THEMA ■ NOCH EIN AMERIKANER IN PARIS? DER EINFLUSS DER EUROPÄISCHEN MODERNE AUF JOHN CAGE von Egbert Hiller Leseprobe aus: Neue Zeitschrift für Musik 2/2012 © Schott Music, Mainz 2012 ■ «Wenn man zum ersten Mal vom präparierten Klavier John Cages hört, mag zunächst eine gewisse Neugier, gepaart mit amüsierter Skepsis aufkommen.Vielleicht stellt man sich irgendeinen verschrobenen Erfinder vor, der seinen Ehrgeiz daransetzt, Klaviere zu verstimmen, und der dazu die Saiten mit einer Art metallischem Wildwuchs bepflanzt. Nimmt man ihn aber ernst, mag man an einen subtilen und ingeniösen Geräuschemacher denken, der mit dem Schlagzeug-Klavier neue Möglichkeiten eröffnet. Tatsächlich geht es beim präparierten Klavier aber um ein Infragestellen der akustischen Begriffe, die sich im Lauf der abendländischen musikalischen Entwicklung stabilisiert haben. Diesen Begriffen entsprechen Auffassungen, die sogar noch den radikalsten und entschiedensten Werken neuer Musik zugrunde liegen. John Cages präpariertes Klavier hingegen bietet anstelle dessen, was wir reine Töne nennen könnten, Frequenzkomplexe. Wir können übrigens für die Verwendung komplexer Töne bei Instrumenten, die in Zentralafrika gespielt werden, Entsprechungen finden, etwa bei den Sanzas. Damit stellt sich die Frage: Ist es möglich, dass die traditionelle Bildung, die wir erhalten – oder erlitten – haben, uns einer verfeinerten akustischen Wahrnehmung beraubt hat?»1 Als Pierre Boulez am 24. Juni 1949 im Salon von Suzanne Tézenas in Paris seine Einführung zu den Sonatas and Interludes für präpariertes Klavier von John Cage hielt, war die Welt zwischen dem französischen und dem amerikanischen Komponisten noch in Ordnung. Boulez war fasziniert von der Klangwelt Cages und erkannte scharfsinnig deren Potenzial für die Zukunft. Erst kurz zuvor hatten sich beide in Paris kennengelernt, und auch Cage fasste Boulez’ musikalisches Denken als Quelle der Inspiration auf. Einige Jahre kommunizierten beide intensiv miteinander, allerdings verflog die Begeisterung füreinander rasch, als ihre künstlerischen Ansätze mehr und mehr auseinander strebten. Gab es etwa bis 1952 markante Berührungspunkte, da auch Cage Rhythmus und Zeiteinheiten bis dato noch systematischer Kontrolle unterzog, so änderte sich dies, als er Zufallsverfahren in seine Kompositionen und in deren Ausführung einfließen ließ. Im Gegensatz dazu dehnte Boulez – wie auch Karlheinz Stockhausen – die strenge Systematisierung aus, indem er das Reihenprinzip auf alle musikalischen Parameter anwandte. Erst nach der schmerzlichen Erfahrung, dass allzu strenge Determinierung des Klangmaterials in Beliebigkeit und Selbstaufhebung umschlägt, räumten Stockhausen und Boulez den Interpreten größere Spielräume ein. Boulez tat dies vor allem in seiner 3. Klaviersonate von 1957, in der er dem Pianisten die Freiheit zugestand, sich durch Vertauschen der Sätze oder Überspringen markierter Abschnitte seine eigene Version anzufertigen – mit Cages Zufallsoperationen hatte das aber nicht viel zu tun. READYMADE UND 4’33’’ Der Kontakt mit Boulez stellte keinesfalls die einzige wichtige Verbindung Cages nach Europa im Allgemeinen und mit Paris im Besonderen dar.Weit mehr Einfluss auf sein schöpferisches Selbstverständnis hatten Pariser Künstler, die ein bis zwei Generationen älter als Boulez waren – denn obwohl Cage und weitere Vertreter der «New York School» wie Morton Feldman und Earl Brown in den 1950er Jahren eine Gegenposition zur europäischen Tonkunst einnahmen, knüpften sie an Traditionen der «Alten Welt» an; zumal an jene künstlerischen Ideen, die in der Zwischenkriegszeit aufkamen. Essenzielle Anregungen erhielt Cage von Marcel Duchamp, dessen Readymade-Konzept er auf die Musik übertrug: Die Geburtsstunde des Readymades schlug bereits 1913, als Duchamp mit seinem Fahrrad-Rad einen Gebrauchsgegenstand aus seinem gewöhnlichen Kontext herauslöste und als Kunstwerk deklarierte. Damit hob er hervor, dass die Identifizierung eines wie auch immer gearteten Objekts als Kunstwerk vor allem eine Frage der Wahrnehmung ist – und erst die Fokussierung der Wahrnehmung schafft gewissermaßen den Rahmen, dessen ein Kunstwerk benötigt, um als solches erkannt zu werden. Nichts anderes passiert in 4’33’’, worin Cage die Wahrnehmung, statt wie Duchamp auf Alltagsgegenstände, nun auf – zufällig auftretende – Alltagsklänge lenkte. Auch Cage konzentrierte die Wahrnehmung auf die Wahrnehmung selbst, gleichsam auf die Wahrnehmung der Wahrnehmung, wodurch die Rezipienten zwangsläufig auf sich selbst und mithin auf ihre Selbstwahrnehmung zurückgeworfen werden. Sie stehen, bildlich gesprochen, vor einer weißen Leinwand, die sie selbst füllen müssen. Außerdem wurden so Geschmacksfragen und die Beurteilung nach vorgeprägten Qualitätskriterien ausgehebelt. Die Vorbildfunktion Duchamps war Cage ebenso bewusst wie er, in Opposition zu Boulez und Stockhausen, die Bedeutung Eric Saties herausstellte. Cage war es auch, der Saties Vexations von 1893 uraufführte – jenes kurze schlichte Klavierstück, das 840-mal zu wiederholen ist, woraus sich eine Aufführungsdauer von circa zwanzig Stunden ergibt. Bereits der fran- 35 zösische Komponist hinterfragte eindringlich den traditionellen Werkbegriff, zumal mit seinem Konzept einer «Musique d’ameublement», einer bewusst als funktional apostrophierten Hintergrundmusik, die keinen Kunstanspruch erfüllen soll. Dieses Denken korrespondiert wiederum mit Marcel Duchamp, der sich polemisch gegen die «Heiligsprechung» der Kunst, wie sie für das 19. Jahrhundert bestimmend war, wandte. «NICHTS HAT MAN IN SICHEREM BESITZ» Cage zog daraus weitreichende Konsequenzen, indem er die unbedingte Verhaftung im Augenblick propagierte und spitzfindig auf dem «Nichts» insistierte: «Für ein Etwas braucht man Kritiker, Kenner, Urteile von Autoritäten, andernfalls wird man beschwindelt; aber für Nichts kann man all diesen Schnickschnack entbehren, niemand verliert Nichts, denn nichts hat man in sicherem Besitz.Wenn man nichts in sicherem Besitz hat, ist man frei, jedes Etwas zu akzeptieren…»2 Das «Nichts», wie Cage es verstand, schloss zum einen poetische Qualitäten ein, zum anderen war es für ihn eine Quelle tiefer Spiritualität – worin sich nicht nur seine enge Verbundenheit mit dem Zenbuddhismus, sondern auch mit dem «Abstrakten Expressionismus» in der bildenden Kunst offenbarte. Dass er die Selbstverantwortlichkeit der Klänge zudem vom idealistischen Freiheitsdenken der amerikanischen Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau ableitete, steht dazu nicht im Widerspruch. Gemahnen bereits rein auf Farbfeldern basierende Bilder wie Mark Rothkos Rust and Blue (1953) an spirituell-metaphysische Ebenen, so führte Robert Rauschenberg diesen Ansatz mit seinen White Paintings ins Extreme. Cage sah diese «weißen Bilder» als Verkörperung des Zen an. Auch wenn der «Abstrakte Expressionismus» in der Malerei des 20. Jahrhunderts eine amerikanische Strömung war, knüpften seine Protagonisten gleichfalls an die europäische Moderne an, die sie für sich umdeuteten. Bezugspunkte waren Oskar Kokoschka, die Maler der Künstlergruppe «Die Brücke» und vor allem Wassily Kandinsky, der das Weiß in metaphysischem Sinne als das «große Schweigen» charakterisiert hatte. In der Malerei wie in der Musik wurde das Nichts sinnlich erfahrbar gemacht. Die Leere im Bild als räumliches 36 Nichtsein entspricht der Pause in der Musik als zeitliches Nichtsein – wobei dieses Nichtsein keine Leerstelle markiert, sondern für eine erfüllte Stille steht. Und der Dualismus von Sein und Nichtsein verweist unmittelbar auf existenzielle Dimensionen. ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE Dass Cage nachhaltig von der bildenden Kunst beeinflusst wurde und in seinem Schaffen selbst immer wieder die Grenzen zu außermusikalischen Ausdrucksformen überschritt, gehört zu den zentralen Merkmalen seiner Künstlerpersönlichkeit. Es schließt sich aber nicht nur der Kreis zu den «Abstrakten Expressionisten» und zum vordergründig antimetaphysischen Ansatz von Duchamp und Satie, sondern auch zu den europäischen Vorreitern der seriellen Musik. Bereits Arnold Schönberg thematisierte auf dem Weg zur Dodekafonie das Nichts, indem er in seinem Oratorienfragment Die Jakobsleiter den Gesang der Seele am Schluss als musikalische Grenzüberschreitung in eben dieses Nichts entschwinden ließ: das Nichts als Imagination von Ewigkeit, in die sich dieser Gesang durch seine entrückte Ferne und Einsamkeit zu projizieren vermag. Cage war Schüler Schönbergs, der 1933, kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland, in die USA emigriert war. Die Rolle, die Schönberg für Cages weitere Entwicklung spielte, ist nur schwer einzuschätzen, da auch eine bewusste Abgrenzung von dessen Ästhetik als Einfluss begriffen werden kann. Offensichtlicher ist hingegen Cages Bezugnahme auf Schönbergs Wiener Antipoden Josef Matthias Hauer. Zwar schuf Hauer ein eigenständiges, äußerst strenges und in sich geschlossenes Tonsystem, doch er verzichtete weitgehend auf expressive und rhetorische Elemente und mithin auf außermusikalische Sinnaufladung – was ja auch für Cage und Feldman kennzeichnend ist. Botschaften wollte Hauer nicht vermitteln, er wollte «nichts sagen» und seinen eigenen musikalischen Geschmack aus seinen Kompositionen heraushalten. Auch das Zufallsprinzip konnte Cage von Hauer ableiten, denn dieser stellte sich seine Zwölftonreihen mittels Zufallsoperationen zusammen oder ließ sie sich gar von Freunden vorgeben – um sie anschließend jedoch nach seinen unabänderlichen Gesetzen einzurichten. So waren im Schaf- fen von Hauer, der zeitlebens ein Außenseiter blieb, jene zwei Ansätze – das serielle Denken einerseits und die Betonung des Zufalls andererseits – vorgeprägt, die für die «Avantgarde» der Tonkunst in den 1950er Jahren maßgeblich wurden. Beide Ansätze, die europäische serielle Musik und der amerikanische Gegenentwurf, sind zumal hinsichtlich ihrer spirituellen Grundierung miteinander verwoben und weisen weit über ihre klanglichen Erscheinungsbilder hinaus. Als künstlerische Abstraktion und Transformation sind sie wie die zwei Seiten einer Medaille eng an die Phänomene der Moderne gebunden: an die wachsende Komplexität der Wahrnehmung, an die Verdichtung des Lebens in allen Belangen und deren psychische Folgen. Dialektisch aufeinander bezogen sind beide Konzepte auch dahingehend, dass sowohl die streng konstruktive Disposition des Tonsatzes als auch die größtmögliche Freiheit der Klangereignisse samt Verlagerung der Bedeutungsfunktion auf die Ebene des Hörers zwangsläufig in Selbstaufhebung münden. Beide Richtungen implizieren zwar absolut gesetzte Zielvorstellungen von Musik und markieren mithin vermeintliche Endpunkte; dennoch entwickelte sich die Tonkunst seitdem stetig weiter – wie immer man zu diesen Entwicklungen stehen mag. «MIT STÜHLEN ÜBER DEN BODEN GERUTSCHT» So stark wie Cage einerseits von europäischen Strömungen direkt und indirekt geprägt wurde, so strahlte er selbst wiederum auf Europa aus. Warum er in Deutschland die mit Abstand größte Wirkung hinterließ, warum sein Verständnis von musikalischer Freiheit, von der Identität der Klänge um ihrer selbst willen gerade hier auf fruchtbaren Boden fiel, ist eine spannende Frage. Womöglich wurde das serielle Denken Stockhausens und anderer, auch wenn diese nach dem Ende des Nationalsozialismus einen radikalen Neuanfang für sich in Anspruch nahmen, intuitiv als Fortsetzung der Diktatur mit anderen Mitteln empfunden und wahrgenommen. Auch Luigi Nonos serieller Ansatz, der weitaus politischer ausgerichtet war als der von Boulez und Stockhausen, konnte sich davon nicht abheben. Erst Cages Musik versprach «Befreiung» auf allen Ebenen … … mehr erfahren Sie in Heft 2/2012