Dr. Karl Ballestrem, Dr. Jörg Jantzen, Dr.

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In: Widerspruch Nr. 6 (02/83) Marx-Rezeption in München
(1983), S. 5-65
Autoren: Dr. Karl Ballestrem, Dr. Jörg Jantzen, Dr. Eberhard
Simons, Dr. Elmar Treptow, Dr. Alexander von Pechmann
Interview
Gespräch
Marx und seine Rolle in der Philosophie
Rundtischgespräch vom 12. 4.1983
Teilnehmer:
Dr. Karl Ballestrem
Dr. Jörg Jantzen
Dr. Eberhard Simons
Dr. Elmar Treptow
Dr. Alexander von Pechmann für den „Widerspruch“
von Pechmann: Ich begrüße Sie im Namen der Redaktion zu unserem
Rundtischgespräch zum Thema „Marx und seine Rolle in der Philosophie“.
Vielleicht kurz zu meiner Rolle. Ich werde mich darauf beschränken,
Fragen zu stellen, und mich dann nicht weiter einmischen. Dies sollte ja
ausdrücklich ein Gespräch von Dozenten an der Universität sein.
Was den Ablauf betrifft, hatten wir es uns so vorgestellt, daß wir drei
Fragen behandeln wollen, und zwar die Frage: „Marx und seine Rolle in
der Philosophie“, die zweite die „Aktualität von Marx in der Gegenwart“
und drittens die Auffassungen hinsichtlich der „Repräsentanz von Marx
an der Universität“.
Marx und seine Rolle in der Philosophie
Jantzen: Ich hätte eine Zwischenfrage. Hat es irgendeinen Grund, daß die
Frage nach „Marx als Philosophen“ und die Frage nach der „Aktualität
Marx“ getrennt wird?
von Pechmann: Nein; es war nur als Fortgang vom Allgemeinen zum Konkreten gemeint, um von der Klärung seiner Rolle in der Philosophie
überhaupt zu seiner Bedeutung heute zu kommen. Ich denke, daß man
dies schon trennen kann ohne Hintergedanken, wertfrei. So war es jedenfalls gemeint.
Marx als Philosoph
von Pechmann: Also, dann würde ich dazu kommen, die erste Frage, ob
Marx überhaupt als Philosoph angesehen werden kann, zu formulieren.
Wer die Diskussion um den 100. Todestag jetzt mitbekommen hat, wird
bemerkt haben, daß es darüber verschiedene Meinungen gibt: die einen
sind der Auffassung, Marx gehört eigentlich gar nicht in den Korpus
dessen, was man traditionell Philosophie nennt; andere sind der Auffassung, er ist im Grunde kein Philosoph, sondern eher ein Ökonom; und
drittens die Auffassung, in Marx würde sich sozusagen die Geschichte
der Philosophie vereinigen, er wäre der Philosoph der Gegenwart. Vielleicht könnten Sie dabei auch auf den philosophiehistorischen Zusammenhang eingehen, wie Sie Marx philosophiehistorisch situieren würden.
Ballestrem: Auf diese Frage würde es mir schwerfallen, ein Statement
abzugeben. Wenn man von der Philosophie herkommend, in einem
Institut für Politikwissenschaft lehrt, dann kann das zwar einerseits dazu
führen, sich ständig Gedanken zu machen, was ist eigentlich Philosophie?, und wo hört sie auf?, und wo fängt die Sozialwissenschaft an?
Meine Tendenz ist aber eher umgekehrt: es interessiert mich eigentlich
gar nicht so sehr, bis wohin ich mein Nachdenken Philosophie nenne,
und wo ich anfange, es anders zu betiteln, sondern ich versuche mit
meinen Kollegen und Studenten Fragen zu erörtern, die uns gemeinsam
interessieren. Und deswegen bei Marx nun zu überlegen, bis wohin das,
was er macht, Philosophie im Sinne des 18., 19., des 20. Jahrhunderts
Rundtischgespräch
(wo im 20. Jahrhundert?) ist, könnte sehr leicht in eine Art von Etikettenfrage hineingeraten, was mir viel weniger interessant erscheint als die
inhaltliche Frage, was einen an Marx denn eigentlich interessiert. Also,
das nur als Beitrag zur Methode des Vorgehens.
Jantzen: Ich muß sagen, ich bin mit dieser Gliederung nicht furchtbar
glücklich. Aber irgendwo gehört es ja offenbar dazu, daß man Marx mit
den verschiedensten Etiketten versieht, im Sinn von „Marx als Philosoph“, als „Ökonom“ usw. Das scheint, wenn schon nicht den Zugang,
so doch die Auseinandersetzung zu erleichtern.
Treptow: Mir scheint es auch angebracht zu sein, daß jeder einmal vorbringt, was ihn an Marx interessiert, wie er sich mit Marx beschäftigt,
Probleme, die sich ihm ergeben haben. Aber noch mal dazu, wie ich mir
die Frage: Ist Marx ein Philosoph? erkläre. Wahrscheinlich kommt sie
daher, weil gerade jetzt anläßlich seines Todestages immer wieder behauptet wird, dezidiert, Marx sei gar kein Philosoph; er sei etwas anderes:
ein Prophet - noch dazu ein gescheiterter, wie es in der „Süddeutschen“
letztes Wochenende stand (12./13. März 1983; Anm.) -, oder ein Mystiker oder ein Emanzipationsgläubiger, der nichts mit der Philosophie zu
tun hat, weil er eben ein Prophet ist. Oder was stand da noch? Er ist
Eschatologe, Heilslehrer usw. Also, von da her erkläre ich mir, daß die
Frage relevant sein könnte.
Jantzen: An sich scheint es mir eine sinnvolle Frage zu sein...
Simons: Ich finde auch, daß das eine sinnvolle Frage ist, würde aber auch
das von Herrn Ballestrem Gesagte mitaufnehmen. Es ist das Bestürzende
bei dieser Frage, daß sie so riesengroß ist, daß ich mich hier fragen muß,
kann man denn jetzt so riesengroße Fragen behandeln. Also, das wäre
das, was mich auch ein bißchen stören würde. Aber man muß sie ja nicht
so auffassen. Anders aufgefaßt würde ich sagen, ist sie schon ganz gut,
und dann hängen ja alle drei Fragen miteinander zusammen.
Marx und seine Rolle in der Philosophie
Jantzen: Eine Bemerkung möchte ich noch dazu machen. Ich meine,
sicherlich ist die Frage ausgesprochen wichtig, aber die Fragestellung, ob
Marx ein Philosoph sei, gilt ja nicht nur von dem Standpunkt, daß Marx
über Hegel hinaus ein Vertreter einer Diesseitsreligion gewesen sein soll,
sondern es impliziert ja auch eine Frage, die innerhalb der marxistischen
Rezeption bei Marx selbst aufgekommen ist. Wenn man jetzt Engels sehr
vereinfacht, dann ist eigentlich im strengen Sinn von einer marxistischen
Philosophie so unmittelbar im traditionellen Sinne von Philosophie gar
nicht zu reden. Da gibt es eine Geschichte von Philosophie, dann gibt es
eine formale Logik und damit hat sich's dann. Was es dann noch gibt, ist
eine streng ökonomische Theorie, deren Kategorien weitgehend die
Kategorien der klassischen Philosophie ersetzen. Insofern würde ich
sagen, ist die Frage nicht nur deswegen relevant, weil mit „Marx als Philosoph“ keineswegs nur von außen die Frage gestellt wird, sondern die
Frage wird auch innerhalb des Systems verortet werden müssen.
Simons: Jetzt würde ich sagen, daß die ganze Entwicklungslinie der englischen Moralphilosophie, Smith, Ricardo und Hume, Locke doch einen
philosophischen Impetus hatte, und daß wir dann eine Nationalökonomie haben, die bescheidener, nicht mehr so philosophisch relevant zu
sein schien; demgegenüber besteht die Entdeckungskraft von Marx darin, bestimmte, sonst einfach hingenommene Phänomene bloß als Phänomene zu nehmen und nicht zu fragen, was ist denn nun eigentlich der
Gedanke, der wirksame Gedanke; also etwa der berühmte Tisch, der auf
einmal zu tanzen anfängt, und solcher Dinge mehr. Also: das ist in der
Tat dem philosophischen Blick von Marx zu verdanken. Ricardo hatte
zwar auch einen, selbstverständlich, und die anderen hatten auch, aber
die eigentliche produktive Kraft von Marx liegt schon darin - na ja, ich
will's historisch sagen -, daß er von Hegel gelernt hat, daß er hellsichtiger
geworden ist, und daß er Phänomene, die die anderen selbstverständlich
haben durchgehen lassen, entdeckt hat, und daß ...
Jantzen: ... er dazu Kategorien entwickelt hat, ...
Simons: ... die so nicht selbstverständlich sind!
Rundtischgespräch
Jantzen: Herr Simons, ich will mich nun gar nicht in die falsche Ecke rücken lassen, der Marx abspricht, Philosoph zu sein. Ich wollte nur darauf
hinweisen, daß man die Frage auch immanent, von innen stellen kann.
Wenn ich anknüpfe an das, was Sie eben gesagt haben, dann wäre als ein
Positivum der Marxschen Weiterentwicklung oder Rezeption von Ricardo, von Smith, von wem auch immer, zu erkennen, daß die Nationalökonomie aus dem Kontext der „moral philosophy“, wie bei Adam
Smith, herausgelöst und eben als Nationalökonomie, als ökonomische
Theorie, emanzipiert wird; zu Lasten allerdings dessen, was möglicherweise für uns „Philosophie“ heißt. Es ist ja andererseits auch merkwürdig, daß gleichsam von außen Marx wiederum das Etikett 'Philosoph' zu
Lasten anderer Teile des Werkes angefügt wird:
Der „Doppelcharakter“ der Marxschen Theorie: Philosophie und/oder
Ökonomie.
Ballestrem: Sieht man da nicht auch ein Beispiel einer - ich möchte sagen systematischen Zweideutigkeit im Verhältnis zur Philosophie bei Marx?
Einerseits geht dieser Strang von Argumenten, der sich ganz offensichtlich anschließt an die Emanzipation der Sozialwissenschaften von den
alten normativen Disziplinen zu der materialistischen Geschichtsauffassung und der Kritik der deutschen Philosophie als Ideologie, der dann
auch die Franzosen und Engländer vorgehalten werden, die schon viel
mehr gewußt hätten von den wirklichen Verhältnissen usw. usf. Das ist
das eine. Und auf der anderen Seite die Kritik am „Scheiß-Positivismus“,
wie er sagt, und dem gegenüber das Festhalten an Hegel. Das sind zwei
Stränge, die nebeneinander bei Marx stehen, finde ich, in einer nicht
glücklich vermittelten Weise. Wenn man sich überlegt, was das „Kapital“
eigentlich ist, und sucht bei ihm selbst nach Interpretationen, findet man
auf der einen Seite Interpretationen, wie sie im Vorwort zum „Kapital“
stehen oder im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes, und
die sehr stark betonen: „gut, ich habe mit Hegel kokettiert, aber im
Grunde stehe ich in der Tradition der modernen Wissenschaften“. Auf
der anderen Seite liest man die „Grundrisse“ und sieht, das Ganze ist
eine Bewußtseinskritik in einem ganz fundamentalen Sinne und eben
nicht eine dem Newton'schen Vorbild folgende Sozialwissenschaft. Also,
Marx und seine Rolle in der Philosophie
das scheint mir ein Punkt, den man bei Marx in vieler Hinsicht findet,
daß er sozusagen zwischen zwei Interpretationen hin und her schwankt
und mal - ich möchte fast sagen esoterisch - und mal exoterisch spricht,
ohne sich selbst ganz klar zu werden. Wenn man jetzt spezifischer nach
Marx als Moralphilosophen fragt, würde man das wiederfinden, was man
auch auf einer allgemeinen Ebene, nämlich Marx als Philosophen, feststellen kann.
Simons: Das wäre auch für unser Gespräch nicht unwichtig und auch
mein Problem an der Sache. Wenn man Marx als Kritiker interpretiert,
der eben eine „Kritik der politischen Ökonomie“ geschrieben hat, ist das
eine ganz andere Sache, als wenn man Marx als Philosophen im Sinne
eines systematischen Theoretikers interpretiert. Ich fände es sehr schwierig, ihn als Systematiker zu interpretieren; die systematische Interpretation ist natürlich eher die leninistisch-stalinistische, nicht wahr, durch die
man dann zum 'Diamat' kommt. Das sind in der Tat zwei ganz verschiedene Geschichten, so wie wenn man Kant als Systematiker interpretiert
oder als Kritiker. Ich hielte es für fruchtbar - dies ist mein Ansatz -, ihn
als Kritiker zu interpretieren und nicht als Systematiker. Wenn man ihn
als Weltanschauungsphilosophen und als Systemdenker sogar noch über
Hegel hinaus interpretiert, also, dann hätte ich die größten Schwierigkeiten.
Treptow: Mir scheint, daß es das Charakteristische ist, daß Marx die Ökonomie nicht positivistisch betreibt: sie nicht nur einzelwissenschaftlich,
sondern philosophisch, wenn auch nicht im traditionellen Sinne, behandelt und d.h. als Kritik, dialektisch, also als Kritik in Einheit mit Dialektik, und die 'Kritik der politischen Ökonomie' als Einheit wie gesagt von
Ökonomie und Philosophie. Mir scheint also charakteristisch, daß Marx
weder bei der traditionellen Philosophie stehen bleibt und bei ihrem
Versuch theoretisch-autonomer Selbstbegründung noch die Philosophie
einfach fallen läßt. Er hebt sie auf und zwar speziell die Dialektik, die
Hegelsche Dialektik und entwickelt die ökonomischen Kategorien dialektisch auseinander im „Kapital“. Das heißt, es ist weder traditionelle
Philosophie noch ist es einfach eine reine, einfache Negation der Philo-
Rundtischgespräch
sophie. Das zeigt ja eigentlich schon der Titel: „Ökonomischphilosophische Manuskripte“.
Ballestrem: Das ist aber nicht sein Titel.
Treptow: Nein, aber es ist das Thema, der Inhalt und Gegenstand, nicht?
Kritik an Hegel, Kritik an der klassischen Politökonomie und deren
Arbeitsbegriff und damit der Versuch, eine neue Synthese herzustellen.
Und auch der Untertitel des „Kapitals“: 'Kritik der politischen Ökonomie' oder der Titel der „Grundrisse“: 'Kritik der politischen Ökonomie'
scheinen mir genau darauf zu verweisen, daß hier eine Synthese versucht
wird von Philosophie, d.h. vor allem von Dialektik und Ökonomie.
Zum Verhältnis Marx' zu Hegel
Simons: Diese Synthese möchte ich doch noch 'mal etwas offenlassen.
Wenn man Marx als einen Fortsetzer der klassischen deutschen Philosophie interpretiert - das kann man ja - dann habe ich immer die Schwierigkeit, daß ich sage: „du lieber Himmel, was hat der denn von Hegel
begriffen?“. Wenn er die Hegelsche Logik oder die Hegelsche Rechtsphilosophie interpretiert, dann mögen da je bestimmte Positionen genannt
sein, die zurecht kritisierbar sind, aber so glatterdings genommen, als
Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, da wird es doch unergiebig.
Wenn man den Hegel selber kennt und liest, dann ist alles immer - wie
soll ich sagen - eher von außen betrachtet, so wie Max und Moritz sich
den Hegel auch vorstellen. Es geht nicht; es stimmt einfach so nicht, das
kann man nicht so machen. Ihn einfachhin als Kritiker der Hegelschen
Rechtsphilosophie interpretieren, das halte ich für sehr schwierig, und
zeigt überhaupt die Rezeptionsschwierigkeiten an. Das ist schon bei
Feuerbach so. Sie haben ganz bestimmte Vorstellungen, Muster und
Modelle, mit denen sie die ganze Tradition interpretieren; Feuerbach
noch stärker als Marx, aber zumindest der frühe Marx auch. Das geht ja
dann bis in die Antike zurück. Man sieht immer: aha, das sind also die
Kulissen, die sie vor sich haben. Und wenn man diese Kulissen genauer
kennenlernen will, gegen die sie meistens sprechen, dann finde ich, ist
das also sehr sehr trivial. Auch didaktisch, fürchte ich, ist das ein ausge-
Marx und seine Rolle in der Philosophie
sprochenes Rezeptionsproblem Marxscher Texte - deshalb für Lehrveranstaltungen äußerst schwierig. Ich habe die miserable Erfahrung gemacht, daß Leute, die ausschließlich von daher kommen, eigentlich wirklich nur in Klischees denken können: „Das ist dann 'Idealismus' und das
ist das und das ist das“; das finde ich als Philosoph sehr unfruchtbar. Das
ist die eine Seite.
Die andere Seite ist die: Wenn man ihn als Kritiker auffaßt - also nicht
nach Kant, Fichte, Schelling und Hegel nun noch mal etwas, was die
Philosophie ausmachen will -, sondern als einen, der etwas entdeckt hat,
was die anderen nicht entdeckt oder nicht artikuliert hatten, dann finde
ich diese kritischen Impulse sinnvoll. Dann ist es aber auch nicht so
wichtig, daß man philosophiegeschichtlich diesen Impuls weltanschaulich expliziert und sich daran so lange herummüht. Die Hegelsche
Rechtsphilosophie und das bißchen, was Marx dazu sagt! Mein Zugang
ist also der, an Marx aufzunehmen, was die Anderen nicht entdeckt haben und was nun artikuliert wird; und alles, was den Geschichtsbezug
betrifft, den Marx hat, als Selbstartikulation von Marx aufzufassen. Wobei es dann gar nicht so entscheidend ist, ob das nun historisch-objektiv
stimmt, sondern daß man das als Interpretation und Selbstinterpretation
auffaßt für einen Impuls und eine Intention, die ich für sinnvoll und
festhaltenswert halte. Das wäre also wieder ein kritischer Zugang zu
Marx und nicht ein systematischer.
Treptow: Ja, das ist der Punkt.
Jantzen: Jetzt ist Herr Simons mir zum Teil ein bißchen vorgekommen. Ich
wollte die von Herrn Ballestrem konstatierte Zweideutigkeit, die bei Marx
ja da ist, an Hegel festmachen. Nun haben wir schon ausführlich auf
Hegel hingewiesen. Aber dazu meine ich, gibt es eine Gegenthese. Die
Gegenthese ist nämlich die, Marx als Schüler Hegels zu begreifen - und
da auch in einer ganz gewissen Ausschließlichkeit. Das hat z.B. Henrich,
wie ich finde, überzeugend getan. Der philosophische Gehalt des Marxschen Unternehmens bestünde danach darin, zwei Dinge miteinander
kombinieren zu wollen: einmal die Einsicht in das Ungenügen des Hegelschen Unternehmens, und zweitens der Versuch, dennoch Philoso-
Rundtischgespräch
phie und Wirklichkeit, Begriff und Realität miteinander zu versöhnen.
Das wäre der eigentliche philosophische Gehalt Marxens im Anschluß
an Hegel. Das wäre jetzt schon eine Gegenthese; sie stammt nicht von
mir.
Der zweite Punkt ist der, daß mir nicht klar ist, was Simons mit dem
Punkt der 'Kritik' meint. Wenn das eine Kritik à la Bauer ist, der Junghegelianer, ist Marx, glaube ich, nicht unbedingt getroffen. Es zeichnet ja
gerade die Marxsche Art zu philosophieren aus, über die Kritik der
Junghegelianer, deren Methode mit dem Hegelschen System mittelbar
weitergeht und nicht damit fertig wird, hinauszugehen. Diese Kritik
zurückzulassen, ist zwar ein Moment; das nächste Moment wäre dann
mit - sagen wir - Feuerbach zu bezeichnen; wiederum das nächste Moment wäre dann Engels: Ökonomie. Daraus ergäbe sich dann in der Tat
in etwa der Entwurf des Marxschen Unternehmens als Fortsetzung Hegels. Aber und das wäre schon selbstkritisch gemeint - wir müssen aufpassen, daß wir jetzt nicht anstatt über Marx über Hegel reden.
Simons: Darf ich dazu etwas sagen? Daß Marx die Kritik der Linkshegelianer, Bruno Bauer und andere überwinden wollte, Heß und so, ist schon
klar.
Jantzen: Heß, würde ich sagen, ist ein anderes Moment. Heß bringt das
Moment des Sozialismus hinein. Also, wenn man das so aufdröseln will
in verschiedene Momente: die junghegelianische kritische Haltung, die
Philosophie als Kritik versteht, in der Hoffnung, im Ergebnis dadurch
auf die Praxis einwirken zu können, aber dabei scheitert. Das zweite
Moment wäre Feuerbachs Anthropologie; aber nach Marx war Feuerbach nicht konkret genug. Dann - das ist jetzt schon sehr schematisch .
Heß: Marx' Begegnung mit dem Sozialismus, aber noch nicht in ökonomischen Kategorien erfaßt. Das wäre dann, um schon Namen zu nennen, bei Engels erreicht.
Marx und seine Rolle in der Philosophie
Zum Verhältnis Marx' zu Feuerbach: 'sinnliche Tätigkeit'
Simons: Aber meine Frage wäre dann die: formal wollte er eigentlich die
Kritik überwinden - er hat's nicht geleistet -, aber sie auch beibehalten.
Ich greife nur ein Moment heraus: Feuerbach. Marx kann kritisch soviel
sagen, wie er will, daß Feuerbach Anthropologe und ein Weltanschauungsdenker ist. Er übernimmt doch z.B. mit Emphase einen Begriff von
'Praxis' und einen Begriff von 'Wahrheit', der in der Tat daher kommt,
und wo ich nicht sehe, wie der bei Marx überwunden wird. Z.B. sagt er
immer: „nun wollen wir doch endlich das Wirkliche selbst und die wirkliche Tätigkeit; und die wirklich wirkliche Tätigkeit ist nach ihm die sinnliche Tätigkeit.“ Also, diese - ich muß schon sagen - ewige Beschwörung
- mehr ist es nämlich fast nicht - der sinnlichen Tätigkeit! Das ist doch
Magie, ein magischer Begriff von Marx, den wir gerade in den Frühschriften, aber auch bis zum „Kapital“, auf fast jeder Seite als Idealbegriff lesen können. Und da fragt man sich doch: „Verflucht noch mal, was
meinst Du denn mit dieser 'sinnlichen Tätigkeit'?“ Da fängt doch eigentlich das Problem erst an, ist aber für Marx, so scheint mir, schon immer
beantwortet; als ob so klar wäre, was denn nun diese 'sinnliche Tätigkeit'
ist. Das ist für mich eher Beschwörung von etwas ganz Reellem, ganz
Materiellem, endlich Wirklichem. Das ist doch weniger eine Explikation
dessen, was 'sinnliche Tätigkeit' nun sein soll. Wenn man diesen Begriff
mal befragt, da könnten wir auf ein anderes Gebiet kommen: Aristoteles
etwa hat einen ganz anderen Begriff von 'sinnlicher Tätigkeit'.
Jantzen: Vor allem einen Begriff von 'Praxis'.
Simons: Von 'Praxis' und 'sinnlicher 'Tätigkeit', sehr wohl. Da frage ich
mich, hat denn Marx den Feuerbach tatsächlich oder hat er ihn nur stellenweise überwunden. In ganz bestimmten elementaren Momenten behält er ihn so bei, daß man sagen muß, das ist nur eine Beschwörung von
Wirklichkeit, aber keine Explikation. Das scheint mir eine ganz wichtige
Sache zu sein, diese Auskunft mit der sog. 'sinnlichen Tätigkeit', nicht
wahr? Hat Marx einen modernen, neuzeitlichen Begriff von Sinnlichkeit,
dann besser: Gegenstandssinnlichkeit; oder meint er Beziehungssinnlich-
Rundtischgespräch
keit, im Sinne Aristoteles' 'Hedone', oder meint er im Sinne von Platon
'Eros'? Was ist denn nun 'Sinnlichkeit'? Da fängt das Problem ja erst an
und hört nicht schon auf. Und das, meine ich, zeigt, daß die sog. Überwindung des Links- oder Posthegelianismus durch Marx ein Problem ist.
Der Marxsche Begriff 'Arbeit' 'poiesis' oder 'praxis'?
Jantzen: Eine Bemerkung. Alles zugegeben. Vielleicht sollten wir aber, um
uns der 'sinnlichen Tätigkeit' zu nähern, auf den Begriff der 'Arbeit' in
dem Zusammenhang kommen.
Simons: Von mir aus.
Treptow: 'Sinnlichkeit' ist doch bei Feuerbach so gefaßt: Sinnlichkeit der
Anschauung, der Sinnesorgane, dann der Natur.
Simons: Und die Liebe auch...
Treptow: Ja, die Liebe ist in dem Leib verwurzelt. Also, mir scheint es so
zu sein, daß der Begriff von 'Sinnlichkeit' in dieser bestimmten Weise
zunächst von Feuerbach gefaßt ist, daß aber gerade die sinnliche Praxis
oder die Sinnlichkeit der Arbeitspraxis das ist, was Marx gegen Feuerbach ins Felde führt. Für Marx ist der Mensch ein sinnlich gegenständliches Wesen, d.h. ein leibliches, bedürftiges Wesen, das als solches auch
auf die Gegenstände der Natur angewiesen ist und die Vermittlung mit
der Natur durch die Arbeit braucht. - Um vielleicht noch mal einen
Schritt zurückzugehen zum Begriff der 'Kritik'. Mir scheint der Gegensatz zu den Junghegelianern der zu sein, daß für die Junghegelianer Kritik der Prozeß des Geistes ist, die geistigen Hemmungen, Entfremdungen zu überwinden. Marx versteht aber unter Kritik jenes dialektische,
positiv-negative Behandeln des Gegenstandes. Was also die Gegenstände
der gesellschaftlichen Arbeitspraxis angeht, so sind sie in ihrem Bestand
zunächst einmal aufzunehmen, dann aber auch zugleich negativ, als vergänglich, als veränderbar, zu fassen. Kritik hat für Marx den Maßstab in
Marx und seine Rolle in der Philosophie
der Sache selbst, in der Logik der Sache, nicht in der Sache der Logik.
Und 'Logik der Sache' heißt 'Bewegung des Gegenstandes': so wie er
zunächst ist, positiv, sich auf ihn einzulassen, ihn aufzunehmen; das ist
ein Moment der dialektisch-kritischen Behandlung des Gegenstandes. Zu
ihm, wie er ist, gehört aber auch, daß er geworden und veränderbar ist;
ihn im Flusse der Bewegung zu behandeln, d.h. dialektisch und kritisch
vorgehen. Da hat Marx einen Begriff von Kritik, der wirklich im Gegensatz zu dem der Junghegelianer steht. Damit ergibt sich dann - um einen
Schritt weiter zu gehen und vielleicht auch auf das, was Herrn
Ballestrem besonders interessiert, zu kommen - das Problem des Maßstabes der Kritik, nämlich ob Marx bei seiner Kritik der entfremdeten Praxisverhältnisse Ideale, Postulate oder Utopien nötig hat, um kritisieren zu
können. Der Anspruch von Marx selbst ist der, den Maßstab der Kritik
in der Sache selbst und ihrer Bewegung zu haben.
Simons: Also, darf ich da mal...? Gegenüber den Junghegelianern mag das
ja richtig sein; gegenüber Hegel aber scheint mir das ein Problem zu sein.
Denn wenn Sie formulieren, es ginge Marx nicht um die Sache der Logik, sondern um die Logik der Sache, dann würde ich sagen: „genau
darum geht's bei Hegel“. Hegel ging es ja nicht bloß um die Sache der
Logik; sondern die Sache der Logik war bei Hegel in seiner „Wissenschaft der Logik“ natürlich genau die Logik der Sache. Nun könnte man
natürlich sagen, die 'Sache' wird bei Hegel ein wenig anders bestimmt als
bei Marx, aber um die Logik der Sache ging es bei Hegel auch. Die Hegelsche Logik ist eben nicht eine bloße Entfaltung des Begriffs, eines
bestimmten Begriffs, sondern ist die Entdeckung des Begriffs als einen
wirklichen, als eines existierenden und nicht nur irgendwo und -wie,
sondern als eines geschichtlich-gesellschaftlich existierenden. Diese Aufdeckung ist doch Hegels Geschäft. Und wenn man nun mal Marx gegen
Hegel stellt, dann kann man nur sagen: na ja, die Logik der Sache hat
Hegel bei weitem philosophisch anders und wohl sogar besser artikuliert.
So gesehen ist das eine 'Primitivauflage' der Logik der Sache gegenüber
dem, was bei Hegel schon da ist; wenn man nicht angeben kann, worin
denn das Moment besteht, daß da eine neue Logik, eine neue 'Sache', zur
Debatte steht. Das müßte man dann mal rausfinden, das will ich nicht
Rundtischgespräch
schlechthin bestreiten. Aber das müßte man von Marx her entwickeln,
ohne in unmittelbarer Konkurrenz zu Hegel; denn da hat Marx m.E.
immer schon verloren.
Ballestrem: Ich glaube, zum Reichtum des Hegelschen Denkens gehört,
daß man alles aus ihm herauslesen kann, so wie er selbst alles Fruchtbare
aus der Geschichte des Denkens wohl herausgelesen hat. Es wird deshalb, vermute ich, unmöglich sein, sich hier darauf zu einigen, inwiefern
Marx Hegel überwunden hat oder eine Neuauflage des Besten bei Hegel
bietet, obzwar dies eine hochinteressante Frage ist. Einfacher scheint es
mir bei Feuerbach zu sein; und deswegen möchte ich doch noch mal auf
die These von Herrn Simons zurückkommen, daß er auch gegenüber
Feuerbach kaum etwas neues geleistet habe. Es müßte mir bei Feuerbach
viel entgangen sein, wenn das, was Marx in seiner Analyse der Arbeitsverhältnisse, angefangen von den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ bis in die Darstellung der Produktionsverhältnisse im „Kapital“, leistet, dasselbe wie das, was Feuerbach sowohl im Sinne von sinnlicher Anschauung als auch im Sinne von Liebe, bzw. Mangel an Liebe,
beim Gattungswesen unter 'Praxis' versteht. Es scheint mir doch eine
ganz andere Dimension zu sein, in der das Verhältnis zwischen Mensch
und Natur und gleichzeitig immer zu den Mitmenschen bei Marx analysiert wird.
Simons: Mein Einwand war nur dieser, daß man bestimmte Probleme bei
Marx nur anhand des Feuerbachschen Denkens in der Emphase eines
Begriffs 'sinnlicher Tätigkeit' klären kann, daß die dann mitgeschleppt
werden und sich durchhalten. Obwohl Marx Arbeitsverhältnisse zwar
kritisch aufzeigt und analysiert, ist doch der Maßstab dieser Kritik einer,
der vom Leitgedanken einer 'sinnlichen Tätigkeit'-Praxis gleichwohl
immer noch bestimmt wird; und sich die Frage stellt, ob genau das, was
die „Kritik der politischen Ökonomie“ leistet und leisten könnte, nicht
dadurch wieder regressiv korrumpiert wird. Das ist meine genauere Frage.
Marx und seine Rolle in der Philosophie
Ballestrem: Man müßte nun die Antwort insofern differenzieren, als man
bei Marx Phasen unterscheidet, nämlich die Feuerbach'sche Phase der
Jahre 1833/44, wo tatsächlich dieser Begriff der 'sinnlichen Tätigkeit'
und anderes mehr mitgeschleppt wurde. Und dann beginnt wahrscheinlich Anfang 1845 mit den „Thesen über Feuerbach“ genau der Punkt,
wo nämlich kritisch vermerkt wird, daß bei Feuerbach 'Praxis' nichts
anders heißt als 'sinnliche Anschauung'. Im Grunde ist das etwas Kontemplatives, das die ganze Dynamik der Entstehung und Befriedigung
von Bedürfnissen und alles, was es damit im Gefolge hat in der Beziehung zwischen Menschen, noch nicht miteinbezieht. Und dann geht das
los, was mit der Analyse der entfremdeten Arbeit beginnt und mit der
Analyse der Warenproduktion im „Kapital“ endet, nicht?
Simons: Also, lassen Sie mich ein bißchen ausholen, lassen Sie mich aufs
''Kapital“ zurückkommen. Die Hauptunterscheidung bei Marx ist doch
zwischen abstrakter und konkreter Arbeit. Und wie ist denn nun der
Unterschied zwischen abstrakter Arbeit und nicht-entfremdeter Arbeit
zu begreifen, der ganz maßgeblich ist für dieses Verständnis der „Kritik
der politischen Ökonomie“? Im Sinne der nicht-entfremdeten Arbeit
bzw. des Gegenbegriffs der abstrakten Arbeit scheint mir für Marx immer noch der Begriff der 'sinnlichen Tätigkeit' ein Leitbegriff und ein
kritischer Maßstab zu sein. Es wäre doch nun die Frage zu stellen, ob
dies ein sinnvoller Leitbegriff ist. Ich will das mal konkreter ausführen.
Es ist doch auffällig, daß die „Kritik der politischen Ökonomie“ in einer
Weise Kritik ist, bei der man eigentlich immer nur mit den abstrakten
Verhältnissen und also auch mit den abstrakten Arbeitsverhältnissen
etwas anfangen kann. Was nun nach vollendeter Verwandlung, nach der
Revolution, die ganz andere Arbeit wäre, die keine entfremdete mehr ist,
ist philosophisch utopisch offen, was also das kommunistische Ideal
wirklich wäre, und wie dann gearbeitet würde und werden müßte. Der
Begriff einer 'freien Tätigkeit' und einer Arbeit im Reiche der Freiheit:
was könnte das sein? Da müßte man doch noch andere Kategorien haben, und die sind im Rahmen der „Kritik der politischen Ökonomie“
selbst sehr schwer auszumachen. Und jetzt sehen wir doch mal, bitte
schön, die Implikationen, die da dranhängen. Bestimme ich z.B. in der
Rundtischgespräch
philosophischen Tradition 'Praxis' in Bezug auf Aristoteles als 'energeia'
und zwar, wie Aristoteles unterschieden hat zwischen 'Poiesis' als Herstellen - was er eher als Arbeit bezeichnen würde - und einer 'Praxis', die
verschiedene Momente hat und als ihr Allerhöchstes die 'energeia' im
Sinne von 'Selbsttätigkeit'. Da ist dann die Frage: wo taucht denn im
Marxschen Arbeitsbegriff, der nicht nur kritisch sein, sozusagen ihre
Abstraktheit kritisieren will, wo taucht denn da so etwas wie Selbsttätigkeit auf? Diese ganze Dimension des Moments der Selbsttätigkeit, die
nach gut europäischer Tradition auch Freiheit heißen könnte, das müßte
ja eigentlich auch sein Zielbegriff sein.
Jantzen: Ist auch.
Simons: Ist auch, ja. Aber genau dieses wäre dann doch die Frage, ob das
nicht nur als utopische Letztbeziehung auftaucht, sondern ob das auch
als bleibender Leitbegriff auftaucht, sodaß man sagen muß, hier wird
nicht mehr nur 'Arbeit' analysiert, sondern das Moment der Arbeit, das
in sich enthält: 'Selbsttätigkeit'. Da hätte man also in einem solchen Begriff die Freiheitstradition der europäischen Geschichte drin; und Freiheit
scheint mir, wenn man Selbsttätigkeit nicht einbezieht, schnell zugunsten
einer bloß sinnlichen Tätigkeit und einer bloß gegenständlich materialistischen Weltanschauung sozusagen 'rauskatapultiert.
Jantzen: Ganz kurz. Das scheint mir ein ganz wichtiger Punkt zu sein. Ich
fasse zusammen: wir haben also bei Marx eine Neubestimmung des
Verhältnisses von Theorie und Praxis...
Treptow: Und damit von Philosophie und Arbeit.
Jantzen: Völlig richtig. Die einzelnen Stufen haben wir sozusagen hinter
uns gebracht, aber die Frage ist, welche Begrifflichkeit Marx denn dann
für 'Praxis' hat außer den Begriff der Arbeit. Das könnte heißen, daß sich
entweder hier in den Arbeitsbegriff etwas eingeschmuggelt hat, was nicht
ausgesprochen wird, oder daß es tatsächlich bloß den Begriff von Arbeit
gibt und Marx damit im Sinne der historischen Entwicklung im Grunde
auf Feuerbach zurückfiele.
Marx und seine Rolle in der Philosophie
Simons: Man könnte auch sagen: die Kritik, die Revolution, die sozialistische Revolution, will historische Verhältnisse von abstrakter Arbeit überwinden, aber unter dem Maßstab ihrer Revolutionierung und Kritik
setzt sie nur eine um so schlimmere Abstraktheit von Arbeit ein. Und
mir scheint der reale Sozialismus genau dadurch gekennzeichnet zu sein;
nicht, daß er die Abstraktheit von Arbeit abgeschafft hätte, sondern er
sie verallgemeinert. Abstrakter wird die Arbeit nirgendwo anders organisiert als nun ausgerechnet da. Und das scheint mir ein wirklicher „Revolutionsfehler“ zu sein.
Treptow: Jetzt nun nochmals zu Marx. Also ich verstehe es so, daß Marx
die konkrete Arbeit...
Simons: Würden Sie sagen, daß die bisherige sozialistische Bewegung
gerade darin ihren Hauptmangel hat, nämlich die Abstraktheit bürgerlicher Arbeitsverhältnisse nur noch mal zu verallgemeinern?
Treptow: Ich komme gleich darauf. Ich möchte noch mal zurückgehen.
Simons: Wenn wir uns darin einig sind, dann würden wir schon ein Stück
weiter sein...
Treptow: Ja, gut...
Simons: ...und bräuchten darüber nicht mehr zu reden.
Treptow: Ja, gut; aber wir müßten vorher noch mal einen Schritt zurückgehen. Mir scheint es so zu sein, daß die konkrete Arbeit, d.h. die
Gebrauchswert produzierende, die bedürfnisbefriedigende Arbeit, von
der Marx sagt, daß sie in jeder Gesellschaftsform notwendig ist (die die
Vermittlung und den Stoffwechsel der Menschheit mit der Natur reproduziert), daß die immer in einer bestimmten Form auftritt. Die Form
dieser konkreten, gebrauchswertproduzierenden Arbeit bleibt in der
kapitalistischen Warengesellschaft die abstrakte, d.h. wertproduzierende
Rundtischgespräch
Arbeit, und die Formen sind die Verwertungsverhältnisse. Also, die konkrete, gebrauchswertproduzierende Arbeit steht in dieser Form der Verwertung, d.h. des Kapitalprozesses. Ich verstehe Marx nun so, daß die
'energeia' und damit die Freiheit als Prozeß der Selbstbestimmung grundlegend geknüpft ist an die Entfaltung der Produktivkraft, das ist nämlich
die konkrete Arbeit. Also, die konkrete, gebrauchswertproduzierende
Arbeit, die immer erforderlich ist, voranzutreiben und zu entwickeln,
heißt, die produktive Arbeit, die Produktivkraft zu entwickeln. Und diese
ist die Basis des Selbstbestimmungsprozesses, der für Marx schließlich
nach der Überwindung der Unterordnung der konkreten Arbeit unter die
abstrakte Arbeit zur planvollen, bewußten Organisation der Arbeitsund
Lebensverhältnisse führt.
Was heißt 'Arbeiterklasse'?
Treptow: Aber jetzt noch mal folgendes: Mir scheint es so zu sein, daß
Marx' unmittelbarer Ansatz, sein Gegenstand um noch mal darauf zu
kommen die Lage der Arbeiterklasse ist, und zwar die Lage und Stellung
der Arbeiterklasse im gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozeß der
Produktivkraftentwicklung. Und so entwickelt er eine spezielle Theorie,
nämlich die der Bedingungen und Lage der Arbeiterklasse; dann aber,
weil er diese Arbeiterklasse im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang
behandelt, entwickelt er zugleich eine generelle Theorie, nämlich eine
Theorie über diesen Gesamtzusammenhang, in dem die Arbeiterklasse
eine bestimmte Stellung mit bestimmten Zukunftsperspektiven einnimmt. Die Arbeiterklasse selbst zu analysieren, heißt für ihn, den Gegensatz Lohnarbeit Kapital zu analysieren (und das ist ja in gewisser
Weise der Gegensatz zwischen konkreter, gebrauchswertproduzierender
Arbeit und den Verwertungsverhältnissen). Dieses Verhältnis bildet den
Widerspruch, an dem die Kritik der Politikökonomie selbst den Maßstab
hat. Den Widerspruch voll und umfassend zur Geltung kommen zu
lassen, heißt, Kritik zu üben., womit die Tendenzen seiner Auflösung in
der sozialistischen Revolution, d.h. schließlich in der Selbstbestimmung
der Produzenten, zum Ausdruck gebracht werden.
Marx und seine Rolle in der Philosophie
Simons: Darf ich dazu? Mir scheint es nicht so zu sein, daß man den Begriff 'abstrakter Arbeit' bzw. 'nicht-abstrakter Arbeit' unmittelbar spezifizieren kann auf die Arbeiterklasse und ihre Gesellschaft, und noch weniger spezifizieren kann auf „Lohnabhängige“ und „Kapitaleigentümer“.
Das ist eine Spezifikation, die, wenn sie kurzschlüssig gemacht wird, uns
nicht viel weiterführt. Kurzschlüssig gemacht, führt sie dann nämlich so
weit, daß eine Gesamtgesellschaft eine Arbeitsgesellschaft im alten Sinne
ist, daß sozusagen die Gesamtgesellschaft die Misere dessen hat, was
vorher nur eine Klasse hatte, das wird so nur verallgemeinert.
Philosophisch-kategorial scheint mir das Problem darin zu liegen, daß
man den Begriff der Arbeit ich rede nicht vom Begriff der Produktion,
der weiter ist unmittelbar zuordnet auf die Arbeiterklasse. Der Klassenbegriff ist m.E. bei Marx ein ganz gewichtiger, aber auch ein problematischer. Was ist es denn für ein Begriff? Ist es ein empirischer Zuordnungsbegriff, so daß alle, die Lohn empfangen, die Gemeinten sind?
Oder ist es ein dialektischer oder sogar vielleicht transzendentaler Begriff
der Produktion, so daß man diesen Begriff der Produktion, der Produktivität und Selbstproduktivität nicht unmittelbar kurzschließen kann mit
einer bestimmten Klasse? Also, in einem Satz gesagt: Ist der kritische
Begriff 'nicht-entfremdeter Arbeit' unmittelbar auszulegen auf 'Klasse'?
Es scheint mir gefährlich zu sein, wenn man das macht.
Treptow: Ein Problem dessen, was Sie ansprechen, ist wohl, daß die entfremdete Arbeit hauptsächlich die der Arbeiterklasse zu überwinden,
heißt, dieses besondere Verhältnis (das Verhältnis Lohnarbeit Kapital)
und dadurch zugleich die Entfremdung allgemein zu überwinden. Marx
zielt darauf, daß durch die Befreiung der Arbeiterklasse die menschliche
Entfremdung insgesamt und damit die Versachlichung und Verselbständigung aller menschlichen Verhältnisse überwunden werden. Darin liegt
die Dialektik von Besonderem und Allgemeinen.
Simons: Also, darin liegt die Zweideutigkeit. Wenn man die allgemeinen
entfremdeten Verhältnisse so überwinden will, daß man nur die besonderen überwindet., nämlich die der Arbeiterklasse, und dann kurzschließt
und sagt, wenn ich diese überwunden habe, habe ich sie allgemein über-
Rundtischgespräch
wunden. Das stimmt nur, wenn durch diese Überwindung sprich: Revolution auch wirklich ein neues Verständnis, eine neue Realität und auch
eine neue Praxis von 'energeia' möglich wird; und die wird es nicht, wenn
das nicht zum Ausdruck kommen kann.
Treptow: Also, das habe ich ganz anders verstanden.
Simons: Ja, also, daß man den Klassenbegriff unmittelbar anschließt an
den Arbeitsbegriff... Was ist denn die Arbeiterklasse?, müßte man mal
fragen. Das ist so leicht gesagt, was die Arbeiterklasse ist, was diese Klasse an sozusagen vernunftrevolutionärem und freiheitsrevolutionärem
Potential aktiveren könnte. Also, mit anderen Worten: Marxens Intention ist doch, diese Abstraktion überhaupt aufzuheben und nicht nur vermittels der Aufhebung der Entfremdung der Arbeiterklasse. Das ist ein
Moment in dieser Geschichte, das im realen Sozialismus verallgemeinert
worden ist. Ein historischer Marxismus müßte sich gerade fragen, wie
denn die Aufhebung der Entfremdung dieser besonderen Klasse auszusehen hätte; damit nicht eine allgemeine Entfremdung sich institutionalisiert, sondern gerade die allgemeine Aufhebung von Entfremdung was
dies geschichtlich auch immer bedeuten mag. Ein Riesenproblem scheint
mir philosophisch dies zu sein, wie denn der abstrakte Arbeitsbegriff,
einfach erst mal kategorial, in einen nicht-entfremdeten zu verwandeln
ist.
von Pechmann: Kann ich jetzt mal ganz kurz etwas sagen. Also, mir scheint
der Ansatz von Herrn Simons mehr die Gegenwart, die Probleme 'Arbeiterklasse', was heißt das usw. miteinzubeziehen. Wäre es nicht möglich,
doch etwas gegenwartsorientierter zu fragen? Was nützt heute der Klassenbegriff, wohin führt das? Realer Sozialismus: ist das Sozialismus oder
eher das Gegenteil davon? Könnten Sie dies vielleicht mehr in die Diskussion einbeziehen?
Jantzen: Ja, aber ich möchte trotzdem noch bei dem Punkt bleiben. Mir
scheint doch das Kernoder ein Kernproblem etwas verloren gegangen zu
sein, das aber dennoch unmittelbar auf die Gegenwart durchschlägt. Dies
Marx und seine Rolle in der Philosophie
Kernproblem würde ich etwa so zu formulieren versuchen: die Marxsche
Begrifflichkeit über die philosophisch gewordene Praxis oder die praktisch gewordene Philosophie, wie sie Marx formuliert, ist insofern möglicherweise unzureichend, als sie sich nach wie vor in den Kategorien von
Arbeit bewegt lassen wir mal, ob als entfremdete oder nicht-entfremdete
Arbeit (das Problem liegt ja in den Kategorien dieser Unterscheidung
selbst). Und zwar scheint mir das insofern unzureichend bzw. unbefriedigend zu sein, als wenn es bloß die Kategorie von Arbeit ist es letztlich
ja nicht auf mehr denn auf die Produktion des Menschen als Gattungswesen hinausliefe. Oder daß sich andererseits in diesen Begriff von Arbeit, wenn er mehr bedeuten soll als bloße Reproduktion, Aufrechterhaltung. der Möglichkeiten von Reproduktion usw., daß sich dort etwas
hingeschlichen hat, was eventuell mit dem Terminus 'Handeln' im Gegensatz zu 'Arbeit' anzusprechen wäre. Und dieses Problem...
Treptow: Darf ich Sie bitten, dieses Problem noch ein klein bißchen zurückzuschieben. Ich möchte auch noch mal einen Schritt zurück, nämlich...
Jantzen: Ich wollte dazu noch gerne zwei Schritte zurück. Also, erstens
scheint sich mir aus dieser Problemlage die mittlerweile vielleicht klassische Problematik „Marxismus und Ethik“ zu ergeben. Zweitens, im
Ökonomischen scheint das durchzuschlagen in die Werttheorie wie auch
immer ausgewiesen in die Unterscheidung von Tauschund Gebrauchswert einer Ware. Natürlich steht dahinter Ricardo. Und der dritte Punkt,
bei dem das möglicherweise durchschlägt im sog. real existierenden Sozialismus, ist dies und da gebe ich Herrn Simons vollkommen recht -, daß
das Neuartige dort, von allem anderen abgesehen, in der bloß anderen
Organisation, nicht in anderen Arbeitsverhältnissen, zu bestehen scheint.
Marxismus und Ethik: 'versteckte Normativität'?
Ballestrem: Ich möchte auch gern nochmals die Frage, die wir behandelt
haben, unter einem bestimmten Aspekt zusammenfassen, der jetzt zu-
Rundtischgespräch
letzt angedeutet wurde, und zwar noch mal unter dem Aspekt der systematischen Zweideutigkeit von Marx. Ich darf daran erinnern, daß unser
erstes Thema, nämlich die Methode der Marxschen Kritik m.E. zu dem
Ergebnis geführt hat, daß es dort eine systematische Zweideutigkeit gibt
zwischen einerseits dem, was Marx und vor allem Engels als wissenschaftliche Methode verstehen und am Beispiel der Naturwissenschaften
immer wieder festmachen, und andererseits dem, was Marx im Anschluß
an Hegel als Dialektik bezeichnet. Und wenn Herr Treptow sagte, daß er
das Interessante an Marx. fände, daß er gerade die beiden Aspekte zusammennimmt, so wird er doch, glaube ich, nicht sagen, daß Marx dies
auf eine konsistente und explizite Weise entwickelt hätte. Ich finde bei
Marx nirgends einen Text, wo er seine eigene Methode auf eine konsistente Weise entwickelt, die diese beiden Dinge zusammenbrächte. Man
kann sich daran inspirieren lassen, aber die Zweideutigkeit in seinen
eigenen Aussagen, meine ich, bleibt.
Und dasselbe scheint mir jetzt wiederum bei dieser Frage, die wir zuletzt
diskutiert haben, zu geschehen, und zwar könnte man das unter dem
Titel sehen: die „versteckte Normativität des Marxschen Denkens“.
Alles, was wir besprochen haben, über abstrakte und konkrete, entfremdete oder nicht-entfremdete Arbeit, Arbeitsteilung und Überwindung der
Arbeitsteilung, Produktion von Wert oder von Gebrauchswert usw.,
setzt ja im Grunde voraus Sie haben es ja gesagt den Begriff der nichtentfremdeten Arbeit; setzt voraus eine Diskussion der konkreten Möglichkeiten und Konsequenzen einer anderen, einer ganz alternativen
Organisation von Arbeit. All das finden wir bei Marx nicht, weil er sich,
beginnend mit der „Deutschen Ideologie“, einer ganz ausdrücklich normativen Askese befleißigt, die u.a. gewiß damit zu tun hat, daß er nicht
unter Max Stirners Kritik an Idealen fallen wollte. So kann man in der
„Deutschen Ideologie“ lesen: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein
Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal ..., (sondern) die wirkliche
Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ Daraus ergibt sich
seine Art, über Arbeit und Arbeitsverhältnisse zu sprechen, nämlich als
die naturnotwendige Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse; und er trifft eine Prognose, daß es so nicht immer weitergehen kann, daß zum Schluß etwas kommen wird, was man als die 'proleta-
Marx und seine Rolle in der Philosophie
rische Revolution'; als die 'Diktatur des Proletariats' und vielleicht am
Ende als 'Sozialismus-Kommunismus' bezeichnen kann. Aber darüber
spricht man nicht näher; das wäre nicht wissenschaftlich. In Wirklichkeit
spricht Marx implizit die ganze Zeit davon. Wenn Sie fragen: was ist
denn der Begriff der 'nicht-entfremdeten Arbeit' bei Marx?...
Simons: als Leitbegriff, als dauernd anwesender Leitbegriff...
Ballestrem: so findet man ihn versteckt, fast verschämt hin und wieder,
z.B. in den Kommentaren zu James Mill, wo er fragt: Was würde es denn
bedeuten, wenn wir nicht mehr wie in der bürgerlichen Gesellschaft
jeder für sich, sondern für den anderen produziert? Oder wenn er im
Fetischkapitel des „Kapitals“ (MEW 23, S. 85 ff., Anm.) davon spricht,
daß die Menschen einmal als freie Subjekte nach einem gemeinsamen
Plan Gebrauchswerte produzieren werden, dann scheint er da auf, aber
er ist nicht reflektiert und systematisiert. Und das empfinde ich als großes Manko im Marxschen Denken. Genau das, was sich Marxisten gewöhnlich zugute halten, daß ihre Theorie wissenschaftlich und nicht
utopisch, kritisch aber nicht ethisch begründet sei, empfinde ich als ein
Manko, weil etwas fehlt, weil sie auf die Frage jedes Einzelnen: „wie soll
ich handeln?“, keine Antwort geben kann, weil sie nichts aussagen kann
über Maximen des Handelns und über Ziele und über Zwecke des Handelns. Eine Diskussion über die konkreten Möglichkeiten einer nichtentfremdeten Arbeit gehörte zur Formulierung normativer Ziele.
Simons: Darf ich das ein bißchen ausziehen. Daß das bei Marx nicht da
ist, kann man schon daran ausmachen, daß ja eigentlich, nach seinem
Plan, nach der „Kritik der politischen Ökonomie“, noch eine Handlungsund eine Organisationslehre stehen müßte, die in einer Staatstheorie
gipfelte. Dieses, was Marx geplant hatte, ist ja dann nicht geschrieben
worden.
Ballestrem: Aber wie kommen Sie darauf, daß die geplante Staatstheorie
eine Handlungstheorie sei?!
Rundtischgespräch
Simons: Das würde ich mal so unterstellen, daß er das hat machen wollen
oder müssen.
Treptow: Das hat er dem Plan nach tatsächlich machen wollen, er hat das
immer systematisch ausführen wollen. Aber ich glaube, das würde das
Problem, das Herr Ballestrem gestellt hat, bestehen lassen. Das Problem
ergibt sich m.E. grundlegend daraus, daß für Marx eben die Praxis, d.i.
letztlich die Praxis der Produktivkraftentwicklung, die Grundlage für die
Theorie ist. Von seinem materialistischen Ansatz kann er keine theoretische Antizipation von Handlungsnormen, getrennt von der praktischen
Entwicklung, machen. Das ist die logische Konsequenz seines Materialismus', daß der Gegenstand, d.h. die Natur und die gesellschaftlich produzierenden Individuen, insgesamt nicht noch einmal theoretisch ableitbar und erklärbar sind. Das sind die Voraussetzungen, die er macht: die
Natur und die gesellschaftlich produzierenden Individuen, und die Theorie hat deren Bewegung und Entwicklung auf den Begriff zu bringen,
kann also von sich aus, selbständig, keine Handlungsorientierungen und
Normen, keine Postulate, aufstellen. Dementsprechend ist für ihn im
Gegensatz zur traditionellen Philosophie die Philosophie nicht mehr
selbständig, autonom.
Darf ich noch folgendes sagen, weil noch einiges, was vorhin gesagt
wurde, mir immer noch zu denken gibt. Also, der Arbeitsbegriff, der
angesprochen worden ist, beinhaltet doch nicht nur die Reproduktion
der Gattung; sondern der Arbeitsbegriff ist so gefaßt von Marx, daß
eben durch die Entwicklung der konkreten, gebrauchswertproduzierenden Arbeit und durch die Entwicklung der Produktivkraft die Menschen
sich selbst erst hervorbringen. Damit schließt er auch ausdrücklich an
Hegel an und sagt sinngemäß: „das Große und das Verdienst der Hegelschen 'Phänomenologie' ist, daß sie die Selbstverwirklichung durch die
Arbeit faßt, wenn auch im Element des Geistes“. Also, Arbeit ist mehr
als Reproduktion der Gattung, ist Hervorbringung des Menschen,
Selbstverwirklichung, ist das, wodurch Freiheit zustande kommt.
Jantzen: Aber die Arbeit bleibt zurück!
Marx und seine Rolle in der Philosophie
Treptow: Die Arbeit bleibt die Grundlage der freien praktischen Entwicklung der Menschen, auch da, wo sie noch Knechtsform hat, auch da, wo
sie noch untergeordnet ist unter die abstrakte Arbeit. Die Auflösung
dieses Widerspruchs kann also nach Marx auch nicht durch Postulate
erfüllt werden oder am Maßstab von Idealen; die Auflösung sieht er
doch wohl aufgrund dieser Dialektik von konkreter und praktischer
Arbeit selbst, d.h. daß das Proletariat sich selbst befreit, indem es
schließlich diese Unterordnung unter das Kapital, den Verwertungsprozeß, beseitigt.
Zur Frage der sozialistischen Organisation der Arbeit wollte ich nur
noch das sagen, was Marx selbst in der „Kritik des Gothaer Programms“
ausgeführt hat, daß das Prinzip der abstrakten Arbeit, das Prinzip: „Jedem nach seiner Leistung“, auch noch in der sozialistischen Gesellschaft
gilt, und somit haben Sie in gewisser Weise Recht, zu sagen, daß die
Produktion verallgemeinert wird. Es ist von Marx so gedacht, daß die
warenproduzierende Gesellschaft und damit das Prinzip „. Jedem nach
seiner abstrakten Leistung“ auch in dieser Gesellschaft noch beibehalten
bleiben.
Wichtig wäre auch noch die Frage nach der versteckten, unterdrückten
Normativität, die bei Marx vorhanden sei. Also, mir scheint es so zu sein,
daß Marx jedenfalls in seinem Selbstverständnis verzichtet auf Postulate
und auf Normen, daß er vielmehr sagt, was zu tun ist, ergibt sich aus
dem Widerspruch, der in sich eine Tendenz enthält, nämlich die Unterordnung der konkreten, gebrauchswertproduzierenden Arbeit unter die
abstrakte Arbeit; diese Unterordnung, die sich in den Krisen immer wieder als brüchig zeigt, die ist zu begreifen. Das ist die Tendenz, die die
Auflösung des Widerspruchs selbst beinhaltet. Würden Sie sagen, Herr
Ballestrem, daß das eben von mir skizzierte Marxsche Selbstverständnis
verfehlt ist? Oder wollen Sie sagen, daß er doch ein anders Selbstverständnis hat, daß er eine Normativität, Maßstäbe nicht-entfremdeter
Arbeit enthält, die im Grunde nicht abgeleitet sind? Sie verstehen schon,
was ich meine? Man kann so argumentieren: im Grunde hat Marx versteckt doch noch Normen, mit denen er herangeht an die Analyse der
Verhältnisse, die er aber nicht explizit macht; das wäre das eine kritische
Argument. Das andere ist, daß man sagt, er rekurriert tatsächlich auf
Rundtischgespräch
diese Widersprüche konkreter Arbeit abstrakter Arbeit, Lohnarbeit Kapital und er leitet tatsächlich von der Auflösung dieser Widersprüche die
Zukunft der Entwicklung ab. Also, hat er eine unterdrückte normative
Vorstellung, die er nur nicht zugibt?
'Gebrauchswert': normativer Leitbegriff der „Kritik der politischen Ökonomie“?
Simons: Es ist m.E. einleuchtend unter einer Voraussetzung nämlich der,
daß der Entwurf dessen, was da herauskommen soll aus der Kritik der
bürgerlichen Welt und ihrer Revolutionierung, nur eine reine Utopie sei,
die, bevor diese Welt und Gesellschaft eine andere geworden ist, nicht
theoretisch bedenkbar ist. In diesem Sinne würde ich Ihnen Recht geben,
aber trotzdem meine ich, hat Herr Ballestrem auch Recht. Man muß die
Frage ja nicht so stellen, daß man über etwas theoretisiert, was noch gar
nicht ist; da kann man sagen, das wollte Marx nicht. Man kann aber die
Frage auch so stellen, wie sie Herr Ballestrem wohl auch gemeint hat,
nämlich daß Marxens normativen Leitbegriffe präsent, andauernd präsent sind, wo man nicht mit dem Eindruck, das sind ja bloß rhetorische
Dinge, sie gewissermaßen der Zukunft überlassen kann. Das wäre die
falsche Applikation auf Geschichte und geschichtliche Gegenwartsund
Zukunftszusammenhänge; sondern sie sind jetzt und hier schon die
leitenden Maßstäbe von Revolution und Kritik. Und darin liegt vielleicht
die Konkretisierung. Die „Kritik der politischen Ökonomie“ hat einen
Leitbegriff, der kein kritischer mehr ist, das ist z.B. der 'Gebrauchswert'.
Den Begriff des Tauschwerts kann die „Kritik der politischen Ökonomie“ noch kritisch denken und auch versuchen aufzuheben; der Grenzbegriff des Gebrauchswerts ist jedoch analog zu Kant ein „Ding an
sich“, das jenseits der Erscheinung innerhalb eines Verwertungszusammenhanges, der eben diese Erscheinung konstituiert sich sozusagen als
Gegenbegriff an der Grenze hält.
Treptow: Wie könnte man denn überhaupt den Gebrauchswert und damit
die Bedürfnisbefriedigung kritisieren?
Marx und seine Rolle in der Philosophie
Simons: Darauf will ich ja hinaus. Ich möchte sagen: dieser Grenzbegriff
ist ein systematisch-normativer; im Grenzbegriff des Gebrauchswerts,
genau wie im Grenzbegriff der konkreten Arbeit, bleibt dieser normative
Charakter unter der Hand erhalten. Und da will ich doch mal fragen: Ist
denn dieser Begriff des Gebrauchswerts so zu akzeptieren? Wäre es nicht
besser, wenn wir denken, daß er unter der Hand eine Normativität in
Anschlag gebracht hat? Denn der Begriff des Gebrauchswerts ist selbst
dafür, wozu er beitragen soll, nämlich zur Humanisierung letztlich der
Natur und Naturalisierung des Menschen m.E. unzureichend, weil er
selbst ein Begriff ist, der noch innerhalb eines systematischen Rasters
neuzeitlichen Natur und Menschenverständnisses steht. Ich will es jetzt
mal historisch sagen: die antike Naturauffassung von Platon etwa hat
auch so etwas gewollt, in der „Politeia“ etwa, Platon aber würde sich an
den Kopf gefaßt haben. Ich kann doch nicht die Natur, den Kosmos mit
diesem Begriff des Gebrauchswerts fassen. Das ist noch mal eine Abstraktion, die darauf hinausläuft, daß sozusagen dieser unter der Hand als
normativer, systematischer Grenzbegriff 'Gebrauchswert' selber noch
einmal einer Entfremdung unterliegt, d.h. einer Abstraktion, die, wenn
man sie beläßt, im Grunde genommen bloß dazu führt, daß man zu
einem Totalbegriff abstrakten Natur-, Menschen und Gesellschaftsverhältnisses kommt. Wenn man das nicht will, dann, meine ich,; muß man
den Begriff des Gebrauchswerts noch mal kritisch hinterfragen. Wenn
man das nicht tut, wird man unter der Hand normativ-dogmatisch.
Treptow: Mit welchem Maßstab?
Simons: Ja, das möchte ich dahingehend beantworten: Man kann ihn nicht
an einem „Maßstab“ einer vielleicht einmal möglichen und zukünftigen,
objektiven und realen Welt messen, sondern man muß ihn an einer Implikation des Produktionsprozesses selbst messen, an einer Präsenz des
Produktionsbegriffs. Und dieser Produktionsbegriff muß folgendes leisten: er muß einen Vorgriff ermöglichen, damit Revolution auch sinnvoll
stattfinden kann, ohne daß man diesen Vorgriff dadurch abwehrt und
ablehnt, daß man sagt: „das sind ja Postulate“. Das ist ja gerade nicht
postulatorisch , sondern das ist implikatorisch zu denken, sodaß ein
Rundtischgespräch
Produktionsverständnis als ein grundlegendes Mensch-Weltund MenschNatur-Verhältnis da und präsent gehalten wird, wovon her so etwas wie
eine nicht-entfremdete Natur und eine nichtentfremdete Arbeit überhaupt, auch nur proleptisch, auszudenken ist. Oder, um es vielleicht
verständlicher zu sagen: es gibt nicht nur eine Normativität, die irgendwo
in der Zukunft auftaucht, sondern es gibt eine kritische Normativität, die
in den Voraussetzungen des Hier und Jetzt liegen. Diese Voraussetzungen des Hier und Jetzt müssen selbst artikuliert werden und können
auch, und da ich komme auf Herrn Ballestrem zurück wird es bei Marx
zweideutig. Man kann eine allgemeine Abstraktheit unterstellen, und da
kommt dann auch nichts anderes bei heraus; man kann es anders unterstellen, dann hat man vielleicht die Chance, daß das besser und anders
wird. Verstehen Sie, was ich meine?
Treptow: Da bin ich mir nicht so sicher.
Simons: Also, daß nicht nur postulatorisch die Utopie da ist,...
Treptow: Ja, das versteh ich.
Simons: ... sondern, daß es zur wahren Dialektik gehört, die ein inneres
Moment des Wechselverhältnisses von abstrakter und nichtentfremdeter Arbeit offenhält, wovon her solche systematischen Grenzbegriffe wie z.B. der Gebrauchswert selbst noch mal kritisiert werden
können; denn sonst kommt es dazu, daß eine Kritik und Revolution im
Grunde genommen ein 'Bedürfniswesen' Mensch und einen.
Gebrauchswert 'Mensch' und 'Natur' fortschreibt, der m.E. die Abstraktion nur verallgemeinert und viel schlimmer macht, als es je in einer
kapitalistischen Produktionsweise war. Deshalb finde ich, daß solche
Begriffe, die in einer marxistisch-orthodoxen Debatte immer so als das
absolute „Ding an sich“ dastehen, wie 'Gebrauchswert' (und es gibt eine
ganze Reihe solcher Begriffe), daß diese nicht so stehenbleiben dürfen;
und bei Marx bleiben sie eigentlich stehen. Da kommt mal raus, daß es
anders sein müßte, aber es bleibt auch unklar, wie denn nun... Und in
dieser Ambivalenz das hängt mit der Subjektivität vom Anfang zusam-
Marx und seine Rolle in der Philosophie
men bleiben dann die Grundbegriffe als Urvoraussetzungen der Marxschen Kritik offen, unausgesprochen und zweideutig dahinter. Und damit ist m.E. in einer marxistischen Debatte, aber auch in einer marxistischen Praxis, einer zweideutigen Auslegung Tür und Tor geöffnet. Ich
meine, daß der reale Sozialismus dafür ein Indiz ist, daß man sozusagen
die abstrakten Voraussetzungen annimmt und das Eigentliche nicht
mehr denkt, das Eigentliche würde ich sagen, einer 'Selbstproduktivität'
nicht mehr zu denken vermag, von woher dann auch so etwas wie
'Gebrauchswert' zu denken wäre. Ich will es noch mal mit anderen Worten sagen: Diese ganzen Begriffe 'Gebrauchswert' sind neuzeitliche Begriffe, die m.E.. das Verhältnis Mensch-Natur. oder auch das Verhältnis
von Bedürfniswesen 'Mensch' und Bedürfnisbefriedigung unter einem
Rahmen oder einem Raster sehen, der m.E. selbst noch kolossalisch
verfremdet und entfremdet ist. Wenn man das nicht erklärt, dann ist der
Marxismus wirklich nur noch eine allgemeinere Form des Kapitalismus,
eines nicht mehr ökonomisch verwertenden Kapitals, sondern Form
einer bestimmten Rationalität, eines bestimmten, der neuzeitlichen Rationalität aufsitzenden Kapitalismus; und das wäre noch ein viel schlimmerer Kapitalismus als der, den Marx überwinden wollte.
Jantzen: Ich möchte gerne die Frage nach der Ontologie oder NichtOntologie des Gebrauchswerts etwas zurückstellen. Ich wollte mich der
Frage von Herrn Treptow anschließen und vielleicht ein bißchen erweitern, ausgehend von der eingebauten oder nicht explizit gemachten
Normativität.
Simons: Ja, ja. Das meinte ich ja die ganze Zeit. Gebrauchswert ist ein
normativer Begriff...
Jantzen: Meiner Meinung nach könnte ein Rekurs auf den Arbeitsbegriff
diese eingebaute Normativität vielleicht wieder auflösen. Meine Zusatzfrage an Herrn Ballestrem ist mir in der Diskussion vorhin gekommen, ob
nicht eventuell das nicht explizite Aussprechen der Normativität verantwortlich ist für die Art und Weise, wie in populärer Form sagen wir mal
in der klassischen Form, in der Kautsky den Marxismus vertreten hat.
Stichwort: 'sozial-evolutionistisch'. Das wäre die direkte Konsequenz der
Rundtischgespräch
nicht ausgesprochenen Normativität in dieser Fassung von marxistischer
Philosophie. Das liegt, vermute ich, sowieso in dieser Zeit evolutionistischen Denkens.
Marx' Theorie der 'Dritten Person'
Ballestrem: Ich glaube, daß da ein direkter Zusammenhang besteht. Man
kann sagen, daß durch Kautsky noch das verstärkt worden ist, was bei
Marx und Engels schon angelegt ist, nämlich die kritische Theorie der
kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft als einer Theorie wie manche
modernen Philosophen sagen würden in der „dritten Person“ und nicht
in der „ersten“ oder „zweiten“. Also eine Theorie, die versucht zu erklären aufgrund von Gesetzmäßigkeiten, warum bestimmte Gruppen, Klassen, Individuen auf eine bestimmte Weise sich verhalten. Sie suchen
nach Ursachen und Gesetzmäßigkeiten, nicht nach Gründen; nicht eine
Theorie, die anstelle von Ursachen Gründe nennt, anstelle von Gesetzen
Maximen oder Prinzipien des Handelns und anstelle von Prognosen
Zielvorstellungen oder Zwecke. Das sind doch zwei sehr unterschiedliche Arten von Theoriebildung. Eine Theorie, die praktisch werden will,
was die Marxsche Theorie ja doch von Anfang an ganz eminent wollte,
kann nicht darauf verzichten, eine Theorie in der ersten und zweiten
Person zu sein; eine Theorie, die Gründe für das Handeln nennt, und
nicht versucht zu erklären, warum unter diesen Klassenbedingungen und
diesen ökonomischen Bedingungen die Menschen dann so und so handeln werden. Herr Treptow sagte vorhin, daß Marx erklärt, was zu tun ist
in einer bestimmten Situation. Da steckt wieder genau diese Zweideutigkeit darin... Was heißt denn: „was zu tun ist“? Heißt das, daß man aufgrund bestimmter Analysen ökonomischer und sozialer Verhältnisse
voraussagen wird, daß Proletarier in dieser oder jener Gegend der Welt
ähnlich wie eine Katze, die in die Ecke gedrängt ist zum Sprung ansetzen
müssen, weil sie sonst gar nicht überleben können? Man kann dann eine
Prognose wagen, mehr oder weniger genau. Oder heißt „was zu tun
ist“?, daß es dafür gute Gründe gibt, daß bestimmte Subjekte ein legitimes Interesse daran haben, auf bestimmte Weise zu handeln; ein Interes-
Marx und seine Rolle in der Philosophie
se, das sie gut vertreten könnten in einem Dialog, weil etwa ihre Interessen als Menschen in der Gesellschaft nicht zu ihrem Recht kommen; daß
sie gleichzeitig gute Gründe in dem Sinne angeben können, daß sie sagen, wenn wir jetzt so handeln, dann lohnt sich das Ziel in dem Sinne,
daß man diese Ziele artikulieren formulieren und auch Chancen der
Verwirklichung angeben kann? Es ist sicher in der Zeit der Entwicklung
der Arbeiterbewegung, also in der Zeit des Revisionismusstreits, genau
das das Problem gewesen. Im Erfurter Programm wird eben diese Art
revolutionär-deterministischer Theorie der 'Dritten Person' dargestellt,
und dann im praktischen Teil des Programms werden konkrete, kleine
Schritte angegeben, die mit diesem Ziel der Revolution unmittelbar gar
nichts zu tun haben; wo dann die Frage entsteht: „wie soll die Sozialdemokratie eigentlich handeln“? und darauf bleibt die Parteiführung im
wesentlichen eine Antwort schuldig. Daraus entstehen dann die sozialistischen Neukantianer und all das...
Jantzen: Die Neukantianer noch nicht, aber die sog. Revisionisten. Aber
würden Sie denn der verschärften Folgerung zustimmen, daß in diesem
Fall die Marxsche Theorie der eingebauten Normativität wegen dann zu
einem ganz gegen ihre Intention gerichteten Ergebnis geführt hat, wofür
man nicht einfach den bösen Kautsky verantwortlich machen kann,
insbesondere in der deutschen Arbeiterschaft Ende des letzten Jahrhunderts? Und daß umgekehrt erst der „voluntaristische“ Akt der russischen
Revolution diese Theorie zu dem gebracht hat, was sie eben wollte, nämlich zur Veränderung von Praxis.
Ballestrem: Nun, ich meine, den ersten Teil Ihres Satzes würde ich unterstreichen, daß der Attentismus eine der vielen möglichen Folgen der
Theoriebildung ist. Ob das durch die Lehre Lenins oder besser Praxis in
ein ganz anderes Gleis gelenkt wird, ist die Frage.
Simons: Ja, genau. Der Leninsche Parteityp ist doch gerade der, der die
Spontaneität des Handelns unterdrückt zugunsten einer Formierung von
außen, wo gewissermaßen nur einer das Recht hat, spontan zu handeln,
und das ist der Über-Chef; und dann wird von oben heruntergehandelt
und diktiert. Diese versteckte Normativität, die es da gibt im Marxschen
Rundtischgespräch
Denken, führt genau zu einem Handlungsverständnis, das zwar objektiv
Gesellschaftszwänge analysieren kann, aber genau nicht dies klar machen
kann, wie aus objektiven Gesellschaftszwängen durch spontan gemeinsames Handeln herauszukommen ist. Das tut er nicht. Die versteckte
Normativität drückt sich, wenn sie objektiviert wird, dann so aus, daß die
Gesamtgesellschaft objektivistisch betrachtet und behandelt wird,
Ballestrem: Aber Sie formulieren jetzt schon fast paradox, wie aus den
Zwängen spontan gehandelt wird.
Simons: .., oder werden könnte.
Ballestrem: Herr Treptow, ich denke die ganze Zeit, was in Ihnen vorgeht.
Aber vielleicht sollte ich Sie erst einmal fragen, ob Sie sich jetzt schon die
ganze Zeit Gedanken über eine Theorie in der dritten Person und eine in
der ersten und zweiten machen.
Treptow: Also, zunächst scheint es mir eine Teilantwort zu sein, daß das
Subjekt, das verantwortlich handelt, nicht beliebige Handlungsziele anvisieren kann, sondern daß es nur im Rahmen von objektiven Verhältnissen, die sich gesetzmäßig entwickelt haben, handeln kann. Es kommt
darauf an, den Rahmen aufzudecken, in dem die Subjekte verantwortlich
handeln und sich zur Geltung bringen können, „in der dritten Person“ ;
die Gesellschaftstheorie klärt darüber auf und ist die Grundlage für die
Ethik. Weder Hegel noch Marx haben die Ethik als eine selbständige
Disziplin gesehen, Aristoteles übrigens auch nicht. Gesellschaftstheorie
ist die Basis und steckt jetzt sozusagen den Rahmen ab, in dem das Subjekt verantwortlich handelt.
Noch ein anderer Gedanke. Vielleicht haben Sie die Frage zu sehr so
gestellt: Wie soll denn jetzt. ein Subjekt handeln verantwortlich? Ohne zu
berücksichtigen, daß es immer schon handelt. Mir scheint, von Marx her
gesehen, handeln die Subjekte immer schon, d.h. sie bringen ihre Interessen und Bedürfnisse zur Geltung soweit es die Herrschaftsverhältnisse,
vor allem die Unterordnung unter das Verwertungsprinzip, zulassen.
Also, bevor die Frage auftaucht: Wie handle ich jetzt sinnvoll, vernünftig,
verantwortlich, wie bringe ich mich als Subjekt zur Geltung? Handelt
Marx und seine Rolle in der Philosophie
man immer schon, und zwar so, daß in letzter Instanz Handeln als 'Praxis' zu fassen ist, als Arbeitspraxis. Konkret für unsere Gesellschaftsformation heißt das, daß die Subjekte schon immer im Widerspruch stehen,
daß sie zugleich mit dem zur Geltung bringen ihrer produktiven Tätigkeit und mit ihrer Handlungsweise in Widerspruch zu den Verhältnissen
stehen, sich somit nicht vollends zur Geltung bringen können und so
auch die Konsequenzen ihrer Handlung nicht absehen können. Marx
analysiert im „Kapital“, wie etwas ganz anderes als Resultat herauskommt als beabsichtigt worden ist. Die Krise jetzt z.B. hat auch niemand
beabsichtigt, sondern ist naturwüchsig. Hinterrücks hat sie sich ergeben
und nicht als Resultat bewußter Intention der Individuen. Weder Kapitalisten noch Lohnabhängige wollen die Krise jetzt, und sie ist auch nicht
deshalb da, weil sie sie wollen. Marx geht es doch gerade um dieses Sichso-zur-Geltung-bringen der Subjekte, daß sie dann auch Resultate zustande bringen, die sie selbst gewollt haben, und daß sie letztlich eben die
eigenen Lebensund Arbeitsverhältnisse bewußt gestalten. Er analysiert
aber, was das vernünftige, planvolle., bewußte Sich-zur-Geltung-bringen
als Subjekte im Sinne der 'energeia' und der Selbstverwirklichung verhindert.
Simons: Aber, weil Marx im Sinne der politischen Ökonomie das, was wir
jetzt gesagt haben, so auslegt, daß nämlich eine strukturelle Handlungsunfähigkeit existiert, gesellschaftlich existiert, und er wahrlich mit Emphase sagen will, es kommt darauf an, diese interkapitalistischen Bedingungen, diese hinter dem Rücken der Individuen institutionalisierten
Bedingungen struktureller Handlungsunfähigkeit zu lösen, dann ist es
natürlich gerade bei einer solchen Sicht der Verhältnisse um so erforderlicher zu zeigen, wie man denn durch ein Handeln -·. und er sagt ja, man
handelt immer schon -, durch ein revolutionäres Handeln, das scheinbar
ein ganz anderes sein soll, diese strukturelle Handlungsunfähigkeit nicht
verlängert und perpetuiert. Die Gefahr ist doch riesengroß. Und wenn
man nicht will, daß die strukturelle Handlungsunfähigkeit durch eine
sozialistische Revolution bloß perpetuiert und noch schlimmer gemacht
wird, wie es der reale Sozialismus wohl auch durchführt, dann müßte
man doch wirklich auch dem Marx die Frage stellen: „Wie können wir
Rundtischgespräch
denn gerade , wenn und weil es so ist, ein Handlungspotential freilegen,
das trotz der Zwangsbedingungen struktureller Handlungsunfähigkeit
diese nochmals so verändern kann, daß diese Strukturen der Handlungsunfähigkeit transformiert und nicht bloß perpetuiert werden?“ Auf diese
entscheidende Frage, meine ich, gibt es bei Marx keine so entscheidenden Antworten, ja noch nicht einmal ein sehr entscheidendes kritisches
Problembewußtsein. Denn sonst müßte er, zwar vielleicht nicht gleich
eine große Theorie darüber entwickelt haben, aber müßte doch wenigstens sagen: „Also, das und das ist höchst gefährlich, das machen wir
nicht; wir müssen darauf achten, daß wir nicht strukturelle Handlungsunfähigkeit perpetuieren.“
Zumindest im ganz weiteren Verlauf dessen, was nach Marx dann kam,
wurden alle Ansätze, die diese Probleme begriffen haben, ich meine etwa
Rosa Luxemburg und ihr Konzept eines kommunikativen Handelns ja
sehr schnell in einem Parteibild, wo das stört, in die Ecke gedrängt. Womit man wieder sagen kann: vielleicht liegt das nicht an irgendwelchen
Marx-Nachfolgern; vielleicht ist das eine Zweideutigkeit bei Marx selbst.
Was ihm aber nicht so bewußt geworden ist, wie es sich eigentlich gehörte in einer Theorie der strukturellen Handlungsunfähigkeit, in der alles
darauf ankommt, genau die Potentiale freizusetzen, auf die man sich
dann einlassen muß, um die Struktur von Handlungszwängen abzubauen.
Ich würde sagen, die Hauptrichtung der Marxschen Begriffe ist eher die,
die in Richtung einer Perpetuierung zu gehen scheint. Ich würde gerne
wissen, wo das nicht der Fall ist. Ein Ansatz bei Marx ist etwa der berühmte Satz, daß „die Erzieher selbst erzogen werden müßten“; und er
hat dann angedeutet, daß es hier um einen selbstschöpferischen Akt
gehen muß, weil man Erziehung nicht immer bloß delegieren und sagen
kann, die werden erzogen von den Erziehern und die werden von anderen erzogen. So liefe das Problem bloß regressiv oder progressiv. Man
muß doch dann mal auf die Idee kommen: es scheint so etwas wie eine
selbstschöpferische Kraft des Handelns geben zu müssen, damit Erziehung etwa nicht immer in einen unendlichen Regreß zurückfällt. Und
damit sind wir auch wieder bei dem Hauptthema: Was ist denn die
Handlungsmotivation der Revolutionäre, wie ist ein Handlungspotential
Marx und seine Rolle in der Philosophie
möglich und welch ein Handlungspotential soll denn eine revolutionäre
Gruppe darstellen? Dazu hätte ich noch gerne etwas gewußt.
Treptow: Ja, da ist zum Beispiel die Schrift über die „Pariser Kommune“.
Die sagt doch etwas darüber, wie man die Strukturen, die das Handeln
im Sinne der Selbstbestimmung verhindern, überwinden kann; z.B. imperatives Mandat, daß sich Beamtentum und Bürokratie nicht etablieren
fremd gegenüber den Individuen...
Simons: Nun gibt es aber auch eine Fragestellung, die auf die Struktur des
Freiheitsbegriffes selbst hinarbeitet und dies für denkbar hält.
Sinnliche Gegenständlichkeit oder geistige Produktivität?
Treptow: Da würde ich Sie gerne noch mal fragen, was Sie da meinten mit
Marx' unkritischer Einstellung nicht gegenüber dem Arbeitsbegriff, sondern gegenüber dem Gebrauchswertbegriff. Mir kam es so vor, als wenn
Sie da gegeneinander ausspielten: auf der einen Seite den Gebrauchswertbegriff, auf der anderen Seite die produktive Selbstentfaltung...
Simons: Im Sinne von 'energeia'.
Treptow: Das scheint nun bei Marx gerade doch eine Einheit zu sein: daß
Marx die Menschen wesentlich als gegenständliche, bedürftige Wesen,
gebrauchswertproduzierende Wesen bestimmt, und zwar so, daß dadurch ihre Selbstentwicklung, Selbstbestimmung zustandekommen kann.
Daher liegt doch kein Gegensatz zwischen produktiver Entwicklung,
Selbstbestimmung und Gebrauchswertproduktion. Aber das war, glaube
ich, nur eine Seite Ihres Arguments. Ich habe nicht so ganz verstanden,
worauf das hinausläuft, wenn man diese Voraussetzungen „bedürftiges
Wesen“, „gegenständliches, sinnliches Wesen“, das sich die Natur durch
die Arbeit aneignen muß, auf die Natur angewiesen ist, das selbst ein
Naturprodukt ist wie diese Voraussetzungen noch einmal kritisch behandelt werden könnten. Von wo her, von welchen Maßstab her? Das ist
mir noch nicht ganz klar geworden. Man könnte zu sagen versuchen, der
Mensch sei gar kein sinnlich-tätiges Wesen, also konfrontationistisch
'was dagegen halten. Das wäre die eine Möglichkeit. Die andere ist, daß
Rundtischgespräch
man sagt, Marx selbst lasse etwas unausgesprochen, was noch ausgesprochen, entfaltet werden muß, und dann zeige sich etwas, was er nicht
reflektiert habe. Aber den Punkt habe ich noch nicht genau begriffen.
Simons: Also, den Menschen als Bedürfniswesen und die Natur als dasjenige, welches diese Bedürfnisse dann befriedigt, oder auch den anderen
Menschen in diesem Schema der Bedürfniststruktur zu bestimmen, halte
ich für eine typisch neuzeitliche und zwar als eine selbst schon neuzeitlich deformierte Konstruktion. Aristoteles würde sagen: „Ihr seid ja verrückt, wenn ihr meint, einen Polis-Kosmos-Zusammenhang dadurch
herstellen zu können, daß ihr bloß das Bedürfniswesen 'Mensch' befriedigt, weil das Bedürfniswesen fix und statisch dasteht.“ Ich glaube, um
mit Aristoteles oder Platon zu reden, wäre das doch so, daß der Mensch
als Bedürfniswesen gar nicht existier+.,; nicht in dem Sinne, daß er kein
Bedürfniswesen ist, sondern daß das Bedürfniswesen 'Mensch' ein sehr
wandelbares ist und das, was die Bedürfnisse des Menschen sind, sehr
analog zu begreifen ist. Es gibt Bedürfnisse nach Essen und Trinken,
Das ist eine Art von Bedürfnissen. Darüber gibt es bei Aristoteles noch
ein Bedürfnis nach 'theoria' im emphatischen Sinne von 'Feste feiern',
Das ist eine andere Art von Bedürfnisbefriedigung und das Bedürfnis
nach 'theoria', also im emphatischen Sinne, korrespondiert mit einem
ganz anderen Bedürfniswesen 'Mensch' als das Essen und Trinken das
Bedürfnis befriedigt. Ja, nun passen Sie mal auf, Herr Treptow. Wenn man
ökonomisch gewissermaßen das Essen, Trinken, Schlafen usw. verallgemeinert und sagt: das ist der Mensch, dann hat man natürlich ein bestimmtes Bedürfnis und Bedürfniswesen festgeschrieben, und damit
korrespondiert dann auch das Bedürfnis nach Natur. Wenn man das
nicht festschreiben will, dann muß man m.E. das Bedürfniswesen
'Mensch' analog, offen, transformabel beschreiben und sagen: es gehört
zu einem elementaren Bedürfnis des Menschen, Erkenntnis haben zu
wollen. Und diese Befriedigung des Erkenntnisstrebens des Menschen ist
ein so elementares, daß Aristoteles sagen würde wenn ich das so formulieren darf -, ohne Bedürfnisbefriedigung des Menschen durch 'theoria'
ist überhaupt aus der Entfremdung nicht herauszukommen. Ich würde
also so sagen, der Gebrauchswert, und das Bedürfniswesen 'Mensch'
Marx und seine Rolle in der Philosophie
dadurch auch, ist viel zu sehr gegenständlich bestimmt. Die Antike würde sagen ich werde dies mal ganz kraß formulieren -. „ohne den delphischen Kult, wo ein Apollon spricht 'gnoti seauton' (Erkenne Dich
selbst), ist es nichts mit unserer Polis“.
Wenn wir das nicht beibehalten und die Frage ist, wie das dann ein Sozialismus beibehalten will -, dann ist es nichts mit der Aufhebung der
Entfremdung; dann könnt Ihr unter Umständen vielleicht das Essen
Trinken und Wohnen etwas anders regeln. Aber der Mensch wird ein um
so schlimmerer Sklave, wenn Ihr das 'gnoti seauton' hinausschmeißt aus
eurem ganzen Konzept: Wenn Ihr das nicht wollt, müßt Ihr zeigen, wie
Ihr in Eurem Begriff von Produktivität und in Eurem Handeln eine
solche Produktivität gegenwärtig haltet; dann ist das 'gnoti seauton' möglich und wirklich, ist gesellschaftlich.
Jantzen: Ich weiß nicht. Jetzt wird es ein bißchen gefährlich. Ich habe das
Gefühl, daß hier das Wort 'Bedürfnis' doch leicht äquivok verwendet
wird.
Simons: Das kann so gerade das Gefährliche daran sein.
Jantzen: Es ist durchaus unterschieden worden, daß eine andere Lust
beim Essen und Trinken entsteht als die Lust, die mit Erkenntnis zu tun
hat. Weil man jeweils das Wörtchen „Lust“ und das Wörtchen „Bedürfnis“ verwenden kann, das nun ohne weiteres in ein und dieselbe Schublade zu tun, würde ich für gefährlich halten.
Ballestrem: „en haben Sie jetzt zitiert? Wer unterscheidet...?
Simons: Platon.
Ballestrem: Platon, das sagt er, ja. Herr Jantzen meint, daß der neuzeitliche
Begriff, sprich Marx in diesem Fall, diese Art von Unterscheidung nivelliert.
Rundtischgespräch
Simons: Ja, ich würde mit einem Satz sagen, Platon kennt auch Bedürfnisse, aber von einem Naturwesen, Selbstwesen, Vernunftwesen 'Mensch'.
Also das, was er Logoswesen oder Eroswesen nennt, wobei die Bedürfnisse einen ganz anderen Stellenwert haben, wenn man das Logos-ErosWesen 'Mensch' wegläßt und nur das Physiswesen nimmt.
Jantzen: Herr Simons, das ist klar. Ich warne nur vor der Gefahr, jetzt das
Wörtchen 'Bedürfnis' in einem Sinn zu verwenden, daß dann undifferenziert alles vorgemerkt werden kann. Jetzt kommen wir zu Platon. Erinnern Sie sich an die 'Politeia'? Dort ist von 'Bedürfnis' die Rede, sprich
von Schweinestaat, der keineswegs der wahre Staat ist, den er dann erst
konstruiert. Inwiefern da diese moderne Trennung präformiert ist, hier
Gesellschaft als das, was wie auch immer organisiert die Bedürfnisse
befriedigt, dort der Staat, der wie auch immer...
Simons: Eben... das System der Bedürfnisse, nur als dieses. Das bezeichnet die bürgerliche Gesellschaft und gerade nicht das Organon 'Staat'.
Jantzen: Ja genau, daran hatte ich auch gedacht. Und auf der anderen
Seite der Staat als Idee der Verwirklichung von Sittlichkeit, die über die
gesellschaftliche Organisation hinaus die in der Gesellschaft lebenden
Menschen miteinander verbindet. Das ist, glaube ich, als Abstraktion
denkerische Willkür, diese Trennung von 'hier Gesellschaft da Staat'; eine
denkerische Willkür indessen, die konkret Geschichte bedeutet.
Simons: Ja aber das ist doch, bitte schön, seit Hegel das Hauptproblem;
soweit waren wir ja mit Hegel schon. Das wollen wir ja nicht mit Marx
dahinter zurückfallen. Wie das System der Bedürfnisse in einem Staat,
oder sagen wir besser in einem „Freiheitskörper“ zu integrieren ist; oder
anders herum, wie denn der Fremdkörper des Systems der Bedürfnisse
im Freiheitskörper sprich Staat integrierbar ist! Das hatten wir doch
bereits in der Rechtsphilosophie Hegels. Daß da natürlich der moderne
Widerspruch drinnen ist, ist mir auch klar, nur....
Marx und seine Rolle in der Philosophie
Ballestrem: Ja, da kommtdas muß man zur Ergänzung jetzt noch sagen
natürlich die 'Kritik des Hegelschen Staatsrechts' gerade dahin, nun diesen Freikörper „Staat“ auf das System der Bedürfnisse zu reduzieren
und...
Jantzen: Das ist doch Marx. Simons: Ja, eben.
Treptow: Ja, Augenblick. Da muß ich eben...
Simons: Da wird es ja um so schlimmer. Wenn die Reduktion...
Treptow: Das ist ja keine Reduktion.
Simons: Sollte es eine Reduktion sein, dann wird die Lösung des Problems unter reduktiven Voraussetzungen um so schlimmer und die strukturelle Möglichkeit der Transformation um so schwieriger. Und ich
möchte hier nochmals auf Sie zurückkommen, Herr Jantzen... Ich wollte
ja nicht alles in einen Topf schmeißen, Ich wollte nur sagen, der Bedürfnisbegriff darf nicht univok, sondern muß analog verwandt werden. Man
sollte mit Nachdruck darauf hinweisen, daß, wenn man von einem fixen
Bedürfnisbegriff ausgeht, die Sache unlösbar wird; und dann würde ich
schon mal das Gegenbild der Antike ein bißchen 'reinholen, weil das
nämlich deutlich macht, meines Erachtens.
Ballestrem: Jetzt würde ich aber sehr gerne hören, ob Herr Treptow dem
zustimmen würde, daß Marx einen so reduzierten Bedürfnisbegriff hat.
Treptow: Dem stimme ich nicht zu.. Mir scheint, Marx' Bedürfnisbegriff
ist nicht so univok reduziert. Für Marx gibt es auch ein Bedürfnis nach
Bildung und nach Erkenntnis. Erkenntnis...
Simons: Sagt er doch nicht! Wo ist das verankert?
Rundtischgespräch
Treptow: Ja, Augenblick. Die Erkenntnis und Selbsterkenntnis über die
Lage, die man im Produktionsprozeß einnimmt, durch die das Interesse
ja definiert ist, ist sogar die Voraussetzung dafür, diese Strukturen., die
das verantwortliche Handeln verhindern, zu durchbrechen. Sie ist sicher
nicht die hinreichende, aber die notwendige Bedingung. Ich meine die
Selbsterkenntnis über die praktische Lage. Aber es gibt doch auch für
Marx kulturelle, geistige Bedürfnisse, Bedürfnisse nach Selbsterkenntnis.
Der springende Punkt ist nur, daß sich für, ihn diese Bedürfnisse sozusagen von unten nach oben aufbauen im materialistischen Sinne. Das
heißt...
Simons: Ja, aber das könnte doch der Fehler sein.
Treptow: Das ist jetzt eine andere Frage. Zuerst wurde gesagt: univoker,
reduzierter Bedürfnisbegriff. Die zweite Frage ist, ob die „Hierarchisierung“ von unten nach oben richtig oder angreifbar ist. Zunächst möchte
ich aber mal sagen: es gibt nach Marx vielfältige Bedürfnisse. Grundlegend sind jedoch für ihn die Bedürfnisse, das Leben zu erhalten, fortzupflanzen, essen, trinken, wohnen; damit hängen zusammen soziale,
kulturelle, geistige Bedürfnisse, auch Bedürfnisse nach Erkenntnis, auch
das Bedürfnis nach Wissenschaft selbstverständlich. Nun zurück zur
Antike. Von Marx her gesehen ist gerade das ein reduzierter Bedürfnisbegriff, den Aristoteles hat. Aristoteles hat auch einen vielfältigen Bedürfnisbegriff und Lustbegriff, nicht nur im sinnlichen, auch im geistigen
Sinne wird von ihm 'Bedürfnis' gefaßt. Aber für ihn umfaßt Praxis und
das hatten Sie vorhin selbst schon gesagt nicht die 'poiesis', die Aneignung der Natur. 'Praxis' ist für ihn eben nur die zwischenmenschliche
Beziehung, die Interaktion, Politik und Ethik, aber nicht Arbeit. Und das
würde ich gerade als reduziert ansehen (eine Reduktion, die Marx ideologiekritisch deutet). Also, müßten wir nicht tatsächlich sagen, daß nicht
der Marxsche, sondern der Aristotelische Begriff von 'praxis' und damit
auch von 'Bedürfnis' eingeengt ist?
Simons: Also, ich würde dem sogar zustimmen, daß man das bei Aristoteles so fragen kann, und daß bei Aristoteles dies zweideutig ist. Nämlich,
Marx und seine Rolle in der Philosophie
er ist insofern zweideutig, als er immer nur analytisch unterscheidet und
dann immer zu größeren Unterscheidungen kommt; aber nicht mehr.
zeigt, wie das Höchstunterschiedene, in dem, was er vorher wegunterschieden hat, enthalten ist, Da würde ich Ihnen Recht geben und würde
auch nicht sagen, daß da bei Aristoteles eine Lösung ist. Ich will mit der
Kritik nur sagen, das mag auch zweideutig sein daß das Problem aber
immerhin schon bei Aristoteles aufgenommen ist. Bei Platon ist das
anders. Er hat nämlich dieses analytische Trennungsdenken, was das
Unterschiedene immer unter und hinter sich läßt, nicht. Also, da ist Platon klarer als Aristoteles. Aber lassen wir das erst einmal weg.
Zur marxistischen Ideologiekritik: ökonomistische Reduktion oder Kritik
falschen Bewußtseins?
Simons: Nur, Herr Treptow, auf Ihre Ausführungen würde ich noch mal
folgendes nachfragen. Ich gebe vollständig zu, daß bei Marx solche Formulierungen da sind, daß es ein Bedürfnis nach Bildung gibt, daß es
Verhältnisse gibt; die dies verhindern, daß sich eben nur ein kleiner Teil
bilden und der Rest sich nicht bilden darf usw...Aber das ist m.E. nur ein
schöner Spruch, eine schöne Utopie, solange man nicht zeigen kann
strukturell. -, wo denn jenseits der schönen Sätze von Marx in seinem
Begriff von Produktivität und Revolution dieses genau verankert ist. Und
wenn Sie hinweisen auf ein paar Dokumente, die man geschichtlich auflesen kann, würde ich sagen: „okay, haben wir, mag sein. Das ist aber
noch nicht die Lösung des Problems.“ Denn dann könnte ich nämlich
umgedreht auf einiges Geschichtliches hinweisen und sagen: ja, lieber
Marx, Ihr lieben Marxisten, warum macht Ihr dann eine derartige Religionskritik, die nicht nur in Religionskritik, sondern im Religionsverbot
besteht? Warum macht Ihr dann eine derartige Kulturkritik, die nicht nur
in einer Kritik besteht, sondern auch in einem gewissen Kulturverbot?
Warum bringt ihr nicht nur Kritik, sondern auch de facto Verbotsstrategien und Vermeidungsstrategien?“ Und gucken wir mal die deutsche und
sonstige Arbeiterbewegung oder die Internationale darauf hin an, was da
alles verloren gegangen ist. Also, ich gebe ja zu, daß das Amalgam von
Staat und Religion zu Zeiten von Marx ein verheerendes war, daß man
da erst einmal sagen mußte, mit dem Ganzen wollen wir nichts mehr am
Rundtischgespräch
Hut haben. Aber so simpel kann das einem guten kritischen Denker ja
doch nicht unterlaufen, daß der dann das Ganze wegschmeißt und nur
als Überbau behandelt. Da müßte man doch sagen: „Nein! Zu einer
gesamtgesellschaftlichen Praxis gehört auch eine Gesprächspraxis, die,
sagen wir ruhig, selbst in gewissen religiösen Verfassungen noch da war;
und die wollen wir als Potential von Handlungen relevant machen für
unsere Revolution und nicht von vornherein als beschämend ausschließen.“ Die deutsche Arbeiterbewegung war doch am Ende wirklich nur
noch da, wenn es um die Lohntüte ging; und was bei der heutigen Gewerkschaft herausgekommen ist, ist Tarifpolitik, aber nirgendwo mehr
eine Politik, die menschlich wäre und menschliche Potentiale freilegen
kann.
Jantzen: Aber das hängt wohl mit den Produktionsverhältnissen zusammen.
Simons: Dies sehe ich auch. Und wenn man da empirisch einiges aufliest,
was Politik ist da kann man in der Geschichte des Marxismus auch eine
ganze Menge aufzählen -, dann kann man sagen, da sind ja ganz schöne
Verbote erteilt worden, zumindest, wenn man den realen Sozialismus
betrachtet, dann muß man sagen: Vorsicht vor diesen Generalverboten!
Und die scheinen ja wohl zusammenzuhängen mit dem Begriff von Kritik und Revolution; und damit hängt ja auch implizit unsere Normativität
zusammen. Diese Normativitäten wirken sich nicht nur geb-, sondern
auch verbietend aus, und darin sehe ich in der Tat ein Dilemma. Wenn
man nun sagt, das ist ja alles nur die empirische Erscheinung des Marxismus, darum brauchen wir uns weiter nicht zu kümmern, dann sage
ich: gut, dann möchte ich aber wissen, wie aus einem Arbeitsverständnis,
das nicht mehr entfremdet sein soll, diese Selbstverwirklichung des Menschen möglich und denkbar ist. Wo es dann am Schluß wirklich nicht
mehr nur ums Essen, Trinken und Schlafen und Wohnen geht, sondern...
Jantzen: Gattungsreproduktion...
Marx und seine Rolle in der Philosophie
Simons: ...und auch die Gattungsreproduktion, sondern um eine Art von
Gattungsreproduktion und da werde ich wieder alteuropäisch -, wo Gott,
Kosmos und Polis zur vollen Erscheinung und Offenbarung kommen
können. Das möchte ich wissen.
Ballestrem: Ich würde auch gerne einmal in diese Richtung fragen, vielleicht sogar ein bißchen pedantisch. Herr Treptow, wo finden Sie das
eigentlich bei Marx, diese verschiedenen, höchst differenzierten Bedürfnisse, die Sie vorher genannt haben? Wenn man sich die „Deutsche Ideologie“ anschaut, wo von Bedürfnissen ziemlich viel die Rede ist, dann
sieht man doch, daß Marx noch ganz unter dem Eindruck einerseits des
deutschen Idealismus und andererseits seiner jung-hegelianischen, ehemaligen Freunde gegen die Fiktion kämpft, daß der Staat, die Philosophie, daß die Religion so etwas wie eine substantielle Sittlichkeit sein
könnte, die man über dem System der Bedürfnisse errichtet. Der ganze
Impetus seiner Kritik geht dahin zu zeigen, wie diese sogenannten höheren Bereiche der substantiellen Sittlichkeit in Wirklichkeit Funktionen
des Systems der Bedürfnisse sind. Und dort ist dann die Rede davon, daß
Philosophie, Religion, Rechtsverhältnisse, daß all das in einem System
der Arbeitsteilung entsteht, wo es dann eine klassenmäßige Funktion
hat...Z.B. der Priester als derjenige, der den Herrscher unterstützt, indem
er legitimierende Ideologien entwirft usw. usf. Wo bleibt denn da diese
ganze Substantialität? Gut, daß man das kritisiert, indem man historisch
aufweist, daß es so eine Art Arbeitsteilung gegeben hat, möchte ich nicht
in seiner Berechtigung bezweifeln. Aber wo sehen Sie dieses positive
Gegenbild einer Gesellschaft, die eben anders wäre, in der diese Bedürfnisse nicht nur erfüllt wären, sondern eben auch sich aus der Natur des
Menschen entfalten können?
Treptow: Einen ganz kleinen Schritt, einen halben noch mal zurück.
Herr Simons, Sie fragten vorhin nach dem strukturellen Ansatz, den man
da bei Marx auffinden müßte. Z.B. denke ich da an das fünfte Kapitel im
„Kapital“ über die Struktur der Gebrauchswertproduktion, die erforderlich ist in jeder Gesellschaftsformation. Da sagt er, daß zu dieser Arbeit,
zu dieser nützlichen produktiven Arbeit, immer Momente der Antizipa-
Rundtischgespräch
tion des Arbeitsresultats gehören; also, die geistige Vorwegnahme des
Arbeitsprodukts. Diese Teleologie des Bewußtseins und Selbstbewußtseins ist konstitutiv für jede Arbeit. Das zu Punkt eins.
Ballestrem: Jetzt das Beispiel, wo er den Baumeister mit der Biene vergleicht...
Treptow: Seite 193 (Gelächter). Das ist ja eine ganz wichtige Stelle, wo er
die Struktur der Arbeit, sozusagen der ewig-notwendigen Arbeit darlegt.
Daß der Mensch eben nicht instinktmäßig produziert, sondern bewußt.
Da ist schon mal strukturell ein Arisatz. Aber jetzt geht es ja weiter. Jetzt
kommt es zu diesen Fragen der besonderen Formen, in denen diese
konkrete, immer notwendige Arbeit mit den antizipatorisch-geistigen
Momenten steht, und da...
Simons: Antizipatorisch, warum nicht implikatorisch?
Treptow: Das steht ja nicht im Gegensatz. In jeder Arbeit ist immer implizit dieses Ausgerichtet-Sein auf das noch nicht Realisierte, aber Realisierbare. Und die Struktur dieses geistigen Aktes ist ein Hinweggehen
über das, was gerade ist.
Simons: Ja, es fragt sich nur: nach vorne oder immer schon von hinten,
sozusagen vom Unten der Existenz?
Ballestrem: Aber im Sinne technischer Rationalität in diesem Beispiel...
Treptow: Im Sinne der produktiven Arbeit, die immer mittels Werkzeug
und technischer Mittel stattfindet, die aber eben nicht trennbar ist von
den Formen und damit von den Produktionsverhältnissen und dementsprechend auch von den sozialen Verhältnissen.
Ballestrem: Ja, aber nur... sagen wir dies nochmals, um uns zu verstehen.
Die Frage, die in traditionellen Analysen von Handlungen einen zentra-
Marx und seine Rolle in der Philosophie
len Begriff bildet, nämlich die der freien Entscheidung. Diese Alternative, dieser Ansatz ist ja zunächst einmal gar nicht da.
Treptow: Also, wenn wir das thematisieren, würde ich sagen, hier stellt
sich auch die Frage der Alternativen. Die thematisiert er da nicht, aber...
Ballestrem: Das sagt Treptow!
Treptow: ... aber aus dem Zusammenhang würde ich das Argument stark
zu machen versuchen, daß man hier auch schon das Problem der Alternative auf dieser Grundlage sehen kann. Es gibt zumindest Alternativen
hinsichtlich der optimalen Möglichkeiten für die Zwecke, die einsetzbar
sind. Im übrigen könnte man auch hier ganz gut zeigen, daß für Marx
diese Zwecke, diese teleologischen Akte eben nicht nur autonom gefaßt
werden, sondern sie werden dialektisch rückgebunden an die Bedürfnisse. Für ihn sind Ziele, Zwecke dann letztlich das betrifft wieder die vorhin angesprochene Hierarchie der Bedürfnisse Ausdruck von Bedürfnissen und Interessen.
Jantzen: Die Frage von Herrn Ballestrem wieder aufgreifend. Aber das ist
nicht das, was Aristoteles die Verhaltens-, die Vorzugswahl nennt.
Treptow: Genau das ist es in gewisser Weise. Die Vorzugswahl bei Aristoteles bezieht sich auch nur auf die Mittel, die Zwecke werden nicht gewählt in der Entscheidung des Aristoteles. Die Zwecke sind vorgegeben
aufgrund der Struktur der Polis. Was man ,tun kann und muß, das wird
gar nicht alternativ entschieden. Das ist vorgegeben. In gewisser Weise
könnte man hier jetzt eine Analogie ziehen., sofern auch die Zwecke
Ausdruck von Bedürfnissen sind. Die Zwecke selbst kann man nicht
mehr beliebig handhaben. Also, da würde ich eine gewissen Entsprechung sehen. Aber jetzt zu der anderen Frage. Diese konkrete, immer
Bewußtseinselemente implizierende Arbeit steht ja in besonderen Formen, und die produzieren besondere Ideologieformen. Ich habe bei
Ihnen vorhin, Herr Simons, vermißt, daß Sie diese Unterscheidung zwischen ideologisiertem Bewußtsein und nichtideologisiertem nicht gemacht haben. Sie haben so getan, als ob alle geistigen Akte transformier-
Rundtischgespräch
bar seien, alle geistigen Produktionen jetzt zu diesem Leben und zu dieser Produktivität dazugehören. Dazu müßte man berücksichtigen, daß
für Marx diese Ideologien ja nicht völlig verkehrt und verrückt sind,
sondern die Realität erscheinungsmäßig widerspiegeln. Sie sind zwar
falsches Bewußtsein, aber nicht total falsch. Sie sind auch richtig, insofern die Oberfläche der Verhältnisse adäquat wiedergespiegelt, aber nicht
durchschaut wird. Also, mit anderen Worten, die Frage der Ideologie
stellt sich hier. Und insofern Marx in der Ideologie im Gegensatz zu
anderen Diskrepanzen von Sein und Bewußtsein einen realen Schein
sieht und eine reale Grundlage erkennt, verwirft er ja auch mit der Ideologiekritik nicht den ganzen Überbau einfach. Auch die Religion ist der
„Seufzer der bedrängten Kreatur“. Hier spiegelt sich ja ein reales Verhältnis. Alles das würde also dazugehören.
Ballestrem: Aber gerade am Beispiel der Religion kann man ja zeigen, daß
das Äquivalent auch in nicht-entfremdeten Verhältnissen nicht eine neue,
ganz andere Religion ist, sondern eben keine Religion. Womit gerade
dieses Beispiel doch nicht ausreicht um zu zeigen, daß diese Bedürfnisse
bei Marx einen strukturellen Stellenwert haben.
Simons: Ja, aber man kann immer sagen, Religion fällt weg als eine Extraveranstaltung gegenüber Wirtschaft und Politik; als Extra- und Sonderveranstaltung! Diese klassische Einteilung, das ist religiös, das ist politisch und das kann wegfallen. Aber es scheint immer noch so zu sein, als
ob das Ganze...
Ballestrem: Wir haben ja eigentlich nach den Aussagen von Marx-Texten,
die ich kenne, keinen Anlaß zu glauben, daß es mit Ethik anders wäre als
mit Religion. Obgleich das Prinzip „jedem nach seinem Bedürfnis“ zu
seiner Verwirklichung ein neuartiges moralisches Bewußtsein vorauszusetzen scheint, haben Marx und Engels nichts über eine sozialistische
Ethik der Zukunft geschrieben, sondern eher den Eindruck erweckt, es
Marx und seine Rolle in der Philosophie
handle sich bei der Vermittlung von Bedürfnissen und Interessen in
einer zukünftigen Gesellschaft um einfache Organisationsprobleme.
Treptow: Nehmen wir an, daß sich in der Gesellschaftsorganisation diese
Frage stellt, wie sich das Individuum zu den allgemeinen Einrichtungen
verhält, ja,...
Ballestrem: Würden Sie sagen, das ist bei Marx offengelassen?
Treptow: Ja, das ist offengelassen; nicht konkret ausgearbeitet, wie das
zukünftig aussehen soll. Ethik, verstanden als bewußte, willentliche und
handelnde Beziehung zu den allgemeinen Einrichtungen der Gesellschaft, in diesem Sinne bleibt die ethische Problematik immer bestehen.
Jantzen: Ja, nur. ganz kurz. Das scheint mir nicht so zu sein. Nicht umsonst kreist die ganze Diskussion immer um diesen Punkt. Dies scheint
also irgendwo doch systematisch angelegt zu sein, gekennzeichnet durch
die klassische Unterscheidung 'poiesis' und 'praxis'. Der systematische
Punkt ist, daß in der marxistischen Theorie das mit 'praxis' zu benennende menschliche Handeln Entscheidungen angesichts von Alternativen,
Zielen und Zwecksetzungen und was auch immer systematisch reduziert
wird auf 'poiesis', auf Arbeit.
Treptow: Das ist Habermas' Interpretation. Daß die Interaktion wieder zur
Geltung kommen müsse, weil von Marx Arbeit nur instrumentell verstanden werde. Arbeit ist für Marx aber die Einheit von Inhalt und
Form, von Produktivkraft und Produktionsverhältnissen; also auch das,
was Habermas dann 'Interaktion' nennt und gegen die 'instrumentelle
Arbeit' zur Geltung bringen will.
Simons: Also, Marx macht da .eine schöne Alternative auf. Die Stärke von
Marx liegt m.E. in der Tat in seiner Einheit von Produktionszusammenhängen in Arbeit, Arbeitsverhältnissen, Produktion von Arbeitsverhältnissen usw. Ich muß gestehen, daß ich vor Marx keinen Denker finde ausgenommen vielleicht Hegel -, der diese ideologischen Verknüpfungen
Rundtischgespräch
auf gedeckt hat. Dies scheint mir auch wichtig gewesen zu sein und das
ist Marxens historische Leistung. Die Frage, die jetzt ansteht, war schon
immer die, werden nicht trotz dieser Einsicht in Funktionszusammenhänge ideologischer Art diese Funktionszusammenhänge so verallgemeinert, daß dann am Schluß wieder das herauskommt, was Sie sagen, nämlich, es bleibt nur 'poiesis' übrig. 'Praxis', geschweige 'energeia' im aristotelischen Sinne, ist nicht mehr vorhanden.
Dann kommt man wieder auf die vorherige Fragestellung, das Bedürfniswesen 'Mensch' gerade wenn man es ideologiekritisch sehen und interpretieren kann und nicht nur den Einzelmenschen, sondern auch das
Bedürfniswesen 'Gesellschaft'. Wenn man merkt, wie kompliziert das ist,
dann muß man doch zugleich auf die Idee kommen, auf die Platon gekommen ist, und sagen, das mit der Bedürfnisbefriedigung ist ein derartiges Dilemma unter Umständen, daß es wirklich den Menschen an die
Existenz geht; und daß unter Umständen die einzige Antwort die sein
kann, auf das Leben zu verzichten. Und Sokrates tut das doch. Sokrates
verzichtet auf seine physische Existenz, wo man sagen könnte: „nun hau
doch ab, geh' doch 'raus aus dem Gefängnis, halte dich doch am Leben.“
Er sagt: „nein, es wäre eine politische und menschliche Unwahrheit, dies
zu tun“. Diese Tat ist doch m.E. eine totale Sprengung des Bedürfniswesen 'Mensch' angesichts der Bedürfnisvernichtung, die da 'Tod' heißt.
Und zugleich wird das Todesproblem auch ein Bedürfnisproblem. Muß
nicht ein kritischer Marxismus sich genau diesem Problem auch stellen,
das unter bestimmten vertracktesten Bedingungen ein elementares Lebensbedürfnis ist? Das war es ja auch in der Arbeiterschaft, die waren ja
am krepieren. Wie stellt sich aber die Frage, noch weiterleben zu wollen
oder nicht mehr weiterleben zu wollen? Man müßte da einen Begriff des
Bedürfniswesen 'Gesellschaft-Mensch' ermitteln, der das Todesproblem,
d.h. das Dilemma von Bedürfnisbefriedigung, auch radikal umfaßt. Und
das hat Platon auch auf seine Weise gemacht, wo man das ja auch damals
schon absehen konnte, daß die Revolutionäre nicht alle nur einen Spaziergang machen, sondern daß das für sie Todeseinsatz bedeutet. Und
wie ist der zu legitimieren und von welchem Produktions- und Arbeitsbegriff her wäre das hier zu definieren? Die ganze Farce besteht sozialistisch darin, daß man die revolutionären Helden, die zu Tode gekommen
Marx und seine Rolle in der Philosophie
sind, beerdigt, aber wie denn? Mit welcher Sprache denn? Mit welchem
Ritus denn? Daß man sie der Zukunft übergibt, aber die Frage gar nicht
mehr stellen kann, wofür die denn eigentlich gestorben sind; und ob das
nochmals aus dem Begriff des „gesellschaftlichen Wesens“ und des
„Mensch-Wesens“ überhaupt zu vermitteln ist. Das, meine ich, ist sozusagen ein implizites Problem der 'Kritik der politischen Ökonomie'. Sie
artikuliert nämlich nicht ihr implizites Todesproblem. Es ist geradezu
eine Verdrängungsstrategie der ganzen bürgerlichen Gesellschaft, daß sie
hier ein Todesproblem mit sich herumschleppt. Und gerade darauf will
Marx eine Antwort geben und vermeidet diese Antwort. Ist es so oder
nicht?!
Der Marxismus im Lichte der Gegenwart: Probleme: Krieg und Frieden,
Umwelt und Krise
Jantzen: Noch mal. Der Ausdruck „Das ist Habermas“, das hat mich zum
Verstummen gebracht.
Simons: Entschuldigen Sie. Bei Habermas wird der Tod auch reichlich
verdrängt!
Jantzen: Genau. Darauf komme ich nämlich.
Simons: Au, toll!
Jantzen: Man müßte hinzufügen, daß möglicherweise bei Habermas eigentlich selbst noch die Revolution von 'praxis' der 'poiesis' zum Opfer
fällt. Aber jetzt...
Simons: Ist das nicht ein strategisches Verdrängungsproblem?
Jantzen: Bei Habermas wird systematisch der Tod ausgespart. Man könnte vielleicht noch weitergehen. In gewisser Weise hat sich doch unsere
Gesellschaft gegenüber der dort bestehenden ganz erheblich verändert.
Es ist ja nicht nur so, daß es nur ein engeres Todesproblem ist. Es ist
Rundtischgespräch
auch nicht mehr unbedingt das Todesproblem von Sokrates, nicht mehr
nur das Todesproblem des Revolutionärs oder der ausgebeuteten Arbeiter, sondern in gewisser Weise auch ein doppelt neuartiges Problem...
Simons: Der Tod der Natur.
Jantzen: Der Tod der Natur, genau. Da müßte man allerdings fragen,
welche Art von Organisation der Produktionsverhältnisse dafür zuständig sei; ob eine andere den Tod der Natur wohl zu verhindern in der
Lage ist. Und dann geht es, relativ konkret, um ein neues Todesproblem,
das sich in der Form des nuklearen Krieges darstellt.
Wir haben jetzt sozusagen „von hinten“ Kritik an Marx geübt. Man
könnte doch auch versuchen, „von vorne“ Kritik an Marx zu üben, indem man sagt, das Marxsche Projekt gehört zum „Projekt des 19. Jahrhunderts“. Ich würde schon konstatieren wollen, daß dies Projekt, das
der „Moderne“, hinter uns liegt. Aber damit wäre zu fragen, in welchem
Verhältnis dies Todesproblem , die ökologische Katastrophe, der nukleare Krieg zu Marxscher Theorie steht. Und grundsätzlich wäre zu fragen,
ob dies Todesproblem, um bei dem Ausdruck zu bleiben, aus jenem
historistischen Projekt selbst folgt oder ob es ganz anders vielleicht Folge
seiner unzureichenden, abgebrochenen Durchführung ist, und ob jetzt
enger gefaßt dies die Nichtdurchführung des Projekts in seiner marxistischen Fassung bedeutet.
Treptow: Ich möchte die Frage aufgreifen, aber etwas anders stellen. Ich
sehe es auch so, daß die wichtigsten Fragen der Gegenwart diese beiden
sind, die Sie meinen: die Bedrohung durch einen nuklearen Krieg und die
Frage der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen; und drittens die
sozial-ökonomische Krise. Und jetzt will ich meine Frage so wenden:
Welche Theorie außer der Marxschen befähigt uns eigentlich, mit dem
Problem kategorial umzugehen? Anders gesagt: Gibt es eine philosophische Theorie, etwa die metaphysische oder die positivistische, die sich
uns so nahe legt, diese drei Probleme in Griff zu bekommen? Ist es nicht
so, daß wir schon fast geradezu selbstverständlich mit Marxschen Kategorien da herangehen? Ich will das noch mal mehr zuspitzen. Wie mache
Marx und seine Rolle in der Philosophie
ich mich sozusagen heran an „Krieg und Frieden“, an Ökologie oder
auch an das Problem der sozial-ökonomischen Krise? Sagen wir mal mit
linguistischen Termini? Ich vermute auch nicht mit den Kategorien der
Heilsgeschichte. Nehmen wir nur mal die Frage „Krieg und Frieden“.
Das ist ja gerade Marx' Antwort auf den „Abstraktionismus“, daß er sagt,
der Krieg wurzelt letztlich in ökonomischen Gegensätzen, die aber eine
bestimmte staatlich-politische Form annehmen und zwar so, daß auch
die militär-technologische Entwicklung im Zusammenhang steht und
ihrerseits wieder in der staatlichen Politik verankert ist. Denken wir nicht
schon wie selbstverständlich mit Marx' Kategorien, wenn wir etwa den
weltweiten Antagonismus jetzt erfahren und versuchen zu reflektieren?
Wenn dieser Atomkrieg droht, dann denken wir doch in ökonomischen
Kategorien, in politischen, in militärtechnologischen Kategorien und
verselbständigen sie nicht in der ein oder anderen Weise. Aber wir denken ja nicht: ist da ein Mangel an Liebe? Ab und zu kommt das schon
vor. Weizsäcker hat z.B. diesen Antagonismus analysiert, militärtechnologisch, politisch, und letztlich kommt er dann dazu zu sagen: das ist
aber ein Mangel an Liebe und Glaube. Dies ist aber nicht das, was Tag
für Tag wahrgenommen wird, was wir etwa beim Aufschlagen der Zeitung oder Zeitschrift lesen. In der Regel denken wir ja schon wie selbstverständlich: 'ökonomischer Gegensatz politische Konfrontation militärtechnologischer Einsatz'.
Ballestrem: Das wußte auch Kant übrigens! Ich würde ganz gerne auf
einen Punkt noch von vorher eingehen und dann auf Ihre Frage kommen. Ich wollte noch etwas zum Tode sagen. In gewisser Weise thematisiert Marx den Tod, nämlich den individuell-gesellschaftlichen. Und das
ist auch ein Beispiel dafür, wie bei Marx eine versteckte Normativität
vorkommt, die dann sozusagen 'unter den Tisch fällt'; wenn Sie sehen,
wie z.B. die Verelendungstheorie im „Kommunistischen Manifest“ auftaucht. Dort heißt es, daß die Klasse, die den Wert in der bürgerlichen
Gesellschaft schafft, von ihr nicht ernährt werden kann. Da sieht man
ein klares normatives Prinzip: diejenigen, die den eigentlichen Wert
schaffen, das, wovon alle leben, werden selbst nicht mehr ernährt. Das
ist, wenn Sie so wollen, ein normatives Paradox sondergleichen. Das
Rundtischgespräch
wird aber nun, wenn man etwa das 23. Kapitel des „Kapitals“ anschaut
('Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation', Anm.), mehr
eine Theorie der Dritten Person mit prognostischen Konsequenzen: es
kommt dann schließlich mal zur Expropriation der Expropriateure. Empirische Revolutionstheorien zeigen aber, daß dies gar nicht stimmt, daß
also gar nicht in dem Maße, wo eine Klasse mehr und mehr verelendet
ist, diese bereiter ist zur Revolution. Tocqueville und neuerlich andere
haben das bestätigt. Das stimmt überhaupt nicht! Nein, worum es Marx
eigentlich ging bis zum Schluß, so glaube ich, war, daß denjenigen, die
den Wert unserer Gesellschaft schaffen, ein eminentes Unrecht geschieht, und sie deswegen sehr legitimiert sind zu einer Revolution.
Jetzt zu ihren drei Punkten: Krieg - Frieden, Ökologie und ökonomische
Krise. In gewisser Weise gebe ich Ihnen recht, daß das, was wir dazu
sagen, wenn wir überhaupt uns darüber klar werden, Marxsche Gedanken impliziert, die aber und ich glaube wie mein Zwischenruf „Kant“
gezeigt hat nicht unbedingt ausschließlich oder zuerst Marxsche Gedanken sind. Daß es allgemeine Zusammenhänge gibt zwischen Ökonomie
und Politik, ist etwas, was viele Denker des 18. Jahrhunderts ich denke
nur an die schottische Aufklärung, die die wesentlichen Gedanken der
materialistischen Geschichtsauffassung entwickelt hat schon gewußt und
gesagt haben. Ich werde einmal versuchen umgekehrt zu formulieren,
daß bei Marx gewisse Punkte, die wir als essentiell zur Beantwortung
dieser F ragen ansehen., entweder nicht vorhanden sind oder ganz bewußt unterlassen sind. Zu Krieg und Frieden: ich glaube, was bei Marx
ganz und gar fehlt, ist eine Theorie der Nation und sogar der Identifikation der Arbeiterklasse mit ihrem Staat. Er geht doch sehr weitgehend
davon aus, daß die Arbeiter sich eben nicht mit ihrem Staat identifizieren
und kann deswegen die ganze Geschichte der Kriege seit seiner Zeit nur
sehr schlecht erklären. Daß es also immer wieder, heute vielleicht weniger als zur Zeit 1870/71 oder auch 1914-18, aber immer noch eine Frage
ist, wie es dazu kommt, daß ganze Völker, die sonst so sehr in sich zerstritten sind, plötzlich aufstehen und mit einer gewissen verrückten Begeisterung gemeinsam gegen andre losschlagen?
Das Thema „Ökologie“: vielleicht ist es etwas vereinfacht zu sagen, aber
auch nicht ganz falsch, daß im Grunde für Marx die wesentlichste Vor-
Marx und seine Rolle in der Philosophie
aussetzung der Emanzipation der Menschheit die Entwicklung der Produktivkraft war. Daß wir heute von diesem Wachstum der Produktivkräfte als solchem keine Lösung der ökologischen Krise erwarten, ist so
klar, daß man es nicht zu erwähnen braucht.
Treptow: Ja, die ungeplante, würde ich sagen.
Ballestrem: Aber für Marx führt das ja erst einmal die Möglichkeit herauf.
Treptow: Er kommt dann ja auch zur Planung., was und wie...
Ballestrem: Ja, zumindest würde ich in diesem Fall nicht sagen, daß Marx
hier etwas gesagt hat, was dem entgegensteht, aber daß das, was er sagt,
auch keinen besonders interessanten, positiven Beitrag zum Thema „Ökologie“ ergibt. Und das Dritte ist die ökonomische Krise: Wenn Sie sich
die Mehrwerttheorie als zentrale und, in Engels Augen, die große wissenschaftliche Entdeckung von Marx ansehen. Was hilft uns die Mehrwerttheorie zur Diskussion der ökonomischen Krise heute? Ich beobachte
eins, daß sozialistische Theoretiker immer wieder darum bemüht sind, so
etwas wie einen „Dritten Weg“ zu finden zwischen bürgerlicher Nationalökonomie und marxistischer Kritik der politischen Ökonomie, um an
der Mehrwerttheorie in der Form, in der sie Marx formuliert hatte, vorbeizukommen. Diese hätte z.B. die Konsequenz, daß in einer Fabrik, in
der zwei Arbeiter eine weitgehend automatisierte Industrie leiten, der
gesamte Mehrwert aus dem lebenden, aus dem variablen Kapital stammt.
Das würde Leute wie Ota Sik oder Garaudy als eine betont absurde
Konsequenz erscheinen, die aber wiederum vermutlich auf einer dieser
implizit normativen Voraussetzungen beruht, nämlich daß es beim
Mehrwert im Grunde um Ausbeutung geht; und wenn Maschinen
Mehrwert produzieren, man nicht mehr von Ausbeutung sprechen kann.
Also, das sind drei Bemerkungen, um .anzudeuten, daß man vielleicht
auch umgekehrt sagen könnte, Marx habe zu diesen zentralen Gegenwartsproblemen nichts besonders Interessantes beizutragen.
Rundtischgespräch
Treptow: Zunächst nehme ich mal an, daß es schon einen Zusammenhang
gibt zwischen Mehrwerttheorie, speziell dem Mehrwertgesetz, und der
Krise. Das Mehrwertgesetz beinhaltet, daß eine Diskrepanz auftreten
muß oder ein Widerspruch zwischen der Produktionsausdehnung auf der
einen Seite und der Realisierung des Mehrwerts durch Massenkaufkraft
auf der anderen Seite. Mit anderen Worten: Marx zeigt, daß der Kern der
Krise daran liegt, daß auf der einen Seite das Kapitalwachstum vorangetrieben wird so schnell wie möglich, und daß auf der anderen Seite eben
dieses Kapitalwachstum nur realisiert werden kann, wenn in Entsprechung genau zu diesem Wachstum die zahlungsfähige Nachfrage da ist.
Das ist für Marx der Kern der Krise. Ich will das jetzt gar nicht vertiefen,
aber mir scheint, ohne diese Analyse bekommen wir die gegenwärtige
Krise nicht in den Griff.
Und damit hängt dann wieder die Frage der Ökologie zusammen. Marx
macht ja dazu nur ein paar Bemerkungen im dritten Band des „Kapital“,
u.a. daß die Erde nicht zum Eigentum werden darf und daß man die
Erde auch der nächsten Generation verbessert zu übergeben, zu überlassen hat usw. Aber der springende Punkt ist ja für Marx, daß das Naturverhältnis erst dann „in Gefahr“ kommt, verkehrt zu werden, wenn die
Produktivkraftentwicklung untergeordnet ist unter die Verwertungsverhältnisse. Marx nimmt an, daß erst dann, wenn das Kapitalwachstum als
ein automatischer, selbständiger Prozeß beseitigt worden ist, die Produktivkraft sich frei entwickeln kann, und daß erst dann die Natur nicht
automatisch zerstört wird. Das scheint mir wichtig zu sein: die Naturzerstörung zu verhindern, setzt voraus, daß eben die Natur nicht angeeignet
wird als Mittel zum Kapitalwachstum.
Simons: Der Zusammenhang, der besteht aber... Sie nehmen an, daß die
ökologische Kriseein Verwertungsproblem ist und haben unterstellt, als
sei das der Antagonismus zwischen kapitalisierten und sozialisierten
Wirtschaften. Aber ist es nicht vielmehr so, daß der Ost-West-Gegensatz
nicht der im Marxschen Sinne zwischen Kapital und Nicht-Kapital ist,
wo das Kapital eben mit bestimmten Gesellschaftsschichten verwachsen
ist; und der reale Sozialismus ist ein Staatskapitalismus. Im Grunde genommen ist der Gegensatz gar nicht der von Kapitalismus-Sozialismus,
Marx und seine Rolle in der Philosophie
sondern darin sind sie sich höchst einig. Also von meiner Sicht aus ist da
kein Antagonismus gegeben.
Treptow: Augenblick. In welchem Punkt sind sie sich einig?
Simons: Sie sind sich einig in ihren Grundkategorien, in ihrer wissenschaftlichen, in ihrer technischen Auffassung von Welt. Das sind alles
sehr europäische, neuzeitliche Kategorien.
Treptow: Und wie erklären Sie sich dann den Antagonismus?
Simons: Ja, passen Sie auf. Eben anders. Sie sind sich einig in ihrer ganzen
Verwertungsmaschinerie. Der Sozialismus verwertet ebenso, nur staatlich, beutet die Natur noch schlimmer aus als der Westen und ist nur
noch rabiater, rigoroser und brutaler. Das ist gar nicht der Gegensatz
zwischen Kapital und Nicht-Kapital, das ist sozusagen gleich; nur daß
das eine eben mehrere Gesellschaften sind, und das andere ist eben der
Staat, der alles in den Händen hat. Aber in Wahrheit ist es im Marxschen
Sinne das gleiche. M.E. liegt der Kapitalismus eben nicht mehr im Marxschen Gegensinne eines ökonomisch zu betrachtenden Sozialismus,
sondern das muß wohl etwas anderes ein. Und da könnte ich mir vorstellen, daß der Weizsäcker recht hat: „die Menschheit braucht, um sich
selbst zu behaupten, immer ihre Feinde“; und so braucht sozusagen die
eine Seite die andere Seite. Das sind ganz andere Antagonismen, nämlich
wie Weizsäcker sagt: ein Mangel an Selbstversöhnung und an gesellschaftlicher Versöhnung, der auch dann, wenn man alle ökonomischen
Probleme abziehen würde, noch immer da wäre. Von da her gesehen, ist
es wirklich der Mangel an Selbstversöhnung, der nach Befriedigung oder
Frieden drängt.
Nun könnte man sich ja mal fragen: Gibt es für diesen Mangel an Selbstversöhnung, der tiefer liegt als die Dinge, die nur das Essen und Trinken
und sonstwas angehen, gibt es denn dafür Kategorien? Ich würde vermuten, daß dieser Mangel an Selbstversöhnung tiefer liegt als das marxistische Kategorien sagen können. Ich glaube, daß auch von daher eine
marxistische Kritik anzubringen wäre; daß man um auf Ihren Beitrag,
Rundtischgespräch
Herr Treptow, einzugehen nicht nur die Frage der Mehrwerttheorie und
eine Kritik daran, wie sie sich empirisch darstellt, untersuchen kann.
Denn die Voraussetzung der Mehrwerttheorie ist ja ein ganz bestimmter
Begriff rationalen Naturverhaltens; und genau dieser Begriff von Rationalität, der noch einmal jenseits aller empirischer Einzelheiten in der
Mehrwerttheorie die Grundstruktur dieses Denkens und Handelns abgibt, scheint mir fraglich. Ich würde mal probieren, ob man nicht mit
Marx gerade auch die Logik seiner Mehrwerttheorie transformieren kann
auf einen anderen. sage ich jetzt mal antik auf einen anderen ' logos' hin,
der dieses erste Falsche und allgemein Falsche an dieser Rationalität
kritisiert. Ich würde vermuten, daß Marx, der ja im Grunde genommen
ein Kind des 19. Jahrhunderts war, einem bestimmten Rationalitätsbegriff voll auf gesessen ist, den man heute kritisieren müßte.
Ich glaube, daß es gar nicht mehr nur in einem ökonomischen Sinne um
Kapitalismus oder Nicht-Kapitalismus geht. Es geht auch um einen
'Denk-Kapitalismus', einen 'Rationalisierungskapitalismus' als eine höhere, sublimere Art von Verwertung von allem und jedem. Das ist eine
bestimmte Art von Rationalität au fonds den Menschen und alles und
jedes verwertend und selbstverwertend. Diese Zwangsstruktur der Verwertungsrationalität ist vielleicht heute das Hauptproblem, das jenseits
der öffentlich diskutierten Kategorien im Marxismus und Kapitalismus
liegt. Vielleicht wäre eine Transformation von daher zu erwarten, daß
man sagt: die moderne neue Rationalität ist es auch, die bestimmte Antagonismen und Nichtversöhntheiten mit uns selber und der Umwelt mit
sich bringt. Dieser Befeindungszwang zwischen Ost und West und Nord
und Süd ist vielleicht auch darin begründet, daß alle auf ein bestimmtes
Weltverhältnis eingetrimmt sind, das die Neuzeit verinstitutionalisiert
hat, und das man kritisch-revolutionär transformieren müßte.
Mein Ausgangspunkt war ja die „Kritik der politischen Ökonomie“ nicht
nur in bestimmten einzelnen Formen, sondern als Generalnorm eines
bestimmten Begriffes von Rationalität, der selbst ganz unbefragbar blieb,
den man mit Marx vielleicht auch noch einmal transformieren könnte,
das aber de facto noch kaum tut; und daß es dieses neuzeitliche Rationalitätsverhältnis des Menschen zu sich selber, zur Gesellschaft und zur
Natur ist, sozusagen superkapitalistisches Denken, das alles und jedes
Marx und seine Rolle in der Philosophie
verwerten muß. Dazu hätte man im Hinblick auf den antiken 'logos'
dieses Denken transformieren müssen. In Wahrheit ist es ja wohl hier
begründet: die Feindheit des Menschen mit sich, das Todes-, das Kriegsund Politikproblem, alle liegen darin begraben.
Jantzen: Die drei Punkte. Ich möchte in einem noch etwas sagen und
Herrn Ballestrem recht geben. Auch wenn man implizit mehr oder weniger bewußt in der Nationalökonomie, in den Sozialwissenschaften marxistische Theorien verwendet, dann folgt darauf noch nicht, daß man in
diesen drei Fragen mit marxistischen Kategorien tatsächlich inhaltlich
arbeitet oder arbeiten kann. Die - Herr Simons hat es auch gesagt - die
Auseinandersetzung zwischen West und Ost als Auseinandersetzung
zwischen Kapitalismus und Sozialismus als Klassenauseinandersetzung
aufzufassen, scheint mir in der Tat etwas gewaltsam. Herr Ballestrem hat
ja auch schon hingewiesen auf frühere Kriege, auf Auseinandersetzungen, die eigentlich einer Interpretation durch Klassengegensätze widersprochen haben. Nur über die Imperialismustheorie konnte man dann
die Geschichte in etwa reparieren, und da wird es im Grunde schon
schwierig beim Zweiten Weltkrieg.
Was die Ökonomie betrifft, würde ich sagen, daß das Hängen an der
Werttheorie, vor allem der Mehrwerttheorie, auch erhebliche Reparaturarbeiten notwendig macht und auch gemacht hat, etwa durch Robinson.
Aber die Werttheorie ist der Kern. Ihre (Treptow) Reparaturarbeit geht
dahin, den Gegensatz von wie man das nennt nachfrageorientierter und
angebotsorientierter Wirtschaftspolitik sozusagen in die Marxsche Ökonomie hineinzuprojizieren. Aber eine solche Politik setzt eine in der
Marxschen Theorie nicht vorgesehene Steuerung durch den Staat voraus.
Die These, daß der leider gängige Antikeynesianismus Marx nachträglich
ins Recht setzt, trifft meines Erachtens nicht. Der ökologische, dritte
Punkt. Es gibt viele Äußerungen bei Marx, die man herausgreifen kann.
In der „Neuen Gesellschaft“ ist ein schöner Artikel von Nenning: „Karl
der Grüne“. Sehr lehrreich, und er findet. in der Tat einiges über die
„Resurrektion der Natur“ usw. Aber im Kern hat Marx einen Sozialismus, wie ihn Landauer bestimmt, einen Sozialismus, der aus Dampf
stammt, nämlich dem der Dampfmaschine, und für den, wie Dietzgen
Rundtischgespräch
sagt, die Natur gratis da ist. Was heute zu Ökologie gesagt wird oder was
unter dem Schlagwort „Natur“ läuft, hat von vornherein eine andere
Kategorialität als eine Marxsche, eher schon eine heilsgeschichtliche oder
wie auch immer man das jetzt benennen will.
Simons: Oder eine homerische.
Jantzen: Das alles scheint mir jedoch nichts damit zu tun haben, ob die
Marxsche Theorie richtig in diesem Sinne ist, sich bewahrheitet hat oder
nicht. Ich würde eher sagen, daß er zur Bewegung des 19. Jahrhunderts,
eben zum „historischen Projekt“ gehört. Und da man geschichtliche
Bewegungen nicht schlicht als 'wahr' oder 'falsch' bezeichnen kann, kann
man diese Kategorien von ,wahr', 'falsch' sicherlich auch nicht auf die
Marxsche Theorie anwenden. Letzter Satz und da komme ich auf die
ganz anfängliche Frage zurück -. die Marxsche Aktualität liegt vermutlich
doch in Teilbereichen begründet, etwa weil wir hier in der Philosophie
sind im philosophischen Anspruch von Marx, den er im Anschluß an
Hegel formuliert hat.
Treptow: Ja, ich möchte hier nicht das letzte Wort haben, aber wir kommen tatsächlich wieder zum Anfang. Gut, dann sollte das auch schon das
Schlußwort gewesen sein.
Die Redaktion dankt für das Gespräch.
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