Höffe, Kablitz (Hrsg.) · Europäische Musik – Musik Europas F6186_Höffe.indd 1 11.07.17 13:04 EUROPA POLITISCHES PROJEKT UND KULTURELLE TRADITION Schriftenreihe des Arbeitskreises Europa der Fritz Thyssen Stiftung »Europäische Musik – Musik Europas« ist der dritte Band des Arbeitskreises »Europa – Politisches Projekt und kulturelle Tradition« der Fritz Thyssen Stiftung. Band 1 »Europas Sprachenvielfalt und die Einheit seiner Literatur« und Band 2 »Recht und Gerechtigkeit« der Schriftenreihe sind im Rombach Verlag erschienen. F6186_Höffe.indd 2 11.07.17 13:04 Otfried Höffe, Andreas Kablitz (Hrsg.) Europäische Musik – Musik Europas Wilhelm Fink F6186_Höffe.indd 3 11.07.17 13:04 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Umschlagabbildung: „Orpheus with Hades and Persephone | 5132: H. W. Bissen, 1798–1868: Orpheus pleading with Pluto and Proserpina to restore Eurydice to him“ aus der Ny Carlsberg Glyptotek (Kopenhagen, DK) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2017 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6186-5 F6186_Höffe.indd 4 11.07.17 13:04 Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 GUNNAR HINDRICHS (Basel) Das musikalische Kunstwerk als Idealtyp europäischer Musik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 WOLFRAM STEINBECK (Köln) Absolute Musik – Ein deutscher Beitrag zur europäischen Musikgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 SILKE LEOPOLD (Heidelberg) Was macht die Oper zur »europäischsten aller traditionellen Theaterformen«?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 PETER WOLLNY (Leipzig) Johann Sebastian Bach, ein Europäer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 CHRISTOPH WOLFF (Cambridge) Europäische Orientierung und Perspektiven in Mozarts Leben und Werk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 AUGUST GERSTMEIER (Tübingen) Beethoven – Ein europäischer Komponist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 ANDREAS KABLITZ (Köln) Europäischer Wagnerismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 OTFRIED HÖFFE (Tübingen) Ausblick: Zum kosmopolitischen Charakter der Musik Europas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 F6186_Höffe.indd 5 11.07.17 13:04 F6186_Höffe.indd 6 11.07.17 13:04 Einleitung Die in diesem Band versammelten Aufsätze sind aus dem Kolloquium Europäische Musik – Musik Europas hervorgegangen, das in den Räumen der Fritz Thyssen Stiftung im Januar 2014 stattfand. Einige weitere Artikel konnten die Herausgeber hinzugewinnen. Die Veranstaltung gehört zur Serie der Tagungen des von den Herausgebern geleiteten Arbeitskreises Europa – Politisches Projekt und kulturelle Tradition der Fritz Thyssen Stiftung. Allen Teilnehmern des Kolloquiums und Beiträgern zu diesem Band sei herzlich gedankt. Unser besonderer Dank gilt der Fritz Thyssen Stiftung, die diese Tagung wie den gesamten Arbeitskreis großzügig gefördert hat. Zentrales Anliegen dieses Arbeitskreises ist es, in einer Zeit wachsender Zweifel am Projekt der europäischen Einigung und der weitgehenden Verkürzung ihrer Begründung auf ökonomische Faktoren die Frage nach dem Beitrag, den die kulturelle Tradition unseres Kontinents zu diesem politischen Prozeß leisten kann, zu stellen. Bei einer solchen Erforschung der gemeinsamen kulturellen Wurzeln unseres Kontinents darf selbstredend die Musik nicht fehlen. Womöglich ist gerade sie das am genuinsten europäische Erbe, das Europa der Weltkultur hinterlassen hat. Bei Licht betrachtet ist die Musik, was uns vielleicht nicht immer ganz bewußt ist, das Eigenste, das Elementarste, was Europa der Weltkultur geschenkt hat. Große Poesie, Philosophie, Malerei, Skulptur, Architektur, das alles gibt es in anderen Kulturen auch. In keiner anderen Kultur jedoch hat – ich glaube, das dürfen wir ohne Anmaßung der Europäer sagen – die Musik solche Höhen erreicht, ist in so tiefe Schichten vorgedrungen, wie in Europa.1 So äußerte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer seiner Reden im Europäischen Jahr der Musik 1985. Seinem Urteil ist auch heute noch – und aller eurozentrischen Skepsis zum Trotz – weitgehend zuzustimmen. Nicht zuletzt die weltweite Präsenz der europäischen Musik bestätigt es. 1 Richard von Weizsäcker: »Rede anläßlich der Verleihung der Zelter und PRO-MUSICAPlakette in Erlangen (17. März 1985)«, in: ders., Reden und Interviews 1.1. Juli 1984 – 30. Juni 1985, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1986, 244–249, hier 247. F6186_Höffe.indd 7 11.07.17 13:04 8 Einleitung Innermusikalisch betrachtet, liegt die Ursache für diese Sonderstellung der europäischen Musik vermutlich vor allem in der Entwicklung einer Mehrstimmigkeit, deren Komplexität nirgends sonst in der Welt zu finden ist. Und diese ihre Singularität mag nicht zuletzt einer der Gründe dafür sein, daß sie auch außerhalb des Gebietes, in dem sie entstanden ist, so erfolgreich wie keine zweite Musikkultur dieser Erde außerhalb ihrer ›Stammlande‹ geworden ist. Was aber macht – neben dem genannten Merkmal ihrer komplexen Mehrstimmigkeit – das Besondere der europäischen Musik aus?2 Ja, läßt sich auch diese für Europas Musik so charakteristische Eigenheit womöglich auf einen noch tiefer liegenden Grund zurückführen? Was die europäische Musik in besonderer Weise prägt, ist ihr Verhältnis zur Rationalität. Gewiß läßt sich für jede Musik sagen, daß sie auf einer bestimmten Prinzipien folgenden Organisation von Tönen beruht. Ihr ist insofern stets ein Moment rationaler Ordnung inhärent. Das Kennzeichnende der Beziehung der europäischen Musik zur Rationalität aber ist der Bewußtseinsgrad dieses Verhältnisses. Typisch europäisch ist die R e f l e x i o n über die Rationalität der Musik. Schon in der Antike ist sie deshalb zum Gegenstand der Theorie geworden. Ihre Analyse vermittels mathematischer Verfahren bietet zweifellos auch die Voraussetzungen für die Entwicklung der singulären Mehrstimmigkeit europäischer Musik. Und doch dürfte sie allein nicht genügen, um deren Entstehung zu erklären. Denn auch diese Mathematisierung reicht schon in die Antike zurück. Doch, nach allem was wir wissen, kannte die antike Musik keine irgend der seit dem Mittelalter aufkommenden Mehrstimmigkeit vergleichbare Formen des musikalischen Ausdrucks. Was also mußte hinzukommen, um Anlaß für ihre Entwicklung zu geben? Entstanden ist sie im Rahmen der mittelalterlichen Liturgie. Waren es die Bedürfnisse des christlichen Kultes, die Anstoß zu seiner Entstehung gaben? Gab womöglich die sakrale Aura des Wortes Anlaß zu einem besonderen Schmuck, zu einem musikalischen ornatus, der nach stets opulenteren Formen verlangte und sich dadurch auch als eine Keimzelle der Mehrstimmigkeit erwies? 2 Wir stellen im folgenden einige Argumente, die in den Beiträgen dieses Bandes entwickelt werden, zusammen, ohne sie jeweils einzelnen Verfassern zuzuordnen. Denn uns kommt es in diesem einleitenden Überblick mehr auf die Verbindungen zwischen diesen Argumenten als nur auf diese selbst an. F6186_Höffe.indd 8 11.07.17 13:04 Einleitung 9 Wenn die reflektierte Rationalität der europäischen Musik als eine ihrer Grundlagen wie ebenso als ein maßgeblicher Faktor ihrer bemerkenswerten historischen Dynamik gelten kann, so gehört dazu auch, daß die Musik vor allem seit der Wende zum 19. Jahrhundert zu einem Gegenstand philosophischer Erörterungen wird, die ihrerseits nicht ohne Auswirkungen auf die musikalische Praxis bleiben. Die Diskussion um die sog. absolute Musik bietet ein signifikantes Beispiel dafür. Wie in keiner Epoche zuvor steigt die Musik nun in den Rang eines kulturellen Mediums auf, anhand dessen nicht nur grundlegende Fragen der Ästhetik erörtert werden, sondern ebenso das theoretische Selbstverständnis des Menschen schlechthin diskutiert wird. Wie im Falle aller anderen Erscheinungsformen der europäischen Kultur hat auch für die Musik das Verhältnis zwischen gemeineuropäischen Phänomenen und nationalen Besonderheiten eine nicht unerhebliche Bedeutung. Es ist selbstredend von anderer Art als dort, wo verschiedene Sprachen die Verständigung erschweren (wobei man freilich in Rechnung zu stellen hat, daß für die gebildeten Schichten, und nur für sie war der kulturelle Austausch von Belang, über die längste Zeit der europäischen Geschichte das Lateinische – und später das Französische – als allen gemeinsames Kommunikationsmittel zur Verfügung stand). Gleichwohl haben sich auch in der Musik regionale (und später nationale) Formen und Konventionen ausgebildet, für die indessen ebenso ihr ›Export‹ charakteristisch ist. Auf diese Weise entsteht ein besonders reichhaltiges Repertoire von musikalischen Formen, das lokale Varianten für stilistische Vielfalt (und virtuose Kombinationskunst) zu nutzen gestattet. Einen interessanten Fall bietet das Musiktheater. Ungeachtet ihrer Bindung an die Sprache haben gerade Opern einen besonders hohen Grad an europäischer Verbreitung erreicht. An ihnen läßt sich exemplarisch studieren, auf welche Weise und in welchem Ausmaß auch außermusikalische Faktoren das europäische Musikleben bestimmen. Zum europäischen Charakter der Musik tragen nicht zuletzt die Lebensläufe von Musikern – Komponisten wie Interpreten – bei. Zumal im Erfolgsfall waren sie stets europäische Karrieren und häufig auch Biographien, bevor sie in der Moderne weit über die Grenzen Europas hinaus international wurden. Aber selbst diese ›Globalisierung‹ der europäischen Musik zählt zu ihren signifikanten Eigenheiten. Was ist es, das ihre Globalisierungsfähigkeit ausmacht? Welche ihrer Eigenschaften ermöglichen eine weltweite Rezeption, für die sich in keiner anderen der musikalischen Kultur der Erde Vergleichbares findet? F6186_Höffe.indd 9 11.07.17 13:04 10 Einleitung Fragen wie die hier skizzierten stehen im Zentrum der folgenden Studien. Daß sich in ihrem Rahmen selbstredend nur eine Auswahl solcher Fragen behandeln läßt, bedarf nicht weiter der Erwähnung. Gleichwohl hoffen die Herausgeber, mit diesem Band einen Einblick in die europäischen Dimensionen jenes kulturellen Phänomens zu bieten, das, wie eingangs bemerkt, den vielleicht eigentümlichsten Beitrag Europas zum ›Weltkulturerbe‹ vermittelt. Auch am Ende gilt es, einen Dank auszusprechen. Frau Dr. Simona Oberto hat sich mit großer Sorgfalt und ebenso großer Kompetenz der Druckfassung dieses Bandes angenommen. Dafür sind ihr die Herausgeber sehr verbunden. Otfried Höffe F6186_Höffe.indd 10 Andreas Kablitz 11.07.17 13:04 GUNNAR HINDRICHS (Basel) Das musikalische Kunstwerk als Idealtyp europäischer Musik I. Der Ausdruck europäische Musik kann in einem schwachen und in einem starken Sinn verstanden werden. In seinem schwachen Sinn bezeichnet er die Menge der musikalischen Erzeugnisse einer geographischen Region. In seinem starken Sinn bezeichnet er eine besondere Bestimmtheit dieser Erzeugnisse. Musik gerät dann nicht unter dem Gesichtspunkt zum Thema, daß sie aus Europa stammt. Vielmehr wird sie ›als europäisch‹ verstanden. Hier geht es statt um ihre geographische Herkunft um ihre musikalische Gestalt. Der starke Sinn des Ausdrucks vergegenwärtigt Musik in dem Europäischen ihrer Faktur. Auf diese Weise von europäischer Musik zu sprechen wirft eine grundlegende Frage auf. Die Bestimmung ›europäisch‹ ist selber keine musikalische Bestimmung. Aber sie kann musikalische Bestimmungen versammeln, um die Besonderheit einer Faktur zu kennzeichnen, die man als europäisch versteht. Von europäischer Musik zu sprechen vollzieht daher eine Ordnungsleistung. Sie besteht in der Auswahl, Gruppierung und Zusammenbindung gewisser musikalischer Bestimmungen. Dadurch nimmt sie eine artikulierte Vereinheitlichung vor. Die Frage lautet: Unter welchen Bedingungen ist diese Vereinheitlichung möglich? II. Vereinheitlichungen reduzieren Komplexität. Das kann auf verschiedene Weise geschehen, je nach dem Gebiet, dessen Komplexität zugunsten seiner Vereinheitlichung reduziert werden soll. Namentlich Begriffe sind Mittel zur Vereinheitlichung. Sie reduzieren die Komplexität des Gegebenen, um es unter gewissen Merkmalen zu artikulieren. Etwas auf den Begriff zu bringen bedeutet daher: es um seiner Artikuliertheit willen in seiner Komplexität zu reduzieren. Eine höherstufige Form der Vereinheitlichung stellen Begriffe dar, die sich selber auf Begriffe beziehen. Hier wird nicht etwas Vorbegriffliches in begrifflichen Einheiten geordnet, F6186_Höffe.indd 11 11.07.17 13:04 12 Gunnar Hindrichs sondern die begrifflichen Ordnungseinheiten werden in höheren Einheiten geordnet. Dadurch wird die Komplexitätsreduktion einfacher Begriffe nochmals reduziert und auf sehr allgemeine Bestimmungen gebracht. Das herausragende Beispiel solch höherer Einheiten sind Kategorien. Sie bilden die obersten Klassen, in denen begrifflich Bestimmtes artikuliert werden kann, und reduzieren die begriffliche Komplexitätsreduktion auf umfassende Allgemeinheiten. Das Beispiel der Kategorien macht zugleich deutlich, daß man die Ordnungsleistung der Vereinheitlichung nicht nur als Reduktion von Komplexität auffassen darf. Denn Kategorien lassen sich mit Kant als Bedingungen der Möglichkeit begreifen, überhaupt etwas als etwas erfassen zu können.1 Indem sie die Einsatzgebiete von Begriffen anzeigen, richten ihre Allgemeinbestimmungen die einfacheren Bestimmungen auf ihren Geltungsbereich aus. Entsprechend stellt die Vereinheitlichung durch höherstufige Begriffe eine Bedingung der Möglichkeit dar, Welt zu artikulieren. Gleiches gilt für Begriffe insgesamt. So sehr sie die Komplexität des Gegebenen zugunsten seiner Vereinheitlichung reduzieren, so sehr bilden sie den Grund, auf dem das Gegebene überhaupt seine Artikulation zu finden vermag. Neben der Komplexitätsreduktion durch Vereinheitlichung macht sich demnach die gegenläufige Richtung einer Artikulationssteigerung geltend. Begriffe vereinheitlichen etwas, um es als etwas artikulieren zu können, und operieren hierbei unter der Bedingung höherstufiger Vereinheitlichungen, die die Klassen ihrer Einsatzgebiete artikulieren. Dadurch ermöglichen sie unser Weltverständnis. III. Ersichtlich stellt die Ordnungsleistung, die der Begriff europäische Musik vornimmt, eine höherstufige Form der Vereinheitlichung dar. Indem sie musikalische Bestimmungen unter dem Gesichtspunkt des Europäischen versammelt, bezieht sie sich auf die bereits vollzogenen Vereinheitlichungen, die in jenen Bestimmungen zur Sprache gelangen. Der Begriff europäische Musik reduziert folglich die Komplexitätsreduktion, die musikalische Bestimmungen an dem ihnen Gegebenen vornehmen, noch einmal. Zugleich beansprucht er, den Geltungsbereich jener Be 1 Immanuel Kant: »Kritik der reinen Vernunft«, in: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1957–1964, Bd. II [1956], (B) 143ff. F6186_Höffe.indd 12 11.07.17 13:04 Das musikalische Kunstwerk als Idealtyp europäischer Musik 13 stimmungen genauer anzugeben. Er richtet die von ihm versammelten Bestimmungen auf einen gemeinsamen Bezirk aus. Dadurch setzt er unter dem Gesichtspunkt des Europäischen gewisse Bestimmungen in Beziehung, was wiederum deren artikulierende Funktion ausbaut. Die Komplexitätsreduktion, die er vornimmt, geht mit einer Artikulationssteigerung einher. Diese höherstufige Ordnungsleistung des Begriffs europäische Musik darf freilich nicht dazu führen, ihn als musikalische Kategorie zu begreifen. Eine musikalische Kategorie kann er nicht sein, weil der Begriff europäische Musik keine der obersten Klassen des Musikalischen bezeichnet, wie sie die Allgemeinbegriffe Klang, Raum, Zeit oder Sinn angeben. Vielmehr vereinheitlicht er musikalische Bestimmungen unterhalb dieser Ebene. Seine Ordnungsleistung operiert somit auf einer Ebene unter den musikalischen Kategorien im strengen Sinne. Entsprechend bleibt das Musikverständnis, das sie gewährt, stets an eine übergeordnete kategoriale Artikulation gebunden. IV. Den Einsatzpunkt der angesprochenen Ordnungsleistung bietet die musikalische Erfahrung. Um musikalische Bestimmungen unter dem Gesichtspunkt des Europäischen zu versammeln, hat man Vertrautheit mit ihnen zu besitzen. Solche Vertrautheit erwächst aus musikalischer Bildung. Demnach erfolgt die Versammlung musikalischer Bestimmungen in einem Erfahrungshorizont, zu dem man sich gebildet hat. Das ist ihre erste Bedingung. Über sie hinaus benötigt die Versammlung musikalischer Bestimmungen unter dem Gesichtspunkt des Europäischen eine besonders artikulierte Bestimmtheit des Musikalischen. Denn sie erzeugt nicht die Bestimmungen, die sie auswählt, gruppiert und zusammenbindet, sondern operiert auf ihnen. Artikulierte Bestimmtheit besitzt auch die musikalische Erfahrung. Sie äußert sich in Geschmack und Kritik. Diese Artikuliertheit genügt indessen nicht. Sie muß vielmehr in einen Zusammenhang von Begründungen übergehen, die sich nicht nur vor einem Horizont der Erfahrung ausweisen, sondern Geltung über den Bildungshorizont hinaus beanspruchen. Nur so kann verhindert werden, daß der Begriff des Europäischen mehr als einen Begriff zur Selbstlegitimation eines Horizontes darstellt. Aristotelisch gesprochen: Die Topik, in der die musikalische Bildung sich artikuliert, muß zu einer Analytik ausgebaut werden. Zu der Erfahrung im Horizont musikali- F6186_Höffe.indd 13 11.07.17 13:04 14 Gunnar Hindrichs scher Bildung tritt somit der Komplex analytisch artikulierter Musik. Eine derartige Artikulation ist die Aufgabe des wissenschaftlichen Denkens über Musik. Es erarbeitet mit Verfahren, die sich auszuweisen vermögen, musikalische Bestimmtheit. Neben die Artikuliertheit von Geschmack und Kritik tritt die Artikuliertheit der Wissenschaft von Musik. Musikalische Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnis zusammen machen den Operationsbereich der Ordnungsleistung aus. V. Der eingeführte Bereich ist nicht spannungsfrei. Die wissenschaftliche Artikulation von Musik hat – wie jede Wissenschaft – ihre Sache zu identifizieren. Nur so vermag sie deren Bestimmtheit anzugeben. Aber gerade dann, wenn ihre Identifikation der Sache gelingt, tritt sie in einen Gegensatz zu der ästhetischen Erfahrung, die den Kern der musikalischen Bildung ausmacht. Denn ästhetische Erfahrung erfolgt im Scheitern von Identifizierungen. Die ästhetische Erfahrung von Musik durchkreuzt ihre eigenen Bestimmungsleistungen immer wieder und führt so zu jener »Verstörung des ästhetischen Apparats«2, die Lachenmann als Kern des musikalischen Hörens geltend macht. Musikalische Bildung formt sich aus solchen Erschütterungen. Obwohl musikalische Bildung den Horizont gibt, in dem die Wissenschaft von der Musik ihre Aufgabe findet, und obwohl umgekehrt die musikwissenschaftlichen Erkenntnisse die musikalische Bildung beflügeln, läuft daher die ästhetische Erfahrung der musikalischen Bildung den Verfahren der Musikwissenschaft zuwider. Aus dieser Spannung zwischen wissenschaftlicher Sachidentifikation und ästhetischem Identifikationsscheitern gibt es keinen Ausweg. Vielmehr hat sich die Wissenschaft von der Musik stets wieder der Erschütterung durch musikalische Erfahrung auszusetzen, so wie diese ihre Erschütterungen an die Sachidentifikationen der Wissenschaft bindet. Zugleich bieten die wissenschaftlichen Artikulationen die Bestimmungen dar, die zu versammeln der Ausdruck europäische Musik beansprucht; im Rahmen der musikalischen Erfahrung bleiben sie nur implizit. Man muß daher sagen: Der Operationsbereich 2 Helmut Lachenmann: »Zum Problem des musikalisch Schönen heute«, in: ders., Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966-1995, Wiesbaden 1996, 104–110, zumal 107ff. F6186_Höffe.indd 14 11.07.17 13:04 Das musikalische Kunstwerk als Idealtyp europäischer Musik 15 jenes Ausdrucks ist das Faktum der Musikwissenschaft im Horizont musikalischer Erfahrung, der jenes Faktum stets von neuem in Frage stellt. VI. Da der Begriff der europäischen Musik auf das Faktum der Musikwissenschaft verweist, macht sich eine Eigentümlichkeit wissenschaftlichen Denkens geltend. Wissenschaften arbeiten im Rahmen eines bestimmten Paradigmas. Solche Paradigmen sind nach Thomas Kuhn Erfolgsversprechen für Rätsellösungen der Normalwissenschaft.3 Kuhn zufolge gleicht die normalwissenschaftliche Arbeit dem Lösen von Rätseln: Für empirische oder begriffliche Rätsel – also für aufzuklärende Sachverhalte – gilt es Lösungen zu finden, die sich mitteilen und nachvollziehen lassen. Der Rahmen, in dem das Lösen wissenschaftlicher Rätsel sich vollziehen kann, ist das Paradigma. Es eröffnet den Raum der Gründe, die für oder gegen eine Lösung sprechen, indem es Modelle und Lösungsvorschläge liefert und bestimmt, welche Regeln gelten und welche Probleme und Lösungsmethoden als wissenschaftlich anerkannt werden. Hierin besteht sein Erfolgsversprechen. Die Normalwissenschaft verwirklicht dieses Versprechen: zum einen durch Sammlung von Fakten, die innerhalb des Paradigmas als wichtig angesehen werden, mit Voraussagen der paradigmatischen Theorien vergleichbar sind und der Präzisierung des Paradigmas dienen; und zum anderen durch Bearbeitungen der Theorien, durch wechselseitige Anpassung von Theorien und Fakten sowie durch Präzisierungen von Begriffen und Sätzen. Das bedeutet, daß die Fragen und Antworten der Normalwissenschaft stets unter der Bedingung jenes Erfolgsversprechens stehen. Nur im Blick auf es stellen sie legitime Fragen und zulässige Antworten dar. Auf ausdrückliche Regeln bringen läßt sich das Versprechen des Paradigmas freilich nur zum Teil. Seine Reichweite erhält es vielmehr durch eine stillschweigende, im Wissenschaftsbetrieb eingeübte Übereinstimmung darüber, was ein Problem und seine Behandlung zu einem wissenschaftlichen Problem und seiner Behandlung macht. Diese eingeübte Übereinstimmung wird vor allem durch einen Komplex ge 3Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions (International Encyclopedia of Unified Science II/2), Chicago 21970, 92ff. F6186_Höffe.indd 15 11.07.17 13:04 16 Gunnar Hindrichs teilter Beispiele erzeugt, die vermitteln, was wissenschaftliche Rätsel sind und wie man sie wissenschaftlich zu lösen vermag. Mithin macht sich ein Paradigma in Form eines impliziten Wissens auf der Grundlage von Beispielen geltend. Alles explizite Wissen der normalwissenschaftlichen Rationalität beruht auf diesem impliziten Wissen. Das heißt, ein Paradigma zeigt sich in dem an Beispielen gebildeten, impliziten Wissen um ein Erfolgsversprechen der Rätsellösung. VII. Auch die Musikwissenschaft arbeitet innerhalb bestimmter Paradigmen, die den Raum ihrer Gründe eröffnen. In diesen Paradigmen kann ihre Reflexion jedoch nicht stehenbleiben. Denn das an Beispielen gebildete, implizite Wissen um das Erfolgsversprechen normalwissenschaftlicher Rätsellösung setzt seinerseits einen Sachentwurf der Wissenschaft voraus. Das ergibt sich aus dem folgenden Zusammenhang. Die normalwissenschaftliche Arbeit differenziert und integriert ihre Sache in bestimmten Paradigmen. Hierzu benötigt sie einen generischen Sinn ihrer Sache, den es zu differenzieren und integrieren gilt. Im Fall der Musikwissenschaft wird der generische Sinn formal in dem Begriff Musik angezeigt. So unterschiedlich musikwissenschaftliche Paradigmen sein mögen, so sehr beanspruchen sie alle, die wissenschaftliche Untersuchung von Musik anzuleiten. Entsprechend steht die Differentiation und Integration musikwissenschaftlicher Erkenntnis in dem einheitlichen Zusammenhang eines Sachentwurfes der Musikwissenschaft. Aus den Argumentationen innerhalb des Paradigmas kann dieser Sachentwurf nicht rekonstruiert werden. Denn sein generischer Sinn, der sich paradigmatisch differenzieren und integrieren läßt, wird in der Differentiation und Integration nicht erzeugt, sondern ist ihnen gegeben. Der Sachentwurf der Musikwissenschaft ragt daher von einem anderen logischen Ort in ihr Paradigma hinein. Um ihn zu artikulieren, hat man die paradigmatischen Begründungsanfänge des wissenschaftlichen Denkens zu übersteigen, um von ihnen auf den generischen Sinn auszugreifen, der der Differentiation und Integration gegeben ist. Die paradigmatischen Begründungsanfänge der Wissenschaft verwandeln sich so in Anfänge der zweiten Linie. Über sie hinaus bedarf sie eines Fluchtpunktes. F6186_Höffe.indd 16 11.07.17 13:04 Das musikalische Kunstwerk als Idealtyp europäischer Musik 17 VIII. Den benötigten Fluchtpunkt kann man mit Max Weber einen Idealtyp nennen. Über den Idealtyp schreibt Weber: »Er wird gewonnen durch die einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde«.4 Solche Steigerung von Gesichtspunkten zu einem einheitlichen Gedankenbild ist die notwendige Voraussetzung vernünftiger Wirklichkeitserfassung. Denn die Wirklichkeit bildet ein heterogenes Kontinuum unübersehbarer Sinnzusammenhänge. Ihr verworrenes Geflecht kann nur dann erfaßt werden, wenn bestimmte Knotenpunkte sich isolieren lassen, um den Gegenstand unseres Verstehens abzugeben. Hierzu ordnen jene einheitlichen Gedankenbilder die Heterogenität der Wirklichkeit durch perspektivische Fluchtpunkte, so daß der Gegenstand unseres Verstehens sich aus dem heterogenen Kontinuum herausheben läßt. Ihren Grund wiederum besitzen die einheitlichen Gedankenbilder darin, daß sie die ihnen zugeordneten Einzelerscheinungen explizieren und verständlich machen. Sie sind daher genau dann nicht willkürlich, wenn sie sich mittels der Erscheinungen ausweisen lassen, die sie durch einseitige Steigerung einer oder mehrerer Gesichtspunkte ihrem inneren Verständnis überhaupt erst zugänglich machen. Der Idealtyp – gebildet durch denkende Konstruktion – ist somit weder ein Begriff, den der Wissenschaftler einer amorphen Wirklichkeit überstülpte, noch ist er ein Begriff, der von der bereits verstandenen Wirklichkeit abgezogen würde. Vielmehr ist er ein Gedankenbild, das es ermöglicht, die Wirklichkeit zu verstehen, indem es deren Geflecht in konstruktiver Steigerung bestimmter Gesichtspunkte gliedert und sich durch die Explikation von Einzelerscheinungen ausweist. 4Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 61985, 146–214, hier 191. F6186_Höffe.indd 17 11.07.17 13:04 18 Gunnar Hindrichs IX. Webers Überlegungen lassen sich in unserem Zusammenhang einsetzen. Sie laufen dann auf den folgenden Befund hinaus: Im Blick auf das einheitliche Gedankenbild eines Idealtyps erhält das wissenschaftliche Denken in Paradigmen einen vorgängigen Sinn, der sich zu bestimmten Sachaussagen differenzieren und integrieren läßt. In solcher Differentiation und Integration des Idealtyps verändert sich der vorgängige Sinn und läßt seine Veränderungen dennoch als Veränderungen eines Sinnes begreifen. Der idealtypische Sinn wird darum immer wieder neu differenziert und integriert. Aber er wird es so, daß er die Abänderungen als Abänderungen eines einheitlichen Sinnes ausweist. Auf diese Weise orientieren Idealtypen die Paradigmen der normalwissenschaftlichen Rätsellösung, in denen ihre Differentiation und Integration erfolgt. Sie bilden die Fluchtpunkte wissenschaftlicher Artikulation.5 Allerdings gilt es hier ein naheliegendes Mißverständnis zu vermeiden. Der vorgezeichnete Befund beschreibt nicht den tatsächlichen Verlauf wissenschaftlicher Erkenntnis und ihrer Begriffsbildung. Vielmehr bildet er deren Rekonstruktion ab. Er betrifft also nicht den Entdeckungszusammenhang der Wissenschaft, sondern ihren Rechtfertigungszusammenhang. In diesem Zusammenhang der Rekonstruktion von Wissenschaft erfüllt der Idealtyp seine Funktion. Sofern es um die Rechtfertigung von Wissen geht, ist letzten Endes auch dessen idealtypischer Fluchtpunkt ausdrücklich zu machen, während er ansonsten zumeist ebenso implizit bleibt wie das Paradigma. X. Der generische Sinn, den die Musikwissenschaft differenziert und integriert, wurde formal mit dem Ausdruck Musik angezeigt. Nun artikuliert der Ausdruck Musik diesen generischen Sinn so gut wie gar nicht. Entsprechend ist der Sachentwurf der Musikwissenschaft inhaltlich durch weniger allgemeine Begriffe zu leisten. Diese sind ihre Idealtypen. Das heißt, sie haben die »einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte« und den »Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, 5 Dazu Verf.: »Paradigma und Idealtyp«, in: Paradigmenwechsel. Wandel in den Künsten und Wissenschaften, hg. von Andrea Sakoparnig u.a., Berlin 2014, 21–51. F6186_Höffe.indd 18 11.07.17 13:04 Das musikalische Kunstwerk als Idealtyp europäischer Musik 19 hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde«6 zu vollziehen. Anders gesagt: Sie haben Ordnungsleistungen vorzunehmen, die in der Versammlung musikalischer Bestimmungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Vereinheitlichung besteht. Um dies durchführen zu können, ist eine Blickausrichtung notwendig, die die Reichweite eines Idealtyps bestimmt. Hierzu benötigt die idealtypische Begriffsbildung Funktionsbegriffe, die das Feld erschließen, dessen einheitliches Gedankenbild sie entwirft. Ersichtlich vermag die Leistung dieser Begriffe von der idealtypischen Begriffsbildung nicht getrennt zu werden. Vielmehr handelt es sich um einen Fall des hermeneutischen Zirkels: Gewisse Funktionsbegriffe erschließen der idealtypischen Begriffsbildung das Feld, die umgekehrt die Ordnungsleistung jener Begriffe in eine inhaltliche Perspektive rückt. Demnach werden die Idealtypen der Musikwissenschaft, die den generischen Sinn von Musik inhaltlich entwerfen, unter Einbezug von Begriffen entworfen, die ein Feld erschließen, in dem die einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und der Zusammenschluß einer Fülle von Einzelerscheinungen erfolgen kann, welche Steigerung umgekehrt das erschlossene Feld inhaltlich artikulieren. XI. Mein Vorschlag lautet, den Begriff europäische Musik als eine solche Funktion der idealtypischen Begriffsbildung zu verstehen. Der Begriff bestimmt die Reichweite eines Idealtyps der Musikwissenschaft. Umgekehrt wird das Feld, das er erschließt, durch den Idealtyp inhaltlich artikuliert. Dadurch vermag ein generischer Sinn entworfen zu werden, der in den Paradigmen der Musikwissenschaft sowie in deren normalwissenschaftlicher Erkenntnis differenziert und integriert wird. Europäische Musik wäre demnach der Titel für das Feld eines bestimmten Idealtyps, der wiederum ein generisches Verständnis dieses Felds erlaubt. Wie gesehen, wird der Idealtyp durch die einseitige Steigerung gewisser Gesichtspunkte gebildet. Sie zieht gleichsam die Fluchtlinien des Fel 6Weber: ›Objektivität‹ [Anm. 4], 191. F6186_Höffe.indd 19 11.07.17 13:04 20 Gunnar Hindrichs des, in denen Einzelerscheinungen sich verstehen lassen. Man kann die Leistung des Begriffs europäische Musik folglich so angeben: Seine Versammlung musikalischer Bestimmungen hat an der denkenden Konstruktion eines Sachentwurfes der Musikwissenschaft teil, und zwar dadurch, daß er Einzelerscheinungen mit dem Anspruch, ihre bestimmenden Gesichtspunkte zu erfassen, zu einem Feld ordnet. Diese Gesichtspunkte werden im Idealtyp zu einem einheitlichen Gedankenbild gesteigert. Der Idealtyp beabsichtigt ja nicht, irgendwelche Gesichtspunkte zu steigern, sondern zielt auf die Steigerung jener Gesichtspunkte ab, die als die bestimmenden Gesichtspunkte eines Feldes gelten können. Die Erschließung des Feldes durch den entsprechenden Funktionsbegriff hat daher als Versammlung solcher Gesichtspunkte zu erfolgen. Es versteht sich, daß die Angabe der bestimmenden Gesichtspunkte auch fehlgehen kann und sich dieser Möglichkeit stets bewußt sein muß. Hieraus folgt aber nicht, daß auf sie zu verzichten wäre. Ebensowenig, wie die Irrtumsanfälligkeit unserer Erkenntnis den Verzicht auf Erkenntnis begründet, begründet die Irrtumsanfälligkeit ihrer allgemeinen Orientierung den Verzicht auf diese. Vielmehr erfordert die generische Sache der Musikwissenschaft die vorgezeichnete Ordnungsleistung. Es versteht sich weiter, daß diese Leistung sich als eine solche Konstruktionsfunktion zu wissen hat, um falschen Positivierungen und Immunisierungen zu entgehen. Aber sie stellt zugleich mehr als eine bloße Projektion dar, da sie zu den Bedingungen der Möglichkeit eines Musikverständnisses beiträgt, das auf das Faktum der Musikwissenschaft bezogen ist. Die Funktion des Begriffs europäische Musik darf als Vereinheitlichung von Erscheinungen verstanden werden, die über die Angabe entscheidender Gesichtspunkte verläuft, deren einseitige Steigerung den Idealtyp des wissenschaftlichen Musikdenkens konstruiert. XII. War der bisherige Gedankengang auf die funktionale und strukturelle Kennzeichnung des Begriffs europäische Musik gerichtet, so ist nun der Versuch zu wagen, seinen Gehalt zu bestimmen. Diese Bestimmung erfolgt unter den eingeführten Bedingungen, insbesondere unter der Kautel, daß der anzugebende Gehalt der funktionalen und strukturellen Aufgabe des Begriffes dient. Entsprechend wird der Gehalt des Begriffes F6186_Höffe.indd 20 11.07.17 13:04