Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde Neue Folge 65

Werbung
Archiv für hessische Geschichte
Altertumskunde
und
Neue Folge 65. Band 2007
Herausgeber:
Hessisches Staatsarchiv Darmstadt
in Verbindung mit dein
Historischen Vereinfair Hessen
Redak-lion:
J. Friedrich Battenberg
_.`
"sý.; ,ý:. . t. c sý: t
BRIGITTE KÖHLER
ZUR HERKUNFT DER SÜDHESSISCHEN WALDENSER
Die Gründer der südhessischen Waldenserkolonien stammen nahezu alle
vom Oberlauf der Chisone, einem Quellfluss des Po, der in 2.800 m Höhe am
Monte Appena in den Kottischen Alpen entspringt. Der Talabschnitt oberhalb
des Bec Dauphin, der alten delfinatischen Grenzfeste bei Perosa, wurde früher
nach der größten und am höchsten gelegenen Gemeinde als das Tal Pragela
bezeichnet. Viele Jahrhunderte lang ragte dieser Teil der Dauphine wie ein
Vogelschnabel (Bec) in piemontesisches Gebiet hinein; von der Grenze aus
waren es kaum mehr als 40 km bis nach Turin, seit Mitte des 16. Jahrhunderts
Regierungssitz der Herzöge von Savoyen-Piemont. Von Perosa aus steigt das
Chisonetal innerhalb von 30 km nahezu um 1.000 Meter an. Unter dem Einfluss der nahen Ebene gedeihen in Mean (ital. Meano) und Roure (=reich an
Eichen), den beiden untersten Talgemeinden, noch Weinreben, Walnussbäume und Esskastanien; weiter oben werden Laubbäume immer seltener und
schließlich bedecken nur noch Nadelhölzer, vor allem Lärchen, die Berghänge. Mentoulles (1.060 m), etwa in der Mitte des Tales gelegen, war mit dem
Sitz des Priors von alters her der kirchliche Mittelpunkt des Tales; unterhalb
von Fenestrelle (1.154 m), der folgenden Gemeinde, riegelt ein mächtiger
Bergsporn das Tal fast vollständig ab; hier bauten die Herzöge von SavoyenPiemont, nachdem sie durch den Frieden von Utrecht 1713 in den Besitz des
Tales gekommen waren, eine mächtige Festung; nach Usseaux (1.270 m), der
nächsten Gemeinde, weitet sich der Talgrund, so dass die am höchsten gelegene Gemeinde Pragela mehr Raum hatte, sich auszudehnen. Pragela setzte
sich aus 20 mehr oder weniger großen Ortschaften (fraziones) zusammen, viele davon sind heute unbewohnt oder dienen den Fortgezogenen als Feriendomizil. La Rua, der Hauptort, liegt in 1.530 m Höhe direkt am Ufer der Chisone, Troncea, das letzte Dorf an der Chisone, liegt 1.920 Meter hoch; auch
Sestriere, der bekannte Wintersportort, gehörte einst zur Gemeinde Pragela.
Das Tal Pragela ist von hohen Bergketten umgeben, die bis zu 3.000 Metern
emporragen, auf ihrem Kamm verlief bis 1713 die Grenze zwischen Frankreich und dem Herzogtum Savoyen-Piemont. Die benachbarten Täler von Dora Riparia im Norden und Germanasca im Süden waren über Saumpfade gut
zu erreichen.
Prata gelada bedeutet gefrorene Niesen, die Vegetationszeit dauert hier nur
wenig mehr als vier Monate; Otto niese inverno, guattro niese inferno, pfleg-
Archiv für hessischeGeschichte65 (2007) 31
BRIGITTE KÖHLER
ten die Alten zu sagen, die Feldarbeit konzentrierte sich auf nur wenige Monate im Jahr. Die Felder ziehen sich in schmalen Streifen terrassenförmig die
Hänge hoch, heute werden sie kaum noch bewirtschaftet. Darüber liegen ausim
Rindern
denen
Sommer
Herden
Weideflächen,
von
und
auf
gedehnte
Schafen weiden, die den Dorfbewohnern gehören; seit alter Zeit werden aber
der
hoch
Ebene
Herden
Sommers
des
Anfang
getrieben,
aus
große
am
auch
heute meist mit Lastwagen transportiert. Diese Transhumance hatte sich
' Angebaut werden vor allem Roggen,
herausgebildet.
im
Mittelalter
schon
Gerste, Hafer und Buchweizen (grano saraceno), seit dem 17. Jahrhundert
auch Kartoffeln. Zusammen mit den tiefer liegenden Gemeinden bildete Pragela in alter Zeit eine politische Einheit als Ecarton im sog. Grand Escarton de
Briancon, seit 1343 ein kleines halbautonomesGebiet innerhalb des französischen Königreiches.
Das Tal Pragela liegt im Bereich der romanischen Bergbauernwirtschaft,
bei der Ackerbau in Verbindung mit Viehwirtschaft betrieben wird 2 Auf diese Weise waren die Bergbauern fast völlig autark, nur wenige Güter, hauptsächlich Salz, mussten sie sich auf andere Weise beschaffen. Wälder und
Weide wurden gemeinschaftlich genutzt. Alle Gemeinden setzen sich aus einer mehr oder weniger großen Anzahl von Siedlungen zusammen,die sich auf
den der Sonne zugewendeten Berghängen hoch hinauf ziehen, während die
Hauptorte im Talgrund liegen. In den Siedlungen standen die Häuser dicht
beieinander. Das Leben der Familien war geprägt durch die Dorfgemeinschaft, die fest zusammenhalten musste, um die harten Lebensbedingungen
im Hochgebirge zu meistern. Sie halten zusammen it'ie Pech und Sclrn'efel,
sagteman auch den nach Deutschlandgeflüchteten Waldensernnach.
Über die Frühzeit des Tales gibt es keine sicheren Nachrichten; Ortsnamen
wie Usseaux (ucellos=die Höhen), Mentoulles und Pinascadeuten auf keltoligurische Besiedlung hin. Um Christi Geburt herrschte ein keltischer Stammesfürst namens Cottius über ein Gebiet, das sich von Fenestrelle (finis terbis
den
hinweg
Alpenkamm
über
nach Embrun (Dep. Hautes Alpes) errae)
streckte; sein Regierungssitz war Segusio, das heutige Susa. Von den EroberungsgelüstenRoms bedrängt, schloss Cottius im Jahre 13 v. Chr. einen Vert HENRIFALQUE-VERT,Les hommeset la montagneen Dauphine au XI11. siecle, Pressesuniversitaires de Grenoble, 1997,S. 72.
2 WERNERBA FzIG,Die Alpen - Entstehungund Gefährdung einer europäischenKulturlandschaft,
München 1991,S. 33 Iff.
32 Archiv für hessischeGeschichte65 (2007)
ZUR HERKUNFT DER SÜDHESSISCHEN WALDENSER
trag mit Kaiser Augustus über die Eingliederung seines Gebietes in das römische Reich und durfte dadurch sein Amt behalten; später wurden die Alpes
cottiae" zu einer von einem Präfekten regierten römischen Provinz.
Durch das benachbarte Tal der Dora Riparia, dem sog. Susatal, verlief seit
uralter Zeit ein Handelsweg, der über den Pass am Mont Genevre und die Durance abwärts in die Provence und weiter nach Spanien führte; Polybios (205125 v. Chr. ) bezeichnete ihn als den ältesten aller transalpinen Wanderwege;
Caesar ist auf ihm viele Male nach Gallien gezogen; ein ihm zu Ehren errichteter Triumphbogen in Susa erinnert noch heute an ihn. Auch durch das Chisonetal führte eine von Gnäus Pompeus 73 v. Chr. erbaute Straße, aber die
Engen, von denen der Fluss seinen Namen bekam, (lat. Clausum, frz. Cluson)
behinderten den Verkehr; zudem musste auf dem Weg nach Frankreich noch
der 2.021 m hohe Pass bei Sestriere überquert werden. Erst unter Napoleon
wurde 1806 mit dem Bau einer modernen Straße begonnen und ihm zu Ehren
auf der Passhöhe des Mont Genevre ein 20 m hoher Obelisk errichtet.
Über die
Jahrhunderte" der Völkerwanderungszeit
nur
weiß
man
dunklen
wenig. Vermutlich zogen westgotische Stämme auf dem Weg nach Westen
auch durch das Chisonetal. Von Theoderich dem Großen (493-526 n. Chr. ) ist
bekannt, dass er eine größere Zahl von Alemannen in sein Reich aufnahm. Im
6. Jahrhundert besetzten Langobarden Oberitalien, zur Verteidigung ihrer Gebiete siedelten sie besitzlose Freie an den Grenzen ihres Reiches an, ihre Siedlungen entwickelten sich zu weitgehend autonomen Landgemeinden mit einem Schultheißen (sculdahis oder centenarius) an der Spitze. Als Christen
hingen die Langobarden der arianischen Richtung an, die in den Kottischen
Alpen weit verbreitet war. Lange Zeit galt das Tal Pragela und die angrenzenla rocca forte d'eresia", auch andere Häresien fanden Täler als
e
semenzaio
den in den schwer zugänglichen Siedlungen leichter Eingang als in den Ebenen. 726 n. Chr. wurde im Susatal, am Fuße des Moncenisio, die Abtei Novalese gegründet. Ihre Priester waren bemüht, die Besiedlung der umliegenden
Täler zu fördern und damit die Macht der katholischen Kirche zu vergrößern.
773 leisteten die Mönche mit ihren Ortskenntnissen dem vom Papst herbeigerufenen, fränkischen Heer unschätzbare Hilfe, als es darum ging, eine von den
Langobarden verteidigte Flussenge der Dora Riparia zu überwinden. Nach
dem Sieg über Desiderius, den letzten König der Langobarden, wurde sein
Land dem fränkischen Reich angegliedert. Zwischen 906 und 980 zogen wiederholt Sarazenen von ihrem am Mittelmeer gelegenen Stützpunkt Fraxine-
Archiv für hessischeGeschichte65 (2007) 33
BRIGITTE KÖHLER
tum aus brandschatzenddurch die Täler der Nestalpen. Sie plünderten die reiche Abtei Novalese und andere Klöster und hinterließen Spuren auch im Tal
Pragela.Vermutlich verhielten sie sich aber den armen Bergbauern gegenüber
in
Sarrasin
Maureus,
die
Saracius,
Familiennamen
und
wie
weniger aggressiv;
einer 1265 aufgestellten Steuerliste genannt werden, deuten darauf hin, dass
Flurnamen
LegenAuch
ihnen
und
sind.
geworden
sogar
sesshaft
etliche von
den erinnern noch an die Zeit der Sarazeneneinfälle.Ins Licht der schriftlich
belegten Geschichte tritt das Tal Pragela durch eine am B. September 1064
von Markgräfin Adelheid von Turin unterzeichneten Urkunde, mit der sie
Teile des oberen Chisonetales der Abbazia di Santa Maria in Pinerolo überschrieb. Namentlich aufgeführt werden darin: Villareto, Mentole, Fenestrella,
Uxello, Balbotera, Porrera, Frassenaund Pratageladousque ad Petram Sextariam (Sestriere), wenige Jahre später wurden in La Ruä (Pragelato), Ucello
(Usseaux),Fenestrelleund Mentole (Mentoulles) die ersten Kirchen errichtet.
Jenseits des Alpenkammes, nicht weit von Pragela entfernt, begann das
Reich der Burgunder, die von den Römern als Foederatenan Saöneund Rhöne angesiedelt worden waren. In den Wirren nach dem Tod der tatkräftigen
Markgräfin Adelheid von Turin im Dezember 1091 besetzte ein burgundischesAdelsgeschlecht, die Grafen von Albon, das Tal Pragela und den obersten Abschnitt des Susa-Tales.Aus dem Rhönetal stammend, hatten sie sich
auf dem Rücken der Alpen ein Herrschaftsgebiet aufgebaut, das als Teil des
arelatischenKönigreiches durch König Konrad II. zwar dem deutschenReich
angegliedert,von den Grafen aber eigenständigregiert wurde. Der in ihrer Familie übliche Name Dauphin wurde zu ihrem dauernden Titel und das ihrer
Gewalt unterstehendeGebiet zur Dauphine. Im Jahre 1039 fügten sie das Brianconnais ihrem Reich hinzu, ein Gebiet, das den Oberlauf der Durance und
ihrer Zuflüsse umfasste. Briancon, in 1.326 m Höhe am Fuße des Mont Genevre gelegen, war eine wichtige Etappe für den Handel. Nicht nur die alte
Straße, die Oberitalien mit der Provence verband, führte über Briancon, hier
zweigte noch ein anderer transeuropäischerHandelsweg ab, der über Lyon bis
in die Niederlande führte. Briancon war aber auch der wichtigste Marktort für
die Bewohner der umliegenden Hochtäler und Sitz der delfinatischen Verwaltung. In der Dauphine lebten im 13. Jahrhundert adlige Familien wie Les
Bermonds, les Rambaudsund les Bruns, Namen, die später auch im Tal Pra-
34 Archiv für hessischeGeschichte65 (2007)
ZUR HERKUNFT DER SÜDHESSISCHEN WALDENSER
gela auftreten.
Auch die Vorfahren der Bergoints müssen Burgunder gewe-
sen sein.
Bald nach der Jahrtausendwende verdichtete sich die Bevölkerung, wie in
weiten Teilen Mitteleuropas, auch in den Westalpen. Daraus entwickelten
sich Konflikte mit geistlichen Stiften, die ausgedehnte, von ihnen aber nicht
bewirtschaftete Gebiete innehatten. Von Existenznot angetrieben, besetzten
Bergbauern Ländereien, die ihnen nicht gehörten. Es kam zu Streitigkeiten,
die mit dem Vorgehen der Schwyzer gegen das Kloster Einsiedeln und der
Umer gegen das Kloster Engelberg vergleichbar sind 4 Der gemeinsame
Kampf gegen die Ansprüche der katholischen Kirche förderte den Zusammenhalt der Talbewohner. Sie schlossen sich zu Verbänden zusammen, die
ihre Anspruchszonen gegeneinander abgrenzten. Seit Mitte des 13. Jahrhunderts erscheinen sie in Urkunden als universitates oder communitates; sie umfassten jeweils eine ganze Reihe von kleinen und größeren Siedlungen
mit
den dazugehörigen Weiden und Wäldern, die sich bis auf den Kamm der das
Tal begrenzenden Bergzüge erstreckten. Die Entstehung solcher Kommunen
war keineswegs eine Besonderheit der Alpentäler, in fast allen Teilen Mitteleuropas kam es vom 11. Jahrhundert an zur Ausbildung von
Gemeinden",
die sich auf genossenschaftlicher Basis weitgehend unabhängig von ihren
Feudalherren eigenständig verwalteten. In Piemont waren dies die sog.
Comuni", kleine Stadtrepubliken, die sich gegen jede übergeordnete Bevormundung wehrten. Zu diesen Comuni zählte die 1198 gegründete Stadt Cuneo im
Süden Piemonts. Auch in den benachbarten Tälern der Kottischen Alpen bildeten sich ländliche Kommunen. Jede dieser Kommunen hatte ihre Statuten,
die auf die örtlichen Gegebenheiten abgestimmt waren, sie enthielten aber
auch unspezifische Regelungen, die, wie Bätzig5 vermutet, von den Statuten
der Stadt Cuneo abgeschrieben sein könnten. Ihr Oberhaupt wurde als
Consul" bezeichnet und jährlich auf einer Versammlung aller Bürger gewählt 6 Im
nordwestlich von Cuneo gelegenen Maira-Tal schlossen sich z. B. alle örtlidella Valle Maira" zusammen, um ihre
chen Kommunen zur Communitä
PIERREVAILLANT, Les CommunautesBriangonnaisesau XIII. Sii cle, in: Biblotheque de I'Ecole
chartesCXX\', Paris 1968, S. 320.
{ HANSNABHOLZ,Eine Eidgenossenschaftin der Dauphine, in: Eine Festgabefür Hans Türler,
Historischer Verein Bern, 1931,S. 20.
5 BATZIG,Die Alpen (wie Anm. 2), S. 253.
c Obwohl diese Bezeichnung Erinnerungenan die Antike hervorruft, hat
sie der Sachenach nichts
mit den römischen Konsuln zu tun.
Archiv für hessischeGeschichte65 (2007) 35
BRIGITTE KÖHLER
Selbständigkeit besser gegenüber ihrem Feudalherrn, dem Markgrafen von
Saluzzo,verteidigen zu können.
Auch in den Tälern des Brianconnais und in den Hochtälern von Chisone
und Doria Riparia entstanden communitates. Im Tal Pragela waren es sechs
Sie verGemeinden, die sich zu einer sog.
zusammenschlossen.
Talschaft"
walteten sich selbst nahezu unabhängig von feudalen Herren. Daniel Bonin
les Usages et l'administation economique de la
hat ein
consernant
Memoire
Valee de Pragela" überliefert, das zwar aus der Zeit nach 1713 stammt, aber
7 Daraus
kaum
für
die
Jahrhunderte
wohl
verändert auch
zuvor gilt.
entnehmen
wir: Das Oberhaupt der Gemeinden wurde als Consul bezeichnet, ihm zur
Seite standen Conseillers, die zusammen mit dem Secretaire den Conseil bildeten. Consul und Conseillers wurden alljährlich auf einer Versammlung aller
Familienvorstände (chefs de famille) geheim gewählt. Wahlvorschläge kamen
aus dem Conseil selbst, aber auch aus der Versammlung, es galt die einfache
Mehrheit. Der Consul blieb nur ein Jahr im Amt und durfte erst nach 5 Jahren
wieder gewählt werden; die Conseillers hatten ihr Amt meist längere Zeit inne, ebenso wie der Secretaire, der für den Schriftverkehr, die Eintragungen in
das Grundbuch etc. zuständig war. Das Amt des Consuls stand in höchstem
Ansehen, allerdings konnte nicht jeder es sich leisten, Consul zu werden; dem
Consul standen nämlich während seiner Amtszeit keine außerplanmäßigen
Mittel zur Verfügung; er hatte derartige Ausgaben aus eigener Tasche zu bezahlen und bekam sie erst nach Ablauf seines Amtsjahres zurück, nachdem
der Conseil die Notwendigkeit geprüft hatte. Verschiedentlich kam es dabei
zu langwierigen Prozessen, wenn sich der Conseil weigerte, die Auslagen des
Consuls zu übernehmen. Dem Conseil oblag auch die Bewirtschaftung des
umfangreichen Gemeindebesitzes, der aus Wald, Weiden, Wasser, Wegen,
Brücken etc. bestand, er übte die niedere Gerichtsbarkeit aus und organisierte
im Notfall die militärische Verteidigung durch eine Landmiliz, der alle 18-56
Jahre alten Männer angehörten. Darüber hinaus gab es in jeder Siedlung so
genannte Mansiers", Männer mit Polizeifunktionen (agenti di polizia) die vor
Ort für Recht und Ordnung sorgten; sie waren notwendig, weil viele Siedlungen im Winter oft monatelang von der Außenwelt abgeschnitten waren. Die
Mansiers riefen die Bewohner zusammen, wenn Probleme besprochen, Hirten
und Flurschützen ernannt oder Arbeiten durchgeführt werden mussten, die im
DANIELBONIN,Urkunden zur Geschichteder WaldensergemeindePragela, Band I, Magdeburg
1911,S. 3-15.
36 Archiv für hessischeGeschichte65 (2007)
ZUR HERKUNFT DER SÜDHESSISCHEN WALDENSER
allgemeinen Interessenotwendig waren. JedesMitglied der Gemeinschaft war
verpflichtet mitzuarbeiten, wenn es galt, Schneezu räumen, Wasserleitungen,
Brücken und Wege zu reparieren u.a. Die Mansiers sorgten aber auch für die
Einhaltung der Dorfordnung, die es, wie auch in deutschenLändern, in jedem
Dorf gab.8
Naturgemäß kollidierte das Unabhängigkeitsstreben der Gemeinden mit
den Interessen der Grafen von Albon, die im Besitz zahlreicher feudaler
Rechte waren. Durch ein Hochwasser der Isere im Herbst 1219 wurde jedoch
ihr gesamtes Archiv in Grenoble vernichtet, die Folge waren rechtliche Unsicherheiten. Im Jahre 1265 ließ der Dauphin für Steuerzwecke eine Namensliste seiner Untertanen anfertigen, die im Staatsarchiv in Grenoble aufbewahrt
wurde. 1755 fertigte der Sekretär der Gemeinde Pragela eine Abschrift davon
an, Daniel Bonin, der 1905 die Täler seiner Vorfahren besuchte, schrieb sie ab
und veröffentlichte sie im ersten Band seiner Urkunden zur Geschichte der
Waldensergemeinde Pragela. Auffallend ist die häufige Verwendung von Allemandi oder Allemani als Zusatzname, wie z. B. Bernardus Allamandi, Joannes Alemandi, eine Bezeichnung, die darauf hinweist, dass es sich um Zuzügler aus Germania del Sud handelte Niederholt kommen auch die Beinamen
.9
Bergons (Burgunder) und Lombard (Langobarde) vor, auch die Gaydouls haben germanische Wurzeln ebenso wie die Lantelmes, die Bermonds, die Berts
und andere mehr.
Als Graf Humbert II., der durch seinen luxuriösen Lebenswandel in Schulden geraten war, die Steuern erhöhen wollte, stieß er auf den geschlossenen
Widerstand aller Gemeinden im Umkreis von Briancon. Statt sich seiner Anihm
fügen,
sie
zu
schickten
einen Beschwerdebrief, in dem sie auf
ordnung
ihre alten Rechte pochten und ihrerseits Forderungen stellten. Ohne ihre angeblichen Rechte genauer prüfen zu lassen, willigte der Dauphin in einen fast
völligen Ausverkauf seiner Feudalrechte ein und unterzeichnete am 19. Mai
1343 ein Abkommen mit den Gemeinden des Brianconnais, die so genannte
5. Mai
Transactio generale, der sich durch ein besonderes
am
Affictementc10
1344 auch die Gemeinden des Tales Pragela anschlossen. Alle bisher vom
Dauphin geforderten Feudallasten wurden abgelöst durch eine Summe von
Tradizioni, usi, costumi e folklore del vecchio Pragelatoe Alta ValchiGUIOT-BOURG,
ERNESTO
sone, Pinerolo oJ.
9 OSVALDOCOISSON,
I nomi di famiglia delle walle valdese,Torre Pellice 1975, S. 14.
10THEO KIEFNER,Die Privilegien der nach Deutschland gekommenen Waldenser, Bd. 1, S. 80,
Stuttgart 1990.
Archiv für hessischeGeschichte65 (2007) 37
BRIGITTE KÖHLER
12.000 Goldgulden - von den Gemeinden ausdrücklich als donatio" deklaGerichtsGold-Dukaten.
Die
Hohe
4.000
jährliche
Rente
von
eine
riert - und
barkeit blieb weiter dem Landesherrn vorbehalten, im übrigen aber durften
die Gemeinden frei über ihr Eigentum verfügen und ihre althergebrachte
Form der Selbstverwaltung behalten. Sie waren fortan libre, franc ei bourden
ihrem
Rücken
hatten,
Landesherrn
die
das
Recht
freie
Bürger,
seiner
gois,
Hand zu küssen,sich also nicht vor ihm niederbeugenmussten.Einige der 33
Artikel der Transactio lassen erkennen, was den Gemeinden so wichtig war,
"
hatten.
dasssie die gesetzlicheAbsicherung verlangt
Art. 17 enthält das Recht, de construire des canaur pour arroser leurs terdroit
le
d'usage
de
I'eau
torrents
rivieres
sans
payer
ei
avoir
res, prendre
auY
ni au Dauphin Humbert, ni ä ses heritiers ou successeurs. Die Bewässerung
Äckern
von
und Wiesen war für das im Sommer sehr trockene Gebiet von
großer Bedeutung und offenbar seit langer Zeit üblich. Erste Belege über
Wiesenbewässerung in den Alpen stammen aus dem 10. Jahrhundert. '"
Art. 18 verbietet Adligen und Beamten des Dauphin, in den Wäldern der
Gemeinden Holz für ihre Zwecke einzuschlagen, weil das Abholzen von
Wald Erosionen, Vermurungen und Lawinen zur Folge hätten - für Werner
Bätzig in seinem grundlegenden Werk über die Alpen13 ein Beispiel für das
ökologische Bewusstsein der Bergbauern schon im Mittelalter. Die Gemeinden selbst schützten ihre Wälder und Weiden gegen Übernutzung durch ihre
eigenen Ordnungen. Einige solcher regolamenti ed ordinanze einessi dall'assemblea di capifamiglia della conununitä di Mentoulles über die Nutzung von
Wald und Weiden, aufgestellt zwischen 1515 und 1549 und vom Sekretär der
Gemeinde in ein Heft geschrieben, sind durch glückliche Umstände erhalten
'4
geblieben.
Art. 22 besagt, dass ecrivains, greffiers, notaires, receveurs und collecteurs
einen Treueid gegenüber dem Landesherrn, dem Seigneur Dauphin, und der
Communaute abzulegen haben. Für die Bediensteten der Gemeinde, wie den
garde-route (Straßenwart), garde forets (Waldschütz), gard-champetre (FeldFERNAND CARLHIAN-RIBOIS, La Grande Charte des Libertes Briangonnaises in: Laus Escartoun,
Pinerolo 1998, S. 4246.
12HEINZ BORMUTII,Zur Wiesenkultur im Bauland, Odenwald und an der Bergstrasse,in: Der
Odenwald47. Jg. (2000) Heft 2, S. 48.
13WERNERBATZIG,Die Alpen (wie Anm. 2), S. 48.
14Ezio MARTIN,II Codice Gouthier, in: Bolletino della Societä Storica Pineroleses,Pinerolo 1994,
Nr. 1-2.
38 Archiv für hessischeGeschichte65 (2007)
ZUR HERKUNFT DER SÜDHESSISCHEN WALDENSER
schütz),garde troupeau (Hirten), garde-caneaux(Wasserwart), genügte dagegenein einfacher Schwur vor der Gemeindeversammlung.Weitere Artikel betreffen den Handel: Kein Beamter des Dauphin oder andere Adlige durften
die Tragtiere von Kaufleuten oder anderen Reisenden beschlagnahmenund
fortführen. (Art. 24). Alle Einwohner durften mit ihren Waren und Tieren unbis
Avignon
und zurück reisen (Art. 32). Sie waren dabei von
nach
gehindert
allen Weltzöllen ausgenommen,mit Ausnahme der Abgaben für Schafherden
(Art. 33).
Der Handel über den Mont Genevre (1.850 m), dem bequemsten Alpenpass
Südfrankreich,
Oberitalien
hatte mit der Exilregierung der
und
zwischen
Päpste in Avignon Anfang des 14. Jahrhunderts erheblich zugenommen.
Avignon wurde zu einem der bedeutsamsten Handelszentren Europas und
Warenumschlagplatz
zwischen Italien und Flandern, den beiwichtigsten
zum
den gewerbereichsten Ländern der Zeit. Gewandte Kaufleute konnten in
Avignon ohne großes Risiko ein Vermögen machen. Doch auch Bergbauern,
die Tragtiere, Esel, Maultiere oder Pferde hielten, und junge Burschen, die
Säumerdienste leisteten, profitierten vom Handel. Es waren vermutlich vor allem Kaufleute, die die als Geschenk" für den Dauphin deklarierte Summe
Golddukaten
denn
12.000
zusammenbrachten,
sie hatten größtes Interesse
von
Handel
nach Avignon. Auch Kaufleute, die in der Gemeinam ungehinderten
de Pragela lebten, hatten daran Anteil - davon zeugen noch heute einige stattliche Häuser, darunter eines in Soucheres hautes, an dem Teile einer sehr aufdie
die
Bemalung
Mitte
des
14. Jahrhunderts dazu
sehen
sind,
auf
wändigen
'5 Die jährlich am 2. Februar
zu zahlende Geldsumme wurde getiert werden.
(frz.
Bewohner
das
Gebiet
in
4 Escartons
umgelegt
escarter)
und
alle
auf
recht
Queyras, Chateau Dauphin, Briancon und Oulx - eingeteilt; nach Einfühdas Tal Pragela als eigener Escarton von
Reformation
der
spaltete
sich
rung
dem überwiegend katholischen Oulx ab. Zusammen bildeten sie den
Grand
Escarton de Briancon", der auch als Republik der Escartons", von Bätzig als
von Briancon" bezeichnet wird.
Bund
1349 verkaufte Graf Humbert II., der keinen Nachfolger hatte, sein Land an
den König von Frankreich mit der Bestimmung, dass es jeweils vom ältesten
Sohn des Königs, seither Dauphin genannt, als besonderes Gebiet verwaltet
in
Personalunion
Frankreich
mit
nur
vereinigt werden sollte.
und so gleichsam
"G. B. BERT,Prapelato- Note storiche e ceograftche,Pinerolo 1915,S. 24.
Archiv für hessischeGeschichte65 (2007) 39
BRIGITTE KÖHLER
Die Bürger des Grand Escarton de Briancon sträubten sich jedoch so lange ihihre
ihnen
Privilegien
bis
den
Treueid
Landesherrn
er
zu
schwören,
rem neuen
Herrscher;
bestätigt
hatte.
Desgleichen
späteren
auch
alle
verfuhren
schriftlich
Französischen
bis
des
Brianconnais
die
Rechte
blieben
diese
Weise
zur
auf
Revolution hin erhalten. Allerdings wurde das Gebiet durch den Frieden von
Utrecht 1713 auseinander gerissen und die drei östlich des Alpenkammes gelegenen Escartons Chateau Dauphin, Pragela und Oulx dem Herzogtum Sabestätigte
28.
III.
Juni
Emanuel
Karl
König
am
voyen-Piemont zugeschlagen.
1737 die Rechte der Pragelaner, verlangte dafür jedoch die Zahlung von
14.000 piemontesischen Pfunden, eine große Summe, die die Talbewohner
ihrer Freiheit zuliebe mit großer Mühe zusammenbrachten.
Bald nach 1200 begann die Verfolgung der von einem reichen Kaufmann
in Lyon, später als Petrus Waldus bezeichnet, um 1177 ins Leben gerufenen
Lyon". Der Legende nach sollen sich damals einiBewegung der
von
Armen
ge von ihnen im Tronceatal, dem unwirtlichsten Teil der Gemeinde Pragela,
16Nach heutiger Auffassung kam der Hauptzustrom von
haben.
niedergelassen
Waldensern jedoch aus Oberitalien, wo die lombardischen Waldenser sich
ausgebreitethatten. Die zahlreichen Verurteilungen durch die Inquisition wedass
im
Teile
14.
Jahrhundert
darauf
lassen
große
schließen,
gen valdesia"
der Bevölkerung der waldensischen Bewegung angehörten.17Mehrfach war
das Tal Pragela Schauplatzmilitärischer Unternehmungenzur Ausrottung von
Ketzern. Das führte zu Verlusten unter den Talbewohnern durch Tod oder
Emigration, aber nicht zur Vernichtung ihrer Bewegung.
Als 1555 reformierte Pfarrer, von Calvin aus Genf geschickt, in Fenestrelle,
Usseauxund Pragela, den drei oberstenTalgemeinden, zu predigen begannen,
fanden sie sogleich großen Rückhalt in der Bevölkerung. Innerhalb von knapp
drei Jahren gab es hier kaum noch Katholiken; in den in
umgewanTempel"
delten Kirchen hielten reformierte Pfarrer ihre Gottesdienste ab, die katholischen Geistlichen, meist junge, schlecht ausgebildete Vikare, verschwanden
den
für
die
Kirchengütern
die
Einkünfte
aus
wurden
nun
stillschweigend, und
Wandel
Gemeinden
Dieser
verwendet.
abrupte
gewordenen
protestantisch
bezeichnen,
Revolution"
ihn
könnte
meint
als
auch
man
protestantische
16Ebd. S. 27.
17DANIELETRON,Die Waldenser im Chisonetal vom 13. bis zum 18. Jahrhundert,in: ALBERTDE
LANGE(Hg.), Dreihundert JahreWaldenser in Deutschland- Herkunft und Geschichte,Karlsruhe 1998.
40 Archiv für hessischeGeschichte65 (2007)
ZUR HERKUNFT' DER SÜDHESSISCHEN WALDENSER
Giorgio Thoum18- war nur möglich infolge der massiven Unterstützung der
Genfer Pfarrer durch die waldensischeBevölkerung.
Die reformierte Kirche erfüllte ganz offensichtlich das Bedürfnis der Bewohner nach wahrem Christentum, gegründet allein auf die Worte der Bibel.
Zudem kam die Kirchenordnung der Calvinisten mit ihren demokratischen
Elementen der Wesensart und dem Herkommen der Pragelaner sehr entgegen.
der reformierten Kirchengemeinde wurde,
Das
der
kommuwie
Consistoire"
nale Conseil", aus den eigenen Reihen gewählt; anstelle einer einzelnen Person war jetzt die aus Vertretern aller Gemeinden zusammengesetzte Synode
das oberste Entscheidungsgremium. Conseillers, Echevins
und Anciens arbeiteten eng zusammen, wichtige Angelegenheiten wurden
von Conseil und
Consistoire gemeinsam beraten und beschlossen, das geschah
später auch in
der neuen Heimat, wie aus einem Dokument vom 18. Januar 1722 hervorgeht:
Les messieurs les anciens de la Colouie de Rorbach et Haan,
conionteinent
avec les messieurs du coseil etablis pour le governement de la coinmunaute et
autres deputes des trois censes dun part e umpart d'autre. 19
Die reformierten Pfarrer spielten auch im politischen Leben eine führende
Rolle, meist waren es Söhne des Tales, die auf den Akademien in Genf und
Die/Dauphine studiert hatten. Das französische Parlament in Grenoble bezeichnete das Verhalten der Pragelaner als aufrührerisch, die öffentliche
Ordnung durcheinander bringend, rebellisch und dem König ungehorsam"
und befahl eine Strafexpedition in das Tal Pragela; aber der plötzliche Tod
von König Franz II. im Jahre 1560 verhinderte die Ausführung. In den tiefer
gelegenenTalgemeinden geschahdie Einführung der Reformation unter militärischem Druck. Angetrieben durch den Prior und den Kastellan des Tales,
riefen die Consuln von Mentoulles und Roure ihre Gemeinden zum Widerstand auf, der aber wurde durch protestantische Truppen schnell gebrochen.
Von 1562 an gehörten nahezu alle Bewohner des Tales der reformierten Kirche an, und alle Versuche der katholischen Kirche, ihr Terrain zurück zu erobern, blieben für mehr als hundert Jahre ohne Erfolg - eine Entwicklung, die
einmalig in ganz Frankreich war. Das von König Heinrich IV. 1598 erlassene
Edikt von Nantes, das den Reformierten in ganz Frankreich unter gewissen
Bedingungen Religionsfreiheit gewährte, bedeutetefür die reformierte Kirche
Is GIORGIO'DIOURN,Il Valdismo e il Protestantesimonelle Valli, in: Lous Escartoun, Pinerolo
1998,S. 160 ff.
19Gemeinde-Archiv Rohrbach11,1,4,2.
Archiv für hessischeGeschichte65 (2007) 41
BRIGITTE KÖHLER
im Tal Pragelaeinen Rückschritt. Die Pragelanerwehrten sich aber lange Zeit
Änderung
bestehenden
Verhältnisse.
der
die
Erfolg
gegen
mit
Auch in den Pragela unmittelbar benachbartenpiemontesischenTälern von
Germanascaund Pellice, in denen ebenfalls von alters her viele \Valdenser
lebten, hatte die reformierte Kirche Fuß gefasst.Nach dem Frieden von Chateau-Cambresis,der 1559 den Krieg zwischen Frankreich und Spanien beendete, versuchte Herzog Emanuel Philibert I. von Savoyen-Piemontdie Häretiker in seinem Land auszulöschen.Doch die \Valdenser griffen zu ihren Waffen und setzten sich zur Wehr, unterstützt durch die von Pfarrer Martin Tachard mobilisierte Landmiliz der Gemeinde Pragela. Sie mischte sich mit solden
kurzer
Zeit
\Valdass
der
Herzog
in
die
Kämpfe
Gewalt
nach
ein,
cher
densern Frieden anbot und ihnen mit dem Vertrag von Cavour 1561 die Ausübung ihrer Religion hoch oben in ihren Bergen erlaubte. Damit durchbrach
festgelegten
Augsburg
im
den
Konzil
katholischer
Fürst
von
erster
er als
Grundsatz cuius regio, eius religio".
Der Kampf für den gemeinsamenGlauben schloss die Waldenser auf beiden Seiten der Landesgrenzezu einem festen Block zusammen; sie bildeten
von nun an eine eigene kleine Kirche, die sich als Waldenserkirche bezeichder
franzöihr
Glaubensbekenntnis
ihre
Kirchenordnung
und
nete, obwohl
1561
21.
Januar
Am
Kirche
versammelten sich
entsprach.
sisch-reformierten
in
den
Bergen
Podio
\Valdenser
französische
von
und
und
piemontesische
versprachen sich gegenseitige Unterstützung. Ihre Waffenbrüderschaft bewährte sich in den bald folgenden Kriegen zwischen Katholiken und Hugenotten auf französischemGebiet und bei dem Feldzug, den der protestantische
Heerführer Lesdiguieres 1592-1597gegen Savoyen-Piemontführte. Aus politischen Gründen mussten sich die Pragelaner allerdings 1598 der französichdie
den
Beziehungen
der
Dauphine
Kirche
zu
engen
anschließen;
reformierten
die
jedoch
bestehen.
blieben
Auch
Glaubensbrüdern
okzitapiemontesischen
im
Umgang
das
das
Patois,
Sprache,
sprachen, versie
persönlichen
nische
band sie miteinander.
Mit dem Übergang der gesamten Talbevölkerung zur reformierten Kirche
20
Gebiet
Die
Wandel
tiefgehender
ein
auf
soziokulturellem
auch
ein
setzte
Erträge aus dem umfangreichen Besitz der katholischen Kirche wurden nicht
für
die
Gein
Oulx
die
Prevostura
bisher
eigenen
sondern
abgeführt,
an
wie
20 GIORGIOTIIOURN (wie Anm. 18), S. 167.
42 Archiv für hessischeGeschichte65 (2007)
ZUR HERKUNFT DER SÜDHESSISCHEN WALDENSER
meinden verwendet. Zwar blieb die katholische Kirche zunächst nominell im
Besitz ihrer Güter, bald aber war sie aus Geldmangel gezwungen, Kirchengüter öffentlich zu versteigern, um die jahrelangen Kriege zwischen Katholiken
und Hugenotten in Frankreich mit zu finanzieren. Das geschah auch andernorts in Frankreich, zum Teil sogar mit päpstlicher Genehmigung. Um die von
ihm geforderten Abgaben bezahlen zu können, musste der Prior
von Mentoulles 1570 in die Versteigerung kirchlicher Güter an Privatpersonen
einwilli` Nach seinem Sieg über die katholischen Truppen in der
Dauphine begen.
schlagnahmte der protestantische Herzog von Lesdiguieres kurzerhand Güter
der katholischen Kirche und überschrieb sie dem Pfarrer der Gemeinde Pragela, Claude Perron, als Dank für seine Hilfe und Unterstützung im Kampf
gegen katholische Truppen. Die Einkünfte des Priorates von Mentoulles wurden
zur Bezahlung von 5 reformierten Pfarrern verwendet 22Calvins positive Einstellung zu Gelderwerb, Arbeitsamkeit und einfacher Lebensweise beeinflusste, wie in weiten Teilen Europas und Amerikas, auch die wirtschaftliche Entwicklung im Tal Pragela. Die Rückkehr der seit Jahrhunderten von der katholischen Kirche blockierten Grundstücke auf den privaten Markt bewirkte
ein
Anwachsen der Geldzirkulation und als Folge davon ein Aufblühen der lokalen Ökonomie. Es entstand eine neue soziale Klasse, die sich aus Grundbesitzern und Kaufleuten zusammensetzte, zu denen sich Notare, Ärzte, Lehrer
und Pfarrer gesellten. Sie bildeten eine Oberschicht, die verwandtschaftlich
eng miteinander verbunden war. Aus ihren Reihen stammten die Konsuln
ebenso wie die Sekretäre der Gemeinden, meist studierte Juristen, die für Verwaltung und Finanzen zuständig waren. Pfarrer Jacques Papon, um 1620 in
Pragela geboren, war der Sohn eines Notars, drei seiner Brüder waren Kaufleute; Pfarrer Claude Perron, der Streiter für die Einführung der Reformation
im Tal Pragela, hatte zumindest 4 Söhne, von denen drei als
notaires royals"
in Pragela lebten, der vierte als Advokat bei der Provinzregierung in Grenoble. Die Kaufleute der Gemeinde Pragela hatten weitreichende Handelsbeziehungen. Aus Rechnungen, die in einem alten Bauernhaus in Plan (bei Traverde Prageses) gefunden wurden, geht hervor, dass Pierre Pastre,
marchand
21 BEDA E PIERCALO BONA PAZE, Riforma
e Cattolicesimo
1975, S. 82.
in Val Pragelato 1555-1685, Pinerolo,
u BRIGnTEKOtILER,Pfarrer Claude Perron Kämpfer für die Einführung der Reformation im Tal
Pragela,in: Die Waldenser- Spuren einer europäischenGlaubensbewegung,Bretten, 1999, S.
107-122.
Archiv für hessischeGeschichte65 (2007) 43
BRIGITTE KOHLER
la", um 1650 in Lyon Batist aus Cambrais, Stoffe aus Holland und Spitzen
Dieppe
Le
Havre
Puy,
einkaufte.
und
aus
Jean Guiot, der am 7. Januar 1672 in Soucheres basses (Pragela) starb, bein
Handelsniederlassung
hervorgeht,
Testament
eine
saß, wie aus seinem
Bayonne an der spanischen Grenze, wo er Spitzen und Borten verkaufen ließ,
die von Frauen und Mädchen in Pragela in Heimarbeit hergestellt wurden.
Guiot belieferte sie mit Garn, das er auf den Messen in Lyon einkaufte, und
Ware.
der
fertigen
die
Kosten
mit
verrechnete
An der Entstehung einer akademisch gebildeten Oberschicht hatte das
Schul-Systemder reformierten Kirche einen beträchtlichen Anteil. Einem Bedass
in
jePragela
die
Gemeinde
Paul
Appia
über
wir,
es
entnehmen
richt von
dem Dorf einen Schullehrer gab, der die Kinder während der Wintermonate
im Beten, Lesen und Schreiben unterrichtete, und zwar vom Morgen bis zum
Abend, nur am Samstagbis zum Mittag; außerdemgab es in jeder Gemeinde
Lehrer, die Arithmetrik, Orthographie und Katechismus unterrichteten. Die
Gemeinde Pragela hatte zudem einen besonderen Lehrer angestellt, der bedass
Griechisch
in
Schüler
Latein
sie anschließend
so
unterrichtete,
und
gabte
die Akademien in Genf und Die besuchenkonnten 24
Das älteste im Archiv der Gemeinde Pragelato noch vorhandene Grundkataster wurde 1573 begonnen und 1578 beendet. Da vermutlich nahezu alle
Mitglieder der Gemeinde zumindest einige Äckerchen in Besitz hatten, ließen
bisher
der
Familien
Namen
Zahl
daraus
Schlüsse
über
ziehen,
was
und
sich
Überliefert
Köhler
bearbeitet
Diethard
ist.
und
von
aber noch nicht geschehen
Heiraten
Taufen,
Gemeinde
Pragela
der
über
dagegen
die
Register
und
sind
2.5
Zu dieser Zeit lebten etwa 1.5001685
1674
Beerdigungen zwischen
und
2.000 Menschen in der Gemeinde Pragela. Etwa die Hälfte von ihnen gehörte
der
Häufigkeit
Familienverbänden,
6
geordnet - zu
nach
nämlich
großen
zu
den Familien Guiot, Griot, Pastre, Lantelme, Bonin und Passet, mit AusnahSteuerliste
in
der
1265
der
Lantelmes
von
noch nicht genannt.
sie
wurden
me
Nicht selten waren um 1680 auch Familien mit den Namen Bermond, Bert
in
für
Pragelato,
dieser
Namen
Die
Flott.
schon
sind
spezifisch
meisten
und
der benachbarten Gemeinde Usseaux herrschten ganz andere Familiennamen
23THEOKIEF7NER,
Die drei Testamentedes lean Guiot, in: Berichte aus der 1Valdcnserforschung,
hrsg. von Theo Kiefner, Calw, Nr. 14-16,1990/91.
24DANIELBONIN,Urkunden (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 242.
25DANIELBONIN,Urkunden (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 19-249.
44 Archiv für hessischeGeschichte65 (2007)
ZUR HERKUNFT DER SÜDHESSISCHEN WALDENSER
vor, was zeigt, dass im Allgemeinen nicht weit fort geheiratet wurde. Um
Verwechselungen zu vermeiden, wurden die Familien durch Beinamen gekennzeichnet, wie Guiot-Bourg, Pastre long, Pastre court, Bert Antoine etc. In
den Orten Roure und Mean, aus denen die Gründer von Walldorf stammen,
lebten vor allem Familien mit den Namen Bonin, Gay, Cezane, Revior
(=Reviol) und Tron, aus La Chapelle, direkt an der Grenze zu Piemont, kamen die Gaydouls. Insgesamt traten um 1680 sechzig verschiedene Familiennamen in Pragelato auf, was auf einen beachtlichen Zuzug von außerhalb hindeutet, aber auch darauf, dass viele Familien sich nicht auf Dauer halten
konnten. Die ersten Glieder der großen Familienverbände müssen schon viele
Generationen zuvor ansässig geworden sein und soviel Lebensraum gehabt
haben, dass auch Kinder und Kindeskinder im heimatlichen Dorf bleiben
konnten. 1578 trugen z. B. 13 von 23 Grundbesitzern in Pattemouche, einer
kleinen Siedlung in der Nähe von Traverses, den Familiennamen Bermond,
erst später taucht der Name vereinzelt in anderen Ortsteilen der Gemeinde
Pragela auf. Da der Name Bermond jenseits des Alpenkammes im Queyras
häufig vorkommt, ist anzunehmen, dass der erste Bermond in Pattemouche
von dort gekommen ist. Eine größere Gruppe von Jayme-Familien gab es um
1670 nur in dem Weiler Laval oberhalb von Traverses. Jayme ist die katalanische Form von Giacomo, möglich, dass sie ursprünglich aus Spanien kamen.
In Traverses selbst gab es so viele Guiots, dass Pfarrer Jean Guyot 1897 als er
den Ort besuchte, aus dem seinen Vorfahren stammten, zu hören bekam:
des Dorfes heißt hier Guiot". In Sestriere borgata herrschten daDreiviertel
gegen Lantelmes vor, die meist mehr Söhne als Töchter hatten. Wenn die
Mehrheit der Bevölkerung aus nur wenigen Stämmen besteht, muss man mit
einem hohen Grad an Inzucht rechnen; deren ungünstige Folgen wurden aber
aufgehoben durch die starke Selektion, die Klima und Lebensbedingungen im
Hochgebirge mit sich brachten. Die Menschen in Pragela waren sehr gesund
und zäh und erreichten ein hohes Alter, wenn man von den häufig vorkommenden Unfällen absieht. Durch die Lage im Hochgebirge oberhalb der so genannten Malaria-Grenze kam es in Pragela nicht zu so großen Seuchenzügen
wie in tiefer gelegenen Gebieten. Allein von der Landwirtschaft konnten nur
wenige der Familien leben; fast alle Männer verdienten auswärts noch Geld
hinzu, als Emtehelfer, Handwerker oder Händler, in Piemont oder jenseits des
Alpenkammes in Frankreich. Die lllanuspersonen it'ären in ihrem Land wohl
20 Meilen Wegs ausgegangen, inn einen Pfennig zu verdienen und den Ihren
Unterhalt zu verschaffen, sagte Pfarrer Papon bei den Verhandlungen zur Nie-
Archiv für hessischeGeschichte65 (2007) 45
BRIGITTE KÖHLER
derlassungvon Waldensern in Hessen;sie würden alles, was man von ihnen
begehrt, angreifen, und lernen, was sie nicht können.
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war das Tal Pragela mit ca. 8000 Bewohihre
kaum
Kinder
für
Familien
dass
noch
übervölkert,
sich
und
viele
nern so
durch
Religion
der
Verbot
Das
reformierten
Existenzmöglichkeiten
sahen.
König Ludwig XIV. von Frankreich 1685 war der Auslöser für einen Exodus,
2.0001687
1685
Zwischen
in
verließen
Frankreich
und
war.
einmalig
wie er
2.500 Menschen das Tal Pragela, mehr als ein Drittel der gesamten Bevölkein ihren Ländern
die
Hugenotten,
deutscher
Fürsten
Die
Einladungen
an
rung.
Zuflucht zu suchen, waren unter der Hand überall in Frankreich bekannt geim
Tal
Pragela
Hoffnungen
hochgespannte
hatten
auch
gemacht worden und
Gruppen
der
Emigranten
Die
Mehrzahl
zusamzu
großen
schloss
sich
weckt.
ihrer
Heimatgemeinden
Kolonien
im
Ausland
in
der
festen
Absicht,
zu
men,
Jacques
den
beiden
Pfarrern
Papon
Gruppen
dieser
Eine
von
wurde
gründen.
des propositions", den die Pfarrer
(Vater und Sohn) angeführt. In einem
Etat
deutschen Fürsten vorlegten, 26 forderten die \Valdenser, neben wirtschaftlikommunalen
die
ihrer
Religion
freie
die
Unterstützung
Ausübung
und
cher
Rechte ihrer Heimat; außerdem wollten sie unbedingt zusammen an einem
Ort leben, denn nur eine größere Kolonie konnte sich einen Pfarrer leisten. Da
hatten,
brauchder
Landwirtschaft
die
Pragelaner
ernährt
vor allem von
sich
ten sie für die erhofften Siedlungen umfangreiche Ländereien - die aber waren auch in deutschen Ländern kaum noch vorhanden. Der erste Versuch einer
Niederlassung in der Nähe von Erlangen (1686/87) schlug fehl, nachdem die
Gruppe durch nachträglichen Zuzug aus Pragela so angewachsen war, dass
das von Markgraf Ernst-Christian von Brandenburg-Bayreuth zur Verfügung
die
beiden
Pfarrer
Daraufhin
für
Land
zogen
alle
ausreichte.
nicht
gestellte
Papon mit etwa 350 Personen im Mai 1688 nach Kesselstadt bei Hanau und
Charlotte
Ysenburg-BüGräfin-Witwe
der
dort
von
aus
mit
von
verhandelten
dingen-Wächtersbach und anschließend mit Landgraf Ernst Ludwig von Hesin
hatten
29
ihre
Forderungen
sie
gesen-Darmstadt;
Anforderungspunkten"
der
junge
Verhandlungen
kurzen
Schon
unterzeichnete
nach
nau aufgeführt.
faveur de la Colonie vauLandgraf am 26. August 1688 eine
en
Declaration
doise", in der er fast alle ihre Forderungen berücksichtigte; zur Gründung ih4.000
Morgen
Land
bei
Geschenk"
ihnen
Kolonie
reines
stellte er
rer
als
26THEo KIEFNER,Privilegien (wie Anm. 10), S. 92.
46 Archiv für hessischeGeschichte65 (2007)
ZUR HERKUNFT DER SÜDHESSISCHEN WALDENSER
Arheilgen zur Verfügung. '-' Die beiden lutherischen Professoren der Landesuniversität in Gießen, Philipp Ludwig Hanneken und Kilian Rudrauff, gaben
28
ihr
Auflagen
Einverständnis
Gerade hatte ein Vortrupp der
unter gewissen
Waldenser auf dem Michelfeld bei Arheilgen die ersten Unterkünfte aufgeschlagen, begann Anfang September der Pfälzische Erbfolgekrieg, und die
Waldenser flüchteten vor den anrückenden Franzosen in die Gegend von Nidda. Im weiteren Verlauf des Krieges kehrten viele Flüchtlinge auf Einladung
des Herzogs von Savoyen in das vom Krieg verwüstete Piemont zurück, aber
bereits zehn Jahre später zwang der Herzog mit einem Edikt vom 1. Juli 1698
auf französischen Druck hin, alle ehemaligen Untertanen der französischen
Krone, sein Land zu verlassen, wollten sie ihrem Glauben treu bleiben. Dazu
gehörten auch die Waldenser, die unterhalb des Bee Dauphin, im sog. Perosatal, lebten, das 1630 von Frankreich besetzt worden war. Unter Führung ihrer
Pfarrer wanderten im September 1698 etwa 3.000 Waldenser über den Mont
Cenis-Pass nach Genf. Den Winter über gewährten ihnen die protestantischen
Kantone der Schweiz Asyl, aber im Frühjahr 1699 wurden sie unerbittlich abgeschoben. In großer Eile bereiteten ihre Pfarrer zusammen mit dem niederländischen Diplomaten Pieter Valkenier ihre Ansiedlung in Deutschland vor.
Im Namen seiner Glaubensgenossen bestand Pfarrer Jacques Papon, wie bereits 1688, auf freie Ausübung ihrer reformierten Religion und die kommunalen Rechte ihrer Heimat, wirtschaftliche Privilegien und Ländereien zur Gründung von Kolonien. Mit seiner
faveur des Vaudois" vom 22.
en
Declaration
April 1699 bestätigte Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt ihnen
die bereits 1688 gewährten Privilegien aber erst, nachdem England und die
Niederlande, vertreten durch Pieter Valkenier, finanzielle Unterstützung zuge29Dem Verhandlungsgeschick
hatten.
von Pieter Valkenier ist zu danken,
sagt
dass die Darmstädter Privilegien von anderen Fürsten im Wesentlichen unverändert übernommen wurden; am 28. April 1699 von Landgraf Friedrich II.
von Hessen-Homburg, am 15. Juli von Fürstin Elisabeth Charlotte von Nassau-Schaumburg, am 15. Juli von Graf Ferdinand Maximilian von Ysenburgn BRIGITTEKÖHLER,Die Waldenserprivilegien des Landgrafen Emst Ludwig
von HessenDarmstadt, in: AHG NF 38/1980, S. 181-234.
'sBRIGIT1EKÖHLER,Philipp Jakob Spener und die Aufnahme von Waldensern in Hessen-Darmstadt im Jahre 1688, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 54
(2003), S. 113-131.
BRIGITTEKÖHLER,Pieter Valkenier in Hessen,in: Pieter Valkenier und das Schicksal der Waldenserum 1700, Waldenserstudien,Bd. 2, Hrsg.: DeutscheWaldenser-Vereinigung,ÖtisheimSchBnenberg,2004, S. 175-200.
Archiv für hessischeGeschichte65 (2007) 47
BRIGITTE KÖHLER
Büdingen-Wächtersbachund am 4. Septembervon Herzog Eberhard Ludwig
von Württemberg, dessenLand unter dem Krieg sehr gelitten hatte. Die waldensischenPfarrer beschlossen,die Flüchtlinge aus dem Perosatalnach Württemberg zu schicken, die des Pragela-Talesnach Südhessen.
Im Mai 1699 versammelten sich mehr als 1.500 Waldenser in der Umgebung von Rüsselsheim in der Erwartung, die versprochenen Ländereien zugedie
kam
die
Verteilung
Nur
bekommen.
auf
vorgesehezögerlich
zu
wiesen
nen Orte in Gang. Etwa 400 Personen, die fast alle aus Bourcet und Villaretto
(Teilorte der Gemeinde Roure) stammten, sollten sich in Arheilgen bei Darmstadt niederlassen, fanden dort aber so unzureichende Verhältnisse vor, dass
sie im Sommer 1700 geschlossen nach Württemberg abwanderten. Eine zweite, fast gleich große Gruppe, ebenfalls aus der Gemeinde Roure, sollte sich
bei Mörfelden niederlassen; aber auch für sie waren nicht genügend Ländereien vorhanden und bald wanderten die meisten von ihnen auch nach Württemberg. Nur 14 Familien mit insgesamt 56 Personen blieben übrig, die Gründer
der später als Walldorf bezeichneten Kolonie südlich von Frankfurt. Auch andere Waldenser-Gemeinden des Tales Pragela konnten in Südhessen nur kleine Gemeinden gründen, 165 Waldenser, die meisten aus Mean, in Dornholzhausen (Hessen-Homburg), 52 Waldenser aus Fenstrelle in Charlottenberg
(Nassau Schaumburg) und 350 Waldenser aus Mentoulles (2/3) und Usseaux
(1/3) in Waldensberg (Ysenburg-Büdingen)
Nur die Mitglieder der WaldensergemeindePragela hielten trotz aller Widrigkeiten zusammen. Eine Niederlassung auf den öden Heiden zwischen
Raunheim und Rüsselsheim', wie sie der Landgraf angeordnethatte, scheiterte nach einem Jahr, schließlich blieb den Pragelanernnichts anderesübrig als
mit dem Landgrafen von Hessen-Darmstadteinen Erbleih-Vertrag über die
landgräflichen Höfe in Rohrbach, Wembach und Hahn abzuschließen,datiert
Während
die
Kolonien
den
März
1700.
Ländereien geschenkt
17.
andere
auf
bekamen - wobei es sich allerdings meist um schlechte Böden handelte mussten die Pragelanerjährlich eine sehr hohe Pacht in Form von Getreide
abliefern. Die Waldenser verpflichteten sich in solidum", d. h. als Gemeinschaft, für die ordnungsgemäßeAblieferung des Pachtgetreides aufzukomdie
ihrer
damit
Existenz
Kolonie, galt nur solange sie
Vertrag,
Der
und
men.
ihren Verpflichtungen nachkamen, er galt auch nur für Waldenser der Gemeinde Pragela und ihre männlichen Abkömmlinge, Deutsche durften sich in
der Kolonie nur mit Erlaubnis der Waldenser niederlassenund - bis zur Ablö-
48 Archiv für hessischeGeschichte65 (2007)
ZUR HERKUNFT' DER SÜDHESSISCHEN WALDENSER
sung der Erbpacht 1836 - kein Land besitzen; als Beisassen wurden sie zwar
vor allem in Wembach geduldet, lebten aber quasi in einem Ghetto, das als
30
bezeichnet
Eine Namensliste der Gründer von
Deutsch-Wembach
wurde.
Rohrbach, Wembach und Hahn ist nicht mehr vorhanden, wir wissen nur,
dass es insgesamt 240 Personen waren. Der Anfang war sehr hart und gelang
den
Unterstützungsgelder
Niederlanden, Pfarrer und Lehrer
durch
aus
nur
wurden bis Ende des 18. Jahrhunderts aus einem englischen Fonds bezahlt
(die so genannte englische Pension).
Dank der landgräflichen Privilegien von 1699 bildete die Waldenserkolonie
Rohrbach-Wembach-Hahn quasi eine winzig kleine französische Bauernreder
Landgrafschaft
innerhalb
Hessen-Darmstadt. Durch die Herstelpublik
lung von gewirkten Strümpfen kam die Kolonie in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts zu bescheidenem Wohlstand31; aber bereits 1792 begannen die
Koalitionskriege gegen Frankreich, die auch die Waldenser in Rohrbach und
Wembach-Hahn mit Kriegsfuhren und Abgaben schwer belasteten; übervoll
aber wurde das Maß ihrer Not durch die Steuern, die sie nach Aufhebung der
Steuerfreiheit 1806 zusätzlich zu der hohen Pacht bezahlen mussten. Trotz aller Proteste wurde ihnen 1820 die Benutzung der französischen Sprache in
Kirche und Schule verboten. Die 1821 erlassene hessische Gemeindeordnung
nahm ihnen weitere Privilegien. Die Not in der Kolonie wurde so groß, dass
32
der
Bewohner
1830
Teil
Amerika
Die Geum
nach
auswanderte
ein großer
bietsreform der 1970er Jahre nahm Rohrbach und Wembach-Hahn auch die
heute
Selbständigkeit,
Stadtteile
sind
sie
von Ober-Ramstadt. In
gemeindliche
den anderen südhessischen Waldenserkolonien verlief die Entwicklung ähnlich. Alle aber konnten in den Jahren 1999 bzw. 2000 das 300 jährige Jubilä33 Die Erinnerung
feiern.
Gründung
ihrer
an das Herkommen und das
um
Schicksal ihrer Vorfahren wird heute mehr denn je gepflegt.
Als einzige der deutschen \Valdenserkolonien sind Rohrbach, Wembach
ihrer
1974
Ursprungsgemeinde Pragelato verHahn
offiziell
mit
seit
und
30BRIGITTE
französischen Waldensern in Wembach, in:
KÖHLER,Deutsche als
unter
Fremde"
AHG NF 55/1997, S.181-234.
31BRIGITTE
KÖHLER,Über die Strumpfwirkerei in südhessischenWaldenserkolonien,in: Zu Kultur
21982.
Odenwaldes,
des
Breuberg
Geschichte
und
32 DIETIIARD UND BRIGITTE KÖHLER, Die Auswanderung einer Gruppe von Waldensem
Amerika im Jahre 1830, in: Der Odenwald, 22 (1975) 2, S. 51-54.
nach
33ALBERTDELANGE(Hg.), DreihundertJahre Waldenser(wie Anm. 17)
Archiv für hessischeGeschichte65 (2007) 49
BRIGITTE KÖHLER
3; Einmütig fasste der Gemeinderat von Pragelato am 15. August
schwistert.
1973 den Beschluss,eine Verschwisterung mit den drei deutschenWaldenserim
heißt
dass
PrageFreude,
Protokoll
wie
es
einzugehen
mit
großer
orten
lato einen Teil von sich selbst wieder gefunden hat, der seines 1i'esens ist,
trotz der großen Entfernung und der inzwischen verflossenen Zeit. Dass die
heute italienische Gemeinde rein katholisch ist und im 2. Weltkrieg unter Partisanenkämpfensehr zu leiden gehabt hatte, spielte dabei keine Rolle. Die damals noch selbständige Gemeinde Wembach-Hahn und die Stadt Ober-Ramstadt im Namen von Rohrbach stimmten sofort zu, und so konnte am 1. Juni
1974 auf den Wiesen von Laval ein Fest des Wiederfindens gefeiert werden.
Der Bürgermeister von Pragelato Alex Berton begrüßte die Gäste aus
Deutschland in der Spracheder gemeinsamenVorfahren: Amis chers de IVembach-Halm ei Rorbach! Pragela ei le coeur de tout les Prageloisfrenissent de
joie, remplis des sentiments les plus initmes. Voih unejoie, une superbe, :are
inoubliable page de noire Histoire!
x BRIGITTEKÖHLER,Die Verschwisterung Pragelatound Rohrbach-Wembach-Hahn,hrsg. v. Verein für HeimatgeschichteOber-Ramstadt,Ober-Ramstadt1985.
50 Archiv für hessischeGeschichte65 (2007)
Herunterladen