In: Widerspruch Nr. 6 (02/83) Marx-Rezeption in München (1983), S. 5-65 Autoren: Dr. Karl Ballestrem, Dr. Jörg Jantzen, Dr. Eberhard Simons, Dr. Elmar Treptow, Dr. Alexander von Pechmann Interview Gespräch Marx und seine Rolle in der Philosophie Rundtischgespräch vom 12. 4.1983 Teilnehmer: Dr. Karl Ballestrem Dr. Jörg Jantzen Dr. Eberhard Simons Dr. Elmar Treptow Dr. Alexander von Pechmann für den „Widerspruch“ von Pechmann: Ich begrüße Sie im Namen der Redaktion zu unserem Rundtischgespräch zum Thema „Marx und seine Rolle in der Philosophie“. Vielleicht kurz zu meiner Rolle. Ich werde mich darauf beschränken, Fragen zu stellen, und mich dann nicht weiter einmischen. Dies sollte ja ausdrücklich ein Gespräch von Dozenten an der Universität sein. Was den Ablauf betrifft, hatten wir es uns so vorgestellt, daß wir drei Fragen behandeln wollen, und zwar die Frage: „Marx und seine Rolle in der Philosophie“, die zweite die „Aktualität von Marx in der Gegenwart“ und drittens die Auffassungen hinsichtlich der „Repräsentanz von Marx an der Universität“. Marx und seine Rolle in der Philosophie Jantzen: Ich hätte eine Zwischenfrage. Hat es irgendeinen Grund, daß die Frage nach „Marx als Philosophen“ und die Frage nach der „Aktualität Marx“ getrennt wird? von Pechmann: Nein; es war nur als Fortgang vom Allgemeinen zum Konkreten gemeint, um von der Klärung seiner Rolle in der Philosophie überhaupt zu seiner Bedeutung heute zu kommen. Ich denke, daß man dies schon trennen kann ohne Hintergedanken, wertfrei. So war es jedenfalls gemeint. Marx als Philosoph von Pechmann: Also, dann würde ich dazu kommen, die erste Frage, ob Marx überhaupt als Philosoph angesehen werden kann, zu formulieren. Wer die Diskussion um den 100. Todestag jetzt mitbekommen hat, wird bemerkt haben, daß es darüber verschiedene Meinungen gibt: die einen sind der Auffassung, Marx gehört eigentlich gar nicht in den Korpus dessen, was man traditionell Philosophie nennt; andere sind der Auffassung, er ist im Grunde kein Philosoph, sondern eher ein Ökonom; und drittens die Auffassung, in Marx würde sich sozusagen die Geschichte der Philosophie vereinigen, er wäre der Philosoph der Gegenwart. Vielleicht könnten Sie dabei auch auf den philosophiehistorischen Zusammenhang eingehen, wie Sie Marx philosophiehistorisch situieren würden. Ballestrem: Auf diese Frage würde es mir schwerfallen, ein Statement abzugeben. Wenn man von der Philosophie herkommend, in einem Institut für Politikwissenschaft lehrt, dann kann das zwar einerseits dazu führen, sich ständig Gedanken zu machen, was ist eigentlich Philosophie?, und wo hört sie auf?, und wo fängt die Sozialwissenschaft an? Meine Tendenz ist aber eher umgekehrt: es interessiert mich eigentlich gar nicht so sehr, bis wohin ich mein Nachdenken Philosophie nenne, und wo ich anfange, es anders zu betiteln, sondern ich versuche mit meinen Kollegen und Studenten Fragen zu erörtern, die uns gemeinsam interessieren. Und deswegen bei Marx nun zu überlegen, bis wohin das, was er macht, Philosophie im Sinne des 18., 19., des 20. Jahrhunderts Rundtischgespräch (wo im 20. Jahrhundert?) ist, könnte sehr leicht in eine Art von Etikettenfrage hineingeraten, was mir viel weniger interessant erscheint als die inhaltliche Frage, was einen an Marx denn eigentlich interessiert. Also, das nur als Beitrag zur Methode des Vorgehens. Jantzen: Ich muß sagen, ich bin mit dieser Gliederung nicht furchtbar glücklich. Aber irgendwo gehört es ja offenbar dazu, daß man Marx mit den verschiedensten Etiketten versieht, im Sinn von „Marx als Philosoph“, als „Ökonom“ usw. Das scheint, wenn schon nicht den Zugang, so doch die Auseinandersetzung zu erleichtern. Treptow: Mir scheint es auch angebracht zu sein, daß jeder einmal vorbringt, was ihn an Marx interessiert, wie er sich mit Marx beschäftigt, Probleme, die sich ihm ergeben haben. Aber noch mal dazu, wie ich mir die Frage: Ist Marx ein Philosoph? erkläre. Wahrscheinlich kommt sie daher, weil gerade jetzt anläßlich seines Todestages immer wieder behauptet wird, dezidiert, Marx sei gar kein Philosoph; er sei etwas anderes: ein Prophet - noch dazu ein gescheiterter, wie es in der „Süddeutschen“ letztes Wochenende stand (12./13. März 1983; Anm.) -, oder ein Mystiker oder ein Emanzipationsgläubiger, der nichts mit der Philosophie zu tun hat, weil er eben ein Prophet ist. Oder was stand da noch? Er ist Eschatologe, Heilslehrer usw. Also, von da her erkläre ich mir, daß die Frage relevant sein könnte. Jantzen: An sich scheint es mir eine sinnvolle Frage zu sein... Simons: Ich finde auch, daß das eine sinnvolle Frage ist, würde aber auch das von Herrn Ballestrem Gesagte mitaufnehmen. Es ist das Bestürzende bei dieser Frage, daß sie so riesengroß ist, daß ich mich hier fragen muß, kann man denn jetzt so riesengroße Fragen behandeln. Also, das wäre das, was mich auch ein bißchen stören würde. Aber man muß sie ja nicht so auffassen. Anders aufgefaßt würde ich sagen, ist sie schon ganz gut, und dann hängen ja alle drei Fragen miteinander zusammen. Marx und seine Rolle in der Philosophie Jantzen: Eine Bemerkung möchte ich noch dazu machen. Ich meine, sicherlich ist die Frage ausgesprochen wichtig, aber die Fragestellung, ob Marx ein Philosoph sei, gilt ja nicht nur von dem Standpunkt, daß Marx über Hegel hinaus ein Vertreter einer Diesseitsreligion gewesen sein soll, sondern es impliziert ja auch eine Frage, die innerhalb der marxistischen Rezeption bei Marx selbst aufgekommen ist. Wenn man jetzt Engels sehr vereinfacht, dann ist eigentlich im strengen Sinn von einer marxistischen Philosophie so unmittelbar im traditionellen Sinne von Philosophie gar nicht zu reden. Da gibt es eine Geschichte von Philosophie, dann gibt es eine formale Logik und damit hat sich's dann. Was es dann noch gibt, ist eine streng ökonomische Theorie, deren Kategorien weitgehend die Kategorien der klassischen Philosophie ersetzen. Insofern würde ich sagen, ist die Frage nicht nur deswegen relevant, weil mit „Marx als Philosoph“ keineswegs nur von außen die Frage gestellt wird, sondern die Frage wird auch innerhalb des Systems verortet werden müssen. Simons: Jetzt würde ich sagen, daß die ganze Entwicklungslinie der englischen Moralphilosophie, Smith, Ricardo und Hume, Locke doch einen philosophischen Impetus hatte, und daß wir dann eine Nationalökonomie haben, die bescheidener, nicht mehr so philosophisch relevant zu sein schien; demgegenüber besteht die Entdeckungskraft von Marx darin, bestimmte, sonst einfach hingenommene Phänomene bloß als Phänomene zu nehmen und nicht zu fragen, was ist denn nun eigentlich der Gedanke, der wirksame Gedanke; also etwa der berühmte Tisch, der auf einmal zu tanzen anfängt, und solcher Dinge mehr. Also: das ist in der Tat dem philosophischen Blick von Marx zu verdanken. Ricardo hatte zwar auch einen, selbstverständlich, und die anderen hatten auch, aber die eigentliche produktive Kraft von Marx liegt schon darin - na ja, ich will's historisch sagen -, daß er von Hegel gelernt hat, daß er hellsichtiger geworden ist, und daß er Phänomene, die die anderen selbstverständlich haben durchgehen lassen, entdeckt hat, und daß ... Jantzen: ... er dazu Kategorien entwickelt hat, ... Simons: ... die so nicht selbstverständlich sind! Rundtischgespräch Jantzen: Herr Simons, ich will mich nun gar nicht in die falsche Ecke rücken lassen, der Marx abspricht, Philosoph zu sein. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß man die Frage auch immanent, von innen stellen kann. Wenn ich anknüpfe an das, was Sie eben gesagt haben, dann wäre als ein Positivum der Marxschen Weiterentwicklung oder Rezeption von Ricardo, von Smith, von wem auch immer, zu erkennen, daß die Nationalökonomie aus dem Kontext der „moral philosophy“, wie bei Adam Smith, herausgelöst und eben als Nationalökonomie, als ökonomische Theorie, emanzipiert wird; zu Lasten allerdings dessen, was möglicherweise für uns „Philosophie“ heißt. Es ist ja andererseits auch merkwürdig, daß gleichsam von außen Marx wiederum das Etikett 'Philosoph' zu Lasten anderer Teile des Werkes angefügt wird: Der „Doppelcharakter“ der Marxschen Theorie: Philosophie und/oder Ökonomie. Ballestrem: Sieht man da nicht auch ein Beispiel einer - ich möchte sagen systematischen Zweideutigkeit im Verhältnis zur Philosophie bei Marx? Einerseits geht dieser Strang von Argumenten, der sich ganz offensichtlich anschließt an die Emanzipation der Sozialwissenschaften von den alten normativen Disziplinen zu der materialistischen Geschichtsauffassung und der Kritik der deutschen Philosophie als Ideologie, der dann auch die Franzosen und Engländer vorgehalten werden, die schon viel mehr gewußt hätten von den wirklichen Verhältnissen usw. usf. Das ist das eine. Und auf der anderen Seite die Kritik am „Scheiß-Positivismus“, wie er sagt, und dem gegenüber das Festhalten an Hegel. Das sind zwei Stränge, die nebeneinander bei Marx stehen, finde ich, in einer nicht glücklich vermittelten Weise. Wenn man sich überlegt, was das „Kapital“ eigentlich ist, und sucht bei ihm selbst nach Interpretationen, findet man auf der einen Seite Interpretationen, wie sie im Vorwort zum „Kapital“ stehen oder im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes, und die sehr stark betonen: „gut, ich habe mit Hegel kokettiert, aber im Grunde stehe ich in der Tradition der modernen Wissenschaften“. Auf der anderen Seite liest man die „Grundrisse“ und sieht, das Ganze ist eine Bewußtseinskritik in einem ganz fundamentalen Sinne und eben nicht eine dem Newton'schen Vorbild folgende Sozialwissenschaft. Also, Marx und seine Rolle in der Philosophie das scheint mir ein Punkt, den man bei Marx in vieler Hinsicht findet, daß er sozusagen zwischen zwei Interpretationen hin und her schwankt und mal - ich möchte fast sagen esoterisch - und mal exoterisch spricht, ohne sich selbst ganz klar zu werden. Wenn man jetzt spezifischer nach Marx als Moralphilosophen fragt, würde man das wiederfinden, was man auch auf einer allgemeinen Ebene, nämlich Marx als Philosophen, feststellen kann. Simons: Das wäre auch für unser Gespräch nicht unwichtig und auch mein Problem an der Sache. Wenn man Marx als Kritiker interpretiert, der eben eine „Kritik der politischen Ökonomie“ geschrieben hat, ist das eine ganz andere Sache, als wenn man Marx als Philosophen im Sinne eines systematischen Theoretikers interpretiert. Ich fände es sehr schwierig, ihn als Systematiker zu interpretieren; die systematische Interpretation ist natürlich eher die leninistisch-stalinistische, nicht wahr, durch die man dann zum 'Diamat' kommt. Das sind in der Tat zwei ganz verschiedene Geschichten, so wie wenn man Kant als Systematiker interpretiert oder als Kritiker. Ich hielte es für fruchtbar - dies ist mein Ansatz -, ihn als Kritiker zu interpretieren und nicht als Systematiker. Wenn man ihn als Weltanschauungsphilosophen und als Systemdenker sogar noch über Hegel hinaus interpretiert, also, dann hätte ich die größten Schwierigkeiten. Treptow: Mir scheint, daß es das Charakteristische ist, daß Marx die Ökonomie nicht positivistisch betreibt: sie nicht nur einzelwissenschaftlich, sondern philosophisch, wenn auch nicht im traditionellen Sinne, behandelt und d.h. als Kritik, dialektisch, also als Kritik in Einheit mit Dialektik, und die 'Kritik der politischen Ökonomie' als Einheit wie gesagt von Ökonomie und Philosophie. Mir scheint also charakteristisch, daß Marx weder bei der traditionellen Philosophie stehen bleibt und bei ihrem Versuch theoretisch-autonomer Selbstbegründung noch die Philosophie einfach fallen läßt. Er hebt sie auf und zwar speziell die Dialektik, die Hegelsche Dialektik und entwickelt die ökonomischen Kategorien dialektisch auseinander im „Kapital“. Das heißt, es ist weder traditionelle Philosophie noch ist es einfach eine reine, einfache Negation der Philo- Rundtischgespräch sophie. Das zeigt ja eigentlich schon der Titel: „Ökonomischphilosophische Manuskripte“. Ballestrem: Das ist aber nicht sein Titel. Treptow: Nein, aber es ist das Thema, der Inhalt und Gegenstand, nicht? Kritik an Hegel, Kritik an der klassischen Politökonomie und deren Arbeitsbegriff und damit der Versuch, eine neue Synthese herzustellen. Und auch der Untertitel des „Kapitals“: 'Kritik der politischen Ökonomie' oder der Titel der „Grundrisse“: 'Kritik der politischen Ökonomie' scheinen mir genau darauf zu verweisen, daß hier eine Synthese versucht wird von Philosophie, d.h. vor allem von Dialektik und Ökonomie. Zum Verhältnis Marx' zu Hegel Simons: Diese Synthese möchte ich doch noch 'mal etwas offenlassen. Wenn man Marx als einen Fortsetzer der klassischen deutschen Philosophie interpretiert - das kann man ja - dann habe ich immer die Schwierigkeit, daß ich sage: „du lieber Himmel, was hat der denn von Hegel begriffen?“. Wenn er die Hegelsche Logik oder die Hegelsche Rechtsphilosophie interpretiert, dann mögen da je bestimmte Positionen genannt sein, die zurecht kritisierbar sind, aber so glatterdings genommen, als Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, da wird es doch unergiebig. Wenn man den Hegel selber kennt und liest, dann ist alles immer - wie soll ich sagen - eher von außen betrachtet, so wie Max und Moritz sich den Hegel auch vorstellen. Es geht nicht; es stimmt einfach so nicht, das kann man nicht so machen. Ihn einfachhin als Kritiker der Hegelschen Rechtsphilosophie interpretieren, das halte ich für sehr schwierig, und zeigt überhaupt die Rezeptionsschwierigkeiten an. Das ist schon bei Feuerbach so. Sie haben ganz bestimmte Vorstellungen, Muster und Modelle, mit denen sie die ganze Tradition interpretieren; Feuerbach noch stärker als Marx, aber zumindest der frühe Marx auch. Das geht ja dann bis in die Antike zurück. Man sieht immer: aha, das sind also die Kulissen, die sie vor sich haben. Und wenn man diese Kulissen genauer kennenlernen will, gegen die sie meistens sprechen, dann finde ich, ist das also sehr sehr trivial. Auch didaktisch, fürchte ich, ist das ein ausge- Marx und seine Rolle in der Philosophie sprochenes Rezeptionsproblem Marxscher Texte - deshalb für Lehrveranstaltungen äußerst schwierig. Ich habe die miserable Erfahrung gemacht, daß Leute, die ausschließlich von daher kommen, eigentlich wirklich nur in Klischees denken können: „Das ist dann 'Idealismus' und das ist das und das ist das“; das finde ich als Philosoph sehr unfruchtbar. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die: Wenn man ihn als Kritiker auffaßt - also nicht nach Kant, Fichte, Schelling und Hegel nun noch mal etwas, was die Philosophie ausmachen will -, sondern als einen, der etwas entdeckt hat, was die anderen nicht entdeckt oder nicht artikuliert hatten, dann finde ich diese kritischen Impulse sinnvoll. Dann ist es aber auch nicht so wichtig, daß man philosophiegeschichtlich diesen Impuls weltanschaulich expliziert und sich daran so lange herummüht. Die Hegelsche Rechtsphilosophie und das bißchen, was Marx dazu sagt! Mein Zugang ist also der, an Marx aufzunehmen, was die Anderen nicht entdeckt haben und was nun artikuliert wird; und alles, was den Geschichtsbezug betrifft, den Marx hat, als Selbstartikulation von Marx aufzufassen. Wobei es dann gar nicht so entscheidend ist, ob das nun historisch-objektiv stimmt, sondern daß man das als Interpretation und Selbstinterpretation auffaßt für einen Impuls und eine Intention, die ich für sinnvoll und festhaltenswert halte. Das wäre also wieder ein kritischer Zugang zu Marx und nicht ein systematischer. Treptow: Ja, das ist der Punkt. Jantzen: Jetzt ist Herr Simons mir zum Teil ein bißchen vorgekommen. Ich wollte die von Herrn Ballestrem konstatierte Zweideutigkeit, die bei Marx ja da ist, an Hegel festmachen. Nun haben wir schon ausführlich auf Hegel hingewiesen. Aber dazu meine ich, gibt es eine Gegenthese. Die Gegenthese ist nämlich die, Marx als Schüler Hegels zu begreifen - und da auch in einer ganz gewissen Ausschließlichkeit. Das hat z.B. Henrich, wie ich finde, überzeugend getan. Der philosophische Gehalt des Marxschen Unternehmens bestünde danach darin, zwei Dinge miteinander kombinieren zu wollen: einmal die Einsicht in das Ungenügen des Hegelschen Unternehmens, und zweitens der Versuch, dennoch Philoso- Rundtischgespräch phie und Wirklichkeit, Begriff und Realität miteinander zu versöhnen. Das wäre der eigentliche philosophische Gehalt Marxens im Anschluß an Hegel. Das wäre jetzt schon eine Gegenthese; sie stammt nicht von mir. Der zweite Punkt ist der, daß mir nicht klar ist, was Simons mit dem Punkt der 'Kritik' meint. Wenn das eine Kritik à la Bauer ist, der Junghegelianer, ist Marx, glaube ich, nicht unbedingt getroffen. Es zeichnet ja gerade die Marxsche Art zu philosophieren aus, über die Kritik der Junghegelianer, deren Methode mit dem Hegelschen System mittelbar weitergeht und nicht damit fertig wird, hinauszugehen. Diese Kritik zurückzulassen, ist zwar ein Moment; das nächste Moment wäre dann mit - sagen wir - Feuerbach zu bezeichnen; wiederum das nächste Moment wäre dann Engels: Ökonomie. Daraus ergäbe sich dann in der Tat in etwa der Entwurf des Marxschen Unternehmens als Fortsetzung Hegels. Aber und das wäre schon selbstkritisch gemeint - wir müssen aufpassen, daß wir jetzt nicht anstatt über Marx über Hegel reden. Simons: Darf ich dazu etwas sagen? Daß Marx die Kritik der Linkshegelianer, Bruno Bauer und andere überwinden wollte, Heß und so, ist schon klar. Jantzen: Heß, würde ich sagen, ist ein anderes Moment. Heß bringt das Moment des Sozialismus hinein. Also, wenn man das so aufdröseln will in verschiedene Momente: die junghegelianische kritische Haltung, die Philosophie als Kritik versteht, in der Hoffnung, im Ergebnis dadurch auf die Praxis einwirken zu können, aber dabei scheitert. Das zweite Moment wäre Feuerbachs Anthropologie; aber nach Marx war Feuerbach nicht konkret genug. Dann - das ist jetzt schon sehr schematisch . Heß: Marx' Begegnung mit dem Sozialismus, aber noch nicht in ökonomischen Kategorien erfaßt. Das wäre dann, um schon Namen zu nennen, bei Engels erreicht. Marx und seine Rolle in der Philosophie Zum Verhältnis Marx' zu Feuerbach: 'sinnliche Tätigkeit' Simons: Aber meine Frage wäre dann die: formal wollte er eigentlich die Kritik überwinden - er hat's nicht geleistet -, aber sie auch beibehalten. Ich greife nur ein Moment heraus: Feuerbach. Marx kann kritisch soviel sagen, wie er will, daß Feuerbach Anthropologe und ein Weltanschauungsdenker ist. Er übernimmt doch z.B. mit Emphase einen Begriff von 'Praxis' und einen Begriff von 'Wahrheit', der in der Tat daher kommt, und wo ich nicht sehe, wie der bei Marx überwunden wird. Z.B. sagt er immer: „nun wollen wir doch endlich das Wirkliche selbst und die wirkliche Tätigkeit; und die wirklich wirkliche Tätigkeit ist nach ihm die sinnliche Tätigkeit.“ Also, diese - ich muß schon sagen - ewige Beschwörung - mehr ist es nämlich fast nicht - der sinnlichen Tätigkeit! Das ist doch Magie, ein magischer Begriff von Marx, den wir gerade in den Frühschriften, aber auch bis zum „Kapital“, auf fast jeder Seite als Idealbegriff lesen können. Und da fragt man sich doch: „Verflucht noch mal, was meinst Du denn mit dieser 'sinnlichen Tätigkeit'?“ Da fängt doch eigentlich das Problem erst an, ist aber für Marx, so scheint mir, schon immer beantwortet; als ob so klar wäre, was denn nun diese 'sinnliche Tätigkeit' ist. Das ist für mich eher Beschwörung von etwas ganz Reellem, ganz Materiellem, endlich Wirklichem. Das ist doch weniger eine Explikation dessen, was 'sinnliche Tätigkeit' nun sein soll. Wenn man diesen Begriff mal befragt, da könnten wir auf ein anderes Gebiet kommen: Aristoteles etwa hat einen ganz anderen Begriff von 'sinnlicher Tätigkeit'. Jantzen: Vor allem einen Begriff von 'Praxis'. Simons: Von 'Praxis' und 'sinnlicher 'Tätigkeit', sehr wohl. Da frage ich mich, hat denn Marx den Feuerbach tatsächlich oder hat er ihn nur stellenweise überwunden. In ganz bestimmten elementaren Momenten behält er ihn so bei, daß man sagen muß, das ist nur eine Beschwörung von Wirklichkeit, aber keine Explikation. Das scheint mir eine ganz wichtige Sache zu sein, diese Auskunft mit der sog. 'sinnlichen Tätigkeit', nicht wahr? Hat Marx einen modernen, neuzeitlichen Begriff von Sinnlichkeit, dann besser: Gegenstandssinnlichkeit; oder meint er Beziehungssinnlich- Rundtischgespräch keit, im Sinne Aristoteles' 'Hedone', oder meint er im Sinne von Platon 'Eros'? Was ist denn nun 'Sinnlichkeit'? Da fängt das Problem ja erst an und hört nicht schon auf. Und das, meine ich, zeigt, daß die sog. Überwindung des Links- oder Posthegelianismus durch Marx ein Problem ist. Der Marxsche Begriff 'Arbeit' 'poiesis' oder 'praxis'? Jantzen: Eine Bemerkung. Alles zugegeben. Vielleicht sollten wir aber, um uns der 'sinnlichen Tätigkeit' zu nähern, auf den Begriff der 'Arbeit' in dem Zusammenhang kommen. Simons: Von mir aus. Treptow: 'Sinnlichkeit' ist doch bei Feuerbach so gefaßt: Sinnlichkeit der Anschauung, der Sinnesorgane, dann der Natur. Simons: Und die Liebe auch... Treptow: Ja, die Liebe ist in dem Leib verwurzelt. Also, mir scheint es so zu sein, daß der Begriff von 'Sinnlichkeit' in dieser bestimmten Weise zunächst von Feuerbach gefaßt ist, daß aber gerade die sinnliche Praxis oder die Sinnlichkeit der Arbeitspraxis das ist, was Marx gegen Feuerbach ins Felde führt. Für Marx ist der Mensch ein sinnlich gegenständliches Wesen, d.h. ein leibliches, bedürftiges Wesen, das als solches auch auf die Gegenstände der Natur angewiesen ist und die Vermittlung mit der Natur durch die Arbeit braucht. - Um vielleicht noch mal einen Schritt zurückzugehen zum Begriff der 'Kritik'. Mir scheint der Gegensatz zu den Junghegelianern der zu sein, daß für die Junghegelianer Kritik der Prozeß des Geistes ist, die geistigen Hemmungen, Entfremdungen zu überwinden. Marx versteht aber unter Kritik jenes dialektische, positiv-negative Behandeln des Gegenstandes. Was also die Gegenstände der gesellschaftlichen Arbeitspraxis angeht, so sind sie in ihrem Bestand zunächst einmal aufzunehmen, dann aber auch zugleich negativ, als vergänglich, als veränderbar, zu fassen. Kritik hat für Marx den Maßstab in Marx und seine Rolle in der Philosophie der Sache selbst, in der Logik der Sache, nicht in der Sache der Logik. Und 'Logik der Sache' heißt 'Bewegung des Gegenstandes': so wie er zunächst ist, positiv, sich auf ihn einzulassen, ihn aufzunehmen; das ist ein Moment der dialektisch-kritischen Behandlung des Gegenstandes. Zu ihm, wie er ist, gehört aber auch, daß er geworden und veränderbar ist; ihn im Flusse der Bewegung zu behandeln, d.h. dialektisch und kritisch vorgehen. Da hat Marx einen Begriff von Kritik, der wirklich im Gegensatz zu dem der Junghegelianer steht. Damit ergibt sich dann - um einen Schritt weiter zu gehen und vielleicht auch auf das, was Herrn Ballestrem besonders interessiert, zu kommen - das Problem des Maßstabes der Kritik, nämlich ob Marx bei seiner Kritik der entfremdeten Praxisverhältnisse Ideale, Postulate oder Utopien nötig hat, um kritisieren zu können. Der Anspruch von Marx selbst ist der, den Maßstab der Kritik in der Sache selbst und ihrer Bewegung zu haben. Simons: Also, darf ich da mal...? Gegenüber den Junghegelianern mag das ja richtig sein; gegenüber Hegel aber scheint mir das ein Problem zu sein. Denn wenn Sie formulieren, es ginge Marx nicht um die Sache der Logik, sondern um die Logik der Sache, dann würde ich sagen: „genau darum geht's bei Hegel“. Hegel ging es ja nicht bloß um die Sache der Logik; sondern die Sache der Logik war bei Hegel in seiner „Wissenschaft der Logik“ natürlich genau die Logik der Sache. Nun könnte man natürlich sagen, die 'Sache' wird bei Hegel ein wenig anders bestimmt als bei Marx, aber um die Logik der Sache ging es bei Hegel auch. Die Hegelsche Logik ist eben nicht eine bloße Entfaltung des Begriffs, eines bestimmten Begriffs, sondern ist die Entdeckung des Begriffs als einen wirklichen, als eines existierenden und nicht nur irgendwo und -wie, sondern als eines geschichtlich-gesellschaftlich existierenden. Diese Aufdeckung ist doch Hegels Geschäft. Und wenn man nun mal Marx gegen Hegel stellt, dann kann man nur sagen: na ja, die Logik der Sache hat Hegel bei weitem philosophisch anders und wohl sogar besser artikuliert. So gesehen ist das eine 'Primitivauflage' der Logik der Sache gegenüber dem, was bei Hegel schon da ist; wenn man nicht angeben kann, worin denn das Moment besteht, daß da eine neue Logik, eine neue 'Sache', zur Debatte steht. Das müßte man dann mal rausfinden, das will ich nicht Rundtischgespräch schlechthin bestreiten. Aber das müßte man von Marx her entwickeln, ohne in unmittelbarer Konkurrenz zu Hegel; denn da hat Marx m.E. immer schon verloren. Ballestrem: Ich glaube, zum Reichtum des Hegelschen Denkens gehört, daß man alles aus ihm herauslesen kann, so wie er selbst alles Fruchtbare aus der Geschichte des Denkens wohl herausgelesen hat. Es wird deshalb, vermute ich, unmöglich sein, sich hier darauf zu einigen, inwiefern Marx Hegel überwunden hat oder eine Neuauflage des Besten bei Hegel bietet, obzwar dies eine hochinteressante Frage ist. Einfacher scheint es mir bei Feuerbach zu sein; und deswegen möchte ich doch noch mal auf die These von Herrn Simons zurückkommen, daß er auch gegenüber Feuerbach kaum etwas neues geleistet habe. Es müßte mir bei Feuerbach viel entgangen sein, wenn das, was Marx in seiner Analyse der Arbeitsverhältnisse, angefangen von den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ bis in die Darstellung der Produktionsverhältnisse im „Kapital“, leistet, dasselbe wie das, was Feuerbach sowohl im Sinne von sinnlicher Anschauung als auch im Sinne von Liebe, bzw. Mangel an Liebe, beim Gattungswesen unter 'Praxis' versteht. Es scheint mir doch eine ganz andere Dimension zu sein, in der das Verhältnis zwischen Mensch und Natur und gleichzeitig immer zu den Mitmenschen bei Marx analysiert wird. Simons: Mein Einwand war nur dieser, daß man bestimmte Probleme bei Marx nur anhand des Feuerbachschen Denkens in der Emphase eines Begriffs 'sinnlicher Tätigkeit' klären kann, daß die dann mitgeschleppt werden und sich durchhalten. Obwohl Marx Arbeitsverhältnisse zwar kritisch aufzeigt und analysiert, ist doch der Maßstab dieser Kritik einer, der vom Leitgedanken einer 'sinnlichen Tätigkeit'-Praxis gleichwohl immer noch bestimmt wird; und sich die Frage stellt, ob genau das, was die „Kritik der politischen Ökonomie“ leistet und leisten könnte, nicht dadurch wieder regressiv korrumpiert wird. Das ist meine genauere Frage. Marx und seine Rolle in der Philosophie Ballestrem: Man müßte nun die Antwort insofern differenzieren, als man bei Marx Phasen unterscheidet, nämlich die Feuerbach'sche Phase der Jahre 1833/44, wo tatsächlich dieser Begriff der 'sinnlichen Tätigkeit' und anderes mehr mitgeschleppt wurde. Und dann beginnt wahrscheinlich Anfang 1845 mit den „Thesen über Feuerbach“ genau der Punkt, wo nämlich kritisch vermerkt wird, daß bei Feuerbach 'Praxis' nichts anders heißt als 'sinnliche Anschauung'. Im Grunde ist das etwas Kontemplatives, das die ganze Dynamik der Entstehung und Befriedigung von Bedürfnissen und alles, was es damit im Gefolge hat in der Beziehung zwischen Menschen, noch nicht miteinbezieht. Und dann geht das los, was mit der Analyse der entfremdeten Arbeit beginnt und mit der Analyse der Warenproduktion im „Kapital“ endet, nicht? Simons: Also, lassen Sie mich ein bißchen ausholen, lassen Sie mich aufs ''Kapital“ zurückkommen. Die Hauptunterscheidung bei Marx ist doch zwischen abstrakter und konkreter Arbeit. Und wie ist denn nun der Unterschied zwischen abstrakter Arbeit und nicht-entfremdeter Arbeit zu begreifen, der ganz maßgeblich ist für dieses Verständnis der „Kritik der politischen Ökonomie“? Im Sinne der nicht-entfremdeten Arbeit bzw. des Gegenbegriffs der abstrakten Arbeit scheint mir für Marx immer noch der Begriff der 'sinnlichen Tätigkeit' ein Leitbegriff und ein kritischer Maßstab zu sein. Es wäre doch nun die Frage zu stellen, ob dies ein sinnvoller Leitbegriff ist. Ich will das mal konkreter ausführen. Es ist doch auffällig, daß die „Kritik der politischen Ökonomie“ in einer Weise Kritik ist, bei der man eigentlich immer nur mit den abstrakten Verhältnissen und also auch mit den abstrakten Arbeitsverhältnissen etwas anfangen kann. Was nun nach vollendeter Verwandlung, nach der Revolution, die ganz andere Arbeit wäre, die keine entfremdete mehr ist, ist philosophisch utopisch offen, was also das kommunistische Ideal wirklich wäre, und wie dann gearbeitet würde und werden müßte. Der Begriff einer 'freien Tätigkeit' und einer Arbeit im Reiche der Freiheit: was könnte das sein? Da müßte man doch noch andere Kategorien haben, und die sind im Rahmen der „Kritik der politischen Ökonomie“ selbst sehr schwer auszumachen. Und jetzt sehen wir doch mal, bitte schön, die Implikationen, die da dranhängen. Bestimme ich z.B. in der Rundtischgespräch philosophischen Tradition 'Praxis' in Bezug auf Aristoteles als 'energeia' und zwar, wie Aristoteles unterschieden hat zwischen 'Poiesis' als Herstellen - was er eher als Arbeit bezeichnen würde - und einer 'Praxis', die verschiedene Momente hat und als ihr Allerhöchstes die 'energeia' im Sinne von 'Selbsttätigkeit'. Da ist dann die Frage: wo taucht denn im Marxschen Arbeitsbegriff, der nicht nur kritisch sein, sozusagen ihre Abstraktheit kritisieren will, wo taucht denn da so etwas wie Selbsttätigkeit auf? Diese ganze Dimension des Moments der Selbsttätigkeit, die nach gut europäischer Tradition auch Freiheit heißen könnte, das müßte ja eigentlich auch sein Zielbegriff sein. Jantzen: Ist auch. Simons: Ist auch, ja. Aber genau dieses wäre dann doch die Frage, ob das nicht nur als utopische Letztbeziehung auftaucht, sondern ob das auch als bleibender Leitbegriff auftaucht, sodaß man sagen muß, hier wird nicht mehr nur 'Arbeit' analysiert, sondern das Moment der Arbeit, das in sich enthält: 'Selbsttätigkeit'. Da hätte man also in einem solchen Begriff die Freiheitstradition der europäischen Geschichte drin; und Freiheit scheint mir, wenn man Selbsttätigkeit nicht einbezieht, schnell zugunsten einer bloß sinnlichen Tätigkeit und einer bloß gegenständlich materialistischen Weltanschauung sozusagen 'rauskatapultiert. Jantzen: Ganz kurz. Das scheint mir ein ganz wichtiger Punkt zu sein. Ich fasse zusammen: wir haben also bei Marx eine Neubestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis... Treptow: Und damit von Philosophie und Arbeit. Jantzen: Völlig richtig. Die einzelnen Stufen haben wir sozusagen hinter uns gebracht, aber die Frage ist, welche Begrifflichkeit Marx denn dann für 'Praxis' hat außer den Begriff der Arbeit. Das könnte heißen, daß sich entweder hier in den Arbeitsbegriff etwas eingeschmuggelt hat, was nicht ausgesprochen wird, oder daß es tatsächlich bloß den Begriff von Arbeit gibt und Marx damit im Sinne der historischen Entwicklung im Grunde auf Feuerbach zurückfiele. Marx und seine Rolle in der Philosophie Simons: Man könnte auch sagen: die Kritik, die Revolution, die sozialistische Revolution, will historische Verhältnisse von abstrakter Arbeit überwinden, aber unter dem Maßstab ihrer Revolutionierung und Kritik setzt sie nur eine um so schlimmere Abstraktheit von Arbeit ein. Und mir scheint der reale Sozialismus genau dadurch gekennzeichnet zu sein; nicht, daß er die Abstraktheit von Arbeit abgeschafft hätte, sondern er sie verallgemeinert. Abstrakter wird die Arbeit nirgendwo anders organisiert als nun ausgerechnet da. Und das scheint mir ein wirklicher „Revolutionsfehler“ zu sein. Treptow: Jetzt nun nochmals zu Marx. Also ich verstehe es so, daß Marx die konkrete Arbeit... Simons: Würden Sie sagen, daß die bisherige sozialistische Bewegung gerade darin ihren Hauptmangel hat, nämlich die Abstraktheit bürgerlicher Arbeitsverhältnisse nur noch mal zu verallgemeinern? Treptow: Ich komme gleich darauf. Ich möchte noch mal zurückgehen. Simons: Wenn wir uns darin einig sind, dann würden wir schon ein Stück weiter sein... Treptow: Ja, gut... Simons: ...und bräuchten darüber nicht mehr zu reden. Treptow: Ja, gut; aber wir müßten vorher noch mal einen Schritt zurückgehen. Mir scheint es so zu sein, daß die konkrete Arbeit, d.h. die Gebrauchswert produzierende, die bedürfnisbefriedigende Arbeit, von der Marx sagt, daß sie in jeder Gesellschaftsform notwendig ist (die die Vermittlung und den Stoffwechsel der Menschheit mit der Natur reproduziert), daß die immer in einer bestimmten Form auftritt. Die Form dieser konkreten, gebrauchswertproduzierenden Arbeit bleibt in der kapitalistischen Warengesellschaft die abstrakte, d.h. wertproduzierende Rundtischgespräch Arbeit, und die Formen sind die Verwertungsverhältnisse. Also, die konkrete, gebrauchswertproduzierende Arbeit steht in dieser Form der Verwertung, d.h. des Kapitalprozesses. Ich verstehe Marx nun so, daß die 'energeia' und damit die Freiheit als Prozeß der Selbstbestimmung grundlegend geknüpft ist an die Entfaltung der Produktivkraft, das ist nämlich die konkrete Arbeit. Also, die konkrete, gebrauchswertproduzierende Arbeit, die immer erforderlich ist, voranzutreiben und zu entwickeln, heißt, die produktive Arbeit, die Produktivkraft zu entwickeln. Und diese ist die Basis des Selbstbestimmungsprozesses, der für Marx schließlich nach der Überwindung der Unterordnung der konkreten Arbeit unter die abstrakte Arbeit zur planvollen, bewußten Organisation der Arbeitsund Lebensverhältnisse führt. Was heißt 'Arbeiterklasse'? Treptow: Aber jetzt noch mal folgendes: Mir scheint es so zu sein, daß Marx' unmittelbarer Ansatz, sein Gegenstand um noch mal darauf zu kommen die Lage der Arbeiterklasse ist, und zwar die Lage und Stellung der Arbeiterklasse im gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozeß der Produktivkraftentwicklung. Und so entwickelt er eine spezielle Theorie, nämlich die der Bedingungen und Lage der Arbeiterklasse; dann aber, weil er diese Arbeiterklasse im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang behandelt, entwickelt er zugleich eine generelle Theorie, nämlich eine Theorie über diesen Gesamtzusammenhang, in dem die Arbeiterklasse eine bestimmte Stellung mit bestimmten Zukunftsperspektiven einnimmt. Die Arbeiterklasse selbst zu analysieren, heißt für ihn, den Gegensatz Lohnarbeit Kapital zu analysieren (und das ist ja in gewisser Weise der Gegensatz zwischen konkreter, gebrauchswertproduzierender Arbeit und den Verwertungsverhältnissen). Dieses Verhältnis bildet den Widerspruch, an dem die Kritik der Politikökonomie selbst den Maßstab hat. Den Widerspruch voll und umfassend zur Geltung kommen zu lassen, heißt, Kritik zu üben., womit die Tendenzen seiner Auflösung in der sozialistischen Revolution, d.h. schließlich in der Selbstbestimmung der Produzenten, zum Ausdruck gebracht werden. Marx und seine Rolle in der Philosophie Simons: Darf ich dazu? Mir scheint es nicht so zu sein, daß man den Begriff 'abstrakter Arbeit' bzw. 'nicht-abstrakter Arbeit' unmittelbar spezifizieren kann auf die Arbeiterklasse und ihre Gesellschaft, und noch weniger spezifizieren kann auf „Lohnabhängige“ und „Kapitaleigentümer“. Das ist eine Spezifikation, die, wenn sie kurzschlüssig gemacht wird, uns nicht viel weiterführt. Kurzschlüssig gemacht, führt sie dann nämlich so weit, daß eine Gesamtgesellschaft eine Arbeitsgesellschaft im alten Sinne ist, daß sozusagen die Gesamtgesellschaft die Misere dessen hat, was vorher nur eine Klasse hatte, das wird so nur verallgemeinert. Philosophisch-kategorial scheint mir das Problem darin zu liegen, daß man den Begriff der Arbeit ich rede nicht vom Begriff der Produktion, der weiter ist unmittelbar zuordnet auf die Arbeiterklasse. Der Klassenbegriff ist m.E. bei Marx ein ganz gewichtiger, aber auch ein problematischer. Was ist es denn für ein Begriff? Ist es ein empirischer Zuordnungsbegriff, so daß alle, die Lohn empfangen, die Gemeinten sind? Oder ist es ein dialektischer oder sogar vielleicht transzendentaler Begriff der Produktion, so daß man diesen Begriff der Produktion, der Produktivität und Selbstproduktivität nicht unmittelbar kurzschließen kann mit einer bestimmten Klasse? Also, in einem Satz gesagt: Ist der kritische Begriff 'nicht-entfremdeter Arbeit' unmittelbar auszulegen auf 'Klasse'? Es scheint mir gefährlich zu sein, wenn man das macht. Treptow: Ein Problem dessen, was Sie ansprechen, ist wohl, daß die entfremdete Arbeit hauptsächlich die der Arbeiterklasse zu überwinden, heißt, dieses besondere Verhältnis (das Verhältnis Lohnarbeit Kapital) und dadurch zugleich die Entfremdung allgemein zu überwinden. Marx zielt darauf, daß durch die Befreiung der Arbeiterklasse die menschliche Entfremdung insgesamt und damit die Versachlichung und Verselbständigung aller menschlichen Verhältnisse überwunden werden. Darin liegt die Dialektik von Besonderem und Allgemeinen. Simons: Also, darin liegt die Zweideutigkeit. Wenn man die allgemeinen entfremdeten Verhältnisse so überwinden will, daß man nur die besonderen überwindet., nämlich die der Arbeiterklasse, und dann kurzschließt und sagt, wenn ich diese überwunden habe, habe ich sie allgemein über- Rundtischgespräch wunden. Das stimmt nur, wenn durch diese Überwindung sprich: Revolution auch wirklich ein neues Verständnis, eine neue Realität und auch eine neue Praxis von 'energeia' möglich wird; und die wird es nicht, wenn das nicht zum Ausdruck kommen kann. Treptow: Also, das habe ich ganz anders verstanden. Simons: Ja, also, daß man den Klassenbegriff unmittelbar anschließt an den Arbeitsbegriff... Was ist denn die Arbeiterklasse?, müßte man mal fragen. Das ist so leicht gesagt, was die Arbeiterklasse ist, was diese Klasse an sozusagen vernunftrevolutionärem und freiheitsrevolutionärem Potential aktiveren könnte. Also, mit anderen Worten: Marxens Intention ist doch, diese Abstraktion überhaupt aufzuheben und nicht nur vermittels der Aufhebung der Entfremdung der Arbeiterklasse. Das ist ein Moment in dieser Geschichte, das im realen Sozialismus verallgemeinert worden ist. Ein historischer Marxismus müßte sich gerade fragen, wie denn die Aufhebung der Entfremdung dieser besonderen Klasse auszusehen hätte; damit nicht eine allgemeine Entfremdung sich institutionalisiert, sondern gerade die allgemeine Aufhebung von Entfremdung was dies geschichtlich auch immer bedeuten mag. Ein Riesenproblem scheint mir philosophisch dies zu sein, wie denn der abstrakte Arbeitsbegriff, einfach erst mal kategorial, in einen nicht-entfremdeten zu verwandeln ist. von Pechmann: Kann ich jetzt mal ganz kurz etwas sagen. Also, mir scheint der Ansatz von Herrn Simons mehr die Gegenwart, die Probleme 'Arbeiterklasse', was heißt das usw. miteinzubeziehen. Wäre es nicht möglich, doch etwas gegenwartsorientierter zu fragen? Was nützt heute der Klassenbegriff, wohin führt das? Realer Sozialismus: ist das Sozialismus oder eher das Gegenteil davon? Könnten Sie dies vielleicht mehr in die Diskussion einbeziehen? Jantzen: Ja, aber ich möchte trotzdem noch bei dem Punkt bleiben. Mir scheint doch das Kernoder ein Kernproblem etwas verloren gegangen zu sein, das aber dennoch unmittelbar auf die Gegenwart durchschlägt. Dies Marx und seine Rolle in der Philosophie Kernproblem würde ich etwa so zu formulieren versuchen: die Marxsche Begrifflichkeit über die philosophisch gewordene Praxis oder die praktisch gewordene Philosophie, wie sie Marx formuliert, ist insofern möglicherweise unzureichend, als sie sich nach wie vor in den Kategorien von Arbeit bewegt lassen wir mal, ob als entfremdete oder nicht-entfremdete Arbeit (das Problem liegt ja in den Kategorien dieser Unterscheidung selbst). Und zwar scheint mir das insofern unzureichend bzw. unbefriedigend zu sein, als wenn es bloß die Kategorie von Arbeit ist es letztlich ja nicht auf mehr denn auf die Produktion des Menschen als Gattungswesen hinausliefe. Oder daß sich andererseits in diesen Begriff von Arbeit, wenn er mehr bedeuten soll als bloße Reproduktion, Aufrechterhaltung. der Möglichkeiten von Reproduktion usw., daß sich dort etwas hingeschlichen hat, was eventuell mit dem Terminus 'Handeln' im Gegensatz zu 'Arbeit' anzusprechen wäre. Und dieses Problem... Treptow: Darf ich Sie bitten, dieses Problem noch ein klein bißchen zurückzuschieben. Ich möchte auch noch mal einen Schritt zurück, nämlich... Jantzen: Ich wollte dazu noch gerne zwei Schritte zurück. Also, erstens scheint sich mir aus dieser Problemlage die mittlerweile vielleicht klassische Problematik „Marxismus und Ethik“ zu ergeben. Zweitens, im Ökonomischen scheint das durchzuschlagen in die Werttheorie wie auch immer ausgewiesen in die Unterscheidung von Tauschund Gebrauchswert einer Ware. Natürlich steht dahinter Ricardo. Und der dritte Punkt, bei dem das möglicherweise durchschlägt im sog. real existierenden Sozialismus, ist dies und da gebe ich Herrn Simons vollkommen recht -, daß das Neuartige dort, von allem anderen abgesehen, in der bloß anderen Organisation, nicht in anderen Arbeitsverhältnissen, zu bestehen scheint. Marxismus und Ethik: 'versteckte Normativität'? Ballestrem: Ich möchte auch gern nochmals die Frage, die wir behandelt haben, unter einem bestimmten Aspekt zusammenfassen, der jetzt zu- Rundtischgespräch letzt angedeutet wurde, und zwar noch mal unter dem Aspekt der systematischen Zweideutigkeit von Marx. Ich darf daran erinnern, daß unser erstes Thema, nämlich die Methode der Marxschen Kritik m.E. zu dem Ergebnis geführt hat, daß es dort eine systematische Zweideutigkeit gibt zwischen einerseits dem, was Marx und vor allem Engels als wissenschaftliche Methode verstehen und am Beispiel der Naturwissenschaften immer wieder festmachen, und andererseits dem, was Marx im Anschluß an Hegel als Dialektik bezeichnet. Und wenn Herr Treptow sagte, daß er das Interessante an Marx. fände, daß er gerade die beiden Aspekte zusammennimmt, so wird er doch, glaube ich, nicht sagen, daß Marx dies auf eine konsistente und explizite Weise entwickelt hätte. Ich finde bei Marx nirgends einen Text, wo er seine eigene Methode auf eine konsistente Weise entwickelt, die diese beiden Dinge zusammenbrächte. Man kann sich daran inspirieren lassen, aber die Zweideutigkeit in seinen eigenen Aussagen, meine ich, bleibt. Und dasselbe scheint mir jetzt wiederum bei dieser Frage, die wir zuletzt diskutiert haben, zu geschehen, und zwar könnte man das unter dem Titel sehen: die „versteckte Normativität des Marxschen Denkens“. Alles, was wir besprochen haben, über abstrakte und konkrete, entfremdete oder nicht-entfremdete Arbeit, Arbeitsteilung und Überwindung der Arbeitsteilung, Produktion von Wert oder von Gebrauchswert usw., setzt ja im Grunde voraus Sie haben es ja gesagt den Begriff der nichtentfremdeten Arbeit; setzt voraus eine Diskussion der konkreten Möglichkeiten und Konsequenzen einer anderen, einer ganz alternativen Organisation von Arbeit. All das finden wir bei Marx nicht, weil er sich, beginnend mit der „Deutschen Ideologie“, einer ganz ausdrücklich normativen Askese befleißigt, die u.a. gewiß damit zu tun hat, daß er nicht unter Max Stirners Kritik an Idealen fallen wollte. So kann man in der „Deutschen Ideologie“ lesen: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal ..., (sondern) die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ Daraus ergibt sich seine Art, über Arbeit und Arbeitsverhältnisse zu sprechen, nämlich als die naturnotwendige Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse; und er trifft eine Prognose, daß es so nicht immer weitergehen kann, daß zum Schluß etwas kommen wird, was man als die 'proleta- Marx und seine Rolle in der Philosophie rische Revolution'; als die 'Diktatur des Proletariats' und vielleicht am Ende als 'Sozialismus-Kommunismus' bezeichnen kann. Aber darüber spricht man nicht näher; das wäre nicht wissenschaftlich. In Wirklichkeit spricht Marx implizit die ganze Zeit davon. Wenn Sie fragen: was ist denn der Begriff der 'nicht-entfremdeten Arbeit' bei Marx?... Simons: als Leitbegriff, als dauernd anwesender Leitbegriff... Ballestrem: so findet man ihn versteckt, fast verschämt hin und wieder, z.B. in den Kommentaren zu James Mill, wo er fragt: Was würde es denn bedeuten, wenn wir nicht mehr wie in der bürgerlichen Gesellschaft jeder für sich, sondern für den anderen produziert? Oder wenn er im Fetischkapitel des „Kapitals“ (MEW 23, S. 85 ff., Anm.) davon spricht, daß die Menschen einmal als freie Subjekte nach einem gemeinsamen Plan Gebrauchswerte produzieren werden, dann scheint er da auf, aber er ist nicht reflektiert und systematisiert. Und das empfinde ich als großes Manko im Marxschen Denken. Genau das, was sich Marxisten gewöhnlich zugute halten, daß ihre Theorie wissenschaftlich und nicht utopisch, kritisch aber nicht ethisch begründet sei, empfinde ich als ein Manko, weil etwas fehlt, weil sie auf die Frage jedes Einzelnen: „wie soll ich handeln?“, keine Antwort geben kann, weil sie nichts aussagen kann über Maximen des Handelns und über Ziele und über Zwecke des Handelns. Eine Diskussion über die konkreten Möglichkeiten einer nichtentfremdeten Arbeit gehörte zur Formulierung normativer Ziele. Simons: Darf ich das ein bißchen ausziehen. Daß das bei Marx nicht da ist, kann man schon daran ausmachen, daß ja eigentlich, nach seinem Plan, nach der „Kritik der politischen Ökonomie“, noch eine Handlungsund eine Organisationslehre stehen müßte, die in einer Staatstheorie gipfelte. Dieses, was Marx geplant hatte, ist ja dann nicht geschrieben worden. Ballestrem: Aber wie kommen Sie darauf, daß die geplante Staatstheorie eine Handlungstheorie sei?! Rundtischgespräch Simons: Das würde ich mal so unterstellen, daß er das hat machen wollen oder müssen. Treptow: Das hat er dem Plan nach tatsächlich machen wollen, er hat das immer systematisch ausführen wollen. Aber ich glaube, das würde das Problem, das Herr Ballestrem gestellt hat, bestehen lassen. Das Problem ergibt sich m.E. grundlegend daraus, daß für Marx eben die Praxis, d.i. letztlich die Praxis der Produktivkraftentwicklung, die Grundlage für die Theorie ist. Von seinem materialistischen Ansatz kann er keine theoretische Antizipation von Handlungsnormen, getrennt von der praktischen Entwicklung, machen. Das ist die logische Konsequenz seines Materialismus', daß der Gegenstand, d.h. die Natur und die gesellschaftlich produzierenden Individuen, insgesamt nicht noch einmal theoretisch ableitbar und erklärbar sind. Das sind die Voraussetzungen, die er macht: die Natur und die gesellschaftlich produzierenden Individuen, und die Theorie hat deren Bewegung und Entwicklung auf den Begriff zu bringen, kann also von sich aus, selbständig, keine Handlungsorientierungen und Normen, keine Postulate, aufstellen. Dementsprechend ist für ihn im Gegensatz zur traditionellen Philosophie die Philosophie nicht mehr selbständig, autonom. Darf ich noch folgendes sagen, weil noch einiges, was vorhin gesagt wurde, mir immer noch zu denken gibt. Also, der Arbeitsbegriff, der angesprochen worden ist, beinhaltet doch nicht nur die Reproduktion der Gattung; sondern der Arbeitsbegriff ist so gefaßt von Marx, daß eben durch die Entwicklung der konkreten, gebrauchswertproduzierenden Arbeit und durch die Entwicklung der Produktivkraft die Menschen sich selbst erst hervorbringen. Damit schließt er auch ausdrücklich an Hegel an und sagt sinngemäß: „das Große und das Verdienst der Hegelschen 'Phänomenologie' ist, daß sie die Selbstverwirklichung durch die Arbeit faßt, wenn auch im Element des Geistes“. Also, Arbeit ist mehr als Reproduktion der Gattung, ist Hervorbringung des Menschen, Selbstverwirklichung, ist das, wodurch Freiheit zustande kommt. Jantzen: Aber die Arbeit bleibt zurück! Marx und seine Rolle in der Philosophie Treptow: Die Arbeit bleibt die Grundlage der freien praktischen Entwicklung der Menschen, auch da, wo sie noch Knechtsform hat, auch da, wo sie noch untergeordnet ist unter die abstrakte Arbeit. Die Auflösung dieses Widerspruchs kann also nach Marx auch nicht durch Postulate erfüllt werden oder am Maßstab von Idealen; die Auflösung sieht er doch wohl aufgrund dieser Dialektik von konkreter und praktischer Arbeit selbst, d.h. daß das Proletariat sich selbst befreit, indem es schließlich diese Unterordnung unter das Kapital, den Verwertungsprozeß, beseitigt. Zur Frage der sozialistischen Organisation der Arbeit wollte ich nur noch das sagen, was Marx selbst in der „Kritik des Gothaer Programms“ ausgeführt hat, daß das Prinzip der abstrakten Arbeit, das Prinzip: „Jedem nach seiner Leistung“, auch noch in der sozialistischen Gesellschaft gilt, und somit haben Sie in gewisser Weise Recht, zu sagen, daß die Produktion verallgemeinert wird. Es ist von Marx so gedacht, daß die warenproduzierende Gesellschaft und damit das Prinzip „. Jedem nach seiner abstrakten Leistung“ auch in dieser Gesellschaft noch beibehalten bleiben. Wichtig wäre auch noch die Frage nach der versteckten, unterdrückten Normativität, die bei Marx vorhanden sei. Also, mir scheint es so zu sein, daß Marx jedenfalls in seinem Selbstverständnis verzichtet auf Postulate und auf Normen, daß er vielmehr sagt, was zu tun ist, ergibt sich aus dem Widerspruch, der in sich eine Tendenz enthält, nämlich die Unterordnung der konkreten, gebrauchswertproduzierenden Arbeit unter die abstrakte Arbeit; diese Unterordnung, die sich in den Krisen immer wieder als brüchig zeigt, die ist zu begreifen. Das ist die Tendenz, die die Auflösung des Widerspruchs selbst beinhaltet. Würden Sie sagen, Herr Ballestrem, daß das eben von mir skizzierte Marxsche Selbstverständnis verfehlt ist? Oder wollen Sie sagen, daß er doch ein anders Selbstverständnis hat, daß er eine Normativität, Maßstäbe nicht-entfremdeter Arbeit enthält, die im Grunde nicht abgeleitet sind? Sie verstehen schon, was ich meine? Man kann so argumentieren: im Grunde hat Marx versteckt doch noch Normen, mit denen er herangeht an die Analyse der Verhältnisse, die er aber nicht explizit macht; das wäre das eine kritische Argument. Das andere ist, daß man sagt, er rekurriert tatsächlich auf Rundtischgespräch diese Widersprüche konkreter Arbeit abstrakter Arbeit, Lohnarbeit Kapital und er leitet tatsächlich von der Auflösung dieser Widersprüche die Zukunft der Entwicklung ab. Also, hat er eine unterdrückte normative Vorstellung, die er nur nicht zugibt? 'Gebrauchswert': normativer Leitbegriff der „Kritik der politischen Ökonomie“? Simons: Es ist m.E. einleuchtend unter einer Voraussetzung nämlich der, daß der Entwurf dessen, was da herauskommen soll aus der Kritik der bürgerlichen Welt und ihrer Revolutionierung, nur eine reine Utopie sei, die, bevor diese Welt und Gesellschaft eine andere geworden ist, nicht theoretisch bedenkbar ist. In diesem Sinne würde ich Ihnen Recht geben, aber trotzdem meine ich, hat Herr Ballestrem auch Recht. Man muß die Frage ja nicht so stellen, daß man über etwas theoretisiert, was noch gar nicht ist; da kann man sagen, das wollte Marx nicht. Man kann aber die Frage auch so stellen, wie sie Herr Ballestrem wohl auch gemeint hat, nämlich daß Marxens normativen Leitbegriffe präsent, andauernd präsent sind, wo man nicht mit dem Eindruck, das sind ja bloß rhetorische Dinge, sie gewissermaßen der Zukunft überlassen kann. Das wäre die falsche Applikation auf Geschichte und geschichtliche Gegenwartsund Zukunftszusammenhänge; sondern sie sind jetzt und hier schon die leitenden Maßstäbe von Revolution und Kritik. Und darin liegt vielleicht die Konkretisierung. Die „Kritik der politischen Ökonomie“ hat einen Leitbegriff, der kein kritischer mehr ist, das ist z.B. der 'Gebrauchswert'. Den Begriff des Tauschwerts kann die „Kritik der politischen Ökonomie“ noch kritisch denken und auch versuchen aufzuheben; der Grenzbegriff des Gebrauchswerts ist jedoch analog zu Kant ein „Ding an sich“, das jenseits der Erscheinung innerhalb eines Verwertungszusammenhanges, der eben diese Erscheinung konstituiert sich sozusagen als Gegenbegriff an der Grenze hält. Treptow: Wie könnte man denn überhaupt den Gebrauchswert und damit die Bedürfnisbefriedigung kritisieren? Marx und seine Rolle in der Philosophie Simons: Darauf will ich ja hinaus. Ich möchte sagen: dieser Grenzbegriff ist ein systematisch-normativer; im Grenzbegriff des Gebrauchswerts, genau wie im Grenzbegriff der konkreten Arbeit, bleibt dieser normative Charakter unter der Hand erhalten. Und da will ich doch mal fragen: Ist denn dieser Begriff des Gebrauchswerts so zu akzeptieren? Wäre es nicht besser, wenn wir denken, daß er unter der Hand eine Normativität in Anschlag gebracht hat? Denn der Begriff des Gebrauchswerts ist selbst dafür, wozu er beitragen soll, nämlich zur Humanisierung letztlich der Natur und Naturalisierung des Menschen m.E. unzureichend, weil er selbst ein Begriff ist, der noch innerhalb eines systematischen Rasters neuzeitlichen Natur und Menschenverständnisses steht. Ich will es jetzt mal historisch sagen: die antike Naturauffassung von Platon etwa hat auch so etwas gewollt, in der „Politeia“ etwa, Platon aber würde sich an den Kopf gefaßt haben. Ich kann doch nicht die Natur, den Kosmos mit diesem Begriff des Gebrauchswerts fassen. Das ist noch mal eine Abstraktion, die darauf hinausläuft, daß sozusagen dieser unter der Hand als normativer, systematischer Grenzbegriff 'Gebrauchswert' selber noch einmal einer Entfremdung unterliegt, d.h. einer Abstraktion, die, wenn man sie beläßt, im Grunde genommen bloß dazu führt, daß man zu einem Totalbegriff abstrakten Natur-, Menschen und Gesellschaftsverhältnisses kommt. Wenn man das nicht will, dann, meine ich,; muß man den Begriff des Gebrauchswerts noch mal kritisch hinterfragen. Wenn man das nicht tut, wird man unter der Hand normativ-dogmatisch. Treptow: Mit welchem Maßstab? Simons: Ja, das möchte ich dahingehend beantworten: Man kann ihn nicht an einem „Maßstab“ einer vielleicht einmal möglichen und zukünftigen, objektiven und realen Welt messen, sondern man muß ihn an einer Implikation des Produktionsprozesses selbst messen, an einer Präsenz des Produktionsbegriffs. Und dieser Produktionsbegriff muß folgendes leisten: er muß einen Vorgriff ermöglichen, damit Revolution auch sinnvoll stattfinden kann, ohne daß man diesen Vorgriff dadurch abwehrt und ablehnt, daß man sagt: „das sind ja Postulate“. Das ist ja gerade nicht postulatorisch , sondern das ist implikatorisch zu denken, sodaß ein Rundtischgespräch Produktionsverständnis als ein grundlegendes Mensch-Weltund MenschNatur-Verhältnis da und präsent gehalten wird, wovon her so etwas wie eine nicht-entfremdete Natur und eine nichtentfremdete Arbeit überhaupt, auch nur proleptisch, auszudenken ist. Oder, um es vielleicht verständlicher zu sagen: es gibt nicht nur eine Normativität, die irgendwo in der Zukunft auftaucht, sondern es gibt eine kritische Normativität, die in den Voraussetzungen des Hier und Jetzt liegen. Diese Voraussetzungen des Hier und Jetzt müssen selbst artikuliert werden und können auch, und da ich komme auf Herrn Ballestrem zurück wird es bei Marx zweideutig. Man kann eine allgemeine Abstraktheit unterstellen, und da kommt dann auch nichts anderes bei heraus; man kann es anders unterstellen, dann hat man vielleicht die Chance, daß das besser und anders wird. Verstehen Sie, was ich meine? Treptow: Da bin ich mir nicht so sicher. Simons: Also, daß nicht nur postulatorisch die Utopie da ist,... Treptow: Ja, das versteh ich. Simons: ... sondern, daß es zur wahren Dialektik gehört, die ein inneres Moment des Wechselverhältnisses von abstrakter und nichtentfremdeter Arbeit offenhält, wovon her solche systematischen Grenzbegriffe wie z.B. der Gebrauchswert selbst noch mal kritisiert werden können; denn sonst kommt es dazu, daß eine Kritik und Revolution im Grunde genommen ein 'Bedürfniswesen' Mensch und einen. Gebrauchswert 'Mensch' und 'Natur' fortschreibt, der m.E. die Abstraktion nur verallgemeinert und viel schlimmer macht, als es je in einer kapitalistischen Produktionsweise war. Deshalb finde ich, daß solche Begriffe, die in einer marxistisch-orthodoxen Debatte immer so als das absolute „Ding an sich“ dastehen, wie 'Gebrauchswert' (und es gibt eine ganze Reihe solcher Begriffe), daß diese nicht so stehenbleiben dürfen; und bei Marx bleiben sie eigentlich stehen. Da kommt mal raus, daß es anders sein müßte, aber es bleibt auch unklar, wie denn nun... Und in dieser Ambivalenz das hängt mit der Subjektivität vom Anfang zusam- Marx und seine Rolle in der Philosophie men bleiben dann die Grundbegriffe als Urvoraussetzungen der Marxschen Kritik offen, unausgesprochen und zweideutig dahinter. Und damit ist m.E. in einer marxistischen Debatte, aber auch in einer marxistischen Praxis, einer zweideutigen Auslegung Tür und Tor geöffnet. Ich meine, daß der reale Sozialismus dafür ein Indiz ist, daß man sozusagen die abstrakten Voraussetzungen annimmt und das Eigentliche nicht mehr denkt, das Eigentliche würde ich sagen, einer 'Selbstproduktivität' nicht mehr zu denken vermag, von woher dann auch so etwas wie 'Gebrauchswert' zu denken wäre. Ich will es noch mal mit anderen Worten sagen: Diese ganzen Begriffe 'Gebrauchswert' sind neuzeitliche Begriffe, die m.E.. das Verhältnis Mensch-Natur. oder auch das Verhältnis von Bedürfniswesen 'Mensch' und Bedürfnisbefriedigung unter einem Rahmen oder einem Raster sehen, der m.E. selbst noch kolossalisch verfremdet und entfremdet ist. Wenn man das nicht erklärt, dann ist der Marxismus wirklich nur noch eine allgemeinere Form des Kapitalismus, eines nicht mehr ökonomisch verwertenden Kapitals, sondern Form einer bestimmten Rationalität, eines bestimmten, der neuzeitlichen Rationalität aufsitzenden Kapitalismus; und das wäre noch ein viel schlimmerer Kapitalismus als der, den Marx überwinden wollte. Jantzen: Ich möchte gerne die Frage nach der Ontologie oder NichtOntologie des Gebrauchswerts etwas zurückstellen. Ich wollte mich der Frage von Herrn Treptow anschließen und vielleicht ein bißchen erweitern, ausgehend von der eingebauten oder nicht explizit gemachten Normativität. Simons: Ja, ja. Das meinte ich ja die ganze Zeit. Gebrauchswert ist ein normativer Begriff... Jantzen: Meiner Meinung nach könnte ein Rekurs auf den Arbeitsbegriff diese eingebaute Normativität vielleicht wieder auflösen. Meine Zusatzfrage an Herrn Ballestrem ist mir in der Diskussion vorhin gekommen, ob nicht eventuell das nicht explizite Aussprechen der Normativität verantwortlich ist für die Art und Weise, wie in populärer Form sagen wir mal in der klassischen Form, in der Kautsky den Marxismus vertreten hat. Stichwort: 'sozial-evolutionistisch'. Das wäre die direkte Konsequenz der Rundtischgespräch nicht ausgesprochenen Normativität in dieser Fassung von marxistischer Philosophie. Das liegt, vermute ich, sowieso in dieser Zeit evolutionistischen Denkens. Marx' Theorie der 'Dritten Person' Ballestrem: Ich glaube, daß da ein direkter Zusammenhang besteht. Man kann sagen, daß durch Kautsky noch das verstärkt worden ist, was bei Marx und Engels schon angelegt ist, nämlich die kritische Theorie der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft als einer Theorie wie manche modernen Philosophen sagen würden in der „dritten Person“ und nicht in der „ersten“ oder „zweiten“. Also eine Theorie, die versucht zu erklären aufgrund von Gesetzmäßigkeiten, warum bestimmte Gruppen, Klassen, Individuen auf eine bestimmte Weise sich verhalten. Sie suchen nach Ursachen und Gesetzmäßigkeiten, nicht nach Gründen; nicht eine Theorie, die anstelle von Ursachen Gründe nennt, anstelle von Gesetzen Maximen oder Prinzipien des Handelns und anstelle von Prognosen Zielvorstellungen oder Zwecke. Das sind doch zwei sehr unterschiedliche Arten von Theoriebildung. Eine Theorie, die praktisch werden will, was die Marxsche Theorie ja doch von Anfang an ganz eminent wollte, kann nicht darauf verzichten, eine Theorie in der ersten und zweiten Person zu sein; eine Theorie, die Gründe für das Handeln nennt, und nicht versucht zu erklären, warum unter diesen Klassenbedingungen und diesen ökonomischen Bedingungen die Menschen dann so und so handeln werden. Herr Treptow sagte vorhin, daß Marx erklärt, was zu tun ist in einer bestimmten Situation. Da steckt wieder genau diese Zweideutigkeit darin... Was heißt denn: „was zu tun ist“? Heißt das, daß man aufgrund bestimmter Analysen ökonomischer und sozialer Verhältnisse voraussagen wird, daß Proletarier in dieser oder jener Gegend der Welt ähnlich wie eine Katze, die in die Ecke gedrängt ist zum Sprung ansetzen müssen, weil sie sonst gar nicht überleben können? Man kann dann eine Prognose wagen, mehr oder weniger genau. Oder heißt „was zu tun ist“?, daß es dafür gute Gründe gibt, daß bestimmte Subjekte ein legitimes Interesse daran haben, auf bestimmte Weise zu handeln; ein Interes- Marx und seine Rolle in der Philosophie se, das sie gut vertreten könnten in einem Dialog, weil etwa ihre Interessen als Menschen in der Gesellschaft nicht zu ihrem Recht kommen; daß sie gleichzeitig gute Gründe in dem Sinne angeben können, daß sie sagen, wenn wir jetzt so handeln, dann lohnt sich das Ziel in dem Sinne, daß man diese Ziele artikulieren formulieren und auch Chancen der Verwirklichung angeben kann? Es ist sicher in der Zeit der Entwicklung der Arbeiterbewegung, also in der Zeit des Revisionismusstreits, genau das das Problem gewesen. Im Erfurter Programm wird eben diese Art revolutionär-deterministischer Theorie der 'Dritten Person' dargestellt, und dann im praktischen Teil des Programms werden konkrete, kleine Schritte angegeben, die mit diesem Ziel der Revolution unmittelbar gar nichts zu tun haben; wo dann die Frage entsteht: „wie soll die Sozialdemokratie eigentlich handeln“? und darauf bleibt die Parteiführung im wesentlichen eine Antwort schuldig. Daraus entstehen dann die sozialistischen Neukantianer und all das... Jantzen: Die Neukantianer noch nicht, aber die sog. Revisionisten. Aber würden Sie denn der verschärften Folgerung zustimmen, daß in diesem Fall die Marxsche Theorie der eingebauten Normativität wegen dann zu einem ganz gegen ihre Intention gerichteten Ergebnis geführt hat, wofür man nicht einfach den bösen Kautsky verantwortlich machen kann, insbesondere in der deutschen Arbeiterschaft Ende des letzten Jahrhunderts? Und daß umgekehrt erst der „voluntaristische“ Akt der russischen Revolution diese Theorie zu dem gebracht hat, was sie eben wollte, nämlich zur Veränderung von Praxis. Ballestrem: Nun, ich meine, den ersten Teil Ihres Satzes würde ich unterstreichen, daß der Attentismus eine der vielen möglichen Folgen der Theoriebildung ist. Ob das durch die Lehre Lenins oder besser Praxis in ein ganz anderes Gleis gelenkt wird, ist die Frage. Simons: Ja, genau. Der Leninsche Parteityp ist doch gerade der, der die Spontaneität des Handelns unterdrückt zugunsten einer Formierung von außen, wo gewissermaßen nur einer das Recht hat, spontan zu handeln, und das ist der Über-Chef; und dann wird von oben heruntergehandelt und diktiert. Diese versteckte Normativität, die es da gibt im Marxschen Rundtischgespräch Denken, führt genau zu einem Handlungsverständnis, das zwar objektiv Gesellschaftszwänge analysieren kann, aber genau nicht dies klar machen kann, wie aus objektiven Gesellschaftszwängen durch spontan gemeinsames Handeln herauszukommen ist. Das tut er nicht. Die versteckte Normativität drückt sich, wenn sie objektiviert wird, dann so aus, daß die Gesamtgesellschaft objektivistisch betrachtet und behandelt wird, Ballestrem: Aber Sie formulieren jetzt schon fast paradox, wie aus den Zwängen spontan gehandelt wird. Simons: .., oder werden könnte. Ballestrem: Herr Treptow, ich denke die ganze Zeit, was in Ihnen vorgeht. Aber vielleicht sollte ich Sie erst einmal fragen, ob Sie sich jetzt schon die ganze Zeit Gedanken über eine Theorie in der dritten Person und eine in der ersten und zweiten machen. Treptow: Also, zunächst scheint es mir eine Teilantwort zu sein, daß das Subjekt, das verantwortlich handelt, nicht beliebige Handlungsziele anvisieren kann, sondern daß es nur im Rahmen von objektiven Verhältnissen, die sich gesetzmäßig entwickelt haben, handeln kann. Es kommt darauf an, den Rahmen aufzudecken, in dem die Subjekte verantwortlich handeln und sich zur Geltung bringen können, „in der dritten Person“ ; die Gesellschaftstheorie klärt darüber auf und ist die Grundlage für die Ethik. Weder Hegel noch Marx haben die Ethik als eine selbständige Disziplin gesehen, Aristoteles übrigens auch nicht. Gesellschaftstheorie ist die Basis und steckt jetzt sozusagen den Rahmen ab, in dem das Subjekt verantwortlich handelt. Noch ein anderer Gedanke. Vielleicht haben Sie die Frage zu sehr so gestellt: Wie soll denn jetzt. ein Subjekt handeln verantwortlich? Ohne zu berücksichtigen, daß es immer schon handelt. Mir scheint, von Marx her gesehen, handeln die Subjekte immer schon, d.h. sie bringen ihre Interessen und Bedürfnisse zur Geltung soweit es die Herrschaftsverhältnisse, vor allem die Unterordnung unter das Verwertungsprinzip, zulassen. Also, bevor die Frage auftaucht: Wie handle ich jetzt sinnvoll, vernünftig, verantwortlich, wie bringe ich mich als Subjekt zur Geltung? Handelt Marx und seine Rolle in der Philosophie man immer schon, und zwar so, daß in letzter Instanz Handeln als 'Praxis' zu fassen ist, als Arbeitspraxis. Konkret für unsere Gesellschaftsformation heißt das, daß die Subjekte schon immer im Widerspruch stehen, daß sie zugleich mit dem zur Geltung bringen ihrer produktiven Tätigkeit und mit ihrer Handlungsweise in Widerspruch zu den Verhältnissen stehen, sich somit nicht vollends zur Geltung bringen können und so auch die Konsequenzen ihrer Handlung nicht absehen können. Marx analysiert im „Kapital“, wie etwas ganz anderes als Resultat herauskommt als beabsichtigt worden ist. Die Krise jetzt z.B. hat auch niemand beabsichtigt, sondern ist naturwüchsig. Hinterrücks hat sie sich ergeben und nicht als Resultat bewußter Intention der Individuen. Weder Kapitalisten noch Lohnabhängige wollen die Krise jetzt, und sie ist auch nicht deshalb da, weil sie sie wollen. Marx geht es doch gerade um dieses Sichso-zur-Geltung-bringen der Subjekte, daß sie dann auch Resultate zustande bringen, die sie selbst gewollt haben, und daß sie letztlich eben die eigenen Lebensund Arbeitsverhältnisse bewußt gestalten. Er analysiert aber, was das vernünftige, planvolle., bewußte Sich-zur-Geltung-bringen als Subjekte im Sinne der 'energeia' und der Selbstverwirklichung verhindert. Simons: Aber, weil Marx im Sinne der politischen Ökonomie das, was wir jetzt gesagt haben, so auslegt, daß nämlich eine strukturelle Handlungsunfähigkeit existiert, gesellschaftlich existiert, und er wahrlich mit Emphase sagen will, es kommt darauf an, diese interkapitalistischen Bedingungen, diese hinter dem Rücken der Individuen institutionalisierten Bedingungen struktureller Handlungsunfähigkeit zu lösen, dann ist es natürlich gerade bei einer solchen Sicht der Verhältnisse um so erforderlicher zu zeigen, wie man denn durch ein Handeln -·. und er sagt ja, man handelt immer schon -, durch ein revolutionäres Handeln, das scheinbar ein ganz anderes sein soll, diese strukturelle Handlungsunfähigkeit nicht verlängert und perpetuiert. Die Gefahr ist doch riesengroß. Und wenn man nicht will, daß die strukturelle Handlungsunfähigkeit durch eine sozialistische Revolution bloß perpetuiert und noch schlimmer gemacht wird, wie es der reale Sozialismus wohl auch durchführt, dann müßte man doch wirklich auch dem Marx die Frage stellen: „Wie können wir Rundtischgespräch denn gerade , wenn und weil es so ist, ein Handlungspotential freilegen, das trotz der Zwangsbedingungen struktureller Handlungsunfähigkeit diese nochmals so verändern kann, daß diese Strukturen der Handlungsunfähigkeit transformiert und nicht bloß perpetuiert werden?“ Auf diese entscheidende Frage, meine ich, gibt es bei Marx keine so entscheidenden Antworten, ja noch nicht einmal ein sehr entscheidendes kritisches Problembewußtsein. Denn sonst müßte er, zwar vielleicht nicht gleich eine große Theorie darüber entwickelt haben, aber müßte doch wenigstens sagen: „Also, das und das ist höchst gefährlich, das machen wir nicht; wir müssen darauf achten, daß wir nicht strukturelle Handlungsunfähigkeit perpetuieren.“ Zumindest im ganz weiteren Verlauf dessen, was nach Marx dann kam, wurden alle Ansätze, die diese Probleme begriffen haben, ich meine etwa Rosa Luxemburg und ihr Konzept eines kommunikativen Handelns ja sehr schnell in einem Parteibild, wo das stört, in die Ecke gedrängt. Womit man wieder sagen kann: vielleicht liegt das nicht an irgendwelchen Marx-Nachfolgern; vielleicht ist das eine Zweideutigkeit bei Marx selbst. Was ihm aber nicht so bewußt geworden ist, wie es sich eigentlich gehörte in einer Theorie der strukturellen Handlungsunfähigkeit, in der alles darauf ankommt, genau die Potentiale freizusetzen, auf die man sich dann einlassen muß, um die Struktur von Handlungszwängen abzubauen. Ich würde sagen, die Hauptrichtung der Marxschen Begriffe ist eher die, die in Richtung einer Perpetuierung zu gehen scheint. Ich würde gerne wissen, wo das nicht der Fall ist. Ein Ansatz bei Marx ist etwa der berühmte Satz, daß „die Erzieher selbst erzogen werden müßten“; und er hat dann angedeutet, daß es hier um einen selbstschöpferischen Akt gehen muß, weil man Erziehung nicht immer bloß delegieren und sagen kann, die werden erzogen von den Erziehern und die werden von anderen erzogen. So liefe das Problem bloß regressiv oder progressiv. Man muß doch dann mal auf die Idee kommen: es scheint so etwas wie eine selbstschöpferische Kraft des Handelns geben zu müssen, damit Erziehung etwa nicht immer in einen unendlichen Regreß zurückfällt. Und damit sind wir auch wieder bei dem Hauptthema: Was ist denn die Handlungsmotivation der Revolutionäre, wie ist ein Handlungspotential Marx und seine Rolle in der Philosophie möglich und welch ein Handlungspotential soll denn eine revolutionäre Gruppe darstellen? Dazu hätte ich noch gerne etwas gewußt. Treptow: Ja, da ist zum Beispiel die Schrift über die „Pariser Kommune“. Die sagt doch etwas darüber, wie man die Strukturen, die das Handeln im Sinne der Selbstbestimmung verhindern, überwinden kann; z.B. imperatives Mandat, daß sich Beamtentum und Bürokratie nicht etablieren fremd gegenüber den Individuen... Simons: Nun gibt es aber auch eine Fragestellung, die auf die Struktur des Freiheitsbegriffes selbst hinarbeitet und dies für denkbar hält. Sinnliche Gegenständlichkeit oder geistige Produktivität? Treptow: Da würde ich Sie gerne noch mal fragen, was Sie da meinten mit Marx' unkritischer Einstellung nicht gegenüber dem Arbeitsbegriff, sondern gegenüber dem Gebrauchswertbegriff. Mir kam es so vor, als wenn Sie da gegeneinander ausspielten: auf der einen Seite den Gebrauchswertbegriff, auf der anderen Seite die produktive Selbstentfaltung... Simons: Im Sinne von 'energeia'. Treptow: Das scheint nun bei Marx gerade doch eine Einheit zu sein: daß Marx die Menschen wesentlich als gegenständliche, bedürftige Wesen, gebrauchswertproduzierende Wesen bestimmt, und zwar so, daß dadurch ihre Selbstentwicklung, Selbstbestimmung zustandekommen kann. Daher liegt doch kein Gegensatz zwischen produktiver Entwicklung, Selbstbestimmung und Gebrauchswertproduktion. Aber das war, glaube ich, nur eine Seite Ihres Arguments. Ich habe nicht so ganz verstanden, worauf das hinausläuft, wenn man diese Voraussetzungen „bedürftiges Wesen“, „gegenständliches, sinnliches Wesen“, das sich die Natur durch die Arbeit aneignen muß, auf die Natur angewiesen ist, das selbst ein Naturprodukt ist wie diese Voraussetzungen noch einmal kritisch behandelt werden könnten. Von wo her, von welchen Maßstab her? Das ist mir noch nicht ganz klar geworden. Man könnte zu sagen versuchen, der Mensch sei gar kein sinnlich-tätiges Wesen, also konfrontationistisch 'was dagegen halten. Das wäre die eine Möglichkeit. Die andere ist, daß Rundtischgespräch man sagt, Marx selbst lasse etwas unausgesprochen, was noch ausgesprochen, entfaltet werden muß, und dann zeige sich etwas, was er nicht reflektiert habe. Aber den Punkt habe ich noch nicht genau begriffen. Simons: Also, den Menschen als Bedürfniswesen und die Natur als dasjenige, welches diese Bedürfnisse dann befriedigt, oder auch den anderen Menschen in diesem Schema der Bedürfniststruktur zu bestimmen, halte ich für eine typisch neuzeitliche und zwar als eine selbst schon neuzeitlich deformierte Konstruktion. Aristoteles würde sagen: „Ihr seid ja verrückt, wenn ihr meint, einen Polis-Kosmos-Zusammenhang dadurch herstellen zu können, daß ihr bloß das Bedürfniswesen 'Mensch' befriedigt, weil das Bedürfniswesen fix und statisch dasteht.“ Ich glaube, um mit Aristoteles oder Platon zu reden, wäre das doch so, daß der Mensch als Bedürfniswesen gar nicht existier+.,; nicht in dem Sinne, daß er kein Bedürfniswesen ist, sondern daß das Bedürfniswesen 'Mensch' ein sehr wandelbares ist und das, was die Bedürfnisse des Menschen sind, sehr analog zu begreifen ist. Es gibt Bedürfnisse nach Essen und Trinken, Das ist eine Art von Bedürfnissen. Darüber gibt es bei Aristoteles noch ein Bedürfnis nach 'theoria' im emphatischen Sinne von 'Feste feiern', Das ist eine andere Art von Bedürfnisbefriedigung und das Bedürfnis nach 'theoria', also im emphatischen Sinne, korrespondiert mit einem ganz anderen Bedürfniswesen 'Mensch' als das Essen und Trinken das Bedürfnis befriedigt. Ja, nun passen Sie mal auf, Herr Treptow. Wenn man ökonomisch gewissermaßen das Essen, Trinken, Schlafen usw. verallgemeinert und sagt: das ist der Mensch, dann hat man natürlich ein bestimmtes Bedürfnis und Bedürfniswesen festgeschrieben, und damit korrespondiert dann auch das Bedürfnis nach Natur. Wenn man das nicht festschreiben will, dann muß man m.E. das Bedürfniswesen 'Mensch' analog, offen, transformabel beschreiben und sagen: es gehört zu einem elementaren Bedürfnis des Menschen, Erkenntnis haben zu wollen. Und diese Befriedigung des Erkenntnisstrebens des Menschen ist ein so elementares, daß Aristoteles sagen würde wenn ich das so formulieren darf -, ohne Bedürfnisbefriedigung des Menschen durch 'theoria' ist überhaupt aus der Entfremdung nicht herauszukommen. Ich würde also so sagen, der Gebrauchswert, und das Bedürfniswesen 'Mensch' Marx und seine Rolle in der Philosophie dadurch auch, ist viel zu sehr gegenständlich bestimmt. Die Antike würde sagen ich werde dies mal ganz kraß formulieren -. „ohne den delphischen Kult, wo ein Apollon spricht 'gnoti seauton' (Erkenne Dich selbst), ist es nichts mit unserer Polis“. Wenn wir das nicht beibehalten und die Frage ist, wie das dann ein Sozialismus beibehalten will -, dann ist es nichts mit der Aufhebung der Entfremdung; dann könnt Ihr unter Umständen vielleicht das Essen Trinken und Wohnen etwas anders regeln. Aber der Mensch wird ein um so schlimmerer Sklave, wenn Ihr das 'gnoti seauton' hinausschmeißt aus eurem ganzen Konzept: Wenn Ihr das nicht wollt, müßt Ihr zeigen, wie Ihr in Eurem Begriff von Produktivität und in Eurem Handeln eine solche Produktivität gegenwärtig haltet; dann ist das 'gnoti seauton' möglich und wirklich, ist gesellschaftlich. Jantzen: Ich weiß nicht. Jetzt wird es ein bißchen gefährlich. Ich habe das Gefühl, daß hier das Wort 'Bedürfnis' doch leicht äquivok verwendet wird. Simons: Das kann so gerade das Gefährliche daran sein. Jantzen: Es ist durchaus unterschieden worden, daß eine andere Lust beim Essen und Trinken entsteht als die Lust, die mit Erkenntnis zu tun hat. Weil man jeweils das Wörtchen „Lust“ und das Wörtchen „Bedürfnis“ verwenden kann, das nun ohne weiteres in ein und dieselbe Schublade zu tun, würde ich für gefährlich halten. Ballestrem: „en haben Sie jetzt zitiert? Wer unterscheidet...? Simons: Platon. Ballestrem: Platon, das sagt er, ja. Herr Jantzen meint, daß der neuzeitliche Begriff, sprich Marx in diesem Fall, diese Art von Unterscheidung nivelliert. Rundtischgespräch Simons: Ja, ich würde mit einem Satz sagen, Platon kennt auch Bedürfnisse, aber von einem Naturwesen, Selbstwesen, Vernunftwesen 'Mensch'. Also das, was er Logoswesen oder Eroswesen nennt, wobei die Bedürfnisse einen ganz anderen Stellenwert haben, wenn man das Logos-ErosWesen 'Mensch' wegläßt und nur das Physiswesen nimmt. Jantzen: Herr Simons, das ist klar. Ich warne nur vor der Gefahr, jetzt das Wörtchen 'Bedürfnis' in einem Sinn zu verwenden, daß dann undifferenziert alles vorgemerkt werden kann. Jetzt kommen wir zu Platon. Erinnern Sie sich an die 'Politeia'? Dort ist von 'Bedürfnis' die Rede, sprich von Schweinestaat, der keineswegs der wahre Staat ist, den er dann erst konstruiert. Inwiefern da diese moderne Trennung präformiert ist, hier Gesellschaft als das, was wie auch immer organisiert die Bedürfnisse befriedigt, dort der Staat, der wie auch immer... Simons: Eben... das System der Bedürfnisse, nur als dieses. Das bezeichnet die bürgerliche Gesellschaft und gerade nicht das Organon 'Staat'. Jantzen: Ja genau, daran hatte ich auch gedacht. Und auf der anderen Seite der Staat als Idee der Verwirklichung von Sittlichkeit, die über die gesellschaftliche Organisation hinaus die in der Gesellschaft lebenden Menschen miteinander verbindet. Das ist, glaube ich, als Abstraktion denkerische Willkür, diese Trennung von 'hier Gesellschaft da Staat'; eine denkerische Willkür indessen, die konkret Geschichte bedeutet. Simons: Ja aber das ist doch, bitte schön, seit Hegel das Hauptproblem; soweit waren wir ja mit Hegel schon. Das wollen wir ja nicht mit Marx dahinter zurückfallen. Wie das System der Bedürfnisse in einem Staat, oder sagen wir besser in einem „Freiheitskörper“ zu integrieren ist; oder anders herum, wie denn der Fremdkörper des Systems der Bedürfnisse im Freiheitskörper sprich Staat integrierbar ist! Das hatten wir doch bereits in der Rechtsphilosophie Hegels. Daß da natürlich der moderne Widerspruch drinnen ist, ist mir auch klar, nur.... Marx und seine Rolle in der Philosophie Ballestrem: Ja, da kommtdas muß man zur Ergänzung jetzt noch sagen natürlich die 'Kritik des Hegelschen Staatsrechts' gerade dahin, nun diesen Freikörper „Staat“ auf das System der Bedürfnisse zu reduzieren und... Jantzen: Das ist doch Marx. Simons: Ja, eben. Treptow: Ja, Augenblick. Da muß ich eben... Simons: Da wird es ja um so schlimmer. Wenn die Reduktion... Treptow: Das ist ja keine Reduktion. Simons: Sollte es eine Reduktion sein, dann wird die Lösung des Problems unter reduktiven Voraussetzungen um so schlimmer und die strukturelle Möglichkeit der Transformation um so schwieriger. Und ich möchte hier nochmals auf Sie zurückkommen, Herr Jantzen... Ich wollte ja nicht alles in einen Topf schmeißen, Ich wollte nur sagen, der Bedürfnisbegriff darf nicht univok, sondern muß analog verwandt werden. Man sollte mit Nachdruck darauf hinweisen, daß, wenn man von einem fixen Bedürfnisbegriff ausgeht, die Sache unlösbar wird; und dann würde ich schon mal das Gegenbild der Antike ein bißchen 'reinholen, weil das nämlich deutlich macht, meines Erachtens. Ballestrem: Jetzt würde ich aber sehr gerne hören, ob Herr Treptow dem zustimmen würde, daß Marx einen so reduzierten Bedürfnisbegriff hat. Treptow: Dem stimme ich nicht zu.. Mir scheint, Marx' Bedürfnisbegriff ist nicht so univok reduziert. Für Marx gibt es auch ein Bedürfnis nach Bildung und nach Erkenntnis. Erkenntnis... Simons: Sagt er doch nicht! Wo ist das verankert? Rundtischgespräch Treptow: Ja, Augenblick. Die Erkenntnis und Selbsterkenntnis über die Lage, die man im Produktionsprozeß einnimmt, durch die das Interesse ja definiert ist, ist sogar die Voraussetzung dafür, diese Strukturen., die das verantwortliche Handeln verhindern, zu durchbrechen. Sie ist sicher nicht die hinreichende, aber die notwendige Bedingung. Ich meine die Selbsterkenntnis über die praktische Lage. Aber es gibt doch auch für Marx kulturelle, geistige Bedürfnisse, Bedürfnisse nach Selbsterkenntnis. Der springende Punkt ist nur, daß sich für, ihn diese Bedürfnisse sozusagen von unten nach oben aufbauen im materialistischen Sinne. Das heißt... Simons: Ja, aber das könnte doch der Fehler sein. Treptow: Das ist jetzt eine andere Frage. Zuerst wurde gesagt: univoker, reduzierter Bedürfnisbegriff. Die zweite Frage ist, ob die „Hierarchisierung“ von unten nach oben richtig oder angreifbar ist. Zunächst möchte ich aber mal sagen: es gibt nach Marx vielfältige Bedürfnisse. Grundlegend sind jedoch für ihn die Bedürfnisse, das Leben zu erhalten, fortzupflanzen, essen, trinken, wohnen; damit hängen zusammen soziale, kulturelle, geistige Bedürfnisse, auch Bedürfnisse nach Erkenntnis, auch das Bedürfnis nach Wissenschaft selbstverständlich. Nun zurück zur Antike. Von Marx her gesehen ist gerade das ein reduzierter Bedürfnisbegriff, den Aristoteles hat. Aristoteles hat auch einen vielfältigen Bedürfnisbegriff und Lustbegriff, nicht nur im sinnlichen, auch im geistigen Sinne wird von ihm 'Bedürfnis' gefaßt. Aber für ihn umfaßt Praxis und das hatten Sie vorhin selbst schon gesagt nicht die 'poiesis', die Aneignung der Natur. 'Praxis' ist für ihn eben nur die zwischenmenschliche Beziehung, die Interaktion, Politik und Ethik, aber nicht Arbeit. Und das würde ich gerade als reduziert ansehen (eine Reduktion, die Marx ideologiekritisch deutet). Also, müßten wir nicht tatsächlich sagen, daß nicht der Marxsche, sondern der Aristotelische Begriff von 'praxis' und damit auch von 'Bedürfnis' eingeengt ist? Simons: Also, ich würde dem sogar zustimmen, daß man das bei Aristoteles so fragen kann, und daß bei Aristoteles dies zweideutig ist. Nämlich, Marx und seine Rolle in der Philosophie er ist insofern zweideutig, als er immer nur analytisch unterscheidet und dann immer zu größeren Unterscheidungen kommt; aber nicht mehr. zeigt, wie das Höchstunterschiedene, in dem, was er vorher wegunterschieden hat, enthalten ist, Da würde ich Ihnen Recht geben und würde auch nicht sagen, daß da bei Aristoteles eine Lösung ist. Ich will mit der Kritik nur sagen, das mag auch zweideutig sein daß das Problem aber immerhin schon bei Aristoteles aufgenommen ist. Bei Platon ist das anders. Er hat nämlich dieses analytische Trennungsdenken, was das Unterschiedene immer unter und hinter sich läßt, nicht. Also, da ist Platon klarer als Aristoteles. Aber lassen wir das erst einmal weg. Zur marxistischen Ideologiekritik: ökonomistische Reduktion oder Kritik falschen Bewußtseins? Simons: Nur, Herr Treptow, auf Ihre Ausführungen würde ich noch mal folgendes nachfragen. Ich gebe vollständig zu, daß bei Marx solche Formulierungen da sind, daß es ein Bedürfnis nach Bildung gibt, daß es Verhältnisse gibt; die dies verhindern, daß sich eben nur ein kleiner Teil bilden und der Rest sich nicht bilden darf usw...Aber das ist m.E. nur ein schöner Spruch, eine schöne Utopie, solange man nicht zeigen kann strukturell. -, wo denn jenseits der schönen Sätze von Marx in seinem Begriff von Produktivität und Revolution dieses genau verankert ist. Und wenn Sie hinweisen auf ein paar Dokumente, die man geschichtlich auflesen kann, würde ich sagen: „okay, haben wir, mag sein. Das ist aber noch nicht die Lösung des Problems.“ Denn dann könnte ich nämlich umgedreht auf einiges Geschichtliches hinweisen und sagen: ja, lieber Marx, Ihr lieben Marxisten, warum macht Ihr dann eine derartige Religionskritik, die nicht nur in Religionskritik, sondern im Religionsverbot besteht? Warum macht Ihr dann eine derartige Kulturkritik, die nicht nur in einer Kritik besteht, sondern auch in einem gewissen Kulturverbot? Warum bringt ihr nicht nur Kritik, sondern auch de facto Verbotsstrategien und Vermeidungsstrategien?“ Und gucken wir mal die deutsche und sonstige Arbeiterbewegung oder die Internationale darauf hin an, was da alles verloren gegangen ist. Also, ich gebe ja zu, daß das Amalgam von Staat und Religion zu Zeiten von Marx ein verheerendes war, daß man da erst einmal sagen mußte, mit dem Ganzen wollen wir nichts mehr am Rundtischgespräch Hut haben. Aber so simpel kann das einem guten kritischen Denker ja doch nicht unterlaufen, daß der dann das Ganze wegschmeißt und nur als Überbau behandelt. Da müßte man doch sagen: „Nein! Zu einer gesamtgesellschaftlichen Praxis gehört auch eine Gesprächspraxis, die, sagen wir ruhig, selbst in gewissen religiösen Verfassungen noch da war; und die wollen wir als Potential von Handlungen relevant machen für unsere Revolution und nicht von vornherein als beschämend ausschließen.“ Die deutsche Arbeiterbewegung war doch am Ende wirklich nur noch da, wenn es um die Lohntüte ging; und was bei der heutigen Gewerkschaft herausgekommen ist, ist Tarifpolitik, aber nirgendwo mehr eine Politik, die menschlich wäre und menschliche Potentiale freilegen kann. Jantzen: Aber das hängt wohl mit den Produktionsverhältnissen zusammen. Simons: Dies sehe ich auch. Und wenn man da empirisch einiges aufliest, was Politik ist da kann man in der Geschichte des Marxismus auch eine ganze Menge aufzählen -, dann kann man sagen, da sind ja ganz schöne Verbote erteilt worden, zumindest, wenn man den realen Sozialismus betrachtet, dann muß man sagen: Vorsicht vor diesen Generalverboten! Und die scheinen ja wohl zusammenzuhängen mit dem Begriff von Kritik und Revolution; und damit hängt ja auch implizit unsere Normativität zusammen. Diese Normativitäten wirken sich nicht nur geb-, sondern auch verbietend aus, und darin sehe ich in der Tat ein Dilemma. Wenn man nun sagt, das ist ja alles nur die empirische Erscheinung des Marxismus, darum brauchen wir uns weiter nicht zu kümmern, dann sage ich: gut, dann möchte ich aber wissen, wie aus einem Arbeitsverständnis, das nicht mehr entfremdet sein soll, diese Selbstverwirklichung des Menschen möglich und denkbar ist. Wo es dann am Schluß wirklich nicht mehr nur ums Essen, Trinken und Schlafen und Wohnen geht, sondern... Jantzen: Gattungsreproduktion... Marx und seine Rolle in der Philosophie Simons: ...und auch die Gattungsreproduktion, sondern um eine Art von Gattungsreproduktion und da werde ich wieder alteuropäisch -, wo Gott, Kosmos und Polis zur vollen Erscheinung und Offenbarung kommen können. Das möchte ich wissen. Ballestrem: Ich würde auch gerne einmal in diese Richtung fragen, vielleicht sogar ein bißchen pedantisch. Herr Treptow, wo finden Sie das eigentlich bei Marx, diese verschiedenen, höchst differenzierten Bedürfnisse, die Sie vorher genannt haben? Wenn man sich die „Deutsche Ideologie“ anschaut, wo von Bedürfnissen ziemlich viel die Rede ist, dann sieht man doch, daß Marx noch ganz unter dem Eindruck einerseits des deutschen Idealismus und andererseits seiner jung-hegelianischen, ehemaligen Freunde gegen die Fiktion kämpft, daß der Staat, die Philosophie, daß die Religion so etwas wie eine substantielle Sittlichkeit sein könnte, die man über dem System der Bedürfnisse errichtet. Der ganze Impetus seiner Kritik geht dahin zu zeigen, wie diese sogenannten höheren Bereiche der substantiellen Sittlichkeit in Wirklichkeit Funktionen des Systems der Bedürfnisse sind. Und dort ist dann die Rede davon, daß Philosophie, Religion, Rechtsverhältnisse, daß all das in einem System der Arbeitsteilung entsteht, wo es dann eine klassenmäßige Funktion hat...Z.B. der Priester als derjenige, der den Herrscher unterstützt, indem er legitimierende Ideologien entwirft usw. usf. Wo bleibt denn da diese ganze Substantialität? Gut, daß man das kritisiert, indem man historisch aufweist, daß es so eine Art Arbeitsteilung gegeben hat, möchte ich nicht in seiner Berechtigung bezweifeln. Aber wo sehen Sie dieses positive Gegenbild einer Gesellschaft, die eben anders wäre, in der diese Bedürfnisse nicht nur erfüllt wären, sondern eben auch sich aus der Natur des Menschen entfalten können? Treptow: Einen ganz kleinen Schritt, einen halben noch mal zurück. Herr Simons, Sie fragten vorhin nach dem strukturellen Ansatz, den man da bei Marx auffinden müßte. Z.B. denke ich da an das fünfte Kapitel im „Kapital“ über die Struktur der Gebrauchswertproduktion, die erforderlich ist in jeder Gesellschaftsformation. Da sagt er, daß zu dieser Arbeit, zu dieser nützlichen produktiven Arbeit, immer Momente der Antizipa- Rundtischgespräch tion des Arbeitsresultats gehören; also, die geistige Vorwegnahme des Arbeitsprodukts. Diese Teleologie des Bewußtseins und Selbstbewußtseins ist konstitutiv für jede Arbeit. Das zu Punkt eins. Ballestrem: Jetzt das Beispiel, wo er den Baumeister mit der Biene vergleicht... Treptow: Seite 193 (Gelächter). Das ist ja eine ganz wichtige Stelle, wo er die Struktur der Arbeit, sozusagen der ewig-notwendigen Arbeit darlegt. Daß der Mensch eben nicht instinktmäßig produziert, sondern bewußt. Da ist schon mal strukturell ein Arisatz. Aber jetzt geht es ja weiter. Jetzt kommt es zu diesen Fragen der besonderen Formen, in denen diese konkrete, immer notwendige Arbeit mit den antizipatorisch-geistigen Momenten steht, und da... Simons: Antizipatorisch, warum nicht implikatorisch? Treptow: Das steht ja nicht im Gegensatz. In jeder Arbeit ist immer implizit dieses Ausgerichtet-Sein auf das noch nicht Realisierte, aber Realisierbare. Und die Struktur dieses geistigen Aktes ist ein Hinweggehen über das, was gerade ist. Simons: Ja, es fragt sich nur: nach vorne oder immer schon von hinten, sozusagen vom Unten der Existenz? Ballestrem: Aber im Sinne technischer Rationalität in diesem Beispiel... Treptow: Im Sinne der produktiven Arbeit, die immer mittels Werkzeug und technischer Mittel stattfindet, die aber eben nicht trennbar ist von den Formen und damit von den Produktionsverhältnissen und dementsprechend auch von den sozialen Verhältnissen. Ballestrem: Ja, aber nur... sagen wir dies nochmals, um uns zu verstehen. Die Frage, die in traditionellen Analysen von Handlungen einen zentra- Marx und seine Rolle in der Philosophie len Begriff bildet, nämlich die der freien Entscheidung. Diese Alternative, dieser Ansatz ist ja zunächst einmal gar nicht da. Treptow: Also, wenn wir das thematisieren, würde ich sagen, hier stellt sich auch die Frage der Alternativen. Die thematisiert er da nicht, aber... Ballestrem: Das sagt Treptow! Treptow: ... aber aus dem Zusammenhang würde ich das Argument stark zu machen versuchen, daß man hier auch schon das Problem der Alternative auf dieser Grundlage sehen kann. Es gibt zumindest Alternativen hinsichtlich der optimalen Möglichkeiten für die Zwecke, die einsetzbar sind. Im übrigen könnte man auch hier ganz gut zeigen, daß für Marx diese Zwecke, diese teleologischen Akte eben nicht nur autonom gefaßt werden, sondern sie werden dialektisch rückgebunden an die Bedürfnisse. Für ihn sind Ziele, Zwecke dann letztlich das betrifft wieder die vorhin angesprochene Hierarchie der Bedürfnisse Ausdruck von Bedürfnissen und Interessen. Jantzen: Die Frage von Herrn Ballestrem wieder aufgreifend. Aber das ist nicht das, was Aristoteles die Verhaltens-, die Vorzugswahl nennt. Treptow: Genau das ist es in gewisser Weise. Die Vorzugswahl bei Aristoteles bezieht sich auch nur auf die Mittel, die Zwecke werden nicht gewählt in der Entscheidung des Aristoteles. Die Zwecke sind vorgegeben aufgrund der Struktur der Polis. Was man ,tun kann und muß, das wird gar nicht alternativ entschieden. Das ist vorgegeben. In gewisser Weise könnte man hier jetzt eine Analogie ziehen., sofern auch die Zwecke Ausdruck von Bedürfnissen sind. Die Zwecke selbst kann man nicht mehr beliebig handhaben. Also, da würde ich eine gewissen Entsprechung sehen. Aber jetzt zu der anderen Frage. Diese konkrete, immer Bewußtseinselemente implizierende Arbeit steht ja in besonderen Formen, und die produzieren besondere Ideologieformen. Ich habe bei Ihnen vorhin, Herr Simons, vermißt, daß Sie diese Unterscheidung zwischen ideologisiertem Bewußtsein und nichtideologisiertem nicht gemacht haben. Sie haben so getan, als ob alle geistigen Akte transformier- Rundtischgespräch bar seien, alle geistigen Produktionen jetzt zu diesem Leben und zu dieser Produktivität dazugehören. Dazu müßte man berücksichtigen, daß für Marx diese Ideologien ja nicht völlig verkehrt und verrückt sind, sondern die Realität erscheinungsmäßig widerspiegeln. Sie sind zwar falsches Bewußtsein, aber nicht total falsch. Sie sind auch richtig, insofern die Oberfläche der Verhältnisse adäquat wiedergespiegelt, aber nicht durchschaut wird. Also, mit anderen Worten, die Frage der Ideologie stellt sich hier. Und insofern Marx in der Ideologie im Gegensatz zu anderen Diskrepanzen von Sein und Bewußtsein einen realen Schein sieht und eine reale Grundlage erkennt, verwirft er ja auch mit der Ideologiekritik nicht den ganzen Überbau einfach. Auch die Religion ist der „Seufzer der bedrängten Kreatur“. Hier spiegelt sich ja ein reales Verhältnis. Alles das würde also dazugehören. Ballestrem: Aber gerade am Beispiel der Religion kann man ja zeigen, daß das Äquivalent auch in nicht-entfremdeten Verhältnissen nicht eine neue, ganz andere Religion ist, sondern eben keine Religion. Womit gerade dieses Beispiel doch nicht ausreicht um zu zeigen, daß diese Bedürfnisse bei Marx einen strukturellen Stellenwert haben. Simons: Ja, aber man kann immer sagen, Religion fällt weg als eine Extraveranstaltung gegenüber Wirtschaft und Politik; als Extra- und Sonderveranstaltung! Diese klassische Einteilung, das ist religiös, das ist politisch und das kann wegfallen. Aber es scheint immer noch so zu sein, als ob das Ganze... Ballestrem: Wir haben ja eigentlich nach den Aussagen von Marx-Texten, die ich kenne, keinen Anlaß zu glauben, daß es mit Ethik anders wäre als mit Religion. Obgleich das Prinzip „jedem nach seinem Bedürfnis“ zu seiner Verwirklichung ein neuartiges moralisches Bewußtsein vorauszusetzen scheint, haben Marx und Engels nichts über eine sozialistische Ethik der Zukunft geschrieben, sondern eher den Eindruck erweckt, es Marx und seine Rolle in der Philosophie handle sich bei der Vermittlung von Bedürfnissen und Interessen in einer zukünftigen Gesellschaft um einfache Organisationsprobleme. Treptow: Nehmen wir an, daß sich in der Gesellschaftsorganisation diese Frage stellt, wie sich das Individuum zu den allgemeinen Einrichtungen verhält, ja,... Ballestrem: Würden Sie sagen, das ist bei Marx offengelassen? Treptow: Ja, das ist offengelassen; nicht konkret ausgearbeitet, wie das zukünftig aussehen soll. Ethik, verstanden als bewußte, willentliche und handelnde Beziehung zu den allgemeinen Einrichtungen der Gesellschaft, in diesem Sinne bleibt die ethische Problematik immer bestehen. Jantzen: Ja, nur. ganz kurz. Das scheint mir nicht so zu sein. Nicht umsonst kreist die ganze Diskussion immer um diesen Punkt. Dies scheint also irgendwo doch systematisch angelegt zu sein, gekennzeichnet durch die klassische Unterscheidung 'poiesis' und 'praxis'. Der systematische Punkt ist, daß in der marxistischen Theorie das mit 'praxis' zu benennende menschliche Handeln Entscheidungen angesichts von Alternativen, Zielen und Zwecksetzungen und was auch immer systematisch reduziert wird auf 'poiesis', auf Arbeit. Treptow: Das ist Habermas' Interpretation. Daß die Interaktion wieder zur Geltung kommen müsse, weil von Marx Arbeit nur instrumentell verstanden werde. Arbeit ist für Marx aber die Einheit von Inhalt und Form, von Produktivkraft und Produktionsverhältnissen; also auch das, was Habermas dann 'Interaktion' nennt und gegen die 'instrumentelle Arbeit' zur Geltung bringen will. Simons: Also, Marx macht da .eine schöne Alternative auf. Die Stärke von Marx liegt m.E. in der Tat in seiner Einheit von Produktionszusammenhängen in Arbeit, Arbeitsverhältnissen, Produktion von Arbeitsverhältnissen usw. Ich muß gestehen, daß ich vor Marx keinen Denker finde ausgenommen vielleicht Hegel -, der diese ideologischen Verknüpfungen Rundtischgespräch auf gedeckt hat. Dies scheint mir auch wichtig gewesen zu sein und das ist Marxens historische Leistung. Die Frage, die jetzt ansteht, war schon immer die, werden nicht trotz dieser Einsicht in Funktionszusammenhänge ideologischer Art diese Funktionszusammenhänge so verallgemeinert, daß dann am Schluß wieder das herauskommt, was Sie sagen, nämlich, es bleibt nur 'poiesis' übrig. 'Praxis', geschweige 'energeia' im aristotelischen Sinne, ist nicht mehr vorhanden. Dann kommt man wieder auf die vorherige Fragestellung, das Bedürfniswesen 'Mensch' gerade wenn man es ideologiekritisch sehen und interpretieren kann und nicht nur den Einzelmenschen, sondern auch das Bedürfniswesen 'Gesellschaft'. Wenn man merkt, wie kompliziert das ist, dann muß man doch zugleich auf die Idee kommen, auf die Platon gekommen ist, und sagen, das mit der Bedürfnisbefriedigung ist ein derartiges Dilemma unter Umständen, daß es wirklich den Menschen an die Existenz geht; und daß unter Umständen die einzige Antwort die sein kann, auf das Leben zu verzichten. Und Sokrates tut das doch. Sokrates verzichtet auf seine physische Existenz, wo man sagen könnte: „nun hau doch ab, geh' doch 'raus aus dem Gefängnis, halte dich doch am Leben.“ Er sagt: „nein, es wäre eine politische und menschliche Unwahrheit, dies zu tun“. Diese Tat ist doch m.E. eine totale Sprengung des Bedürfniswesen 'Mensch' angesichts der Bedürfnisvernichtung, die da 'Tod' heißt. Und zugleich wird das Todesproblem auch ein Bedürfnisproblem. Muß nicht ein kritischer Marxismus sich genau diesem Problem auch stellen, das unter bestimmten vertracktesten Bedingungen ein elementares Lebensbedürfnis ist? Das war es ja auch in der Arbeiterschaft, die waren ja am krepieren. Wie stellt sich aber die Frage, noch weiterleben zu wollen oder nicht mehr weiterleben zu wollen? Man müßte da einen Begriff des Bedürfniswesen 'Gesellschaft-Mensch' ermitteln, der das Todesproblem, d.h. das Dilemma von Bedürfnisbefriedigung, auch radikal umfaßt. Und das hat Platon auch auf seine Weise gemacht, wo man das ja auch damals schon absehen konnte, daß die Revolutionäre nicht alle nur einen Spaziergang machen, sondern daß das für sie Todeseinsatz bedeutet. Und wie ist der zu legitimieren und von welchem Produktions- und Arbeitsbegriff her wäre das hier zu definieren? Die ganze Farce besteht sozialistisch darin, daß man die revolutionären Helden, die zu Tode gekommen Marx und seine Rolle in der Philosophie sind, beerdigt, aber wie denn? Mit welcher Sprache denn? Mit welchem Ritus denn? Daß man sie der Zukunft übergibt, aber die Frage gar nicht mehr stellen kann, wofür die denn eigentlich gestorben sind; und ob das nochmals aus dem Begriff des „gesellschaftlichen Wesens“ und des „Mensch-Wesens“ überhaupt zu vermitteln ist. Das, meine ich, ist sozusagen ein implizites Problem der 'Kritik der politischen Ökonomie'. Sie artikuliert nämlich nicht ihr implizites Todesproblem. Es ist geradezu eine Verdrängungsstrategie der ganzen bürgerlichen Gesellschaft, daß sie hier ein Todesproblem mit sich herumschleppt. Und gerade darauf will Marx eine Antwort geben und vermeidet diese Antwort. Ist es so oder nicht?! Der Marxismus im Lichte der Gegenwart: Probleme: Krieg und Frieden, Umwelt und Krise Jantzen: Noch mal. Der Ausdruck „Das ist Habermas“, das hat mich zum Verstummen gebracht. Simons: Entschuldigen Sie. Bei Habermas wird der Tod auch reichlich verdrängt! Jantzen: Genau. Darauf komme ich nämlich. Simons: Au, toll! Jantzen: Man müßte hinzufügen, daß möglicherweise bei Habermas eigentlich selbst noch die Revolution von 'praxis' der 'poiesis' zum Opfer fällt. Aber jetzt... Simons: Ist das nicht ein strategisches Verdrängungsproblem? Jantzen: Bei Habermas wird systematisch der Tod ausgespart. Man könnte vielleicht noch weitergehen. In gewisser Weise hat sich doch unsere Gesellschaft gegenüber der dort bestehenden ganz erheblich verändert. Es ist ja nicht nur so, daß es nur ein engeres Todesproblem ist. Es ist Rundtischgespräch auch nicht mehr unbedingt das Todesproblem von Sokrates, nicht mehr nur das Todesproblem des Revolutionärs oder der ausgebeuteten Arbeiter, sondern in gewisser Weise auch ein doppelt neuartiges Problem... Simons: Der Tod der Natur. Jantzen: Der Tod der Natur, genau. Da müßte man allerdings fragen, welche Art von Organisation der Produktionsverhältnisse dafür zuständig sei; ob eine andere den Tod der Natur wohl zu verhindern in der Lage ist. Und dann geht es, relativ konkret, um ein neues Todesproblem, das sich in der Form des nuklearen Krieges darstellt. Wir haben jetzt sozusagen „von hinten“ Kritik an Marx geübt. Man könnte doch auch versuchen, „von vorne“ Kritik an Marx zu üben, indem man sagt, das Marxsche Projekt gehört zum „Projekt des 19. Jahrhunderts“. Ich würde schon konstatieren wollen, daß dies Projekt, das der „Moderne“, hinter uns liegt. Aber damit wäre zu fragen, in welchem Verhältnis dies Todesproblem , die ökologische Katastrophe, der nukleare Krieg zu Marxscher Theorie steht. Und grundsätzlich wäre zu fragen, ob dies Todesproblem, um bei dem Ausdruck zu bleiben, aus jenem historistischen Projekt selbst folgt oder ob es ganz anders vielleicht Folge seiner unzureichenden, abgebrochenen Durchführung ist, und ob jetzt enger gefaßt dies die Nichtdurchführung des Projekts in seiner marxistischen Fassung bedeutet. Treptow: Ich möchte die Frage aufgreifen, aber etwas anders stellen. Ich sehe es auch so, daß die wichtigsten Fragen der Gegenwart diese beiden sind, die Sie meinen: die Bedrohung durch einen nuklearen Krieg und die Frage der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen; und drittens die sozial-ökonomische Krise. Und jetzt will ich meine Frage so wenden: Welche Theorie außer der Marxschen befähigt uns eigentlich, mit dem Problem kategorial umzugehen? Anders gesagt: Gibt es eine philosophische Theorie, etwa die metaphysische oder die positivistische, die sich uns so nahe legt, diese drei Probleme in Griff zu bekommen? Ist es nicht so, daß wir schon fast geradezu selbstverständlich mit Marxschen Kategorien da herangehen? Ich will das noch mal mehr zuspitzen. Wie mache Marx und seine Rolle in der Philosophie ich mich sozusagen heran an „Krieg und Frieden“, an Ökologie oder auch an das Problem der sozial-ökonomischen Krise? Sagen wir mal mit linguistischen Termini? Ich vermute auch nicht mit den Kategorien der Heilsgeschichte. Nehmen wir nur mal die Frage „Krieg und Frieden“. Das ist ja gerade Marx' Antwort auf den „Abstraktionismus“, daß er sagt, der Krieg wurzelt letztlich in ökonomischen Gegensätzen, die aber eine bestimmte staatlich-politische Form annehmen und zwar so, daß auch die militär-technologische Entwicklung im Zusammenhang steht und ihrerseits wieder in der staatlichen Politik verankert ist. Denken wir nicht schon wie selbstverständlich mit Marx' Kategorien, wenn wir etwa den weltweiten Antagonismus jetzt erfahren und versuchen zu reflektieren? Wenn dieser Atomkrieg droht, dann denken wir doch in ökonomischen Kategorien, in politischen, in militärtechnologischen Kategorien und verselbständigen sie nicht in der ein oder anderen Weise. Aber wir denken ja nicht: ist da ein Mangel an Liebe? Ab und zu kommt das schon vor. Weizsäcker hat z.B. diesen Antagonismus analysiert, militärtechnologisch, politisch, und letztlich kommt er dann dazu zu sagen: das ist aber ein Mangel an Liebe und Glaube. Dies ist aber nicht das, was Tag für Tag wahrgenommen wird, was wir etwa beim Aufschlagen der Zeitung oder Zeitschrift lesen. In der Regel denken wir ja schon wie selbstverständlich: 'ökonomischer Gegensatz politische Konfrontation militärtechnologischer Einsatz'. Ballestrem: Das wußte auch Kant übrigens! Ich würde ganz gerne auf einen Punkt noch von vorher eingehen und dann auf Ihre Frage kommen. Ich wollte noch etwas zum Tode sagen. In gewisser Weise thematisiert Marx den Tod, nämlich den individuell-gesellschaftlichen. Und das ist auch ein Beispiel dafür, wie bei Marx eine versteckte Normativität vorkommt, die dann sozusagen 'unter den Tisch fällt'; wenn Sie sehen, wie z.B. die Verelendungstheorie im „Kommunistischen Manifest“ auftaucht. Dort heißt es, daß die Klasse, die den Wert in der bürgerlichen Gesellschaft schafft, von ihr nicht ernährt werden kann. Da sieht man ein klares normatives Prinzip: diejenigen, die den eigentlichen Wert schaffen, das, wovon alle leben, werden selbst nicht mehr ernährt. Das ist, wenn Sie so wollen, ein normatives Paradox sondergleichen. Das Rundtischgespräch wird aber nun, wenn man etwa das 23. Kapitel des „Kapitals“ anschaut ('Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation', Anm.), mehr eine Theorie der Dritten Person mit prognostischen Konsequenzen: es kommt dann schließlich mal zur Expropriation der Expropriateure. Empirische Revolutionstheorien zeigen aber, daß dies gar nicht stimmt, daß also gar nicht in dem Maße, wo eine Klasse mehr und mehr verelendet ist, diese bereiter ist zur Revolution. Tocqueville und neuerlich andere haben das bestätigt. Das stimmt überhaupt nicht! Nein, worum es Marx eigentlich ging bis zum Schluß, so glaube ich, war, daß denjenigen, die den Wert unserer Gesellschaft schaffen, ein eminentes Unrecht geschieht, und sie deswegen sehr legitimiert sind zu einer Revolution. Jetzt zu ihren drei Punkten: Krieg - Frieden, Ökologie und ökonomische Krise. In gewisser Weise gebe ich Ihnen recht, daß das, was wir dazu sagen, wenn wir überhaupt uns darüber klar werden, Marxsche Gedanken impliziert, die aber und ich glaube wie mein Zwischenruf „Kant“ gezeigt hat nicht unbedingt ausschließlich oder zuerst Marxsche Gedanken sind. Daß es allgemeine Zusammenhänge gibt zwischen Ökonomie und Politik, ist etwas, was viele Denker des 18. Jahrhunderts ich denke nur an die schottische Aufklärung, die die wesentlichen Gedanken der materialistischen Geschichtsauffassung entwickelt hat schon gewußt und gesagt haben. Ich werde einmal versuchen umgekehrt zu formulieren, daß bei Marx gewisse Punkte, die wir als essentiell zur Beantwortung dieser F ragen ansehen., entweder nicht vorhanden sind oder ganz bewußt unterlassen sind. Zu Krieg und Frieden: ich glaube, was bei Marx ganz und gar fehlt, ist eine Theorie der Nation und sogar der Identifikation der Arbeiterklasse mit ihrem Staat. Er geht doch sehr weitgehend davon aus, daß die Arbeiter sich eben nicht mit ihrem Staat identifizieren und kann deswegen die ganze Geschichte der Kriege seit seiner Zeit nur sehr schlecht erklären. Daß es also immer wieder, heute vielleicht weniger als zur Zeit 1870/71 oder auch 1914-18, aber immer noch eine Frage ist, wie es dazu kommt, daß ganze Völker, die sonst so sehr in sich zerstritten sind, plötzlich aufstehen und mit einer gewissen verrückten Begeisterung gemeinsam gegen andre losschlagen? Das Thema „Ökologie“: vielleicht ist es etwas vereinfacht zu sagen, aber auch nicht ganz falsch, daß im Grunde für Marx die wesentlichste Vor- Marx und seine Rolle in der Philosophie aussetzung der Emanzipation der Menschheit die Entwicklung der Produktivkraft war. Daß wir heute von diesem Wachstum der Produktivkräfte als solchem keine Lösung der ökologischen Krise erwarten, ist so klar, daß man es nicht zu erwähnen braucht. Treptow: Ja, die ungeplante, würde ich sagen. Ballestrem: Aber für Marx führt das ja erst einmal die Möglichkeit herauf. Treptow: Er kommt dann ja auch zur Planung., was und wie... Ballestrem: Ja, zumindest würde ich in diesem Fall nicht sagen, daß Marx hier etwas gesagt hat, was dem entgegensteht, aber daß das, was er sagt, auch keinen besonders interessanten, positiven Beitrag zum Thema „Ökologie“ ergibt. Und das Dritte ist die ökonomische Krise: Wenn Sie sich die Mehrwerttheorie als zentrale und, in Engels Augen, die große wissenschaftliche Entdeckung von Marx ansehen. Was hilft uns die Mehrwerttheorie zur Diskussion der ökonomischen Krise heute? Ich beobachte eins, daß sozialistische Theoretiker immer wieder darum bemüht sind, so etwas wie einen „Dritten Weg“ zu finden zwischen bürgerlicher Nationalökonomie und marxistischer Kritik der politischen Ökonomie, um an der Mehrwerttheorie in der Form, in der sie Marx formuliert hatte, vorbeizukommen. Diese hätte z.B. die Konsequenz, daß in einer Fabrik, in der zwei Arbeiter eine weitgehend automatisierte Industrie leiten, der gesamte Mehrwert aus dem lebenden, aus dem variablen Kapital stammt. Das würde Leute wie Ota Sik oder Garaudy als eine betont absurde Konsequenz erscheinen, die aber wiederum vermutlich auf einer dieser implizit normativen Voraussetzungen beruht, nämlich daß es beim Mehrwert im Grunde um Ausbeutung geht; und wenn Maschinen Mehrwert produzieren, man nicht mehr von Ausbeutung sprechen kann. Also, das sind drei Bemerkungen, um .anzudeuten, daß man vielleicht auch umgekehrt sagen könnte, Marx habe zu diesen zentralen Gegenwartsproblemen nichts besonders Interessantes beizutragen. Rundtischgespräch Treptow: Zunächst nehme ich mal an, daß es schon einen Zusammenhang gibt zwischen Mehrwerttheorie, speziell dem Mehrwertgesetz, und der Krise. Das Mehrwertgesetz beinhaltet, daß eine Diskrepanz auftreten muß oder ein Widerspruch zwischen der Produktionsausdehnung auf der einen Seite und der Realisierung des Mehrwerts durch Massenkaufkraft auf der anderen Seite. Mit anderen Worten: Marx zeigt, daß der Kern der Krise daran liegt, daß auf der einen Seite das Kapitalwachstum vorangetrieben wird so schnell wie möglich, und daß auf der anderen Seite eben dieses Kapitalwachstum nur realisiert werden kann, wenn in Entsprechung genau zu diesem Wachstum die zahlungsfähige Nachfrage da ist. Das ist für Marx der Kern der Krise. Ich will das jetzt gar nicht vertiefen, aber mir scheint, ohne diese Analyse bekommen wir die gegenwärtige Krise nicht in den Griff. Und damit hängt dann wieder die Frage der Ökologie zusammen. Marx macht ja dazu nur ein paar Bemerkungen im dritten Band des „Kapital“, u.a. daß die Erde nicht zum Eigentum werden darf und daß man die Erde auch der nächsten Generation verbessert zu übergeben, zu überlassen hat usw. Aber der springende Punkt ist ja für Marx, daß das Naturverhältnis erst dann „in Gefahr“ kommt, verkehrt zu werden, wenn die Produktivkraftentwicklung untergeordnet ist unter die Verwertungsverhältnisse. Marx nimmt an, daß erst dann, wenn das Kapitalwachstum als ein automatischer, selbständiger Prozeß beseitigt worden ist, die Produktivkraft sich frei entwickeln kann, und daß erst dann die Natur nicht automatisch zerstört wird. Das scheint mir wichtig zu sein: die Naturzerstörung zu verhindern, setzt voraus, daß eben die Natur nicht angeeignet wird als Mittel zum Kapitalwachstum. Simons: Der Zusammenhang, der besteht aber... Sie nehmen an, daß die ökologische Kriseein Verwertungsproblem ist und haben unterstellt, als sei das der Antagonismus zwischen kapitalisierten und sozialisierten Wirtschaften. Aber ist es nicht vielmehr so, daß der Ost-West-Gegensatz nicht der im Marxschen Sinne zwischen Kapital und Nicht-Kapital ist, wo das Kapital eben mit bestimmten Gesellschaftsschichten verwachsen ist; und der reale Sozialismus ist ein Staatskapitalismus. Im Grunde genommen ist der Gegensatz gar nicht der von Kapitalismus-Sozialismus, Marx und seine Rolle in der Philosophie sondern darin sind sie sich höchst einig. Also von meiner Sicht aus ist da kein Antagonismus gegeben. Treptow: Augenblick. In welchem Punkt sind sie sich einig? Simons: Sie sind sich einig in ihren Grundkategorien, in ihrer wissenschaftlichen, in ihrer technischen Auffassung von Welt. Das sind alles sehr europäische, neuzeitliche Kategorien. Treptow: Und wie erklären Sie sich dann den Antagonismus? Simons: Ja, passen Sie auf. Eben anders. Sie sind sich einig in ihrer ganzen Verwertungsmaschinerie. Der Sozialismus verwertet ebenso, nur staatlich, beutet die Natur noch schlimmer aus als der Westen und ist nur noch rabiater, rigoroser und brutaler. Das ist gar nicht der Gegensatz zwischen Kapital und Nicht-Kapital, das ist sozusagen gleich; nur daß das eine eben mehrere Gesellschaften sind, und das andere ist eben der Staat, der alles in den Händen hat. Aber in Wahrheit ist es im Marxschen Sinne das gleiche. M.E. liegt der Kapitalismus eben nicht mehr im Marxschen Gegensinne eines ökonomisch zu betrachtenden Sozialismus, sondern das muß wohl etwas anderes ein. Und da könnte ich mir vorstellen, daß der Weizsäcker recht hat: „die Menschheit braucht, um sich selbst zu behaupten, immer ihre Feinde“; und so braucht sozusagen die eine Seite die andere Seite. Das sind ganz andere Antagonismen, nämlich wie Weizsäcker sagt: ein Mangel an Selbstversöhnung und an gesellschaftlicher Versöhnung, der auch dann, wenn man alle ökonomischen Probleme abziehen würde, noch immer da wäre. Von da her gesehen, ist es wirklich der Mangel an Selbstversöhnung, der nach Befriedigung oder Frieden drängt. Nun könnte man sich ja mal fragen: Gibt es für diesen Mangel an Selbstversöhnung, der tiefer liegt als die Dinge, die nur das Essen und Trinken und sonstwas angehen, gibt es denn dafür Kategorien? Ich würde vermuten, daß dieser Mangel an Selbstversöhnung tiefer liegt als das marxistische Kategorien sagen können. Ich glaube, daß auch von daher eine marxistische Kritik anzubringen wäre; daß man um auf Ihren Beitrag, Rundtischgespräch Herr Treptow, einzugehen nicht nur die Frage der Mehrwerttheorie und eine Kritik daran, wie sie sich empirisch darstellt, untersuchen kann. Denn die Voraussetzung der Mehrwerttheorie ist ja ein ganz bestimmter Begriff rationalen Naturverhaltens; und genau dieser Begriff von Rationalität, der noch einmal jenseits aller empirischer Einzelheiten in der Mehrwerttheorie die Grundstruktur dieses Denkens und Handelns abgibt, scheint mir fraglich. Ich würde mal probieren, ob man nicht mit Marx gerade auch die Logik seiner Mehrwerttheorie transformieren kann auf einen anderen. sage ich jetzt mal antik auf einen anderen ' logos' hin, der dieses erste Falsche und allgemein Falsche an dieser Rationalität kritisiert. Ich würde vermuten, daß Marx, der ja im Grunde genommen ein Kind des 19. Jahrhunderts war, einem bestimmten Rationalitätsbegriff voll auf gesessen ist, den man heute kritisieren müßte. Ich glaube, daß es gar nicht mehr nur in einem ökonomischen Sinne um Kapitalismus oder Nicht-Kapitalismus geht. Es geht auch um einen 'Denk-Kapitalismus', einen 'Rationalisierungskapitalismus' als eine höhere, sublimere Art von Verwertung von allem und jedem. Das ist eine bestimmte Art von Rationalität au fonds den Menschen und alles und jedes verwertend und selbstverwertend. Diese Zwangsstruktur der Verwertungsrationalität ist vielleicht heute das Hauptproblem, das jenseits der öffentlich diskutierten Kategorien im Marxismus und Kapitalismus liegt. Vielleicht wäre eine Transformation von daher zu erwarten, daß man sagt: die moderne neue Rationalität ist es auch, die bestimmte Antagonismen und Nichtversöhntheiten mit uns selber und der Umwelt mit sich bringt. Dieser Befeindungszwang zwischen Ost und West und Nord und Süd ist vielleicht auch darin begründet, daß alle auf ein bestimmtes Weltverhältnis eingetrimmt sind, das die Neuzeit verinstitutionalisiert hat, und das man kritisch-revolutionär transformieren müßte. Mein Ausgangspunkt war ja die „Kritik der politischen Ökonomie“ nicht nur in bestimmten einzelnen Formen, sondern als Generalnorm eines bestimmten Begriffes von Rationalität, der selbst ganz unbefragbar blieb, den man mit Marx vielleicht auch noch einmal transformieren könnte, das aber de facto noch kaum tut; und daß es dieses neuzeitliche Rationalitätsverhältnis des Menschen zu sich selber, zur Gesellschaft und zur Natur ist, sozusagen superkapitalistisches Denken, das alles und jedes Marx und seine Rolle in der Philosophie verwerten muß. Dazu hätte man im Hinblick auf den antiken 'logos' dieses Denken transformieren müssen. In Wahrheit ist es ja wohl hier begründet: die Feindheit des Menschen mit sich, das Todes-, das Kriegsund Politikproblem, alle liegen darin begraben. Jantzen: Die drei Punkte. Ich möchte in einem noch etwas sagen und Herrn Ballestrem recht geben. Auch wenn man implizit mehr oder weniger bewußt in der Nationalökonomie, in den Sozialwissenschaften marxistische Theorien verwendet, dann folgt darauf noch nicht, daß man in diesen drei Fragen mit marxistischen Kategorien tatsächlich inhaltlich arbeitet oder arbeiten kann. Die - Herr Simons hat es auch gesagt - die Auseinandersetzung zwischen West und Ost als Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus als Klassenauseinandersetzung aufzufassen, scheint mir in der Tat etwas gewaltsam. Herr Ballestrem hat ja auch schon hingewiesen auf frühere Kriege, auf Auseinandersetzungen, die eigentlich einer Interpretation durch Klassengegensätze widersprochen haben. Nur über die Imperialismustheorie konnte man dann die Geschichte in etwa reparieren, und da wird es im Grunde schon schwierig beim Zweiten Weltkrieg. Was die Ökonomie betrifft, würde ich sagen, daß das Hängen an der Werttheorie, vor allem der Mehrwerttheorie, auch erhebliche Reparaturarbeiten notwendig macht und auch gemacht hat, etwa durch Robinson. Aber die Werttheorie ist der Kern. Ihre (Treptow) Reparaturarbeit geht dahin, den Gegensatz von wie man das nennt nachfrageorientierter und angebotsorientierter Wirtschaftspolitik sozusagen in die Marxsche Ökonomie hineinzuprojizieren. Aber eine solche Politik setzt eine in der Marxschen Theorie nicht vorgesehene Steuerung durch den Staat voraus. Die These, daß der leider gängige Antikeynesianismus Marx nachträglich ins Recht setzt, trifft meines Erachtens nicht. Der ökologische, dritte Punkt. Es gibt viele Äußerungen bei Marx, die man herausgreifen kann. In der „Neuen Gesellschaft“ ist ein schöner Artikel von Nenning: „Karl der Grüne“. Sehr lehrreich, und er findet. in der Tat einiges über die „Resurrektion der Natur“ usw. Aber im Kern hat Marx einen Sozialismus, wie ihn Landauer bestimmt, einen Sozialismus, der aus Dampf stammt, nämlich dem der Dampfmaschine, und für den, wie Dietzgen Rundtischgespräch sagt, die Natur gratis da ist. Was heute zu Ökologie gesagt wird oder was unter dem Schlagwort „Natur“ läuft, hat von vornherein eine andere Kategorialität als eine Marxsche, eher schon eine heilsgeschichtliche oder wie auch immer man das jetzt benennen will. Simons: Oder eine homerische. Jantzen: Das alles scheint mir jedoch nichts damit zu tun haben, ob die Marxsche Theorie richtig in diesem Sinne ist, sich bewahrheitet hat oder nicht. Ich würde eher sagen, daß er zur Bewegung des 19. Jahrhunderts, eben zum „historischen Projekt“ gehört. Und da man geschichtliche Bewegungen nicht schlicht als 'wahr' oder 'falsch' bezeichnen kann, kann man diese Kategorien von ,wahr', 'falsch' sicherlich auch nicht auf die Marxsche Theorie anwenden. Letzter Satz und da komme ich auf die ganz anfängliche Frage zurück -. die Marxsche Aktualität liegt vermutlich doch in Teilbereichen begründet, etwa weil wir hier in der Philosophie sind im philosophischen Anspruch von Marx, den er im Anschluß an Hegel formuliert hat. Treptow: Ja, ich möchte hier nicht das letzte Wort haben, aber wir kommen tatsächlich wieder zum Anfang. Gut, dann sollte das auch schon das Schlußwort gewesen sein. Die Redaktion dankt für das Gespräch.