Psychische Erkrankungen

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NOVEMBER 2006
Newsletter
Thema
Psychische Erkrankungen: Neues aus der Forschung
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
INHALT
Psychische Krankheiten vom Stigma befreien
2
Psychosomatische Therapie: Jobprobleme
in der Klinik lösen
3
Depressionen: Mit der richtigen
Strategie das Suizidrisiko senken
4
Blick ins Blut verbessert
Depressionsbehandlung
6
BMBF-Broschüre über Depressionsforschung
aktualisiert
7
Schizophrenie: Bessere Behandlungserfolge
bei frühem Therapiebeginn
8
Therapie schizophrener Störungen – auf
die richtige Kombination kommt es an
Interview mit Professor Dr. Wolfgang Gaebel
9
Schizophrenie frühzeitig begegnen
11
Hausbesuche vom Psychiater
helfen Heimkindern
12
Erfolgreiche Raucherentwöhnung
ist auch eine Frage der Psyche
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NEWSLETTER THEMA Psychische Erkrankungen
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Psychische Krankheiten
vom Stigma befreien
Psychische Erkrankungen sind fast so alt wie die
Menschheit. Julius Cäsar, William Shakespeare,
Kaiserin Maria Theresia, Robert Schumann und
Albert Einstein sind nur einige der vielen berühmten
Persönlichkeiten, denen Wissenschaftler eine affektive
Störung nachsagen. Hinter diesem Sammelbegriff
verbergen sich Depressionen und manisch depressive
Erkrankungen. Die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) geht davon aus, dass etwa jeder Vierte in der
westlichen Welt im Laufe seines Lebens unter einer seelischen Störung zu leiden hat – also mehrere 100 Millionen Menschen! In dem von der WHO im Jahr 2001 veröffentlichten World-Health-Report erscheinen in der Liste
der zehn wichtigsten Erkrankungen gleich mehrere
psychische Krankheitsbilder: bipolare Störungen,
Depressionen, Schizophrenien und Suchterkrankungen. Gesundheitspolitisch und volkswirtschaftlich nehmen diese psychischen Störungen eine immer größere
Bedeutung ein. Hierzulande stellen sie die häufigste
Ursache für Frühberentungen dar. Zwischen 1983 und
2003 stiegen die psychisch bedingten Rentenfälle in
Deutschland um mehr als das Dreifache an.
Vorurteile drängen psychisch Kranke in die Ecke
Doch die Kostenfrage ist nur die eine Seite der Medaille.
Denn das Leid psychisch Kranker ist manchmal unermesslich und für Gesunde kaum vorstellbar. Nicht nur
die Krankheit selbst macht den Betroffenen zu schaffen,
sondern auch Stigmatisierungen und Diskriminierungen, die ihnen vielerorts entgegengebracht werden
und denen oft die Grundlage fehlt. Etliche private
Kranken-, Lebens- und Berufsunfähigkeitsversicherungen lehnen einen Vertragsabschluss mit Menschen ab,
die bereits eine Psychotherapie hinter sich haben –
selbst bei Ausschluss der psychischen Erkrankung aus
dem Leistungskatalog. Psychisch Erkrankte gelten beispielsweise entgegen der wissenschaftlichen Erkenntnis
als besonders gewalttätig, Schizophreniepatienten als
unheilbar krank. Und viele unterstellen Patienten mit
einer Depression die Schuld an der Erkrankung. Derartige Stigmatisierungen können schlimme Folgen
haben. Etliche Erkrankte nehmen aus Scham ärztliche
Hilfe zu spät oder gar nicht in Anspruch, was eine frühzeitige und damit besonders aussichtsreiche Therapie
erschwert oder gar verhindert und sie immer weiter in
die Isolation treibt. International und national machen
sich daher verschiedene Organisationen für die Bekämpfung der Stigmatisierung und Diskriminierung
psychisch Kranker stark – unter anderem auch das
Kompetenznetz Schizophrenie und das Kompetenznetz
Depression, Suizidalität.
Förderung der Forschung zu
psychischen Erkrankungen
durch das BMBF
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert bereits seit mehreren Jahren Forschungsnetzwerke und Einzelprojekte zu
psychischen Erkrankungen. Zu den großen Forschungsnetzwerken gehören das Kompetenznetz
Depression, Suizidalität und das Kompetenznetz
Schizophrenie. Im Kompetenznetz Depression,
Suizidalität, das seit 1999 bis 2008 mit 15 Millionen
Euro vom BMBF gefördert wird, arbeiten verschiedene Arbeitsgruppen daran, diagnostische und
therapeutische Defizite depressiver Erkrankungen zu verbessern und Forschungslücken zu
schließen. Die Kernarbeit des Kompetenznetzes
Schizophrenie dreht sich um eine optimierte
Prävention, Akut- und Langzeittherapie sowie
die Rehabilitation schizophren Erkrankter. Das
Kompetenznetz Schizophrenie wird seit 1999 bis
2009 mit insgesamt 15 Millionen Euro vom BMBF
unterstützt.
Projekte zu Suchterkrankungen werden vom
BMBF im Förderschwerpunkt Suchtforschung
gefördert. Dafür stellt das BMBF seit 1991 bis 2008
rund 47 Millionen Euro zur Verfügung. 2006 hat
das BMBF einen neuen Förderschwerpunkt zur
Psychotherapieforschung eingerichtet. Die geförderten Forschungsverbünde werden sich hauptsächlich mit der Wirksamkeit verschiedener Therapien bei sozialen Phobien, Psychosen, Panikstörungen, Essstörungen und ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) beschäftigen. Für die ersten der beiden geplanten
Förderphasen sind rund 13 Millionen Euro vorgesehen. Darüber hinaus wird Forschung zu psychischen Erkrankungen vor allem in den Förderschwerpunkten Rehabilitationsforschung, Versorgungsforschung und Präventionsforschung
vom BMBF gemeinsam mit Krankenkassen und
der Deutschen Rentenversicherung gefördert.
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NEWSLETTER THEMA Psychische Erkrankungen
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Psychosomatische Therapie:
Jobprobleme in der Klinik lösen
„Mein Job macht mich krank!” Dahinter steckt in vielen Fällen mehr als der
Frust nach einem nervenaufreibenden
Arbeitstag. Speziell die Psyche leidet, wenn
Ärger mit Vorgesetzten und Kollegen,
zunehmender Leistungsdruck oder ein
kaum zu bewältigendes Arbeitspensum
Stress bereiten. Bis zu zwei Drittel aller stationär behandelten Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen klagen über
schwerwiegende berufliche Probleme. Sie
machen diese auch als Ursache und aufrechterhaltenden Faktor für ihre Erkrankung verantwortlich, fühlen sich durch die
Belastungen im Job gesundheitlich beeinträchtigt und erleben sich gleichzeitig in
ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit
eingeschränkt. Spezielle, in das klinische
Rehabilitationsprogramm integrierte, berufsbezogene
Therapieprogramme können diesen Patienten helfen,
nach der Entlassung im Berufsleben wieder stabil Fuß
zu fassen und dieses besser zu bewältigen, fanden zwei
süddeutsche Forscherteams heraus. Dazu verglichen sie
unter anderem die Erwerbstätigkeitsquote, Absichten,
sich bald berenten zu lassen und persönlich empfundene Arbeitszufriedenheit von Patienten aus zwei unterschiedlich ausgerichteten Therapiegruppen mit den
jeweiligen Kontrollgruppen.
Professor Manfred Beutel und Dr. Rudolf Knickenberg
entwickelten für die Psychosomatische Klinik Bad
Neustadt/Saale einen tiefenpsychologisch orientierten
Ansatz, Privatdozent Andreas Hillert und Diplom-Psychologe Stefan Koch von der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik in Prien am Chiemsee erforschten ein
verhaltenstherapeutisches Behandlungsprogramm.
Beide Untersuchungen wurden im Rahmen des
gemeinsam vom Bundesministerium für Bildung und
Forschung (BMBF) und der Deutschen Rentenversicherung finanzierten Schwerpunkts Rehabilitationsforschung gefördert. „Nach unserer Erfahrung hilft der
Abstand zum Alltag den Klinikpatienten dabei, ihre
Belastungen genauer zu betrachten, Probleme zu
benennen, Ziele zu formulieren und Lösungsansätze
vorzubereiten”, beschreibt Beutel die Grundvoraussetzungen. Damit widerspricht er gleichzeitig der Meinung vieler Betroffener, dass sich mit einkehrender
Ruhe und Erholung die Probleme im Job automatisch
verflüchtigen.
Zwei Wege – ein Ziel
Im tiefenpsychologischen Ansatz der Interventionsstudie (TPI) teilten die Psychologen beruflich belastete
Patienten in zwei nahezu gleich große Gruppen ein. Die
eine erhielt eine psychosomatische Standardtherapie,
die andere nahm zweimal wöchentlich über vier
Wochen hinweg an einer berufsbezogenen Therapiegruppe (BTG) teil. Ärger mit Kollegen und Vorgesetzten
war nur einer von vielen Inhalten dieses Ansatzes, der
auf der Methode des emotionalen Lernens basiert. Beim
emotionalen Lernen spielen in der Tiefenpsychologie
sogenannte Übertragungen eine entscheidende Rolle.
Die Betroffenen erlernen Verhaltensänderungen,
indem sie sich Parallelen zwischen dem aktuellen Problem – beispielsweise Konflikte mit Kollegen – und ähnlich gelagerten Situationen aus der Vergangenheit –
wie Ärger mit den Eltern – bewusst machen und so eine
andere Haltung in der aktuellen Situation einnehmen
können.
Eine andere Herangehensweise verbirgt sich hinter
dem verhaltenstherapeutischen Ansatz, den Hillert und
Koch in der berufsbezogenen Therapiegruppe „Stressbewältigung am Arbeitsplatz” (SBA) verfolgen. In ihrer
Interventionsgruppe ging es in vier Modulen à zwei
Doppelstunden darum, ausgehend von der aktuellen
beruflichen Problemsituation sowie ihrem Erleben und
dem Verhalten einen individuellen Belastungskreislauf
zu erstellen. Die konkrete Situation am Arbeitsplatz,
aber auch biographische Aspekte, Einstellungen und ❯❯
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NEWSLETTER THEMA Psychische Erkrankungen
Verhaltensmuster der Patienten wurden zusammengeführt, praktikable Lösungsmöglichkeiten konzipiert
und geübt. Dazu nutzten die Therapeuten vielfach
Rollenspiele. Die Kontrollgruppe erhielt eine verhaltenstherapeutische Standardtherapie.
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Das Berufsleben besser in den Griff bekommen
Interventionsgruppen eine höhere Behandlungszufriedenheit und eine geringere Erschöpfung an. Sie gingen
besser mit beruflichen Belastungen um, äußerten
weniger Rentenabsichten und waren im Vergleich zur
Standardtherapie seltener arbeitsunfähig. Außerdem
besaßen sie ein geringeres Risiko, aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.
Die Patienten füllten Fragebögen bei Aufnahme, Entlassung sowie nach drei und sechs Monaten aus. So erhielten die Wissenschaftler objektive Daten wie Arbeitsunfähigkeitszeiten und subjektive Einschätzungen,
beispielsweise zur Befindlichkeit und beruflichen Belastung. Ergebnis: Die Patienten aus den berufsbezogenen
Therapiegruppen – sowohl beim tiefenpsychologisch
orientierten Ansatz TPI als auch beim verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Ansatz SBA – kamen deutlich
besser mit ihrem Arbeitsleben zurecht als die Teilnehmer aus den Kontrollgruppen. In einer Befragung ein
Jahr nach der Entlassung gaben die Teilnehmer der
„Diese Ergebnisse unterstreichen nachdrücklich die
berufliche Problematik psychosomatischer Patienten
und damit die Notwendigkeit entsprechender Behandlungsangebote”, erläutert der Arzt und Psychotherapeut Hillert. Seit Ende 2004 gehören berufsbezogene
Therapien daher in Prien und Neustadt/Saale zum Standardangebot. Die Ergebnisse von Hillert, Beutel und
Knickenberg ziehen weite Kreise. Derzeit untersuchen
Wissenschaftler die beiden – entsprechend angepassten – Therapieansätze auch in der kardiologischen und
orthopädischen Rehabilitation.
Depressionen: Mit der richtigen
Strategie das Suizidrisiko senken
Niedergeschlagen, freudlos, ohne Energie und Hoffnung: Schwere Depressionen machen das Leben zur
Qual. Oftmals sehen die Betroffenen in einem Suizid
den letzten Ausweg aus dem für Gesunde kaum vorstellbaren Leid. Zehn bis 15 Prozent aller Patienten mit starken Depressionen nehmen sich im Laufe ihrer Erkrankung das Leben, bis zu 56 Prozent unternehmen zumindest einen Suizidversuch. Mit einem breit angelegten
Interventionsprogramm gelang es dem „Nürnberger
Bündnis gegen Depression”, die suizidalen Handlungen
(Suizide und Suizidversuche) in Nürnberg innerhalb der
zwei Untersuchungsjahre 2001 und 2002 um rund ein
Viertel zu reduzieren.
„Unsere neuesten Zahlen zeigen, dass nach drei Jahren
der Intervention die suizidalen Handlungen sogar noch
weiter gesenkt werden konnten”, schildert Professor
Ulrich Hegerl von der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München den Erfolg des
Bündnisses. Diese Zahlen zeigen, welch enorme Chancen in einer verbesserten Diagnostik und Behandlung
stecken. Behandlungsbedürftige Depressionen bestehen in der Regel aus verschiedenen körperlichen und
psychischen Krankheitszeichen und dauern meist meh-
rere Monate an. „Depressionen, die nichts mit gelegentlichen Stimmungsschwankungen oder verständlicher
Traurigkeit in schwierigen Lebenssituationen zu tun
haben, sind eine ernst zu nehmende Erkrankung, die
aufgrund der hohen Suizidgefährdung einen lebensbedrohlichen Verlauf nehmen kann”, erläutert Hegerl
die Situation.
Information auf mehreren Ebenen
führt zum Erfolg
Zusammen mit Kollegen aus Würzburg und Nürnberg
entwickelte er für das zum Kompetenznetz Depression,
Suizidalität gehörende Nürnberger Bündnis gegen
Depression eine Vier-Ebenen-Interventionsstrategie zur
Optimierung der Versorgung depressiv Erkrankter und
zur Suizidprävention. Das vom Bundesministerium für
Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Interventionsprogramm umfasste im Raum Nürnberg Fortbildungen für Hausärzte (Ebene 1), Schulungen für Multiplikatoren wie Lehrer, Apotheker, Pflegekräfte, Polizisten, Beratungskräfte und Pfarrer (Ebene 2), Veranstaltungen für Betroffene und Angehörige (Ebene 3) sowie
eine Aufklärungskampagne in der Öffentlichkeit
(Ebene 4). Gegenüber dem Jahr 2000 und verglichen ❯❯
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NEWSLETTER THEMA Psychische Erkrankungen
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Netzwerk rettet Leben
Mit einer Plakataktion macht das „Deutsche Bündnis gegen Depression”
deutschlandweit auf das Thema Depressionen aufmerksam.
mit der Würzburger Kontrollregion gingen die suizidalen Handlungen in Nürnberg innerhalb der zwei Interventionsjahre (2001 bis 2002) um 24 Prozent zurück.
Besonders auffällig war der Rückgang bei drastischen
Methoden wie Erschießen, Erhängen und Springen aus
großer Höhe.
Inzwischen hat das Modellprojekt Schule
gemacht: Über 35 Regionen und Städte
engagieren sich bereits unter dem Dach des
„Deutschen Bündnisses gegen Depression
e.V.” (www.buendnis-depression.de) auf lokaler Ebene und nutzen das Nürnberger Konzept sowie die dort entwickelten Materialien.
„Wir erhoffen uns langfristig ein flächendeckendes Netzwerk zur besseren Versorgung depressiv Erkrankter und damit auch
bundesweit einen Rückgang der Suizidalität”, formuliert Hegerl die Wünsche.
2004 wurde zudem die European Alliance
Against Depression (EAAD) gegründet,
gefördert von der Europäischen Kommission.
Basierend auf dem Bündnis-Konzept starteten in 18 europäischen Staaten landesspezifische Vier-Ebenen-Interventionen
(www.eaad.net).
Nähere Informationen auch unter:
www.kompetenznetz-depression.de
Depressionen: keine Altersfrage
Ob alt, ob jung – Depressionen können jeden treffen. Dies gilt auch für Kinder: Hier gestaltet sich die Diagnose
jedoch oft schwierig, da sich die Erkrankung hinter Aggressionen und anderen Verhaltensauffälligkeiten,
Leistungseinbrüchen, Rückzugsneigungen und manchen körperlichen Symptomen wie Kopfschmerzen oder
Schlafproblemen verbergen kann. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Kinder altersbedingt ihre psychische
Befindlichkeit nicht differenziert schildern können. Bei der Behandlung mit Antidepressiva müssen die Ärzte
den Vorteil der antidepressiven Wirksamkeit, der insbesondere bei Jugendlichen für einzelne Antidepressiva
belegt ist, gegen mögliche Nachteile abwägen. So ist unklar, welche Auswirkung eine längerfristige Einnahme
von Antidepressiva auf das sich entwickelnde Gehirn hat. Dem gegenüber stehen mögliche negative Einflüsse
einer unbehandelten Depression. Häufig sind bei diesen Patienten psychotherapeutische Behandlungsansätze
unter Einbeziehung der Familie sinnvoll.
Bei Senioren treten Depressionen mit einer Häufigkeit von etwa fünf Prozent auf – also nicht öfter als im jungen Erwachsenenalter. Die Vorstellung, dass Depressionen bei Menschen im Alter, die mit dem Verlust der
geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit und vielleicht auch der eigenen vier Wände konfrontiert sind,
eine „natürliche” Begleiterscheinung seien, ist ein weitverbreitetes und auch gefährliches Vorurteil. Es verführt dazu, bei älteren Menschen die Depression zu akzeptieren und nicht ebenso konsequent zu behandeln
wie im jüngeren Erwachsenenalter. Dies ist jedoch unbedingt nötig. Denn Depressionen haben gerade bei
alten Menschen einen besonders lebensbedrohlichen Charakter, bedingt durch die mit der Erkrankung
einhergehende Rückzugsneigung mit Bettlägrigkeit, durch depressionsbedingt vermindertes Durst- und
Hungergefühl und die gerade im Alter erhöhte Suizidgefährdung.
Quelle: Kompetenznetz Depression, Suizidalität
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Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Blick ins Blut verbessert
Depressionsbehandlung
Für eine erfolgreiche Behandlung von
Depressionspatienten zählt nicht nur
der Blick in deren Seele, sondern auch in
ihr Blut. Denn Patienten reagieren unterschiedlich auf Antidepressiva. Bei Messungen der Wirkstoff-Konzentrationen
im Blut schwanken diese bei einer Standarddosis erheblich zwischen verschiedenen Personen. „Der Behandlungserfolg
bei Depressionen hängt nicht zuletzt von
einer optimalen Medikamentenauswahl
und -dosierung ab. Schätzungen zufolge
erhalten abhängig vom Zeitpunkt der
Untersuchung zwischen 30 und 80 Prozent aller therapieresistenten Patienten
zu niedrig dosierte Medikamente und
würden von einer angepassten Dosis
profitieren”, weiß Professor Christoph
Hiemke von der Psychiatrischen Klinik der Universität
Mainz. Ziel einer Dosisanpassung ist es, die optimale
Wirkstoff-Konzentration im Blut, auch „therapeutisches
Fenster“ genannt, zu erreichen. „Fenster“ meint jenen
Konzentrationsbereich, bei dem die Patienten mit
größter Wahrscheinlichkeit optimal auf die Therapie
ansprechen. Genauso kann die Überprüfung der entsprechenden Blutwerte aber auch Hinweise auf Überdosierungen liefern oder dazu führen, auf ein anderes
Präparat umzusteigen.
Das „therapeutische Fenster” nutzen
In dem vom Bundesministerium für Bildung und
Forschung (BMBF) unterstützten Forschungsprojekt
„Therapeutisches Drug-Monitoring bei Depressionen”
belegten Hiemke und seine Kollegen den medizinischen Nutzen einer Kontrolle der Blutspiegel bei
depressiven Klinikpatienten für alte und neue Antidepressiva. Ihre Ergebnisse flossen in eine aktuelle Leitlinie über das Therapeutische Drug-Monitoring (TDM)
von Psychopharmaka ein. Für das Monitoring bei alten
Antidepressiva, zu denen auch die trizyklischen Antidepressiva gehören, wiesen die Forscher deutliche Erfolge
nach. Patienten, deren Blutspiegel mittels TDM auf die
optimale therapeutische Konzentration eingestellt wurden, sprachen entschieden besser auf die Behandlung
an als jene mit Werten außerhalb dieses Bereichs. Auch
bei der Behandlung mit neueren Antidepressiva zeichnet sich ab, dass TDM zur Therapieverbesserung beitragen kann.
„Wenn Patienten schlecht oder gar nicht auf ein Medikament ansprechen, über Verträglichkeitsprobleme
klagen oder mehrere Arzneimittel gleichzeitig einnehmen, sollte ein Therapeutisches Drug-Monitoring erfolgen”, rät Hiemke. Gleiches gilt für Präparate, die bei zu
hoher Dosierung unerwünschte Nebeneffekte hervorrufen können. Hinzu kommen eine Reihe von Einzelfallindikationen, bei denen die Wissenschaftler in ihrer
Leitlinie zum Monitoring raten. Denn von den hierzulande rund vier Millionen Menschen mit einer behandlungsbedürftigen Depression erhalten nur maximal
zehn Prozent eine ausreichende Therapie, beklagt das
Kompetenznetz Depressionen, Suizidalität. Gründe
dafür gibt es viele. Oftmals nehmen die Betroffenen ihre
Medikamente nicht zuverlässig ein oder sie bekommen
aus Angst vor Nebenwirkungen eine zu geringe Wirkstoffdosis. Hinzu kommen sehr individuelle Reaktionen
auf Medikamente: Der eine Patient beispielsweise baut
den Wirkstoff sehr schnell ab, der andere eher langsam
– bei dem einen ist viel Wirksubstanz im Blut und es
kommt damit viel im Gehirn an, beim anderen weniger.
Die Leidensphase möglichst kurz halten
Ärzte warten entsprechend den aktuellen Therapieleitlinien zur Depressionsbehandlung mit einem Dosisoder Medikamentenwechsel in der Regel bis drei oder
vier Wochen nach Behandlungsbeginn. Hierzu brachte
die TDM-Studie interessante Ergebnisse. „Bereits in der
zweiten Behandlungswoche zeichnete sich bei unseren
Studienteilnehmern ab, ob sie ansprechen werden oder ❯❯
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NEWSLETTER THEMA Psychische Erkrankungen
nicht. Wir wussten also schon nach spätestens 14 Tagen,
wie ein Antidepressivum anschlägt und konnten entsprechend schneller reagieren”, kommentiert Hiemke.
Das Drug-Monitoring ermöglichte damit eine wesentlich frühere Therapieentscheidung, da sich die Wirkungstendenz im Blut bereits zeigte, lange bevor die
volle klinische Wirkung der Präparate nach mehreren
Wochen erreicht war. Von solch einem frühen Hinweis
profitieren in erster Linie die Betroffenen, da eine zügig
einsetzende, wirksame Therapie ihre Leidensphase
verkürzt.
Mit dem Ziel, die Behandlung von Depressionen und
auch den Einsatz des Therapeutischen Drug-Monitorings künftig zu verbessern, brachte die Forschergruppe
ihre Ergebnisse in eine Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP) ein. Diese Leitlinie stellt nicht nur
den aktuellen Wissensstand zu Wirkstoff-Konzentrationen im Blut und der therapeutischen Wirkung von Arzneimitteln dar und liefert praktische Anwendungstipps,
sondern gibt auch konkrete Empfehlungen, in welchen
Fällen solch ein Drug-Monitoring angewendet werden
sollte.
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Stimmt es, dass ...
Antidepressiva die Persönlichkeit
verändern und süchtig machen
?
„Nein, beides sind leider noch sehr weitverbreitete
Vorurteile. Die medikamentöse Behandlung mit
antidepressiv wirkenden Medikamenten gilt inzwischen als unverzichtbares und wirksames Heilverfahren. Die Wirkstoffe sind in der Lage, die Menge
der aus der Balance geratenen Botenstoffe wieder
zu normalisieren und die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen zu fördern. Sie machen
nicht süchtig, verändern nicht die Persönlichkeit
und sind keine Aufputschmittel. Nimmt ein
Gesunder ein Antidepressivum ein, so wird er
nicht glücklicher oder fühlt sich sonst wohler.
Denn Antidepressiva sind keine Glückspillen.”
!
Professor Ulrich Hegerl, Psychologe an der Poliklinik für
Psychiatrie und Psychotherapie der Universität München,
Sprecher des Kompetenznetzes Depression, Suizidalität
BMBF-Broschüre über
Depressionsforschung aktualisiert
Rund vier Millionen Menschen in Deutschland
leiden an einer Depression. Wie die Symptome der
Krankheit aussehen, wie das Seelenleiden erforscht
wird, welche Therapien verfügbar sind und wo sich
Betroffene an lokale Bündnisse gegen Depression wenden können, sind einige Themen der BMBF-Broschüre
„Es ist, als ob die Seele unwohl wäre ... Depression –
Wege aus der Schwermut. Forscher bringen Licht in die
Lebensfinsternis.” Die Erfahrungen einer Patientin stehen am Beginn der Publikation. Die Broschüre erschien
erstmals 2001 und war lange Zeit vergriffen. Die nun
verfügbare aktualisierte Fassung enthält auch Links
zum Thema sowie einige Buchtipps.
Bestelladresse:
BMBF
Referat Öffentlichkeitsarbeit
11055 Berlin
oder per E-Mail:
[email protected]
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NEWSLETTER THEMA Psychische Erkrankungen
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Schizophrenie: Bessere Behandlungserfolge bei frühem Therapiebeginn
Schizophrenie verursacht enormes Leid und ist die
teuerste psychische Erkrankung. Die durch schizophrene Psychosen entstehende Finanzlast gleicht den
Ausgaben für Volkskrankheiten wie Diabetes oder Herzerkrankungen. Bei 35 bis 40 Prozent der Ersterkrankten
kommt es zu einer chronischen psychischen und sozialen Behinderung, die hierzulande bei rund 200.000 bis
300.000 Menschen bereits in jungen Jahren zu Erwerbsunfähigkeit und frühzeitigem Rentendasein führt, und
von den rund 800.000 Schizophreniepatienten in
Deutschland nehmen sich circa zehn bis 15 Prozent das
Leben. Das 1998 gegründete Kompetenznetz Schizophrenie hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, die
Versorgungssituation der Betroffenen zu verbessern.
Dazu trägt auch eine neue Untersuchung aus dem vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
geförderten Kompetenznetz bei. Sie beleuchtet sowohl
die psychopathologischen Charakteristika, die kognitiven Fähigkeiten als auch Therapieergebnisse von Schizophreniepatienten mit unterschiedlich langer Krankheitsgeschichte. Fazit: Patienten, die bereits während
der ersten psychotischen Episode behandelt werden,
sprechen besser auf die Therapie an als jene, die bereits
mehrere Episoden durchlebt haben.
Eine Forschergruppe um Dr. Michael Riedel von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität
München verglich dabei den Behandlungserfolg und
die Symptomatik von 121 Patienten mit einer schizo-
phrenen Ersterkrankung mit 279 Betroffenen, die schon
länger und chronisch an Schizophrenie litten. Um ein
Bild der Symptomatik zu erhalten, wendeten die Wissenschaftler bei Krankenhauseinweisung und -entlassung eine weltweit etablierte, dreidimensionale Symptomskala an, die Positive and Negative Syndrom Scale
(PANSS). Zu den positiven Symptomen mit ihrem produktiven Charakter gehören zum Beispiel Wahnvorstellungen, Halluzinationen oder Größen- und Verfolgungswahn. Die negativen Veränderungen entsprechen Defizitsymptomen wie Antriebsmangel, Apathie,
sozialer Rückzug oder schlechte emotionale Ansprechbarkeit. Der dritte Bereich der PANSS umfasst eine Skala,
die unter anderem Angst, Schuldgefühle, Depression,
mangelnde Impulskontrolle oder Selbstbezogenheit
beinhaltet.
Weniger Medikamente bei Ersterkrankung
Mithilfe dieser Skala ermittelten Riedel und sein Team,
dass die Ersterkrankten bei der Klinikeinweisung deutlich stärker ausgeprägte Positivsymptome und signifikant niedrigere Negativsymptome aufwiesen als jene,
die bereits mehrere Episoden einer schizophrenen
Störung durchlitten hatten. Der generelle Schweregrad
der Erkrankung lag in beiden Gruppen ungefähr gleich
hoch. Die Ersterkrankten waren jünger, zeigten eine
kürzere Krankheitsdauer und befanden sich häufiger in
einer Partnerschaft und einem Arbeitsverhältnis als die
bereits mehrfach Erkrankten. Der Behandlungserfolg
war bei den erstmals erkrankten
Patienten sowohl im Hinblick auf
positive als auch negative Symptome allerdings weitaus besser als
bei den Patienten mit mehrfachen
Psychose-Episoden. Außerdem
benötigten sie weniger Antidepressiva und stimmungsstabilisierende Medikamente. Denn
depressive Symptome sind bei
Schizophreniepatienten keine
Seltenheit. „Diese Ergebnisse
unterstreichen, wie wichtig eine
frühe Diagnose und Therapie sind
und stellen Früherkennungs- und
-interventionsprogramme auf
eine breite wissenschaftliche
Basis”, betont Psychiater Riedel.
Außerdem untermauern sie die ❯❯
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NEWSLETTER THEMA Psychische Erkrankungen
Betrachtungsweise, dass es sich bei Schizophrenie um
eine degenerative Erkrankung des Gehirns handelt.
„Der abnehmende Behandlungserfolg bei Patienten mit
mehreren Krankheitsepisoden kann mit fortschreitenden neurobiologischen Störungen zusammenhängen”,
so Riedel.
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Im nächsten Schritt soll auf Basis der aktuellen Forschungsergebnisse eine wissenschaftlich abgesicherte
(evidenzbasierte) Behandlungsempfehlung entstehen,
um die Versorgung erstmals erkrankter Patienten in
einer frühen und für den zukünftigen Krankheitsverlauf entscheidenden Phase dauerhaft zu verbessern.
Daten und Fakten zur Schizophrenie
Schizophrenie kommt in allen Kulturen der Welt mit gleicher Häufigkeit vor. Etwa ein Prozent der Bevölkerung
erkrankt mindestens einmal im Leben an einer Schizophrenie. Die Krankheit tritt meistens zwischen dem 18. und
35. Lebensjahr erstmals auf. Bereits Jahre vor der Manifestation der Erkrankung bestehen bei etwa drei Viertel der
Betroffenen Veränderungen ihres Erlebens und Verhaltensauffälligkeiten. Dieses sogenannte Prodromalstadium
wird oft nicht als solches erkannt und deshalb fälschlich bestimmten Entwicklungsphasen oder Lebenskrisen
zugeordnet. Die Schizophrenie verändert das Denken, Fühlen und Handeln der Betroffenen, oft sind auch Mimik,
Gestik und die Bewegung davon betroffen. Die Hauptsymptome schizophrener Psychosen sind unter anderem
Realitätsverlust mit Wahn, Halluzinationen und Ich-Störungen sowie sozialer Rückzug. Die Art und Schwere dieser
psychischen Störung zeigt sich auch daran, dass es oft zu schweren biografischen Einschnitten kommt: Beziehungen werden aufgelöst, die berufliche Ausbildung abgebrochen. Die Krankheitsursachen sind bis heute nur unzureichend aufgeklärt. Nach dem heute als Krankheitsmodell weithin akzeptierten Vulnerabilitäts-Stress-Verarbeitungs-Modell basiert die Erkrankung auf einem ungünstigen Zusammentreffen einer vor allem genetisch oder
durch frühkindliche Hirnschädigungen bedingten „Veranlagung” (Vulnerabilität) mit sozialen und psychischen
Belastungsfaktoren. Diese können durch die eigenen Stressverarbeitungsfertigkeiten nur unzureichend kontrolliert werden – das heißt, nicht alle Menschen, die eine Veranlagung in sich tragen, entwickeln auch eine Schizophrenie.
Quelle: Kompetenznetz Schizophrenie
Therapie schizophrener Störungen –
auf die richtige Kombination kommt
es an
Interview mit Professor Dr. Wolfgang Gaebel, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Sprecher des Kompetenznetzes Schizophrenie
Herr Professor Gaebel, welche
Verfahren stehen heute zur
Behandlung schizophren
Erkrankter zur Verfügung?
Schizophren Erkrankte erhalten
heute eine kombinierte Therapie
aus Medikamenten und psychosowie soziotherapeutischen Maßnahmen. Basis der medikamentösen
Therapie sind die typischen und
atypischen Antipsychotika, die insbesondere die sogenannte Positivsymptomatik wie Wahn, Halluzinationen
und Ichstörungen wirksam bekämpfen. Mit „typisch“
und „atypisch“ unterscheidet man dabei die älteren von
den modernen Antipsychotika. Zu den psychotherapeutischen Maßnahmen zählen etwa Informationen über
Krankheits- und Behandlungskonzepte sowie Möglichkeiten der Rückfallerkennung und -prophylaxe. Parallel
hierzu wird versucht, soziale Kompetenz und Problemlösefertigkeiten zu stärken sowie Krankheits- und
Stressbewältigung zu verbessern. Soziotherapeutische
Maßnahmen zielen darauf ab, die Fähigkeit zur selbstständigen Lebensführung zu verbessern oder wiederherzustellen. Bei etwa 70 Prozent der Patienten kommt
es mit all diesen Maßnahmen zu einem Abklingen der
Symptome und Rückfälle können vermieden werden. ❯❯
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NEWSLETTER THEMA Psychische Erkrankungen
Die Gewichtung der Behandlungsverfahren unterscheidet sich dabei je nach Krankheitsphase. Wichtig ist es,
dem Patienten bereits zu Beginn der Therapie das
Gesamtbehandlungskonzept zu erläutern.
Bei der medikamentösen Therapie der Schizophrenie
spielen sowohl atypische als auch typische Antipsychotika eine Rolle. Wann und bei welchen
Patienten setzen Sie typische bzw. atypische
Antipsychotika ein?
Atypische Antipsychotika werden heute als Therapie
der ersten Wahl empfohlen, da sie im Vergleich zu den
typischen Antipsychotika ein günstigeres Nebenwirkungsprofil haben. Dabei treten insbesondere weniger
Bewegungsstörungen auf; zudem werden die durch
atypische Antipsychotika nur schwer veränderbaren,
kognitiven Störungen und Negativsymptome, wie auch
die depressive Symptomatik, unter Umständen günstig
beeinflusst. Insbesondere für erstmals erkrankte Patienten, die für Nebenwirkungen anfälliger sind als mehrmals erkrankte Patienten, sehen die aktuellen Therapierichtlinien daher atypische Antipsychotika als Mittel
der Wahl vor. Doch ob atypische Antipsychotika auch
dann besser sind als typische Antipsychotika, wenn
letztere in so niedrigen Dosierungen eingesetzt werden, dass motorische Nebenwirkungen weniger stark
ausgeprägt sind, wurde bisher noch nicht ausreichend
untersucht. Deshalb führen wir im Rahmen des Kompetenznetzes Schizophrenie gerade eine Studie zur Akutund Langzeittherapie bei ersterkrankten Patienten
durch, bei der wir ein typisches mit einem atypischen
Antipsychotikum in niedrigen Dosierungen vergleichen.
Kann man einer Schizophrenie vorbeugen?
Soweit es die sogenannte Primärprävention angeht –
also Maßnahmen in der Allgemeinbevölkerung – leider
nicht. Die Faktoren, die zum Ausbruch und der Entstehung einer Schizophrenie führen, sind dafür zu komplex. Es werden aber mögliche Ansatzpunkte für eine
zukünftige sogenannte „Indizierte sekundäre Prävention” in Gruppen mit einem höherem Erkrankungsrisiko diskutiert. Zu den Risikofaktoren zählen insbesondere eine durch familiäre Erkrankungsfälle bekannte,
genetische Vorbelastung sowie Schwangerschafts- und
Geburtskomplikationen. Auch das Vorliegen neurobiologischer Risikoindikatoren, etwa struktureller Veränderungen im Gehirn oder die gestörte Fähigkeit, sich
kontinuierlich bewegende Gegenstände mit den Augen
zu verfolgen, gehören dazu. Es ist jedoch noch intensive
Forschungsarbeit nötig, um auf der Basis solcher Risiko-
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
faktoren wirklich gefährdete Personen zuverlässig
erkennen und in Präventionsprogramme einbeziehen
zu können. Am aussichtsreichsten erscheinen derzeit
vorbeugende Maßnahmen im Frühstadium der Schizophrenie, wenn also das klinische Bild noch nicht voll
entwickelt ist. Denn je früher eine sachgemäße Therapie einsetzt, desto besser sind die Chancen für einen
günstigen Krankheitsverlauf. Dieser Forschungsbereich
bildet einen der Schwerpunkte des Kompetenznetzes
Schizophrenie.
Welche Maßnahmen werden bei dieser Art
von Sekundärprävention eingesetzt?
Sofern die Symptomatik noch nicht sehr ausgeprägt ist,
kommen in dieser frühen Phase der Erkrankung psychosoziale Therapiemaßnahmen zum Einsatz. Also
Information und Aufklärung zu Risikofaktoren und
Frühsymptomen der Schizophrenie sowie zu Bewältigungs- und Behandlungsmöglichkeiten. Außerdem
erhalten diese Personen eine psychotherapeutische
Kurzzeitbehandlung, mit der Stressbewältigung und
Problemlösung trainiert werden. Sollten bereits leichte
psychotische Symptome bestehen, kommen auch
atypische Antipsychotika in Frage.
Kann schon der Hausarzt solche Maßnahmen
zur Sekundärprävention einleiten?
Nein, es ist ganz wichtig, dass solche frühen Interventionsmaßnahmen nur in darauf spezialisierten Zentren
vorgenommen werden, wie wir sie zum Beispiel im Rahmen des Kompetenznetzes aufgebaut haben. Denn eine
zu früh gestellte Schizophreniediagnose kann eine Stigmatisierung bewirken und es besteht das Risiko, Menschen zu behandeln, die später gar nicht erkranken
würden.
Wo werden Patienten mit
einer Schizophrenie behandelt?
In der akuten Phase einer Schizophrenie und der sich
anschließenden Stabilisierungsphase werden die Patienten meist stationär im Krankenhaus behandelt.
Wenn der Patient sich stabilisiert hat, können wir ihn in
eine teilstationäre Einrichtung, zum Beispiel eine Tagesklinik, überweisen. Oft ist jedoch auch eine Entlassung
nach Hause oder in betreute Wohnformen möglich. Die
Weiterbehandlung erfolgt in diesen Fällen ambulant
durch den Hausarzt oder niedergelassene Psychiater.
Sozialpsychiatrische Dienste und die Familie spielen
dann bei der weiteren Rehabilitation und sozialen Reintegration eine wichtige Rolle.
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Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Schizophrenie frühzeitig begegnen
„Ich habe immer so einen Wirrwarr im Kopf.“ Was
die Gedanken des Patienten so durcheinander
bringt, ist nicht etwa Stress, sondern der Anfang einer
schizophrenen Störung. Auch mit der Konzentration
klappt es nicht mehr so recht, manchmal jagen die
Gedanken oder blockieren, und Sätze von Gesprächspartnern kommen einfach nicht an. Schizophrenie
beginnt meist schleichend und kündigt sich lange vorher an. Zwischen den ersten, eher unspezifischen Anzeichen und dem akuten Krankheitsbild einer schizophrenen Psychose liegen circa fünf Jahre. Eine schon bei
frühesten Symptomen einsetzende Therapie kann den
Verlauf der Erkrankung jedoch aufhalten und sogar die
ersten Beschwerden mildern, ergab eine Untersuchung
des Projektverbunds „Früherkennung und Frühintervention” des Kompetenznetzes Schizophrenie.
nahen Stadium. In der psychosefernen Phase, also zu
Beginn des Krankheitsverlaufs, treten bei den Betroffenen sehr diffuse erste Krankheitszeichen auf, zum Beispiel optische und akustische Wahrnehmungsstörungen oder die Tendenz, alles auf sich zu beziehen. Das
psychoseferne Prodrom schließt auch Personen mit
einem durch genetische Vorbelastungen oder Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen erhöhtem
Psychoserisiko ein, die parallel an deutlichen sozialen
Funktions- und Leistungseinbußen leiden. Derartige
Einbußen betreffen vor allem den Beruf, die Partnerschaft oder die Haushaltsführung. Beim psychosenahen
Prodrom zeigen sich schon deutlichere Symptome. Die
Betroffenen leiden beispielsweise unter Wahnideen
oder Halluzinationen, haben eigentümliche Vorstellungen oder ungewöhnliche Wahrnehmungen.
Erste Anzeichen richtig deuten
Frühe Intervention schwächt Erkrankung ab
Das Team um Professor Joachim Klosterkötter vom
Früherkennungs- und Therapiezentrum für psychische
Krisen (FETZ) der Universität Köln unterteilte das Vorstadium der Erkrankung, Prodromalphase genannt
(siehe Kasten auf Seite 9), erstmals in zwei Abschnitte:
das psychoseferne und das psychosenahe Prodrom.
Diese Bezeichnungen beziehen sich auf die Dauer bis
zum Auftreten einer ersten akuten psychotischen Episode. Auf dieser Basis entwickelten sie unterschiedliche
Interventionsstrategien – mit kognitiver Verhaltenstherapie beim psychosefernen und einem niedrig
dosierten atypischen Antipsychotikum im psychose-
„Mit der Definition eines zusätzlichen, psychosefernen
Prodroms verfolgen wir das Ziel, Betroffene frühzeitig
zu identifizieren, um massiven Symptomen und sozialen Behinderungen so früh wie möglich vorzubeugen”,
erläutert Klosterkötters Kollege Dr. Andreas Bechdolf
das Kölner Interventionsmodell. Es hat sich inzwischen
auch an den Psychiatrischen Universitätskliniken Bonn,
Düsseldorf und München etabliert. Dass dieser Ansatz
Erfolg verspricht, zeigen die ersten Auswertungen der
Interventionsstudien aus dem Kompetenznetz Schizophrenie, die mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) durchgeführt
wurden. Patienten mit einem
psychosefernen Prodrom, die ein
Jahr lang an einer speziell entwickelten, kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) teilnahmen,
waren danach psychisch stabiler
und entwickelten seltener ein
psychosenahes Erkrankungsstadium als jene, die eine unspezifische klinische Standardbehandlung erhielten. Die psychologische Intervention orientierte
sich an den jeweils genannten
Problemen und beinhaltete unter
anderem Einzel- und Gruppentherapie, Training von sozialer
Kompetenz und Fertigkeiten zur
Problemlösung, Symptom- und
Stressmanagement sowie eine
Beratung der Familien und
Bezugspersonen. Auch Patienten
An Schizophrenie Erkrankte leiden manchmal an zwanghaftem Verhalten wie
im psychosenahen Krankheits- ❯❯
einem übertriebenen Ordnungssinn.
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stadium, die neben einer begleitenden, psychologischen Unterstützung ein niedrig dosiertes, atypisches
Antipsychotikum erhielten, ging es nach dieser zwölfwöchigen Frühintervention deutlich besser. Die
Krankheitssymptome nahmen ab, das generelle Funktionsniveau stieg signifikant. „Die psychologische
Frühintervention schon im psychosefernen Erkrankungsstadium eröffnet einen ganz neuen Ansatz in
der Schizophreniebehandlung. Unsere bisherigen
Ergebnisse deuten an, dass sich damit Ersterkrankungen abschwächen und vielleicht sogar verhüten lassen”,
unterstreicht Psychiater Bechdolf die Bedeutung der
Forschungsergebnisse.
Nähere Informationen auch unter:
www.kompetenznetz-schizophrenie.de
Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
Stimmt es, dass ...
Schizophrene eine gespaltene
Persönlichkeit haben?
?
„Nein, das ist ein weitverbreiteter Irrglaube. Er hängt
mit der irreführenden, freien Übersetzung des aus dem
Griechischen stammenden Begriffs Schizophrenie als
„Bewusstseinsspaltung” zusammen. Die Annahme, dass
an Schizophrenie erkrankte Patienten an einer Persönlichkeitsspaltung leiden oder viele verschiedene Persönlichkeiten in sich tragen, wie in der Geschichte „Dr. Jekyll
and Mr. Hyde”, ist falsch. Der Begriff Schizophrenie
bezeichnet das Charakteristikum dieser psychischen
Störung: Denken, Affekt und Erleben passen nicht
mehr zusammen und die Beziehung zwischen dem
Selbst und der realen Welt geht verloren.”
!
Privatdozent Wolfgang Wölwer, Kompetenznetz Schizophrenie
Hausbesuche vom Psychiater
helfen Heimkindern
Für viele ist es die letzte Chance: Über 22.000 Kinder
und Jugendliche kamen im Jahr 2004 in ein Heim.
Die Gründe für die Aufnahme in solche stationären
Jugendhilfeeinrichtungen reichen von Verwahrlosung
und Misshandlungen bis hin zu sexuellem Missbrauch
und Kontakten in die Straßenstrich- und Drogenszene.
Bei derartigen Vorgeschichten wundert es nicht, dass
weit mehr als die Hälfte der in Heimen Heranwachsenden psychische Störungen hat, die Klinikaufenthalte
erfordern. Dass ein rechtzeitiges psychiatrisches Eingreifen direkt in den Heimen die Situation der Kinder
wesentlich verbessern kann, zeigen erste Auswertungen einer an verschiedenen Studienzentren durchgeführten Untersuchung unter der Leitung von Dr. Lutz
Goldbeck von der Universität Ulm. Sie wird im Rahmen
des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen gemeinsam finanzierten Schwerpunkts Versorgungsforschung gefördert. Goldbeck und
sein Team entwickelten innerhalb eines Netzwerks aus
Institutsambulanzen und sozialpsychiatrischen Praxen
ein mehrgleisiges (multimodales) Behandlungsprogramm, das sich direkt vor Ort an die Heimkinder
wendet.
„Derzeit lässt die psychiatrische Versorgung dieser
Hochrisikogruppe für psychische Erkrankungen sehr zu
wünschen übrig, hier herrscht ein regelrechtes Versorgungsdefizit”, schildert Goldbeck von der Klinik für
Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ulm die aktuelle
Situation. Die Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe
und Jugendpsychiatrie scheitert bisher oft schon an
praktischen Problemen wie langen Anfahrtswegen zu
jugendpsychiatrischen Praxen und Ambulanzen,
begrenzten Zeitbudgets der begleitenden Betreuer und
langen Wartezeiten auf Behandlungsplätze. „Derartige
Versorgungsdefizite führen bei diesen Kindern und
Jugendlichen vermehrt zu stationären Aufenthalten in
psychiatrischen Einrichtungen, was die Heimbetreuung
immer wieder unterbricht und negative psychosoziale
Entwicklungen begünstigt”, erläutert Goldbeck den
Teufelskreis, in dem die jungen Heimbewohner stecken.
Krisen vor Ort begegnen und lösen
Goldbeck und sein Team setzten sich daher zur Aufgabe, eine Therapiestrategie zu entwickeln, die die
Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und -psychiatrie verbessert, eine rechtzeitige Diagnose und leitliniengerechte Behandlung psychischer Erkrankungen
sowie stabilere Entwicklungsverläufe ermöglicht. Ihr
mehrgleisiges Behandlungsprogramm besteht aus
einer kinder- und jugendpsychiatrischen Sprechstunde
in den Heimen zur Diagnostik und psychotherapeutischen sowie medikamentösen Therapie, aus Mitarbei- ❯❯
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Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen
terschulungen der Heimpädagogen, sozialem
Kompetenztraining für
die Kinder sowie Kriseninterventionsplänen.
Diese Interventionspläne
sind zweistufig, sie sehen
im ersten Schritt ein
ambulantes Krisenmanagement durch die
Erzieher und einen
„reisenden” Psychiater
für kritische psychische
Situationen vor. Bleibt
dies erfolglos, zielen
kurzzeitige stationäre
Maßnahmen darauf, die
Kinder und Jugendlichen
so schnell wie möglich
wieder in ihr gewohntes
Umfeld zu integrieren.
Denn, so Goldbeck und
seine Kollegen: Nur
wenn die Heimbetreuung kontinuierlich
In den meisten Heimen herrscht heute eine familiäre Atmosphäre, die Kinder
abläuft, kommt es nicht
werden in kleinen Gruppen betreut.
zu belastenden Beziehungswechseln. Und das wiederum stabilisiert die
Psyche und die soziale Kompetenz der Betroffenen.
Das Umfeld erhalten
„Die psychiatrische Vor-Ort-Betreuung der Kinder in
ihrer alltäglichen Umgebung ist wesentlicher Bestandteil unseres Konzepts, bei dem die Kooperation mit
ihren gewohnten Bezugspersonen eine entscheidende
Rolle spielt. Auch Intensität und Kontinuität der Behandlung orientieren sich optimal am Versorgungsbedarf dieser Hochrisikogruppe”, begründet der Ulmer
Psychologe seinen Ansatz. „Die Jugendlichen profitieren von der verbesserten Versorgung, da die Psychiater
in den einmal wöchentlich oder 14-tägig stattfindenden
Sprechstunden frühzeitig Diagnosen stellen und
Behandlungen einleiten können.”
Der Erfolg gibt Goldbeck recht: Die Wissenschaftler
berichten – noch vor der ersten Datenauswertung im
Spätherbst – von gut besuchten Sprechstunden, Erfolg
versprechenden Mitarbeiterschulungen in den Heimen
und verbesserter Zusammenarbeit zwischen Heimen
und Psychiatrie. Auch die Vereinbarungen zur Krisenintervention zeigen bereits Wirkung: Die jungen Studienteilnehmer aus Heimen mit dem psychiatrischen
Behandlungsprogramm benötigen deutlich seltener
einen Klinikaufenthalt als Heimbewohner aus der
Kontrollgruppe.
Warum kommen Heimkinder
häufiger in die Psychiatrie?
Kinder und Jugendliche in Heimen verfügen über
ein stark erhöhtes Risiko, psychisch zu erkranken.
Die Ursache liegt in einer Anhäufung verschiedener Risikofaktoren, von denen bei diesen Kindern
oft mehrere zusammentreffen. Dazu gehören:
❯❯ psychische Erkrankungen der Eltern
(Psychosen, Sucherkrankungen, Stimmungserkrankungen, Persönlichkeitsstörungen),
❯❯ vorgeburtliche Schädigungen (zum Beispiel
durch Rauchen, Alkohol und Drogenkonsum
während der Schwangerschaft),
Schädigungen während der Geburt,
Frühgeburt,
❯❯ erzieherisches Versagen,
❯❯ Vernachlässigungen,
❯❯ familiäre Disharmonie,
❯❯ Misshandlungen,
❯❯ sexueller Missbrauch.
Diplom-Psychologin Tanja Besier, Klinik für
Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm
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Erfolgreiche Raucherentwöhnung
ist auch eine Frage der Psyche
„Es ist ganz leicht, sich das
Rauchen abzugewöhnen,
ich habe es schon hundert Mal
geschafft.” So wie Mark Twain
geht es vielen Rauchern, die
einfach nicht vom Glimmstängel loskommen. Vor allem
jenen mit psychischen Auffälligkeiten fällt es besonders
schwer, ergab ein Forschungsprojekt an der Universität
Tübingen unter der Leitung
von Professor Anil Batra.
„Die Teilnahme an leitliniengerecht durchgeführten Entwöhnungsprogrammen hält langfristig nur 20 bis 30 Prozent der
Ausstiegswilligen vom erneuten Griff zur Zigarette ab”, weiß
der Suchtexperte. Bei manchen
Personengruppen wie Frauen, jüngeren Menschen oder
Rauchern mit psychiatrischen Problemen liegt die
Abstinenzquote noch niedriger. Diese bereits bekannten, unterschiedlichen Erfolgsaussichten nahm Batra
zum Anlass, weitere Risikoprofile zu ermitteln, die mit
einer erhöhten Rückfallgefahr einhergehen. In einer
vom Bundesministerium für Bildung und Forschung
(BMBF) geförderten Untersuchung konzentrierten sich
der Suchtexperte und sein Team dabei besonders auf
die Psyche und das Rauchverhalten entwöhnungswilliger Raucher. „Psychologische Raucherprofile ermöglichen eine individualisierte Therapie. Sie erhöht
die Chancen, dauerhaft Nichtraucher zu werden und
zu bleiben”, erklärt der Tübinger Psychiater.
Nikotinverzicht: besonders schwer
für Depressive und „novelty seeker”
Die Wissenschaftler identifizierten durch ihre Untersuchung mit über 200 Rauchern anhand psychologischer
Messinstrumente wie Fragebögen vier verschiedene
Typen:
• unauffällige Raucher (normale Durchschnittsraucher),
• depressive bzw. selbstunsichere Raucher,
• körperlich stark abhängige Raucher und
• Raucher mit gesteigerter Aktivität.
Hinter der letzten Gruppe verbergen sich die sogenannten „novelty seeker” – Menschen mit extrovertierten
Charakterzügen, die ständig auf der Suche nach neuen
Eindrücken sind. Blutuntersuchungen und bildgebende
Verfahren gaben zusätzlich Hinweise, ob möglicherweise eine Veranlagung für eine körperliche Nikotinabhängigkeit vorlag. Alle Probanden nahmen sechs Wochen
lang einmal wöchentlich an verhaltenstherapeutischen
Gruppensitzungen teil und erhielten persönlich zugeschnittene Empfehlungen zur Verwendung von Nikotinersatzmitteln wie Kaugummis oder Pflastern. Die
Wahl und Dosierung dieser medikamentösen Ausstiegshelfer orientierte sich am Konsumverhalten und an der
täglichen Zigarettenmenge. Wer über 30 Zigaretten
täglich rauchte, erhielt eine Empfehlung zu einer Kombination aus Pflaster und Kaugummi; bis 20 Zigaretten
täglich gab es nur Pflaster, alternativ Kaugummi bei
einem unregelmäßigen Konsumverhalten.
Diese Therapie führte in den verschiedenen Gruppen zu
sehr unterschiedlichen Abstinenzraten. Bei den unauffälligen Rauchern waren nach einem Jahr 60 Prozent
nikotinfrei. Von den stark abhängigen Rauchern schafften dies nur 35 Prozent, die depressiven und die überaktiven Raucher lagen bei 33 und 25 Prozent. Körperlich
stark abhängige Raucher kommen demnach mit dem
Nikotinverzicht im Vergleich zu den anderen beiden
Risikogruppen besser zurecht – die meisten Rückfälle
traten in allen Gruppen während der ersten drei Mo❯❯
nate auf.
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Maßgeschneiderte Wege aus der Tabaksucht
Auf dieser Basis entwickelt und untersucht Suchtexperte Batra nun spezifische Therapieprogramme für diese
drei Abhängigkeitsgruppen, um den Problemfällen
künftig den Ausstieg aus der Sucht zu erleichtern. Dabei
steht bei den körperlich stark abhängigen Rauchern
eine hoch dosierte Nikotinersatzbehandlung im Vordergrund, die Depressiven erhalten eine starke psychotherapeutische Unterstützung, die unter anderem die
Bewältigung ihrer sozialen Ängste zum Ziel hat. Auch
bei den „novelty seekern” hat die psychotherapeutische
Hilfestellung einen hohen Stellenwert, damit die Betroffenen ihre Unruhe besser bewältigen lernen, die ja
häufig den Griff zur Zigarette auslöst.
Raucher: Wer ist abhängig?
Etwa 27 Prozent der Bevölkerung ab dem 15. Lebensjahr rauchen – doch nicht alle sind abhängig.
Zum Anteil der abhängigen Raucher existieren verschiedene Schätzungen. Plausible Untersuchungen
gehen von einem Anteil von circa 60 Prozent aus.
Merkmale der Abhängigkeit sind:
❯❯ Auftreten von Entzugssymptomen,
❯❯ starkes Rauchverlangen,
❯❯ fehlende Fähigkeit, abstinent zu leben,
❯❯ hoher Zigarettenkonsum
(pro Tag mehr als 20 Stück),
❯❯ der Griff zur Zigarette kurz nach
dem Aufstehen.
Als Entzugssymptome bemerken Raucher neben
dem starken Rauchverlangen Unruhe und Schlafstörungen, vermehrte Irritierbarkeit, Konzentrationsstörungen, Ärger, Aggressivität, Angst, einen
gesteigerten Appetit und manchmal auch depressive Verstimmungen. Der Fagerström-Test (siehe
rechts) erleichtert die Selbsteinschätzung der Abhängigkeit. Gelingt ein Abstinenzversuch nicht aus
eigener Kraft, sollten sich abhängige Raucher in
professionelle Behandlung begeben.
Professor Anil Batra, Suchtexperte an der
Universität Tübingen
Test: Bin ich nikotinabhängig?
(Fagerström-Test)
1. Wann rauchen Sie Ihre erste Zigarette
nach dem Aufstehen?
■ innerhalb von 5 Minuten
■ innerhalb von 6 bis 30 Minuten
■ innerhalb von 31 bis 60 Minuten
■ es dauert länger als 60 Minuten
3
2
1
0
2. Finden Sie es schwierig, an Orten,
wo das Rauchen verboten ist
(in der Kirche, in der Bibliothek,
im Kino usw.), darauf zu verzichten?
■ ja
■ nein
1
0
3. Auf welche Zigarette würden
Sie nicht verzichten wollen?
■ die erste nach dem Aufstehen
■ eine andere
1
0
4. Wie viele Zigaretten
rauchen Sie pro Tag?
■ mehr als 30
■ 21 – 30
■ 11 – 20
■ 10 oder weniger
3
2
1
0
5. Rauchen Sie in den ersten Stunden
nach dem Erwachen im Allgemeinen
mehr als am Rest des Tages?
■ ja
■ nein
1
0
6. Kommt es vor, dass Sie rauchen,
wenn Sie krank sind und tagsüber im
Bett bleiben müssen?
■ ja
■ nein
1
0
Auswertung
Raucher, die mindestens
3 Punkte erzielen, gelten als leicht abhängig,
5 Punkte sprechen für eine mittlere Abhängigkeit,
6–7 Punkte für eine starke Abhängigkeit und mehr
als 7 Punkte für eine sehr starke Abhängigkeit.
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zu den Ansprechpartnern für die vorgestellten Projekte vermittelt ebenfalls die Redaktion.
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Bildnachweis
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Seite 5: Deutsches Bündnis
gegen Depression e. V.
alle anderen Bilder: BMBF
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