Sarasin-Standpunkte von Burkhard Varnholt

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Standpunkte
Ausgabe 5 | 2012
Markteinschätzungen und Anlageperspektiven
Im «Durcheinandertal»
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Burkhard Varnholt
Chief Investment Officer
Wenn die Welt aus den Fugen gerät
In Dürrenmatts letztem 1989 publizierten Roman «Durcheinandertal» gerät
die Welt aus den Fugen. Nichts ist so,
wie wir es erwarten würden – Gangster
wollen Gutes, Irre sind menschlich und
der Prediger Moses Melker macht reiche Leute arm. Im Durcheinandertal ist
alles «sonderbar verquer gestaltet».
Dürrenmatts Possen haben bis heute
nichts von ihrer zeitlosen Ironie verloren. Manchmal können solch groteske
Karikaturen uns die Augen dafür öffnen, dass das Verquere nicht nur in der
Literatur, sondern auch in der realen
Welt seinen Platz einnimmt. In diesem
Sinne will ich auf den folgenden Seiten
einige bewusst zuge- oder überspitzte
Gedanken zu Wirtschaft, Politik und
Börsen formulieren. Ich schliesse meine Standpunkte mit drei einfachen
Empfehlungen, welche Anleger im Jahr
2013 beachten sollten.
Kann sich Europa «verschweizern»?
Die «No Future»-Gesellschaft trägt weisse Kragen
Was uns 2013 überraschen könnte
Langfristige Konsequenzen für Anleger
Kann sich Europa «verschweizern»?
Auf der Internetseite der Schweizerischen
Eidgenossenschaft steht: «Die Schweiz ist
eine Willensnation: Sie bildet weder ethnisch noch sprachlich oder religiös eine
Einheit.»1 Eine Willensgemeinschaft ist
auch die Europäische Gemeinschaft. Und
innerhalb dieser findet unter den Ländern
der Währungsgemeinschaft seit dem Ausbruch der Vertrauenskrise um den Euro
ein Katz-und-Maus-Spiel um die richtigen
Antworten, Verantwortlichkeiten und Handlungsoptionen als Ausweg aus der aktuellen Krise statt. Die einen würden am
liebsten ganz austreten, andere wollen die
überschuldeten Staaten ausschliessen
und wieder andere wollen eine Vergemeinschaftung von Staatsschulden mit
einer Zentralisierung von finanzpolitischen
Kompetenzen und – falls nötig – weiteren
Stützungsinterventionen durch die Europäische Zentralbank. Nur selten wird bemerkt, dass ein einfacher und flexibler
Mechanismus zur effektiven Begrenzung
des Schuldenwachstums seit Jahrzehnten
wirkungsvoll in der Schweiz praktiziert
wird. Es ist die konsequente Anwendung
des Subsidiaritätsprinzips. Dieses Prinzip
könnte eine wertvolle Blaupause für die
Willensgemeinschaft Europäische Wirt-
schafts- und Währungsunion bilden. Dieser Gedanke wurde Ende Oktober in einer
spannenden FAZ-Kolumne mit der Überschrift «Die Schweiz ist ein Vorbild für
Europa» skizziert.
1
2
http://www.admin.ch/org/polit/index.html
So präzisiert Artikel 43a der Schweizer
Bundesverfassung2: «Erstens: Der Bund
übernimmt nur die Aufgaben, welche die
Kraft der Kantone übersteigen oder einer
einheitlichen Regelung durch den Bund
bedürfen. Zweitens: Das Gemeinwesen, in
dem der Nutzen einer staatlichen Leistung
anfällt, trägt deren Kosten. Drittens: Das
Gemeinwesen, das die Kosten einer staatlichen Leistung trägt, kann über diese
Leistung bestimmen. » Mit anderen Worten: Wer ausgibt, muss auch einnehmen,
und wer Schulden macht, haftet auch für
diese.
Das Ergebnis der konsequenten Anwendung dieses einfachen Prinzips kann sich
sehen lassen. Im Unterschied zu fast
allen OECD-Staaten hat die Schweiz ihr
Verhältnis von Staatsschulden zu Bruttoinlandprodukt (BIP) in den letzten 15 Jahren
reduziert. Während die Staatsschuldenquote in den OECD-Staaten seit 1998 von
durchschnittlich 74% auf aktuell 100%
http://www.admin.ch/ch/d/sr/101/a43a.html
Nachhaltiges Schweizer Private Banking seit 1841.
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anstieg, konnte die Schweiz ihre Staatsschuldenquote von 55% auf aktuell 40%
reduzieren. In Deutschland liegen die
Staatsschulden im Vergleich dazu bei
87,2%der Wirtschaftsleistung, 15% höher
als 1998 (62%). Auch die Staatsausgaben
insgesamt machen in der Schweiz nur
schlanke 34% des BIP aus, in Deutschland sind es 46%, in Frankreich 56%.
Betrachtet man schliesslich, wofür die
jeweiligen Länder so hohe Staatsausgaben aufwenden, dann fällt weiter auf,
dass im Vergleich die Bildungsausgaben
in der Schweiz deutlich stärker ins Gewicht fallen als bei ihren Nachbarstaaten
– wahrscheinlich, weil sie in kommunalen
Abwägungen eine höhere Wertschätzung
geniessen, während die typischerweise
überregional favorisierten Ausgaben für
Militär in den Nachbarländern höher liegen.
Auch die Kantone und Gemeinden weisen
in der Schweiz deutlich tiefere Schulden
auf, weil sie nicht auf eine Übernahme
ihrer Schulden durch Bund oder Kantone
hoffen können. Tatsächlich hat die
Schweiz in der Vergangenheit bereits
Insolvenzverfahren für einzelne Gemeinden praktiziert. Nur in 4 von 26 Kantonen
liegt die Schuldenquote über 20% ihrer
Wirtschaftsleistung, der Spitzenreiter Genf
liegt bei (für helvetische Verhältnisse
skandalösen) 40%. Berücksichtigt man
allerdings das Geldvermögen der Kantone,
so weisen immerhin 13 Kantone eine
positive Nettovermögensposition auf.
Das Geheimnis hinter diesem Erfolgsausweis ist denkbar einfach. Die konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips
(welches natürlich auch in der Schweiz
immer wieder kritisiert wird) bedeutet
natürlich auch eine weitgehende Steuerhoheit der Kantone und einen gewissen
Steuerwettbewerb unter diesen. Doch
allen Warnungen europäischer Politiker
zum Trotz, hat dieser bislang für Steuerzahler und Kantone mehr Nutzen als
Schaden geschaffen. Denn der Wettbewerb hilft, die Steuerlast insgesamt geringer zu halten als in den meisten anderen
Ländern Europas. Doch der Grundsatz,
dass Kantone und Gemeinden für ihre
Schulden selbst einstehen müssen, verhindert einen «ruinösen Steuerwettbewerb» – entgegen allen Befürchtungen vor
allem linker Politiker. Gleichzeitig hemmt
ein interkantonaler Finanzausgleich den
unsolidarischen Nebeneffekt, dass einzelne Gemeinweisen mit tiefen Steuern pri-
mär Pendler anlocken, welche dann gratis
von der öffentlichen Infrastruktur grösserer Nachbarkantone profitieren.
Der grosse Reiz dieses Prinzips für die
Eurozone läge – in Übereinstimmung mit
den Forderungen des deutschen Bundesbankpräsidenten Weidmann – darin, dass
die Nationalstaaten in ihrer Finanzpolitik
weitgehend souverän blieben, aber für
ihre souveränen Entscheidungen auch
haften müssten. Natürlich bestünde momentan die grösste Herausforderung für
die Einführung einer subsidiär gestalteten
Finanzverfassung in der Einführung eines
einheitlichen Insolvenzverfahrens für alle
Mitglieder der Europäischen Willensgemeinschaft. Aber: Wenn dies in der heterogenen, sich aus 26 Kantonen konstituierenden Schweiz gelingt, dann sollte
dasselbe grundsätzlich auch für Europa
möglich sein. Rein juristisch ist das sogar
machbar. Politisch erfordert es Mut. Aber
es würde den Weg öffnen für eine kostenbewusstere und demokratisch wahrscheinlich deutlich besser legitimierte Währungsund Wirtschaftsunion. Dies wäre die beste
Nebenwirkung, welche die Eurokrise für
die Zukunft der Europäischen Union haben
könnte.
Die Europäische Union wurde dieses Jahr
zu Recht als friedensstiftendes Projekt mit
dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Doch die durch die Eurokrise geschaffenen Spannungen drohen, dieses grossartige Friedensprojekt in sein Gegenteil zu
verkehren. Es ist höchste Zeit, der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
eine neue Finanzverfassung zu verschaffen, welche ihrer Eigenschaft als Willensgemeinschaft vollumfänglich Rechnung
trägt. Eine subsidiäre Finanzverfassung,
welche souveräne Staaten freiwillig und
freiheitlich verbindet, wäre der beste Weg
aus der Krise der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.
In Friedrich Dürrenmatts Roman «Justiz»
kommt der Anwalt Felix Spät zu der Erkenntnis: «Die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern.» Für den Euroraum dürfte dies in besonderem Masse
zutreffen.
Die «No-Future»-Gesellschaft trägt weisse
Kragen
«No Future» war ein Slogan der englischen
Punkbewegung, der auf das Stück «God
save the Queen» der in den 70er Jahren
erfolgreichen, englischen Musikgruppe
Sex Pistols zurückgeht. Der Refrain «No
Future» verband in den späten 70er Jahren eine mehrheitlich jugendliche Gegenbewegung zur technischen Fortschrittsgläubigkeit und zum Optimismus der politischen Eliten, den viele Jugendliche unter
anderem wegen des im Kalten Krieg ständig drohenden Nuklearen Holocausts nicht
verstanden oder nicht mittragen wollten.
Der Slogan stand stellvertretend für eine
Generation, welche ihrem hohen Wohlstand ideologisch weniger kritisch gegenüberstand als noch jene der 60er Jahre,
welche aber den Wohlstand stärker von
der älteren Generation an sich selbst
umverteilen wollte.
In dem Text von «God save the Queen»
spielte die Formulierung «No Future» eine
tragende Rolle:
When there’s no future how can there be
sin
We’re the flowers in the dustbin
We’re the poison in the human machine
We’re the future, your future
…
There’s no future in England’s dreaming.
John Lydon, Co-Autor von «God save the
Queen» und unter dem Pseudonym Johnny
Rotten als Sänger der Sex Pistols bekannt, erklärte in einem Interview, wie er
die Aussage «No Future» verstanden haben wollte: «Diese Textzeile ‹no future›,
die ist prophetisch: Wenn Du Deine Zukunft nicht selbst in die Hand nimmst,
dann wirst Du auch keine haben – so
einfach ist das.» In seiner 1994 erschienen Autobiografie «No Irish, No Blacks, No
Dogs» betont Lydon darüber hinaus: «Ausser Sid (Vicious) war keiner der Pistols
selbstzerstörerisch drauf – ganz im Gegenteil. Wir hatten die Absicht, das System zu zerstören, aber bestimmt nicht uns
selbst.»
In einer Dürrenmatt’schen Verkehrung der
gewohnten Vorzeichen findet sich die «No
Future»-Bewegung unserer heutigen Zeit
an den Finanzmärkten wieder. Doch heute
will weniger die junge Generation ans Geld
der alten Generation, sondern die Alten
wollen ans Geld der Jungen. Aber weil die
Jungen heute noch nicht genug Geld besitzen, um den Alten ihren liebgewonnenen Wohlstand, ihre Renten und Sozialleistungen zu zahlen, machen die Alten
Schulden – welche die Jungen nach dem
Ableben der Alten werden zurückzahlen
müssen. Im Prinzip ist der Plan weitaus
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wirkungsvoller und systemzerstörerischer
als das meiste, wovon die frühere Punkbewegung träumte. Dass die heutigen
Vermögensbesitzer der gesellschaftlichen
Zukunft genauso wenig Wert beimessen,
wie das für die Punkbewegung der achtziger Jahre galt, zeigt sich am deflationären
Realzinsniveau. Zugegeben – auf den
ersten Blick haben die beiden Ausdrucksformen – Realzinsen und Protestmusik –
wenig gemeinsam. Aber beide sind verursacht durch und verstärken einen Generationenkonflikt: Während der Punkbewegung der 70er Jahre wollte eine junge
Generation ans Geld der alten Generation.
Heute ist es umgekehrt. Heute realisiert
eine ältere Generation in Europa, den USA
und Japan, dass sie ihren Lebensstandard
und ihre sozialen Versprechungen nur
aufrechthalten kann, wenn sie sich einer
verantwortungslosen Geld- und Fiskalpolitik bedient, welche ihre in der Zukunft
anfallenden Kosten konsequent ignoriert.
Die heutige «No Future»-Bewegung geht
natürlich nicht auf die Strasse. Sie trägt
mehrheitlich weisse Kragen und verpfändet die wirtschaftliche Zukunft der jungen
Generation zugunsten ihres heutigen Lebensstandards. Das aktuelle, in Europa,
den USA und Japan herrschende NullRealzins-Niveau stellt in diesem Sinne die
metaphorische Spitze eines Eisberges
dar. Denn der Realzins ist keineswegs nur
ein finanzmathematisches Detail, sondern
tatsächlich drückt sich im Realzins die
Wertschätzung einer Gesellschaft über
ihre Zukunft aus. Insofern ist der Realzins
eine elementar relevante, philosophische
Grösse. Eine Gesellschaft, die das Sparen
nicht belohnt, untergräbt (gemäss dem
volkswirtschaftlichen Axiom «Sparen =
Investieren») auch den Investitionsanreiz.
Anders formuliert: Eine Gesellschaft, die
weniger spart und investiert, lenkt ihr
Augenmerk von der Zukunft in die Gegenwart. Sie favorisiert den heutigen Konsum
gegenüber dem morgigen Konsum. Sie
favorisiert die Verschuldung und bestraft
die Sparsamkeit. Deshalb kommt die
Botschaft der Finanzmärkte der «No Future»-Botschaft der früheren Punkbewegung sehr nahe, ja sie scheint sogar um
ein Vielfaches bedrohlicher, wenn man
ihre realen Konsequenzen betrachtet. In
einem fatal engen und kurzfristigen Sinne
hat deshalb der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman sogar Recht, wenn er
fordert, dass Staaten sich die Botschaft
der Finanzmärkte zu Herzen nehmen und
sich – solange Geld quasi «gratis» ist «grenzenlos» verschulden sollten. «Après
nous le déluge» – «nach uns die Sintflut»,
so kann man Krugmans Empfehlung natürlich auch deuten, sobald man seine eng
ökonomische Sichtweise durch eine ganzheitliche Perspektive ersetzt. Wozu das
führen kann, wird aus nachfolgendem
Zitat klar – auch wenn dieses wohl nicht,
wie gerne behauptet, aus Karl Marx’ Feder
stammt: «Die Besitzer des Kapitals werden die Arbeiterklasse dazu stimulieren,
immer mehr teure Güter, Häuser und
Technologien zu kaufen, und sie dazu
drängen, immer teurere Kredite aufzunehmen, bis ihre Schulden nicht länger
tragbar sind. Diese unbezahlten Schulden
werden zu Konkursen bei den Banken
führen, die dann verstaatlicht werden
müssen, und der Staat wird dann den
Pfad einschlagen, der irgendwann zum
Kommunismus führen muss.»
Zumindest in einem Punkt soll diese These allerdings noch etwas differenziert
werden. Und zwar darin, dass es keineswegs das Gleiche ist, ob Privathaushalte
oder ob Staaten ihre Schulden erhöhen.
Der entscheidende Unterschied besteht
natürlich darin, dass private Schuldner
normalerweise für ihre Schulden selber
haften und auch eigene Sicherheiten verpfänden müssen, während viele westliche
Staaten einen Grossteil ihrer neuen
Staatsschulden durch die Verpfändung
des steuerpflichtigen Einkommens zukünftiger Generationen besichern können.
Dieses Privileg vieler westlicher Staaten
ist das Ergebnis jahrzehntelanger, wechselseitig honorierter Generationenverträge. Und wie so häufig im Leben dauert es
viele Jahre, um sich eine solche Reputation zu erarbeiten, doch kann man sie über
Nacht verlieren. Die Gretchenfrage zu
Krugmans Vorschlag der «grenzenlosen
Staatsverschuldung» muss also lauten:
Stellt die «kostenlose» Verfügbarmachung
zusätzlicher, liquider Mittel via unlimitierter Erhöhung von Staatsschulden die
erste, erfolgreiche Anleitung zur Alchemie
dar? Dann wäre wohl auch die wirtschaftliche Grundregel «There’s no such thing
as a free lunch» ausser Kraft gesetzt. Und
falls dies zuträfe, dürfte man Paul Krugman mit gutem Gewissen gar noch einen
zweiten Nobelpreis – in Ökonomie oder
(Al-)Chemie ‒ verleihen. Oder handelt es
sich gar um ein gut verkleidetes Rezept
zum (fast) perfekten Raubzug: legal, unbemerkt und erfolgreich?! Falls Letzteres
zuträfe, dann würden die Sex Pistols oder
der bigotte Prediger Moses Melker aus
Dürrematts «Durcheinandertal» im Vergleich wie harmlose Schuljungen wirken.
Spätestens hier sollte klar sein, dass
unser deflationäres Umfeld (genauso wie
Inflation) gewissermassen das Gegenteil
Nachhaltiges Schweizer Private Banking seit 1841.
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einer nachhaltigen Perspektive darstellt.
Diese systemzerstörerische Entwicklung
riskiert ein böses Erwachen. Wir sollten
bedenken, dass es das gute Recht und
Privileg einer jeden Generation ist, die
wirtschaftspolitischen Spielregeln ihrer
Zeit zu ändern. Zu diesem Recht gehört
auch die – von Ökonomen wie Paul Krugman ignorierte - Möglichkeit, die Schulden
früherer Generationen einseitig zu restrukturieren oder gar zu kündigen. Vergessen
wir nicht: Finanzmathematik und Ökonomie sind nur ein Aspekt einer erfolgreichen Anlagestrategie. Die Berücksichtigung gesellschaftlicher und politischer
Entwicklungen ist für den nachhaltigen
Anlageerfolg manchmal sogar wichtiger.
Heute dürften wir uns wahrscheinlich in
genau so einer Situation befinden.
2013 – was uns überraschen könnte3
Zur Entwicklung von Anlagestrategien
gehört nicht nur die Formulierung von
wahrscheinlichen Szenarien, sondern
auch die Berücksichtigung des Unwahrscheinlichen. In diesem Sinne publizierte
ich in den letzten Jahren jeweils eine
kurze Liste mit möglichen Überraschungen
– dies selbstverständlich nicht im Sinne
von Prognosen, sondern im Sinne von
Entwicklungen, die mir «unwahrscheinlich,
aber möglich» erscheinen. Es entspricht
einer kurzweiligen Routine, deren Gedanken ich nachfolgend skizzieret habe.
1. Krieg und Frieden
«Krieg und Frieden» lautet nicht nur der
Titel von Leo Tolstois grossem Beitrag zur
Weltliteratur, sondern könnte auch eine
Zusammenfassung der Weltgeschichte in
drei Worten darstellen. Unsere Medien
neigen - glücklicherweise - dazu, die Gefahr von Kriegshandlungen systematisch
überhöht darzustellen. Nie war die Welt so
relativ friedlich, wie sie heute ist. Gleichwohl bergen Konfliktzonen, wie die Strasse von Hormus, der amerikanische Feldzug gegen Terrorismus oder das Verhältnis zwischen China und Japan ein tragisches Eskalationspotenzial. Während eine
militärische Eskalation des Iran-Konfliktes
mit globalen Konsequenzen oft als «Überraschungsszenario» beschrieben wird,
scheint mir das Gegenteil – ein mehrheitlich friedliches Jahr 2013 – fast die grössere Überraschung. Zumindest die Fi-
3
Bitte beachten Sie, dass es sich hierbei um vom
Autoren erdachte Szenarien handelt, die keine Prognosen auf Grundlage eines Researchs darstellen.
nanzmärkte haben einen potenziellen IranKonflikt längst antizipiert. Sie würden im
Fall seines Ausbleibens überraschenden
Rückenwind aus fallenden Ölpreisen und
sinkenden Volatilitäten erhalten. Auch das
Risiko eines militärisch aggressiven Chinas wird in den Medien übertrieben. Konflikte entstehen in der Regel in Ländern
mit einem demografischen Übergewicht
von jungen, unterbeschäftigten Männern.
Das trifft z.B. für Iran, Palästina, Syrien,
Libyen, Sudan, Kongo, Nigeria, Pakistan,
den Balkan u.a.m. zu. Aber in China, wo
die meisten Familien aufgrund der früheren Ein-Kind-Politik nur höchstens einen
Sohn haben, werden sich Bevölkerung und
Regierung immer mehrmals überlegen,
ihre einzigen Söhne in den Krieg zu entsenden. Diese Tatsache wird China noch
auf Jahre befrieden.
2. Wirtschaft
a. Die EWWU führt Schuldenbremsen und
Arbeitsmarktreformen ein
Auf diskreten, aber wirkungsvollen Druck
der EZB, des IMF und der europäischen
Politik führen Spanien, Italien und Portugal wichtige Arbeitsmarktreformen durch,
welche die Aussichten auf eine zwar langsame, aber nachhaltige Konjunkturerholung glaubwürdiger denn je seit Ausbruch
der Eurozonenkrise machen. Des Weiteren
verabschieden die Regierungschefs der
Eurozone erstmals einen politisch bindenden Fahrplan zur Einführung von verfassungsmässigen Schuldenbremsen, welche
über die kommenden 15 Jahre langsam
eingeführt werden müssen.
b. Mexiko ist der Börsenliebling Amerikas
Die mexikanische Wirtschaft, schon seit
einigen Jahren der Musterschüler der
rasch wachsenden, aufstrebenden Volkswirtschaften Südamerikas, profitiert 2013
von einer günstigen Konstellation verschiedener Faktoren: Seine Exporte in die
USA und Südamerika florieren; stabile
Arbeitsmarktverhältnisse, eine liberale
Wirtschaftspolitik, steigende Produktivitätszahlen und ein effizientes Steuersystem ziehen zunehmend Auslandsinvestitionen an. Die Zinsen sinken und der
Wechselkurs bleibt stabil. Die mexikanische Börse überrascht mit einer Jahresperformance von über 30% aller amerikanischen Börsen.
c. Afrika wächst am stärksten
Häufig übersehen, überrascht Afrika erneut mit starkem Wachstum. Wirtschaften
wie Äthiopien, Ghana, Kenia, Nigeria
punkten mit robusten Wachstumszahlen,
einer deutlichen Verbesserung der Staatsfinanzen und steigenden Auslandsinvestitionen. Steigende Preise für Agrarprodukte, Infrastrukturinvestitionen und ein
wachsender Binnenmarkt bilden wichtige
Impulse. Für Investoren stellen vor allem
die explodierenden Landpreise – am
stärksten in den Hauptstädten – die
grösste Überraschung dar. Auch die Preise für fruchtbares Agrarland in Äquatorialafrika explodieren dank des Investorenwettlaufs von Interessenten aus China,
dem Mittleren Osten und Private-EquityFonds aus dem angelsächsischen Raum.
Afrikanische Börsen verzeichnen zwar
ebenfalls Kurssteigerungen, bleiben aber
Opfer ihrer tiefen Liquidität und ihrer geringen Marktvernetzung.
3. Politik
a. Peer Steinbrück wird neuer deutscher
Kanzler
Nach einem dramatischen Endspurt gewinnt Peer Steinbrück die deutschen Bundestagswahlen und löst Angela Merkel,
entgegen den Prognosen aus Meinungsumfragen, als neuer Kanzler ab. Sein
Wahlprogramm punktet vor allem in der
politischen Mitte. Steinbrück wirbt für eine
stärkere, europäische Wachstumspolitik,
eine sozialverträgliche Rentenreform und
institutionelle Reformen der EWWU in den
Bereichen Bankenaufsicht, Staatsfinanzen, Arbeitsmärkte und Rentensysteme.
Zu diesem Zweck will er Deutschland aus
der europapolitischen Isolation wieder zu
einem innerhalb der EWWU-Politik geschätzten und führenden Partner machen.
Seine überraschende Koalitionsregierung
zwischen SPD und FDP startet mit einer
doppelten Mehrheit in Bundestag und
Bundesrat.
b. Die Machtübergabe in China fördert
die Entwicklung einer sozialen Marktwirtschaft
Chinas Machtübergabe an den designierten Regierungschef Xi Jinping repräsentiert ein klares Bekenntnis zu einer systematischen Entwicklung einer sozialen
Marktwirtschaft, welche viele wirtschaftspolitische Elemente der skandinavischen
Wirtschaften enthält. Eine Liberalisierung
des Bankensektors, staatliche Investitionen in Ausbildung, Umweltschutz, Sozialund Rentenversicherungen sowie die
schrittweise Einführung von mehr persönlichen Freiheiten sind wichtige Aspekte
dieser unerwartet offenen Entwicklung.
Nicht nur die chinesische Wirtschaft,
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b. 2013 wird eines der besten Aktienjahre – trotz zahlreichen, wirtschaftlichen
Herausforderungen
Einmal mehr zeigt sich das Überraschungspotenzial der Finanzmärkte. Mit
überdurchschnittlichen Aktienperformances, welche je nach Markt zwischen
10% und 40% schwanken, zählt 2013 zu
den besten Börsenjahren der Geschichte.
Die positive Entwicklung wird getragen
durch hartnäckig tiefe Zinsen, einen anhaltenden Anlagenotstand bei Investoren
und erstaunlich robuste Entwicklungen der
Unternehmensgewinne. Weil die vielgefürchteten Katastrophen (Finanzkrisen,
Staatskonkurse, militärische und politische Konflikte) ausbleiben, kehren Anleger zunächst zögerlich, dann immer deutlicher an die Börsen zurück.
sondern auch die notorisch unterbewerteten Börsen erhalten dadurch Rückenwind.
Chinas Aussenpolitik profitiert von der
zweiten Amtszeit Barack Obamas und
zwischen den USA und China herrscht ein
politisches Tauwetter.
4. Wissenschaft und Technologie
a. Nachhaltige Energietechnologien initiieren eine Revolution
Verschiedene, nicht koordinierte technologische Durchbrüche im Bereich der erneuerbaren Energien legen den Startschuss für eine eigentliche Revolution in
der Art, wie wir Energie fördern, verteilen
und nutzen. Durchbrüche in der Gewinnung von Strom aus Meereswellen, Wind
und Sonne führen zu einem nachhaltig
höheren und diversifizierteren Stromangebot. Gleichzeitig senken technologische
Fortschritte in der Gewinnung von Biokraftstoffen der dritten Generation, welche
aus organischen Abfallstoffen gewonnen
werden, die Nachfrage nach Erdöl. Auch in
der Übertragung von Strom vervielfachen
sich die Übertragungskapazitäten dank
besseren Materialien und Technologien,
intelligenten Verteilnetzen und einer rasch
wachsenden Zahl von dezentralen Einspeisequellen.
b. Im Schatten von Solarkraftwerken
grünt die Wüste
Grossangelegte Versuchsprojekte in der
Wüste von Jordanien und Kalifornien beweisen, dass die geschickte Imitation
biologischer Zusammenhänge sogar die
Wüste begrünen kann. Die libysche Wüste, einstmals die artenreiche Kornkammer
des Römischen Reiches, lässt sich, genau
wie andere Wüsten, langsam zurückgewinnen. Zu diesem Zweck wird im Schatten von Solarpanelen auf geschickte Weise eine dauerhafte Steppenflora kultiviert,
welche anfänglich mit Tauwasser und
durch Solarenergie gewonnenem Wasser
bewässert wird. Durch die langsame Ausbreitung der Wüstenpflanzen verändern
sich dort das Mikroklima und die Feuchtigkeit, sodass sich der Begrünungsprozess mit der Zeit selbstständig und nachhaltig ausbreitet, während Solarkraftwerke
die Initialkosten dieser Arbeit vollständig
tragen. Nach erfolgreichen, grossflächigen
Versuchsprojekten in Jordanien und Kalifornien entstehen noch grössere Vergleichsprojekte in relativ wohlhabenden,
doch ariden Ländern wie China, Israel,
den Golfstaaten, Turkmenistan, Kasachstan, Usbekistan und den USA.
5. Finanzmärkte
a. Der Euro erstarkt überraschend deutlich
Mehrere positive Einzelentwicklungen
stärken das Vertrauen in eine mittelfristige Erholung der Eurozone. Nachhaltige
Arbeitsmarktreformen in Spanien, Portugal
und Italien, ein überraschend wirtschaftsfreundliches und geschickt kommuniziertes Programm des neuen deutschen Bundeskanzlers sowie überraschend starkes
Wachstum in den wichtigsten Exportmärkten der EU lösen eine Neubeurteilung des
Euro gegenüber dem US-Dollar sowie dem
Schweizer Franken aus. Der Euro
schliesst das Jahr mit einem Wertzuwachs
von über 15% gegenüber beiden Währungen.
c. Der Goldpreis nähert sich 2500 USD
pro Unze
Dieser massive Anstieg wird nicht durch
Inflation ausgelöst, sondern durch Herdenverhalten unter Zentralbanken und als
Absicherung gegenüber der zunehmend
verantwortungslosen Fiskal- und Geldpolitik westlicher Staaten. Immer mehr Anleger suchen nach Auswegen aus der fiskalischen Repression der Staaten. Sie entdecken das Gold zu diesem Zweck als
Fluchtwährung.
6. Sport
a. Timo Boll gewinnt 2013 die Tischtennis-WM
Im zweiten Anlauf schlägt der deutsche
Tischtennismeister nach einem packenden Halbfinalsieg gegen den elegantesten
Tischtennisspieler der Welt, Vladimir
Samsonov, in einer Neuauflage des Finals
von 2012 den kraftstrotzenden, chinesischen Tischtenniskönig Ma Long in fünf
packenden Sätzen. (Hat sich der Autor
hier möglicherweise zu sehr von seinem
sportlichen Wunschdenken inspirieren
lassen?)
Nachhaltiges Schweizer Private Banking seit 1841.
6 | Standpunkte | 2012
Langfristige Konsequenzen für Anleger
Ich schliesse meine Zeilen mit drei Empfehlungen für Anleger.
1.) Die Welt ist tatsächlich aus den Fugen
geraten. Zumindest verändert sie sich
rascher, als wir es je erlebt haben. Die
rasanten Zykluswechsel, die hohe Volatilität und die unüberschaubare Flut von
Informationen überfordern die meisten
Anleger – zumindest psychisch-emotional.
Vor diesem Hintergrund sei jedem Anleger
– egal ob privat oder institutionell – ein
systematisches, aktives und nachhaltig
ausgerichtetes Vermögensverwaltungsmandat als oberste Priorität ans Herz
gelegt.
2.) Die politische, soziale, ökologische
und wirtschaftliche Fehlertoleranz unserer
Welt nimmt rapide ab. Das ist der einfache und entscheidende Grund dafür, dass
die Idee der Nachhaltigkeit heute vergleichbar ist mit Victor Hugos Überzeugung: «Eine Idee, deren Zeit gekommen
ist, ist stärker als alle Armeen dieser
Welt.» Eine anhaltende, globale Prosperität ist möglich. Aber sie kann nur gelingen, wenn der Gedanke der Nachhaltigkeit
auf und aus den drei entscheidenden
Ebenen und Perspektiven - Politik, Wirtschaft und Alltag und Investoren – wirklich
verstanden wird. Deshalb sind nachhaltig
verwaltete Anlagen nicht nur eine der
grössten Opportunitäten, sondern auch
eine Verantwortung unserer Generation.
3.) Jede Hausse muss gegen eine hohe
Mauer der Skepsis ansteigen. Das war in
der Geschichte immer und überall so.
Genauso könnte es sich mit der seit 2009
andauernden Hausse der Risikoanlagen in
Immobilien, Aktien und Rohstoffen verhalten. Erst aus dem komfortablen Rückblick
der Geschichte werden wir hierüber Gewissheit erlangen. Aber risikofreudige
Investoren dürfen sich immer noch darin
bestätigt sehen, dass Risikoanlagen im
Vergleich zum aktuellen Investitionsklima
noch für einige Jahre wohl höchst antizyklische Anlagen darstellen. Das ist zwar
keine hinreichende, aber oftmals eine
zwingende Voraussetzung für jeden Anlageerfolg.
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7 | Standpunkte | 2012
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