Blinde Passagiere im Erbgut

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Viren und Bakterien
Christine Leib-Mösch
Blinde Passagiere
im Erbgut
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Ein Teil unseres Erbguts stammt von Bakterien und Viren.
Bakterien wurden als Endosymbionten im Laufe der Evolution zu Zellorganellen wie den Mitochondrien. Ihre DNA
wurde eher zufällig in das Genom eingebaut. Manche Viren hingegen, in deren Lebenszyklus die Integration in die
zelluläre DNA essentiell ist, konnten wesentlich leichter
dauerhaft in das Wirtsgenom übernommen werden. Der
Zugewinn an Erbgut-Information erleichterte die Anpassung an veränderte Umweltbedingungen und bot „Rohmaterial“ für neue Gene.
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Die Endosymbionten-Hypothese
ie Analyse des menschlichen Genoms hielt einige
Überraschungen bereit: Neben Genen, die von einstmals parasitären Bakterien stammen, enthält
das menschliche Genom auch umfangreiche Bereiche viralen Ursprungs: Vor etwa 40 bis 70 Millionen Jahren infizierten Retroviren
die Keimbahnzellen unserer Vorfahren und haben sich seither im
Genom weiter vermehrt. Inzwischen umfassen diese Sequenzen
etwa neun Prozent des menschlichen Erbguts, das ist fünfmal
mehr, als der Anteil der Protein-kodierenden Gensequenzen ausmacht, und es gibt zahlreiche Hinweise, dass sie für die Wirtszellen
wichtige Funktionen übernommen
haben.
D
Grafiken: Aventis/
Pasteur/MSD
Foto: GBF
Die meisten bakteriellen
Gene im menschlichen Genom wurden wohl von ehemals parasitären Bakterien
erworben. Einige dieser Parasiten wurden im Laufe der Evolution
zu „Endosymbionten“ der eukaryotischen Zelle. Später entstanden
daraus Zellorganellen wie zum
Beispiel die Mitochondrien. Für
die eukaryotische Zelle waren diese symbiontischen Bakterien zunächst wichtig, um das Zellgift
Sauerstoff zu eliminieren, das sich
durch die Photosynthese vor etwa
zwei Milliarden Jahren in der
Atmosphäre anreicherte. Darüber
hinaus konnte mit Hilfe der Mitochondrien Sauerstoff für die Energieproduktion verwertet werden.
Im Laufe der Anpassung verloren
die Endosymbionten-Genome jedoch einen Großteil ihrer Gene,
die in den Zellkern überführt und
in die chromosomale DNA der
eukaryotischen Zelle eingebaut
wurden. So liegt die Bauanleitung der meisten für die Zellatmung wichtigen Proteine inzwischen im Kern, obwohl sie
ursprünglich aus dem mitochondrialen Genom stammen.
Neben diesen funktionstüchtigen
mitochondrialen Genen enthält
das menschliche Genom etwa 600
weitere integrierte mitochondriale
„Pseudogen“-Sequenzen, das
heißt Gene, die ihre ursprünglichen Funktionen verloren haben,
darunter drei fast komplette mitochondriale Genome. Insgesamt
entsprechen diese Sequenzen
etwa 0,2 Promille des humanen
Genoms.
Neben den schon von der primitiven eukaryotischen Zelle genutzten mitochondrialen Genen
wurden im menschlichen Erbgut
noch etwa 20 Protein-kodierende
Sequenzen identifiziert, deren
Genprodukte bakteriellen Proteinen auffallend ähnlich sind. Man
findet diese Gene ausschließlich
im Genom von Wirbeltieren, aber
nicht in den Genomen von wirbellosen Organismen, wie Insekten,
Würmern und Hefe. Einige dieser
Proteine sind Transferasen, das
heißt Enzyme, die andere Proteine
chemisch modifizieren; die Funktion der meisten ist jedoch unbekannt. Es ist noch umstritten, ob
diese Sequenzen tatsächlich durch
einen sogenannten„horizontalen
Transfer“ von Bakterien zu frühen
Wirbeltieren erworben wurden.
Unter horizontalem Gentransfer
versteht man die Übertragung von
Genen über Artgrenzen hinweg,
also ohne die Partner im klassischen Sinn zu kreuzen. Eine andere Erklärung wäre, dass diese
Gene zwar in der frühen eukaryotischen Zelle noch vorhanden waren, dann aber im Laufe der Evolution in der Linie der wirbellosen
Organismen verloren gingen, weil
sie dort ihre Funktionen verloren
hatten und nicht mehr gebraucht
wurden.
Wenn endogene Retroviren aktiviert
werden – hier gezeigt am Beispiel
menschlicher Teratokarzinomzellen –
können sie virale Partikel bilden. Diese
schnüren sich von der Zellmembran
ab (a, b) und werden schließlich frei
gesetzt (c). Ob diese Partikel andere
Zellen infizieren können, ist noch
nicht geklärt.
Fotos: Boller
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Blinde
Passagiere im
Erbgut
Das Genom – ein Museum viraler Infektionen?
Umfassen die bakteriellen Sequenzen mit rund 0,2 Promille
nur einen winzigen Bruchteil des
humanen Genoms, so ist der Anteil an viraler DNA ungleich höher: Sequenzen, die sich von
Retroviren herleiten, bilden etwa
neun Prozent des menschlichen
Erbguts. Diesen hohen Anteil
verdanken Retroviren zwei bemerkenswerten Eigenschaften:
Im Gegensatz zu den meisten anderen Viren müssen Retroviren,
um sich vermehren zu können,
ihr Genom in das Erbgut der
Virus-Infektionen haben über Jahrmillionen hinweg Spuren hinterlassen:
Etwa neun Prozent der menschlichen DNA ist viralen Ursprungs.
Grafik: Seifarth, Quelle: Nature 405, 2001
Wirtszelle integrieren. Dieser Vorgang, der für andere Parasiten
eher ein zufälliges Ereignis ist,
ist für Retroviren ein unabdingbarer Schritt in ihrem Replikationszyklus und wird von extra
dafür bereit gestellten viralen
Enzymen gesteuert. In seiner
integrierten Form wird das Retrovirus auch als „Provirus“ bezeichnet. Erfolgt diese Integration
nun in einer Keimzelle des Wirts,
so wird das Provirus zu einem
endogenen Retrovirus (ERV). Das
virale Genom wird von nun an
entsprechend den Mendelschen
Nur das Nötigste eingepackt: Retroviren bestehen lediglich aus der Virushülle, dem Kapsid, der viralen RNA und einer
handvoll wichtiger Enzyme (links). Ansonsten greifen sie auf die Ausstattung der Wirtszelle zurück. Nach deren Infektion
synthetisiert das Enzym reverse Transkriptase anhand der RNA-Vorlage die komplementäre DNA (cDNA), die anschließend
in das Genom integriert wird. Endogene Retroviren können sich auf verschiedene Weise vermehren (rechts): Horizontal
durch Bildung von Viruspartikeln, die andere Zellen infizieren, vertikal durch Vererbung auf die Tochterzellen bei der Zellteilung und intrazellulär durch Retrotransposition.
Grafiken: Seifarth
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Neuweltaffen
Altweltaffen
Pavian
Gibbon
Orang
-Utan
Gorilla
Schimpanse
Mensch
Vor Mio. Jahren
DNA-Unterschiede in %
Krallenäffchen,
Klammerschwanzaffen
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bei der Zellteilung eine Störung
für den Ablauf der chromosomalen Rekombination darstellen: Bei
der Rekombination vor der Teilung von Keimzellen werden korrespondierende DNA-Abschnitte
zwischen den Chromosomen eines Chromosomenpaares ausgetauscht. Retrovirale Sequenzen
können dabei korrespondierende
DNA-Abschnitte vortäuschen und
so zu Brüchen führen, die den
Verlust oder Austausch einzelner
Chromosomenteile zur Folge haben.
Humane endogene Retroviren (HERVs) gelangten in verschiedenen Abschnitten
der Evolution in das Primaten-Genom, wurden durch Retrotransposition vervielfältigt und über alle Chromosomen verteilt. Ein HERV-Element, das in der Nähe
eines Amylase-Gens integriert wurde, ist für die Aktivität dieses Enzyms im
Speichel verantwortlich.
Virales Syncytin – am
Aufbau der Plazenta
beteiligt
Grafik: Seifarth
Das virale Hüllprotein Env befähigt Retroviren einerseits dazu,
an eine Zielzelle zu binden und in
sie einzudringen, andererseits
kann es auch die Fusion von Env
produzierenden Zellen zu vielkernigen Riesenzellen (Synzytien)
auslösen. Nun hat sich herausgestellt, dass das Env-Protein eines
bestimmten humanen endogenen Retrovirus, HERV-W, mit dem
Protein Syncytin identisch ist,
welches für den Aufbau der
menschlichen Plazenta benötigt
wird. In diesem Fall beeinflussen
also retrovirale Sequenzen ent-
Gesetzen auf die Nachkommen
des Wirts vererbt.
Die zweite bemerkenswerte
Fähigkeit von Retroviren besteht
darin, dass sich auch defekte
Viruskopien, die ihre Replikationsfähigkeit eigentlich verloren
haben, noch innerhalb einer Zelle
durch einen Mechanismus, der
als „Retrotransposition“ bezeichnet wird, vermehren können. Sie
benötigen dazu lediglich die
Enzyme „Reverse Transkriptase“
und „Integrase“, für die sie selbst
kodieren, oder die ihnen von anderen Retroelementen zur Verfügung gestellt werden. Auf diese
Weise können hunderte bis tausende Viruskopien produziert und
an beliebigen Stellen neu in das
Genom integriert werden. Innerhalb von etwa 70 Millionen Jahren haben sich humane endogene Retroviren (HERVs) so über
alle Chromosomen verteilt. Es ist
zu vermuten, dass sich der Organismus im Laufe der Evolution
dieses Ballastes wieder entledigt
hätte, wenn diese Sequenzen völlig funktionslos wären. Allein der
hohe Energieaufwand, der nötig
ist um die DNA bei jeder Zellteilung zu verdoppeln, hätte sie mit
der Zeit eliminiert. Tatsächlich
mehren sich jedoch die Hinweise,
dass diese Eindringlinge im Laufe
der Jahrmillionen von ihrem Wirt
für seine Zwecke instrumentalisiert wurden: Nicht nur können
sie eine rasche Anpassung an
veränderte Umweltbedingungen
bewirken, indem sie hohe Rekombinationsraten ermöglichen, sondern sie können auch selbst das
Rohmaterial zur Bildung neuer
Gene und Genvarianten liefern.
Dabei hilft ihnen, dass sie im Genom weit verbreitet sind. Endogene Retroviren können, wie andere
repetitive DNA-Elemente auch,
Syncytin, ein virales Protein, ist am Aufbau der menschlichen Plazenta beteiligt.
Es wird durch ein virales env-Gen kodiert. Das Protein bewirkt die Bildung einer
Zellschicht, die die Plazenta in der Gebärmutterschleimhaut verankert. Möglicherweise unterdrückt das Protein auch die Immunabwehr der Mutter gegen
den sich entwickelnden Embryo.
Grafik: Seifarth
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HERV-L
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0
scheidend die Biologie des Menschen. Syncytin wird von fetalen
Zellen synthetisiert und ist verantwortlich für die Bildung einer
Zellschicht der Plazenta, die
durch Zellfusion entsteht und als
Syncytiotrophoblast bezeichnet
wird. Sie verankert die Plazenta
in der Gebärmutterschleimhaut
und ist mit für die Versorgung
des Embryo und den Abtransport
von Abfallstoffen zuständig.
Dieser Vorgang ist lebenswichtig,
denn vermutlich wird durch eine
Fehlfunktion von Syncytin unter
anderem eine gefährliche
Schwangerschaftskomplikation,
die Gestose, verursacht. Mögli-
HERV-LTRs können auf unterschiedliche Weise in die Genregulation
eingreifen: Sie können Promotor- (A)
oder Enhancersequenzen (B) zur
Verfügung stellen oder Transkripte
durch Polyadenylierung terminieren (C).
Lungen
fibroblasten
Astrozyten
Leber
Hautkeratinozyten
Epithel
Brustdrüse
Epithel
Brustdrüse
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70
60
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40
30
20
10
0
Lungen
fibroblasten
Pankreas
Astrozyten
Leber
Hautkeratinozyten
In jedem Gewebetyp sind andere HERV-LTRs aktiv. Transkriptionsfaktoren, die
an bestimmte Signalsequenzen binden, können die Gene gewebespezifisch anoder abschalten.
Grafik: Leib-Mösch
cherweise verhindert das retrovirale Protein durch seine immunsuppressiven Eigenschaften
auch die mütterliche Immunabwehr gegen den sich entwickelnden Embryo.
Grafik: Leib-Mösch
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Pankreas
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Die hartnäckigsten
Überbleibsel: Retrovirale
Kontrollsequenzen
Der größte Teil der retroviralen
Sequenzen im humanen Genom
wird jedoch nicht von Protein-kodierenden Genen, sondern von
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HERV-LTRs enthalten alle Kontrollsequenzen, die für die Genexpression
benötigt werden.
Grafik: Leib-Mösch
sogenannten LTR-Sequenzen
(long terminal repeats) gestellt.
Die LTRs bilden die beiden Enden
des Provirus und enthalten die
Steuerelemente für die virale
Genexpression. Im Laufe der
Evolution wurde durch Rekombination der beiden LTRs miteinander ein großer Teil der integrierten proviralen Sequenzen wieder
aus dem Genom entfernt, wobei
jeweils eine einzelne LTR erhalten
blieb. Das erklärt den hohen
Überschuss an solitären LTRs,
die etwa 8,5 Prozent des Genoms
stellen, im Vergleich zu kompletten proviralen Sequenzen, die nur
etwa 0,5 Prozent ausmachen. Damit stellen endogene retrovirale
LTRs ein nahezu unerschöpfliches
Reservoir an regulativen Sequenzen dar, die im Laufe der Evolution für die Modifizierung von
Genfunktionen oder für die Generierung neuer Gene genutzt werden konnten.
Im Gegensatz zu den kodierenden Gensequenzen, die in den
Proviren häufig durch Punktmutationen inaktiviert sind, haben die
meisten HERV-LTR Sequenzen
(das gilt auch für die zahllosen solitären LTRs) tatsächlich über Millionen von Jahren hinweg ihre Aktivität bewahrt. Untersuchungen
an rund 100 HERV-LTRs, die mehr
oder weniger willkürlich aus dem
humanen Genom isoliert wurden,
haben gezeigt, dass noch wenigstens zwei Drittel dieser Sequenzen
aktiv sind und die Expression eines beliebigen Gens kontrollieren
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können. Wenn man nun isolierte
LTR-Sequenzen an ein Reportergen (Indikatorgen) koppelt, wie
zum Beispiel das Gen für das Enzym Luziferase oder das GFP-Gen
aus Leuchtquallen, das für ein
grün fluoreszierendes Protein kodiert, und diese Konstrukte dann
in verschiedene humane Zellinien
einschleust, kann man verfolgen,
in welchem Zelltyp bestimmte
HERV-LTRs aktiv oder nicht aktiv
sind. Auf diese Weise konnte gezeigt werden, dass HERV-LTRs
Gene gewebespezifisch an- oder
abschalten können. So ist zum
Beispiel die HERV-L LTR nahezu
ausschließlich in Keratinozyten
der menschlichen Haut aktiv. Die
gewebespezifische Aktivität dieser
LTR wird durch Transkriptionsfaktoren in der Zelle vermittelt, die an
bestimmte Signalsequenzen in der
LTR binden.
LTRs befehlen „Start“
und „Stop“
Wie bereits erwähnt, enthalten retrovirale LTRs alle Regulationselemente, die für die Genexpression
benötigt werden. Das sind insbesondere Signalsequenzen, welche
die Transkription initiieren oder
verstärken, wie Promotoren oder
Enhancer, sowie Bindungsstellen
für Transkriptionsfaktoren, die für
die Gewebespezifität der Transkription verantwortlich sind. Darüber hinaus können sie auch Transkripte auf verschiedene Weise terminieren und durch Bereitstellung
von Polyadenylierungssignalen
mRNAs stabilisieren. Sie stellen
damit ein immenses Reservoir an
regulatorischen Sequenzen dar,
welche die Expression benachbar-
ter zellulärer Gene kontrollieren
können. Die Insertion einer LTR
kann für die Gene der Umgebung
vielfältige Konsequenzen haben:
Sie erhöht oder senkt die Transkriptionsrate, verändert die Gewebespezifität eines Gens oder sorgt
durch alternatives Spleißen für die
Bildung neuer Genprodukte mit
veränderten Funktionen. Auf diese
Weise können HERV-Sequenzen
zur genetischen Variabilität des
Phänotyps und damit auch zur
Entwicklung der Spezies beigetragen haben.
Gene unter
viraler Kontrolle
Ein gut dokumentiertes Beispiel
dafür, wie eine HERV-LTR die Gewebespezifität der Genexpression beeinflussen kann, ist das
Verdauungsenzym Amylase. Wir
besitzen fünf Amylase-Gene, wovon zwei in der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) und drei in der
Speicheldrüse des Mundes aktiv
sind. Dass der Mensch im Gegensatz zu vielen anderen Säugern
Amylase im Speichel bilden
kann, verdankt er der Insertion
eines HERV-Elements, das den
Pankreas-spezifischen Promotor
eines AmylaseGens in einen
Speicheldrüsen-spezifischen umwandelte. Durch die Amylasebildung im Speichel kann die Nahrung besser aufgeschlossen werden, was unseren Vorfahren
möglicherweise im Laufe der
Evolution Wettbewerbsvorteile
verschafft hat. Ein anderes
Beispiel ist die Steuerung des
Körperfettgehaltes, an der das
Hormon Leptin entscheidend
beteiligt ist: Die Expression des
humanen Leptin-Gens und des
Leptinrezeptor-Gens, wird wahrscheinlich durch Steroidhormoninduzierbare LTR-Sequenzen reguliert. Anhand von Datenbankrecherchen konnte auch ein
HERV-LTR-Typ entdeckt werden,
der in der Promotorregion unterschiedlicher kernkodierter mitochondrialer Proteine lokalisiert
ist. Es gibt Hinweise dafür, dass
diese HERV-LTR-Sequenzen spezifische Transkriptionsfaktor-Bindungsstellen zur Verfügung stel-
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len, die für die koordinierte Expression dieser Gene verantwortlich sind.
HERV-LTR-Sequenzen sind
aber nicht nur an der Initiation,
sondern auch an der Termination
zellulärer Transkripte beteiligt:
Zum Beispiel wurden aus einer
menschlichen Brustkrebszelllinie
eine Reihe von Transkripten isoliert, deren Polyadenylierungssignal von einer HERV-LTR zur
Verfügung gestellt wird. Diese
Polyadenylierungsfunktion ist
nicht nur für den Transport der
mRNA aus dem Zellkern in das
Zytoplasma, sondern auch für
die Stabilisierung der mRNA
essentiell. Eines dieser LTR-polyadenylierten Transkripte kodiert für eine humane Transmembran-Tyrosinkinase, die
Wachstumssignale auf Gefäßzellen (endotheliale Zellen) überträgt und einerseits für die Entwicklung der Blutgefäße im
Embryo wichtig ist, anderseits
aber auch an der Entstehung
lymphatischer Tumore beteiligt
sein kann.
Derzeit sind ungefähr 20
menschliche Gene bekannt,
deren Expression von retroviralen Kontrollsequenzen reguliert
wird. Im menschlichen Genom
konnten jedoch bisher schon
mindestens 600 000 bis 700 000
retrovirale LTRs durch Sequenz-
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analysen identifiziert werden, so
dass zu erwarten ist, dass sich
der Einfluss dieser Sequenzen
auf Genfunktion und Genomevolution als noch sehr viel größer
erweisen wird, als bislang vermutet wurde. Insgesamt werfen
die hier vorgestellten Erkenntnisse über den Austausch von
genetischem Material unter Eukaryoten, Bakterien und Viren ein
völlig neues Licht auf die Beziehungen zwischen Wirt und Parasit und ihre lange gemeinsame
Entwicklung.
Literaturhinweise:
Boeke, J.D., Stoye, J.P.: (1997) Retrotransposons, Endogenous retroviruses and
the Evolution of Retroelements. In: Retroviruses. (J.M. Coffin, S.H. Hughes, H.E.
Varmus, Eds.), 343-435. Cold Spring Harbor Laboratory Press, Cold Spring Harbor, NY
Doolittle, W.F.: (2000) Stammbäume des Lebens. Spektrum der Wissenschaft, 4/00,
52
International Human Sequencing Consortium: (2001) Initial sequencing and analysis of the human genome. Nature 409,
860-921
Mouse Genome Sequencing Consortium:
(2002) Initial sequencing and comparative analysis of the mouse genome. Nature 420, 520-562
Sverdlov, E.: (2003, Ed.) Retroviruses and
Primate Genome Evolution. Landes Bioscience, Georgetown, TX
Internettipps
Genomic Scrap Yard http://www.ncbi.nlm.
nih.gov/CBBresearch/Makalowski/Scrap
Yard
Transposons und DNA Rekombination:
Schrittmacher in der Evolution und Genetik, Vorlesung an der Universität Heidelberg, unter http://www.zoo.uni-heidelberg.de/lankenau/Teaching/Vorlesung/vor
lesung.htm
Beispiele für HERV-LTR-regulierte Genexpression
HERV-Typ
Funktion
Gen unter Kontrolle
Beitrag zur Proteinsequenz,
Modifikation des Transkripts
HERV-R
HERV-E
HERV-E
HERV-K
HERV-K
Promotor
Promotor
Enhancer
Enhancer
Polyadenylierung
Krüppel-verwandtes Zinkfingergen plk
Opitz-Syndrom-Gen Mid1
Amylasegen der Speicheldrüse
Leptingen
Leptinrezeptorgen
HERV-K
Polyadenylierung
Transmembran-Tyrosinkinase-Gen FTL4
nein
verkürztes Transkript
nein
nein
67 Aminosäuren,
verkürztes Transkript
nein
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