmgebrauch kommt es zu einem Ineinandergreifen und Zusammenwirken von Atmung, Muskelspannung (Tonus), Phonation (Stimmbildung im Kehlkopf) und der Intention (Absicht) des Sprechers. Wenn wir nach Ursachen von Stimmstörungen fragen, müssen wir in der Regel von Störungen in diesem Gesamtgefüge ausgehen. So können konstitutionelle Faktoren, also angeborene körperliche Gegebenheiten, wie ein anlagebedingt zu kleiner Kehlkopf oder Asymmetrien des Kehlkopfs, verantwortlich für eine Stimmstörung sein. Oder es liegen organische Erkrankungen wie eine akute oder gar chronische Entzündung des Kehlkopfs vor, die Stimmlippen können sich entzündet und Knötchen gebildet haben oder Polypen sind festzustellen. Darüber hinaus neigt ein Teil der Kinder dazu, eine Stimmstörung in ihrer Entstehung zu begünstigen oder aufrechtzuerhalten: Sie zeigen „Fehlverhaltensweisen“ wie ein exzessives Nachahmen von Geräuschen, eine lang anhaltende oder ständig laute Stimmgebung beim Spielen, überlautes Rufen und Schreien oder auch häufiges Räuspern. Ebenso kann das soziale Umfeld die Auslösung einer Stimmstörung entscheidend beeinflussen, beispielsweise durch einen hohen Lärmpegel im Kindergarten oder zu Hause, durch zu hohe Leistungsanforderungen oder stimmlich negative Vorbilder. 83 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Arten von Stimmstörungen Thieme-Verlag Herr Elm TEIL 2 Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch Materialien zur Früherkennung und Beratung Bei Stimmstörungen ist eine gründliche Untersuchung durch einen Facharzt unerlässlich, um mögliche organische Ursachen oder Veränderungen im Bereich der Stimmlippen nicht zu übersehen. Ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt ist hier die richtige Adresse, vor allem dann, wenn er die Zusatzqualifikation „Stimm- und Sprachheilkunde“ besitzt oder „Phoniater“ (Facharzt für Stimm- und Sprachheilkunde) ist. Der Arzt wird in vielen Fällen eine logopädische Behandlung verordnen. Allerdings wird es jeweils vom Alter und von der Art der Stimmstörung abhängen, welche stimmtherapeutische Intervention notwendig ist. Bei einer logopädischen Diagnostik ist der Blick auf die Eltern und Bezugspersonen genauso wichtig wie auf das Kind mit seiner Stimmstörung. Den betroffenen Eltern wird beispielsweise ein Bewusstsein von ihrer eigenen Stimme vermittelt: „Wie hört sich meine Stimme an?“, „Spreche ich zu langsam/zu schnell?“, „Bin ich zu laut/zu leise?“ Eltern und Erzieher haben mit ihrem stimmlichen Verhalten eine Vorbildfunktion für ihre Kinder – zumindest können sie lernen, diese Vorbildfunktion positiv auszufüllen, eben „positive Stimmvorbilder“ zu sein. Auch werden Eltern nach ihren Erziehungsstilen oder allgemeinen Kommunikationsverhaltensweisen gefragt: Stimme ist eben ein eigenes Kommunikationsmittel, über das sich die Gefühle oder Gemütszustände der Erwachsenen vermitteln. Oft sind es Stimmklang und Stimmkraft und nicht die Worte, die deutlich machen, welche Anforderungen an das Kind gestellt werden oder dass feste Regeln eingehalten werden müssen. Das Aufdecken und Kennenlernen der kindlichen „Stimmumgebung“ ist eine wichtige Voraussetzung, um dem Kind weiterhelfen zu können. Eltern und Erzieher brauchen sich bei diesem Suchprozess in keiner Weise angeklagt zu fühlen. Vielmehr geht es darum, ihnen Belastungen und Unsicherheiten zu nehmen und ihren positiven Einfluss auf das stimmliche Verhalten des Kindes bewusst zu stärken. Abwartende Hilflosigkeit kann sich so in tatkräftige Unterstützung wandeln. Neben dem Blick auf die Eltern und Erzieher steht natürlich auch die Untersuchung des Kindes selbst mit seiner Stimme im Mittelpunkt des diagnostischen Geschehens: So ist z. B. die Atemform von Interesse (Bauch- oder Brustatmung), die Ausatmungsdauer, die Sprechstimme, die Rufstimme, 84 die Singstimme, die Art des Einsatzes und des Beendens der Stimme, der Stimmumfang und die Tonhaltedauer. Ist eine stimmtherapeutische Behandlung angezeigt, so besteht zunächst das Ziel, Eltern von Schuldzuweisungen oder Selbstvorwürfen zu entlasten und dann mit ihnen gemeinsam Möglichkeiten zu erarbeiten, wie sich die kommunikativen und stimmlichen Ausdrucksweisen des Kindes stärken lassen. Statt einer Fixierung auf die Gestörtheit gilt es für Eltern und Erzieher ihr Augenmerk auf hilfreiche Strategien für den Umgang mit der Stimmstörung im Alltag zu richten (z. B. Phasen der Stimmruhe einzuführen). ! Eltern und wichtige andere Bezugspersonen lernen im Rahmen von Beratungsgesprächen, wie sie das „Stimmumfeld“ positiv für die Stimmentwicklung des Kindes gestalten können. Darüber hinaus gibt es selbstverständlich für das Kind selbst wichtige therapeutische Zielsetzungen wie die Normalisierung der kindlichen Stimmfunktion (z. B. verbessertes Schwingungsverhalten der Stimmlippen und das Aufheben des Räusperzwangs), die Verbesserung der stimmlichen Leistungen (z. B. der Tragfähigkeit der Stimme oder des Stimmumfangs) und das Erarbeiten einer belastungsfähigeren Stimme. Mit stimmtherapeutischen Maßnahmen, beispielsweise mit einer Verbesserung der Stimmleistung beim Kind, wird sich auch das Kommunikationsverhalten zwischen den Eltern/Erziehern und dem Kind positiv ändern: Es kommt zu einer positiven Wandlung des kindlichen Selbstbilds (Zunahme von Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen) sowie zu einer positiveren Einschätzung durch andere (Fremdbild). Diese Veränderungen zu ermöglichen ist eine befriedigende Aufgabe für alle Beteiligten, die am Entwicklungsprozess der kindlichen Stimme mitwirken. ! Stimmlippenknötchen können sich – das sollten besorgte Eltern wissen – wieder zurückbilden! Eine operative Entfernung der Knötchen ist in den allerseltensten Fällen erforderlich. Die Selbstheilung kann dann eintreten, wenn die Überbean- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Diagnostik und Therapie von Stimmstörungen Thieme-Verlag Herr Elm Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch M 13 Kindliche Stimmstörungen spruchung der Stimme nicht mehr stattfindet oder das Kind durch die stimmtherapeutischen Inter- ventionen gelernt hat, ökonomischer mit seiner Stimme umzugehen. Abschließend werden wichtige Regeln zur Stimmhygiene vorgestellt. Das Einhalten dieser Regeln hat eine vorbeugende Funktion beziehungsweise wirkt einer bereits bestehenden Stimmstörung entgegen. • Lautes Schreien vermeiden! Nicht gegeneinander anschreien oder sich durch Lautstärke Gehör verschaffen! Hier können dem Kind hilfreiche Kommunikationsregeln beigebracht werden. • Nicht zu laut singen! • Räuspern sollte vermieden werden! Räuspern beansprucht die Stimmlippen in besonderem Maße, denn die Stimmlippen reiben sich beim Räuspern aneinander. Ein unangenehmes Gefühl im Hals, das zu dem Räuspern zwingt, kann mit trockenem Schlucken oder mit einem Schluck Wasser (am besten lauwarm) unterdrückt werden. • Husten statt Räuspern! Wenn beim Kind immer wieder ein starker Räusperzwang auftritt, sollte das Kind angeleitet werden, stattdessen lieber zu husten (das belastet die Stimmbänder deutlich weniger). • Anleitung zu einer ausgewogenen Mund- und Nasenatmung! Kindern mit einer gewohnheitsmäßigen Mundatmung (bedingt beispielsweise durch eine orofaziale Schwäche; s. auch M 14) sollte beigebracht werden, wie sie eine verstärkte Nasenatmung bei Satzpausen vornehmen können (dadurch trocknen die Schleim- Weiterführende Literatur für Eltern, Erzieher und andere Interessierte Beushausen U. Kindliche Stimmstörungen. Ein Ratgeber für Eltern und pädagogische Berufe. Idstein: Schulz Kirchner Verlag; 2008 Gutzeit S. Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. 3. Aufl. Weinheim: Beltz; 2008 Herrmann-Röttgen M. Wenn die Kinderstimme nicht stimmt. Wehrheim: Verlag für gruppenpädagogische Literatur; 2006 häute weniger aus und der Räusperzwang wird gemindert). • Es sollte ausreichend viel, über den Tag verteilt, getrunken werden! Die Schleimhaut des gesamten Sprechapparates wird auf diese Weise ausreichend feucht gehalten und ist somit besser funktionsfähig. Besonders in trockenen und überheizten Räumen ist es wichtig, auf genügend Flüssigkeitszufuhr zu achten, um die Schleimhäute nicht austrocknen zu lassen. • Flüstern vermeiden! Flüstern schont die Stimme nicht. Die muskuläre Beanspruchung ist beim Flüstern größer als beim normalen Sprechen. • Der Stimme Ruhe gönnen! Bei Erkältungen, Stimmbeschwerden oder einer ermüdeten Stimme sollte Stimmruhe gehalten werden. • Gähnen tut der Stimme gut! Gähnen wirkt einem Engeoder Kloßgefühl entgegen, da die Muskeln oberhalb des Kehlkopfes gedehnt werden. • Rauchen vermeiden! Das gilt hoffentlich mehr für die Bezugspersonen als für das Kind selbst. Allerdings kann auch passives Rauchen neben allen anderen Risiken zu veränderten Zellstrukturen in den oberen Schichten der Schleimhäute führen. Spezifische Fachliteratur Brohammer C, Kämpfer A. Therapie kindlicher Stimmstörungen. Übungssammlung. München: Reinhardt; 2004 Grohnfeldt M, Hrsg. Stimmstörungen. (Handbuch der Sprachtherapie, Band VII. Edition Marhold). Berlin: Spieß; 1994 Pascher W, Bauer HH. Differentialdiagnose von Sprachstörungen, Stimmstörungen und Hörstörungen. 2. Aufl. Frankfurt: minerva, Edition Wissen; 1998 Ribeiro A. Funktionelle Stimmstörungen im Kindesalter. Schulz-Kirchner Verlag; 2006 Spital H. Stimmstörungen im Kindesalter. Ursachen, Diagnose, Therapiemöglichkeiten. Stuttgart: Thieme; 2004 Wender J, Seidner W, Eyshold U. Lehrbuch der Phonologie und Pädaudiologie. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2005 85 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Regeln zur Stimmhygiene Thieme-Verlag Herr Elm M Sommer-Druck Feuchtwangen 14 Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch Myofunktionelle Störungen: Störungen der Zungenfunktion und der Mundmuskulatur Wolfgang Wendlandt & Ulrike Wiecha Inhalt Störungen im muskulären Bereich des Mundes, der Lippen und der Wangen sowie des Schluckakts werden von Eltern weniger häufig erkannt als Störungen der Aussprache oder Grammatik. Die Symptome derartiger myofunktioneller Störungen werden aufgezeigt und ihre Auswirkungen auf den Spracherwerb im Kindesalter beschrieben. █ Ziel Der Leser soll auf eine Störung aufmerksam gemacht werden, die außerhalb von Fachkreisen bisher wenig bekannt ist. Das Kapitel will Hinweise geben, wie myofunktionelle Störungen erkannt werden können, und will zur Frühdiagnostik ermutigen. █ Einsatzmöglichkeiten Besonders für Eltern und Erzieher gut geeignet. Myofunktionelle Störungen sind für den Laien weniger auffallend als Störungen der Aussprache oder der grammatischen Fähigkeiten. Sie können jedoch weitreichende Auswirkungen haben, wie z. B. die falsche Aussprache bestimmter Laute. Im █ folgenden Kapitel werden Hinweise gegeben, wann eine myofunktionelle Störung vorliegen kann. Liegt der Verdacht auf eine Störung vor, sollten Eltern dies mit einem Kieferorthopäden oder Kinderarzt besprechen. Was sind myofunktionelle Störungen Unter einer myofunktionellen Störung versteht man die Beeinträchtigung der Muskelkraft und der Muskelfunktion des Mund- und Rachenraums sowie die Störungen des Schluckens. Bei den betroffenen Kindern kann man feststellen, dass sie beim Schlucken mit der Zunge gegen oder zwischen die Zähne pressen. Das Schlucken wirkt oft angestrengt oder es muss nachgeschluckt werden. Häufig kompensieren dabei Muskelgruppen, die normalerweise am Schluckvorgang nicht beteiligt sind, die unzureichende Zungenfunktion. Zudem lassen sich muskuläre Beeinträchtigungen im gesamten Mund-, Lippen-, und Wangenraum feststellen sowie Zahn- und Kieferfehlstellungen beobachten. Mitunter bereitet den betroffenen Kinder auch das Kauen Schwierigkeiten. Nicht selten meiden sie feste und kauintensive Nahrungsmittel. 86 Auffälligkeiten, die auf eine myofunktionelle Störung hinweisen, sind beispielsweise: • Mundatmung • offene Mundhaltung • offene, schlaffe Lippen • Oberlippe ist verkürzt, Unterlippe dick und gerötet • Zunge ist zwischen den Zähnen sichtbar • schlaffe Gesichtsmuskulatur • Kind drückt Zunge beim Schlucken gegen oder zwischen die Zahnreihen • Fehlstellungen der Zähne Um myofunktionelle Störungen verständlicher zu machen, werden zunächst die normalen Schluckvorgänge bei Babys bzw. bei Kindern beschrieben. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. █ Thieme-Verlag Herr Elm Sommer-Druck Feuchtwangen M 14 Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch Myofunktionelle Störungen: Störungen der Zungenfunktion und der Mundmuskulatur Der physiologische Schluckvorgang dort gekaut. Hierzu transportiert die Zunge das Essen nach rechts und links zwischen die Kauflächen. Ist die Nahrung ausreichend zerkleinert, wird sie auf der Zungenmitte gesammelt. Die Zunge presst die Nahrung nun nach oben und hinten an den Gaumen. Der weiche Gaumen verschließt die Öffnung zur Nase und die Zunge drückt die Nahrung in den Rachen. Nun setzt der Schluckreflex ein und die Nahrung wird in den Magen transportiert. Entwicklung der Mund- und Zungenfunktion bei Babys Der Mundraum des Neugeborenen weist deutliche anatomische Unterschiede zum Mundraum des Erwachsenen auf. Er ist verhältnismäßig kleiner, wodurch die Zunge den gesamten Mundraum ausfüllt und gleichzeitig den Gaumen, den Mundboden, die Zahnleisten und oft auch die Innenseiten der Wangen berührt. Der Hals- und Rachenraum ist kürzer als bei Erwachsenen. Aufgrund des kleinen Mundraumes sind das Bewegungsausmaß und die Bewegungsrichtung der Zunge bei Neugeborenen begrenzt. Die Zunge wird zunächst nur vor und zurück bewegt. Beim frühkindlichen Schluckvorgang wird die Milch durch die Rückbewegung der Zunge in den Rachen transportiert und von dort an beiden Seiten des Kehldeckels vorbei in die Speiseröhre geleitet. Beim Säugling bestehen die beschriebenen – altersgemäß bedingten – anatomischen Besonderheiten bis zu einem Alter von 3–4 Monaten (besonderer Bewegungsablauf der Zunge und des Schluckens). Danach setzen, über die Dauer des gesamten 1. Lebensjahres, anatomische Wachstumsprozesse ein: Die Mundhöhle vergrößert sich nun, die Zunge bekommt zunehmend mehr Bewegungsspielraum. Ab etwa dem 5. Lebensmonat führt die Zunge auch Auf- und Abbewegungen aus. Es beginnt die Umstellung auf das Schluckmuster von älteren Kindern und von Erwachsenen. Die anatomischen Veränderungen des Mundraums und die sich entwickelnden Bewegungsmuster der Zunge sind eng miteinander verbunden: Zur Vergrößerung von Gaumen und Oberkiefer werden die Bewegungsreize der Zunge benötigt. Sie formt durch ihre Bewegungen den Kiefer und ist u. a. für die Kieferweitung zuständig, sodass später alle Zähne Platz haben. Saug- und Suchreflex bilden sich zurück, und neurologisch höher gelegene Areale im Gehirn übernehmen die Steuerung der Bewegungsmuster der Zunge. Wird diese Entwicklung nicht vollzogen, können ein steiler Gaumen und ein Engstand der Zähne die Folge sein. Störungen der Zungenfunktion und des Schluckens Myofunktionelle Störungen lassen sich bei Kindern aller Altersstufen diagnostizieren. Meist wird vom Kieferorthopäden neben der zu behandelnden Zahnfehlstellung eine eingeschränkte Zungenfunktion und ein infantiles Schluckmuster festgestellt, das dem Schlucken bei Neugeborenen ähnelt und das durch ein Zungenpressen gegen oder zwischen die vorderen oder seitlichen Zähne charakterisiert ist. Diese Art des Schluckens wird auch als Zun- genstoß bezeichnet. Es sind in erster Linie diese beschriebenen Auffälligkeiten, die Fachleute zur Diagnose „Myofunktionelle Störung“ veranlassen. Dieses Störungsbild kann aber auch anhand zusätzlicher Auswirkungen erkannt werden: eine Artikulationsstörung der Zischlaute, eine Fehlbildung der Laute /t/, /d/, /l/ und /n/ sowie häufig eine ganzkörperliche Unterspannung der Muskulatur. 87 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Schlucken ist ein Vorgang, über den wir uns normalerweise keine Gedanken machen, da er ganz automatisch abläuft. Würde man gefragt wie man schluckt, würde die Antwort lapidar ausfallen: „Na, ich beiße ab, kaue und dann schlucke ich einfach runter!“ Um auffällige Schluckmuster bei betroffenen Kindern verstehen zu können, ist es notwendig, sich zunächst den physiologischen Schluckvorgang genauer anzuschauen: Beim Essen wird die Nahrung in den Mund aufgenommen und Thieme-Verlag Herr Elm TEIL 2 Sommer-Druck Feuchtwangen Wendlandt Sprachstörungen im Kindesalter TN 778506 WN 013444/01/06 29.9.2010 Umbruch Materialien zur Früherkennung und Beratung Behandlung myofunktioneller Störungen 88 Therapie setzt das selbständige Üben des Kindes zu Hause und die Mitarbeit der Eltern dringend voraus. Weiterführende Literatur für Eltern, Erzieher und andere Interessierte: Kittel A. Myofunktionelle Störungen. Ein Ratgeber für Eltern und erwachsene Betroffene. Idstein: SchulzKirchner; 2006 Spezifische Fachliteratur Bigenzahn W. Orofaziale Dysfunktion im Kindesalter. Stuttgart: Thieme; 2003 Engel-Hoek L van den, Börgeling I. Fütterstörungen: Ein Ratgeber für Ess- und Trinkprobleme bei Kleinkindern. Idstein: Schulz-Kirchner; 2008 Kittel A. Myofunktionelle Therapie. Idstein: SchulzKirchner; 2007 Siegmüller J, Bartels H. Leitfaden Sprache, Sprechen, Stimme, Schlucken. 2. Aufl. München: Elsevier, Urban & Fischer; 2010 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Aufgrund des außerhalb von Fachkreisen wenig verbreiteten Wissens um myofunktionelle Störungen werden diese oft erst spät diagnostiziert. Sie fallen meist erst dem Zahnarzt oder Kieferorthopäden auf. Der Zungenstoß gegen oder zwischen die Zähne kann Zahnfehlstellungen verursachen oder aufrecht erhalten und behindert eine kieferorthopädische Behandlung. Da die Auffälligkeiten bei einer myofunktionellen Störung sehr umfangreich sein können und ohne eine gezielte Behandlung der Muskel- und Funktionsstörung das falsche Schluckmuster nicht verändert werden kann, muss neben einer kieferorthopädischen Behandlung immer auch eine myofunktionelle Therapie erfolgen. Eltern und Erzieher, die sich nicht sicher sind, ob bei einem Kind eine Schluckstörung besteht, sollten auf jeden Fall beim Arzt oder Therapeuten um Rat fragen. Logopäden und Sprachtherapeuten führen eine gezielte Diagnostik durch und therapieren die beschriebenen Störungen. Eine Therapie umfasst in der Regel 20–40 Sitzungen. Da eine myofunktionelle Störung nie von alleine verschwindet, muss das Kind in einer Therapie angeleitet werden, Übungen zur Kräftigung der Mund- und Zungenmuskulatur und zu einem physiologisch richtigen Schluckverhalten durchzuführen. Eine erfolgreiche