gubaidulina bruckner - Münchner Philharmoniker

Werbung
GUBAIDULINA
Schlagzeugkonzert
»Glorious Percussion«
BRUCKNER
1. Symphonie
GIMENO, Dirigent
FÖRSCHL, Schlagzeug
GERASSIMEZ, Schlagzeug
HANNABACH, Schlagzeug
LEOPOLD, Schlagzeug
RUBINO, Schlagzeug
Mittwoch
14_06_2017 20 Uhr
Donnerstag
15_06_2017 19 Uhr
VALERY GERGIEV
Strauss
Ab 31. März im Handel erhältlich
SOFIA GUBAIDULINA
»Glorious Percussion«
Konzert für Schlagzeugensemble und Orchester
(in einem Satz)
ANTON BRUCKNER
Symphonie Nr. 1 c-Moll
2. Fassung von 1890/91 (»Wiener Fassung«)
1. Allegro
2. Adagio
3. Scherzo: Lebhaft, schnell
4. Finale: Bewegt, feurig
GUSTAVO GIMENO, Dirigent
SEBASTIAN FÖRSCHL, Schlagzeug
ALEXEJ GERASSIMEZ, Schlagzeug
JÖRG HANNABACH, Schlagzeug
MICHAEL LEOPOLD, Schlagzeug
SIMONE RUBINO, Schlagzeug
118. Spielzeit seit der Gründung 1893
VALERY GERGIEV, Chefdirigent
ZUBIN MEHTA, Ehrendirigent
PAUL MÜLLER, Intendant
2
»Damit die Kunst
lebendig bleibt«
SUSANNE STÄHR
ENTSTEHUNG
SOFIA GUBAIDULINA
(geb. 1931)
»Glorious Percussion«
Konzert für Schlagzeugensemble
und Orchester
(in einem Satz)
Die damals 76-jährige Sofia Gubaidulina
komponierte »Glorious Percussion« im Jahr
2008. Den Impuls dazu gab ein kollektiver
Kompositionsauftrag von gleich fünf Orchestern bzw. Ensembles: von den Göteborger Symphonikern, der Dresdner Philharmonie, dem Luzerner Sinfonieorchester, dem
Philharmonischen Orchester Bergen und
dem Ensemble Anders Loguin und Kollegen.
WIDMUNG
Widmungsträger ist der schwedische Schlag­
zeuger Anders Loguin (1954–2011).
URAUFFÜHRUNG
LEBENSDATEN DER KOMPONISTIN
Geboren am 24. Oktober 1931 in Tschistopol (Tatarische Autonome Sowjetrepublik).
Am 18. September 2008 in Göteborg /
Schweden (Göteborger Symphoniker unter
Leitung ihres seinerzeitigen Chefdirigenten Gustavo Dudamel; Solisten: Anders
Loguin, Robyn Schulkowsky, Mika Takehara, Eirik Raude und Anders Haag). Der Erfolg der Premiere war so nachhaltig, dass
die fünf Schlagzeuger unter dem Namen
»Glorious Percussion« weiter gemeinsam
konzertierten. Der frühe Tod von Anders
Loguin im Jahr 2011 setzte dieser Zusammenarbeit indes ein jähes Ende.
Sofia Gubaidulina: »Glorious Percussion«
3
Sofia Gubaidulina
Sofia Gubaidulina: »Glorious Percussion«
4
DER SINN DES LEBENS
Als Sofia Gubaidulina noch ein kleines Kind
war, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, da gab es für sie nichts Aufregenderes
als den Konzertflügel, der sich im Wohnzimmer ihres Elternhauses befand. »Das
Leben war für mich damals ziemlich grau
und uninteressant, ich spürte die Armut.
Im Hof gab es keinen Baum, keinen Busch,
kein Stück Rasen. Ich hatte keine Puppen,
kein Spielzeug, keine Kinderbücher«, erinnert sie sich an ihre ersten Jahre, die sie
in Kasan in der tatarischen Sowjetrepublik
verbrachte. Der Flügel aber erschien ihr
wie eine bessere Welt, ein Zauberreich:
»Man konnte über die Tasten gleiten und
dabei die Pedale halten. Man konnte sich
darunter legen, wenn die Schwester spielte, und in den Klangströmen baden. Und
vor allem: Der Deckel ließ sich öffnen und
gab ein wunderbares Innenleben frei – das
war der eigentliche Tempel. Die Saiten,
über die man mit den Fingern streichen,
der Resonanzboden, gegen den man klopfen konnte. Ich brauchte keinerlei pianistische Fähigkeiten und konnte dem Flügel
doch schon ganz früh die aufregendsten
Klänge entlocken. Das war die Rettung, das
war der Sinn des Lebens.«
AM ANFANG WAR DER RHYTHMUS
Die Lust am Experiment, an ungewohnten
Klängen und unorthodoxen Spielweisen hat
sie ihr Leben lang begleitet und ihr kompositorisches Schaffen beflügelt. Kein Zufall
ist es, dass Sofia Gubaidulina, die seit
1992 in der Nähe von Hamburg lebt, von
Anfang an eine besondere Vorliebe für das
Schlagwerk hegte. Denn in dieser Instrumentengruppe gibt es eine Fülle verschiedenster Klangerzeuger, hölzerne und blecherne, schnarrende und tönende, die ihre
Neugier weckten, nicht zuletzt, weil man
sie immer wieder neu kombinieren oder
auch »artfremd« behandeln kann. Schon in
ihrem Frühwerk setzte Gubaidulina die Perkussionsinstrumente prominent ein, etwa
in den Fünf Etüden, die sie 1965 für Harfe,
Kontrabass und Schlagzeug schuf. Später
entstanden sogar etliche Stücke für reines
Schlagzeugensemble, darunter das »Misterioso« für sieben Perkussionisten (1977),
»Jubilatio« für vier Perkussionisten (1979)
oder »Gerade und ungerade« für sieben
Spieler (1991). Dass sie mit »Glorious Percussion« 2008 ein Konzert für gleich fünf
Soloschlagzeuger und Orchester herausbrachte, erscheint deshalb – so ungewöhnlich die Besetzung auch ist – als ganz folgerichtig. Schon das Attribut »glorious«,
zu Deutsch: herrlich, prächtig oder ruhmreich, gibt Auskunft darüber, welchen Stellenwert dieses Instrumentarium für sie
einnimmt. In der Tat entfesselt Gubaidulina
hier ein unglaubliches Spektrum an Klängen, vom zarten, kaum hörbaren Flimmern
und Pochen bis zum mark- und bein­
erschütternden Fortissimo-Ausbruch.
»Die ganze Welt pulsiert«, bringt Sofia Gubaidulina den Grundgedanken des einsätzigen, doch mit 40 Minuten Spieldauer
recht umfangreichen Werks auf einen Nenner. Musikalisch kann dieses Pulsieren einerseits durch rhythmische Texturen zum
Ausdruck gebracht werden – »Am Anfang
war der Rhythmus« heißt nicht zufällig ein
weiteres Stück für sieben Schlagzeuger,
das sie 1984 geschrieben hat. Der Rhythmus sei für ihre Kompositionen, erläuterte
Gubaidulina einmal, wie das Wurzelwerk,
das einen Baum mit Wasser und Mineralien
versorge und ihn so überhaupt erst am Leben erhalte. Andererseits pulsiert aber
auch schon jeder einzelne Ton für sich allein, denn er basiert auf einer bestimmten
Sofia Gubaidulina: »Glorious Percussion«
5
Sofia Gubaidulina (2012)
Frequenz, auf Schwingungsverhältnissen,
die seine Höhe oder seine Lautstärke determinieren. Erklingen zwei Töne gleich­
zeitig, wird also ein Intervall gebildet, so
schwingt durch die Mischung der Amplituden noch ein dritter Ton mit. In »Glorious
Percussion« arbeitet Sofia Gubaidulina mit
allen drei genannten Varianten der Pulsation: auf der sofort hörbaren, äußeren Ebene durch die Rhythmisierung, in einer tieferen Schicht dann durch das Innenleben
der Einzeltöne und schließlich auch durch
die komplexer schwingenden Intervalle,
wobei sie bevorzugt Sekunden und Terzen
einsetzt.
UNGESCHRIEBENE MUSIK
Alle drei Ebenen greifen in der Partitur ineinander. Insgesamt dreimal bringt Gubaidulina die Klangbewegung im Verlauf des
Werks zum völligen Stillstand: Dann übernehmen die Schlagzeuger nur noch die Pulsation des vorangegangenen Akkords und
führen sie mit ihren Mitteln tonlos fort.
Ebenso wichtige Schnittstellen bilden die
eingefügten improvisatorischen Passagen.
An sieben Stellen des Konzerts dürfen die
fünf Solisten das musikalische Geschehen
nach eigenem Gutdünken fortspinnen, wobei sie natürlich auf den Kontext, sprich:
Sofia Gubaidulina: »Glorious Percussion«
6
auf das soeben Gehörte, reagieren sollen.
Die Improvisationspraxis hat Sofia Gubaidulinas Ästhetik wesentlich geprägt: 1975
gründete sie mit ihren beiden russischen
Komponistenkollegen Wjatscheslaw Artjomow und Viktor Suslin unter dem Namen
»Astreja« eine freie Gruppe oder, besser
gesagt, eine Art Werkstatt für alternative
Aufführungspraxis, in deren Rahmen das
Trio auf Zithern, georgischen Flöten und
anderen volkstümlichen Instrumenten ohne
notierte Vorlage musizierte, spontan wie
bei einer Jazzimprovisation. Auch öffentlich traten die Drei mit diesen Darbietungen auf und setzten so einen Gegenakzent
zum traditionellen klassischen Konzert­
leben. »Noch und nochmals segne ich den
Einfall, ungeschriebene Musik zu spielen«,
bekannte Gubaidulina später. »Das ist für
mich heute wie die Luft zum Atmen. Und es
scheint jetzt ganz klar zu sein, ohne diese
Musik hungert unser Unterbewusstsein.«
Durch den Einbezug der sieben improvisierten Passagen – es sind virtuose Intermezzi auf Stabspielen, Gongs und Trommeln – möchte Sofia Gubaidulina zugleich
an die Wurzeln der Musikgeschichte rühren: an weit zurückliegende Zeiten, als die
Notation noch lange nicht erfunden war.
Die Archaik, so glaubt sie, sei ohnehin ein
wesentliches Merkmal ihrer Musik. Tatsächlich fasziniert »Glorious Percussion«
durch seine geradezu elementare, erdverbundene Klanggewalt. Die auch viel mit der
Orchesterbesetzung zu tun hat, mit dem
schweren Blech aus Posaunen, WagnerTuben und Basstuben, mit dem sie erratische Klanggebirge auftürmt und Sogwirkungen entfacht, denen man sich kaum
entziehen kann. Demgegenüber stehen
geradezu immaterielle und ätherische Abschnitte von ganz ausgespartem Tonsatz,
fragil und flirrend, als würde man durch
das Weltall fliegen.
»MEIN INNERES DRAMA«
Die fünf Soloperkussionisten mit ihrem Instrumentenarsenal sollen vor dem Orchester platziert werden. Sie traktieren an die
zwanzig verschiedene Klangerzeuger:
Melodieinstrumente wie Xylophon und
Marimbaphon sind darunter, auf Tonhöhe
gestimmte Instrumente wie Röhren-, Glasund Bambusglocken, Triangel oder java­
nesische Gongs, aber auch Trommeln, Rasseln und Zimbeln, Holzblock und Tamburin.
Hinter dem Tutti korrespondieren mit dem
Solistenensemble noch drei Orchesterperkussionisten. Die diffizile Koppelung
der beiden Schlagwerkgruppen bezeichnete Gubaidulina als »mein inneres Drama im
Moment des Komponierens«. Sie löste es
dadurch, dass sie den fünf Solisten eine
wesentlich virtuosere, subtilere und raffiniertere Klangwelt zuwies, während die
Orchesterkollegen, ausgestattet u. a. mit
Pauken, Schellen, verschiedenen Trommeln
und Tamtam, eher massive und kraftvolle
Akzente beisteuern.
Eigentlich sei sie ein intuitiver Mensch, gesteht Sofia Gubaidulina – und genau so
mag »Glorious Percussion« mit seinem
Feuerwerk an Klangeffekten, mit seiner
unmittelbar sinnlich berührenden Ausstrahlung, auch auf die Hörer wirken. Ungeachtet dessen arbeitet sie mit strengen
architektonischen Prinzipien, tüftelt ihre
Rhythmen nach mathematischen Formeln
aus, errechnet Konsonanzen und Dissonanzen nach den präzisen Schwingungsverhältnissen der Intervalle. Dieses logische
Vorgehen sei für sie ein Korrektiv und Gegengewicht im Sinne einer idealen Balance,
Sofia Gubaidulina: »Glorious Percussion«
7
erklärt sie. Wie aber gelingt ihr der Spagat,
Konstruktion und Emotion so zu verbinden,
dass es ganz folgerichtig und natürlich erscheint ? »Ich wünsche mir, dass sich die
Kunst organisch entwickelt und nicht intellektuell aufgesetzt ist«, sagt Sofia Gubaidulina. »Ich habe einmal das Gleichnis des
Baumes gewählt, der jedes Jahr neue Triebe und Blätter zeugt: Er ist ein natürlich
gewachsenes Werk. Der Künstler muss hier
zunächst ein Gärtner sein, der den Boden
bestellt, das Wachstum fördert und in die
richtigen Bahnen lenkt. Die eigentliche Herausforderung dabei ist, die perfekte Verbindung zwischen der Spontaneität der
natürlichen Entwicklung und der Konstruktion des Eingriffs zu finden. Auf die Musik
übertragen heißt das: Die Energie der intuitiven Eingebung muss gepflegt werden,
damit die Kunst lebendig bleibt. Aber der
spontane Impuls bedarf der Bewusstwerdung. Die Natürlichkeit muss gestaltet und
auf einer höheren, durchgeistigten Stufe
wiedererlangt werden.«
Sofia Gubaidulina: »Glorious Percussion«
8
Nicht die
erste Symphonie
THOMAS LEIBNITZ
ANTON BRUCKNER
(1824–1896)
Symphonie Nr. 1 c-Moll
2. Fassung von 1890/91
(»Wiener Fassung«)
1. Allegro
2. Adagio
3. Scherzo: Lebhaft, schnell
4. Finale: Bewegt, feurig
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
Geboren am 4. September 1824 in Ans­
felden (Oberösterreich); gestorben am
11. Oktober 1896 in Wien.
ENTSTEHUNG
Neben zwei Versuchen mit später als
»Schularbeiten« deklarierten Symphonien
in f-Moll (1863) und d-Moll (1869) entstand von Januar 1865 bis April 1866 in
Linz Bruckners erste von ihm selbst als
»gültig« anerkannte Symphonie in c-Moll,
wobei das Adagio von 1865 erst ein Jahr
später seine endgültige Gestalt erhielt.
1890/91 überarbeitete Bruckner alle vier
Sätze in einer zweiten, der sogenannten
»Wiener Fassung«, in der zahlreiche der
unkonventionellen Besonderheiten der Linzer Urfassung zurückgenommen oder zumindest geglättet sind.
WIDMUNG
»Universitati Vindobonensi primam suam
Symphoniam venerabundus Antonius
Bruck­ner Doctor Honarius«. Anlässlich seiner Ernennung zum Ehrendoktor widmete
Anton Bruckner 1891 die 1. Symphonie der
Universität Wien.
URAUFFÜHRUNG
»Linzer Fassung«: Am 9. Mai 1868 in Linz
(im Rahmen eines Konzerts im Linzer Redoutensaal unter Leitung von Anton Bruckner). »Wiener Fassung«: Am 13. Dezember
1891 in Wien (Wiener Philharmoniker unter
Leitung von Hans Richter).
Anton Bruckner: 1. Symphonie
9
DAS GEGENTEIL
EINES WUNDERKINDES
SCHRITTE ZUR SYMPHONIE
Es dürfte kein bloßer Zufall sein, dass manche Komponisten assoziativ mit bestimmten Lebensphasen gekoppelt werden. So
wie etwa Mozart – das Wunderkind, der
übermütige Briefschreiber, der früh Verstorbene – als Inbegriff der Jugendlichkeit
gilt, stellt sich bei der Nennung des Namens »Anton Bruckner« unwillkürlich das
Bild eines alten Mannes ein. Fast alle zeitgenössischen Fotografien zeigen ihn in
vorgerückten Jahren, die Bruckner-Büste
von Viktor Tilgner – wahrscheinlich die beste Abbildung Bruckners, die wir besitzen
– stellt einen visionär in die Ferne blickenden Greis dar. Warum ist so wenig vom
»jungen Bruckner« die Rede ?
Bruckners 1. Symphonie, wiewohl so be­
titelt, war nicht sein erster Versuch auf
symphonischem Gebiet. Inspiriert von der
ersten Aufführung von Wagners »Tannhäuser« in Linz, einem musikalischen Erlebnis
von prägender Bedeutung, konzipierte er
1863 unter Leitung seines Lehrers Otto
Kitzler eine Symphonie in f-Moll (später als
»Studiensinfonie« bezeichnet). Das Werk
entstand innerhalb von nur vier Monaten,
zeigt zwar die Einflüsse der Vorbilder
Schubert, Spohr und Weber, kann aber als
bereits durchaus eigenständige Schöpfung
gelten. Dennoch versah Bruckner die Partitur später mit dem Vermerk »Schularbeit«
und nahm sie nicht in die Zählung der späteren Symphonien auf.
Dies liegt nicht an Versäumnissen der
musik­wissenschaftlichen Biografik, sondern an der merkwürdigen Tatsache, dass
Bruckners Entwicklung zu kompositorischer Individualität spät, sehr spät, erfolgte. Hätte Bruckner das Alter Schuberts
oder Mozarts erreicht, was besäßen wir
von ihm ? Einige Gelegenheitswerke für den
Gottesdienst, Klavierstücke und Chöre in
der Nachfolge Mendelssohns, Mengen an
Kompositionsübungen und Kontrapunktstudien, die zwar den äußerst gewissenhaften Studenten, kaum aber das zu
schöpferischer Aussage befähigte Genie
ausweisen. Und dennoch: War Bruckner
auch das Gegenteil eines Wunderkindes, so
mutet es doch wie ein Wunder an, dass auf
Jahrzehnte der Studien und der epigonalen
Kompositionsversuche schließlich ein Lebenswerk folgte, das an markanter Originalität seinesgleichen sucht.
So mancher Brucknerfreund vermutet ein
weiteres symphonisches Werk in chronologischer Platzierung vor der 1. Symphonie:
eine Symphonie in d-Moll, oftmals – aber
fälschlich – als »Nullte« bezeichnet. Lange
bestand in der Brucknerforschung Uneinigkeit in der Frage, ob dieses Werk vor oder
nach der 1. Symphonie entstanden sei; die
dokumentarischen Quellen belegen jedoch
1869 als Entstehungsjahr der Komposition, die zwar Züge des späteren Symphoniestils Bruckners trägt, vom Komponisten
jedoch verworfen wurde. »Annulirt« schrieb
er auf das Titelblatt; darauf bezieht sich die
unauthentische, aber sich hartnäckig haltende Bezeichnung als »Nullte«. Immerhin
wird hier bereits Bruckners selbstkritische
Distanz dem eigenen Schaffen gegenüber
deutlich, die ihn in späteren Jahren immer
wieder zu Neufassungen bereits vollendeter Werke veranlasste.
Anton Bruckner: 1. Symphonie
10
»... IN DIE SYMPHONIE
­EINIG’HETZT«
Zu den Mentoren des jungen Bruckner, die
in dem unbeholfenen Schullehrer und Organisten die außerordentliche schöpferische Begabung erkannten, zählt der Linzer
Beamte und Musikkritiker Moritz von Mayfeld. Nach der Konzertaufführung von
Bruckners Messe in d-Moll am 18. Dezember 1864 in Linz schrieb Mayfeld in seiner
Rezension: »Wohin diese Wege ihn [Bruckner] führen werden, ist bei seinem ungewöhnlichen Reichtum an Fantasie und bei
seinem musikalisch-technischen Wissen
schwer voraus zu sehen. Nur dies Eine
dürfte sicher sein, daß er schon in nächster Zukunft das Feld der Symphonie, und
zwar mit größtem Erfolge bebauen dürfte.« Dies war wohl nicht die einzige Gelegenheit, bei der Mayfeld Bruckner drängte,
sich als Symphoniker zu versuchen, was
dieser in späteren Jahren launig mit den
Worten kommentierte: »In die Symphonie
hat mi der Mayfeld einig’hetzt«.
Die 1. Symphonie entstand in Linz im Zeitraum zwischen Januar 1865 und April
1866. Ihre Uraufführung am 9. Mai im Linzer Redoutensaal trug dem Komponisten
ersten – wenn auch nur lokalen – Ruhm ein,
und sie bestärkte ihn zweifellos in seinem
Entschluss, die Übersiedlung nach Wien in
die Wege zu leiten. Dieser Neubeginn in der
Hauptstadt der Monarchie war ein Wagnis,
das Bruckner ebenso anstrebte wie fürchtete. Wenn auch viele der Befürchtungen
(mitleidlos scharfe Rezensionen, berufliche Schwierigkeiten) tatsächlich eintrafen,
so konnte doch nur Wien der Ort sein, wo
Bruckner sich zu dem Symphoniker von internationalem Format entwickelte, den
sein Gönner Mayfeld als einer der ersten
Zeitgenossen in ihm geortet hatte.
DIE SÄTZE
Einige Wesensmerkmale der unverwechselbaren »Bruckner-Symphonie« späterer
Jahre sind bereits in der »Ersten« ausgebildet: die Neigung zu Steigerungswellen
und zu »Kraftausbrüchen« des vollen Orchesters, ein motorisches Scherzo mit lyrischem Trio. Noch nicht zu finden ist hier
das Wiederaufgreifen der Thematik des
Kopfsatzes im Finale, womit Bruckner ab
der 2. Symphonie einen ideellen Bogen über
die Gesamtheit der Sätze spannt.
Der 1. Satz beginnt unmittelbar mit dem
Hauptthema: Über einem energisch pochenden Marschrhythmus erklingt ein motivisch feingliedriges, punktiertes thematisches Gebilde, das im Gegensatz zu den
Hauptthemen der Klassiker kein »Ende«
hat, sondern sofort in Entwicklung übergeht. Abspaltungen des rhythmischen
Kernmotivs führen zu einem ersten dynamischen Höhepunkt, dominiert von der
Blechbläsergruppe. In der Paralleltonart
Es-Dur folgt das kantable Seitenthema,
vorgestellt von erster und zweiter Violine.
Wie auch später bei Bruckner, hat die Linien­
führung der zweiten Violine keineswegs
bloß die Funktion einer »Begleitung«,
sondern kontrapunktiert die erste Violine
mit eigenständiger Melodik. Eine neuer­
liche Steigerung führt zum kraftvollen,
den Tonraum in großen Intervallschritten
durchmessenden dritten Thema (»mit
vollster Kraft«, wie Bruckner in der Partitur vorschreibt). Mit diesem Material bestreitet der Komponist die Durchführung,
die mit der Verarbeitung des dritten Themas beginnt und in ihrem weiteren Verlauf
das Kopfthema durch Sextolenfiguren der
tiefen Streicher verfremdet. Analog zur
Exposition, freilich nicht »wortgetreu«,
folgt die Reprise, die in einen energischen,
Anton Bruckner: 1. Symphonie
11
Anton Bruckner zur Entstehungszeit seiner 1. Symphonie (1868)
Anton Bruckner: 1. Symphonie
12
rhythmisch prägnanten Abschluss mündet.
Melancholisch und grüblerisch beginnt das
dreiteilig angelegte Adagio; vereinzelte
Seufzermotive finden sich erst nach längerer Einleitung zu melodischem Fluss zusammen. Eine Violinkantilene über der Triolenbegleitung der anderen Streicher führt
zu einer Steigerung im gesamten Orchester. Deutlich kontrastiert zu diesem ersten
Rahmenteil das lebhaftere Mittelstück des
Satzes (Andante); die Wiederkehr der Eingangsthematik erscheint gemilderter und
versöhnlicher. In diesem Satz hat Bruckner
sich von Vorbildern völlig emanzipiert und
Passagen von harmonischer Kühnheit gewagt, die auch den späteren Werken weit
vorauseilen.
Ebenfalls dreiteilig ist das Scherzo, das
die charakteristischen Merkmale der
»Bruckner-Scherzi« trägt: Dominanz des
Rhythmisch-Motorischen, hämmernde Wiederholungen, Fortissimo-Steigerungen. In
langsamerem Tempo und idyllischer Klanggebung setzt das Trio einen lyrischen Kontrast, ehe die Wiederholung des ScherzoRahmenteils einsetzt.
Wie der Kopfsatz entspricht auch das Finale im zugrundeliegenden formalen Konzept
der Sonatenform. Wieder werden drei Themen exponiert: Dem energischen Haupt­
motiv folgt ein Seitenthema mit einer spielerisch-heiteren Trillerfigur und schließlich
die Schlussgruppe im vollen Orchester. In
der Durchführung zieht Bruckner alle Register seiner kontrapunktischen Kunst;
Themenkombinationen und motivische Engführungen stellen an das strukturelle Aufnahmevermögen der Hörer einige Anforderungen. In der Reprise ändert sich der
Charakter des Hauptthemas: Statt des
»tragischen« c-Moll des Satzbeginns wendet sich das harmonische Geschehen nun
nach C-Dur, und in dieser Tonart findet der
Satz seinen breit und triumphal auskomponierten Abschluss.
URAUFFÜHRUNG IN LINZ
Als Bruckner sein Werk am 9. Mai 1868 im
Linzer Redoutensaal erstmals der Öffentlichkeit vorstellte, war der ohnehin kleine
Saal nur schütter besetzt. Ein Unglücksfall
wenige Tage zuvor – ein Schleppschiff hatte die Donaubrücke zum Einsturz gebracht
– lenkte das Interesse der Linzer Bürger
vom musikalischen Ereignis ab. Es war
schwierig gewesen, ein Orchester zusammenzustellen, das den hohen und ungewohnten Anforderungen der Partitur gerecht werden konnte; das Linzer Theaterorchester, verstärkt durch Mitglieder des
»Musikvereins« und kunstbegeisterte Dilettanten, tat sein Bestes, wenngleich der
Komponist in den Proben oftmals dringend
gebeten wurde, »unspielbare« Passagen
zu ändern.
Trotz der Unzulänglichkeit der Aufführung
errang Bruckner – vor allem mit dem 1. und
3. Satz des Werkes – respektablen Erfolg
und auch die Kritiken in der Linzer Lokalpresse zeigen, dass die Talentprobe wohlwollend aufgenommen wurde, obwohl es
nicht an Vorbehalten fehlte. Die »Tagespost« berichtete am 12. Mai 1868 über das
Konzert: »Die Sinfonie in C-moll, deren
Ausführung um ihrer ungeheuren Schwierigkeiten willen den Mitwirkenden zur
vollsten Ehre gereicht, zeugt wieder für die
große Begabung Anton Bruckner’s, entwickelt große, reiche Schönheiten, die jedoch
durch ein zu großes Haschen nach Effekt
verdeckt werden. Um die Instrumente feinsinnig zu gebrauchen, um jedes der einzel-
Anton Bruckner: 1. Symphonie
13
Anton Bruckner (Büste von Viktor Tilgner, 1891)
nen Tonwerkzeuge in seiner Sprache reden
lassen zu können, muß und kann dem In­
strumente eben nur das zugemuthet werden, was es zu leisten im Stande ist. Herr
Bruckner hat wahrscheinlich selbst Klang­
effekte anders gefunden, als sie ihm beim
Niederschreiben in der Partitur geklungen.« Moritz von Mayfeld bemängelte
ebenfalls das »Streben nach Effekt«,
sprach aber den Wunsch aus, dass Bruckner »bald eine seinen Fähigkeiten und musikalischen Kenntnissen entsprechende
Stellung in der Residenzstadt Wien finden
möchte, um seinem schöpferischen Schaffen mit Muße obliegen zu können«.
Anton Bruckner: 1. Symphonie
14
»LINZER« UND
»WIENER« FASSUNG
Die 1. Symphonie führte während der weiteren Lebenszeit Bruckners ein Schattendasein; die späteren, in Wien entstandenen Werke traten in den Vordergrund.
Josef Schalk und Ferdinand Löwe, die sich
als Schüler und Freunde des Komponisten
unermüdlich für ihn einsetzten, erkannten
die erstaunlichen Qualitäten des Frühwerks
und führten es – auf einzelne Sätze beschränkt – einem kleinen Kennerkreis vor.
So wurde auch Hermann Levi, der Uraufführungsdirigent des »Parsifal« und Förderer Bruckners, 1889 mit der 1. Symphonie bekannt und äußerte sich Bruckner
gegenüber begeistert: »I. Symphonie wundervoll!! Die muß gedruckt werden und gespielt – aber bitte – ändern Sie nicht zu
viel – es ist alles gut, wie es ist, auch die
Instrumentration ! Nicht zu viel retouchieren !«
Nicht nur Levi, auch Hans Richter, der Wiener Dirigentenstar der Zeit, konnte für die
Symphonie gewonnen werden. Bruckner
berichtete seinem Steyrer Kopisten am
1. November 1889: »Hofk.[apellmeister]
Hans Richter schwärmt unaussprechlich
für meine I. Symphonie. Er ist mir mit der
Partitur davongelaufen, läßt sie abschreiben und führt sie in einem philh. Concerte
auf, nachdem er mich weinend abgeküßt
und mir die Unsterblichkeit prophezeiht
hat.« Bruckner selbst allerdings hinderte
Richter daran: Wie bereits in vielen anderen Fällen übermannten ihn auch hier Skrupel und Zweifel. Obwohl Levi davon dringend abgeraten hatte, unterzog er das
Werk einer gründlichen Revision.
So verging ein Großteil des Jahres 1890
mit einer Neubearbeitung, die sich vorrangig auf Details der Instrumentation bezog
und den Charakter des Werkes merklich
veränderte. Während die »Linzer Fassung«
mit ihrem unbekümmerten Schwung, mit
»Frische und Wildheit« überzeugt, weshalb
Bruckner sie als »'s kecke Beserl« bezeichnet hatte, profitiert die »Wiener Fassung«
von der inzwischen 25-jährigen symphonischen Erfahrung des Komponisten.
WIDMUNG AN DIE UNIVERSITÄT
Im Herbst 1891 erfuhr Bruckner eine
Ehrung, die er als die größte seines Lebens
empfand: Die Wiener Universität ernannte
ihn zum Ehrendoktor. In feierlichem Rahmen fand am 7. November des Jahres die
Promotion statt, und Rektor Adolf Exner
beschloss seine Rede mit den Worten: »Wo
die Wissenschaft Halt machen muss, wo ihr
unübersteigliche Schranken gesetzt sind,
da beginnt das Reich der Kunst, welche das
auszudrücken vermag, was allem Wissen
verschlossen bleibt. Ich beuge mich vor
dem ehemaligen Unterlehrer von Windhaag.«
Bruckner, tief bewegt, widmete zum Dank
der Universität seine 1. Symphonie. Am
13. Dezember 1891 wurde sie, erstmals
seit der Linzer Uraufführung von 1868, in
der umgearbeiteten Fassung dem Wiener
Publikum in einem Konzert der Wiener Philharmoniker unter Hans Richter vorgestellt.
Anton Bruckner: 1. Symphonie
15
»Das kecke
Beserl«
GABRIELE E. MEYER
ERSTE BRUCKNER-AUFFÜHRUNGEN
IN MÜNCHEN
Ein Überblick über die Erstaufführungen
der Brucknerschen Symphonien zeigt – wie
schon in dem Anfang März 2016 erschienenen Beitrag über die 2. Symphonie ausgeführt –, dass vor der Gründung des
Kaim-Orchesters (spätere Münchner Philharmoniker) im Oktober 1893 einzig das
Königliche Hofopernorchester in der Lage
war, Bruckners Musik zu spielen. Mit dem
Hofopernorchester hob Hermann Levi zunächst die »Siebente« (1885), dann die
»Dritte« (1893) für München aus der Taufe. Franz Fischer, ein weiterer Dirigent der
Hofoper, hatte sich, für Levi eingesprungen, der »Vierten« angenommen (1890).
Danach stellten sich die Kaim-Musiker der
anspruchsvollen Aufgabe. Ferdinand Löwe
dirigierte die »Fünfte« (1898; Deutsche
Erstaufführung) und »Sechste« (1905),
Siegmund von Hausegger die »Achte«
(1900) und Bernhard Stavenhagen die
»Neunte« (1903).
Die »Zweite«, Bruckners »Zahme« hingegen erfuhr ihre erste Wiedergabe in München (und damit in Deutschland) schon
1897 und zwar durch ein Laienorchester.
Die Symphonie Nr. 1 wiederum scheint im
Frühjahr 1909 zunächst mehr schlecht als
recht exekutiert worden zu sein, höchstwahrscheinlich durch das 1908 gegrün­dete
»Tonkünstler-Orchester München«, wenn
man dem Rezensenten der »Münchner Zeitung« Glauben schenken darf. Diese neue
Vereinigung hatte sich während der weitreichenden Finanz- und Vertrauenskrise,
die schließlich zur Auflösung des KaimOrchesters im selben Jahre führte, einen
guten Namen gemacht. Nach der mit städtischer Unterstützung geglückten Revitalisierung und Umbenennung der alten Institution in »Orchester des Konzertvereins«
im Herbst 1908 − ein Teil der ehemaligen
Kaim-Musiker war trotzalledem beim Tonkünstler-Orchester verblieben − waren in
München zeitweise zwei Konzertorchester
zu hören.
DIE »ERSTE« UNTER
FERDINAND LÖWE
Schon in der Wintersaison 1910/11 kam es
zu einer neuerlichen Begegnung mit der
1. Symphonie. Ferdinand Löwe, der unermüdliche Bruckner-Adept, ging nun das
Bruckners 1. Symphonie bei den Münchner Philharmonikern
16
Wagnis ein, alle neun Symphonien seines
verehrten Lehrers in der Reihenfolge ihrer
Entstehung aufzuführen, wohlbemerkt nur
in den damaligen Druckfassungen. In dem
ersten Konzert des Zyklus am 17. Oktober
1910 stellte der Dirigent dem »kecken Beserl« noch Mozarts Bläser-Serenade B-Dur
und die symphonische Dichtung »Tod und
Verklärung« von Richard Strauss zur Seite.
Zwar verwahrten sich die Musikkritiker zunächst scharf gegen die »gerade grassierende Zyklomanie«, nahmen jedoch das
Vorhaben Löwes ausdrücklich aus, weil es
in der projektierten Gestalt ein bisher noch
ohne Vorgängerschaft dastehendes künstlerisches Unternehmen bedeute. »Nun will
uns aber Ferdinand Löwe mit der Vorführung der Bruckner-Symphonien im Laufe
einer Saison einmal ein übersichtliches und
vollständiges Bild von der künstlerischen
Persönlichkeit seines Meisters, ihrer Eigenart und Wesenseigentümlichkeit entrollen«
(Münchner Zeitung, 18. Okt. 1910).
PRESSEECHO
Bemerkenswert sind die Rezensionen schon
deshalb, weil hier nicht die ursprüngliche
Version der »Ersten«, in diesem Falle wäre
das die »Linzer Fassung« gewesen, zu Gehör gebracht wurde, sondern die 1890/91
entstandene Druckfassung, bekannt geworden unter dem Namen »Wiener Fassung«. Doch spricht der nicht namentlich
genannte Kritiker derselben Zeitung trotz
einiger Einschränkungen hinsichtlich Form,
Inhalt und Disposition von den schon »ganz
und gar unverkennbaren Zügen der Brucknerschen Art und Eigenwüchsigkeit: in thematischen und instrumentalen Gedanken
ebenso wie im Gesamtausdruck und Einzelwendungen«. Und er fährt fort, dass diese
Überlegung auch für den außer Frage stehen muss, »der das noch Ungeklärte an die-
ser ersten c-moll-Symphonie nicht über­
sehen mag und ihrem Inhalt im einzelnen
und der musikalischen Ausgestaltung mit
unterschiedlichem Interesse gegenübersteht. Wer aber besonders die weitere Entwicklung des Tondichters im Auge hat und
vergleicht, der wird an diesem Werke genug als bedeutsame Anzeichen und Anläufe, ja manches auch beträchtlich höher als
solche, zu würdigen wissen. Jeder der vier
Sätze bietet hinreichend Belege in dieser
Richtung, in jedem findet sich urechtester
Bruckner. Von besonderer Eindrucksstärke
erwies sich mir diesmal der erste Satz,
ebenso Teile des Adagio und der Schluß des
Finale, dessen anfänglicher Verlauf allerdings vielleicht am wenigsten zu fesseln
vermag.« Kritiker wie Zuhörer schienen
von der »glanzvollen Wiedergabe« gleichermaßen beeindruckt gewesen zu sein.
»Es war zum nicht geringen Teile das Verdienst Löwes, des berufenen BrucknerAnwaltes, der hier auch zur Einheit zusammenzuschweißen versteht, was manch
anderen leicht wie Stückwerk unter den
Händen zerbröckeln will.«
DIE »ERSTE« IN DER
»LINZER FASSUNG«
Anton Bruckners 1. Symphonie, der, nicht
zu vergessen, ein vom Komponisten später
als »Schularbeit« beiseite gelegter symphonischer Versuch in f-Moll (1863) vo­
rausgegangen war (ein zweiter Versuch, die
sogenannte »Nullte« entstand erst 1869)
erlebte ihre wenig beachtete Uraufführung
unter der Leitung des Komponisten am
9. Mai 1868 in Linz. Diese nach der Stadt
benannte »Linzer Fassung« war durch
Bruckners 1890/91 vorgenommene Um­
arbeitung und nachfolgende Drucklegung
in Vergessenheit geraten. Erst im Herbst
1934 sollte sie wieder erklingen. Den An-
Bruckners 1. Symphonie bei den Münchner Philharmonikern
17
lass zu dieser Aufführung am 2. September
1934 in Aachen unter der Leitung von Peter
Raabe gab die »Internationale Bruckner-Gesellschaft«, deren Vorgängerin die
1927 in Leipzig gegründete »BrucknerGesellschaft« war. Sie hatte sich satzungsgemäß der Herausgabe des Gesamtwerks
in »peinlich genauer Textkritik« verschrieben.
heute die ursprüngliche Form wohl als die
stärkere, originellere. Wirkliche Notwendigkeit der ›Verbesserungen‹ aus klanglichen Gründen (wie bei der sechsten und
neunten Symphonie) liegt bei diesem Werk
wohl nirgends vor. Man sollte demnach dieser Fassung den Vorzug bei Gesamtaus­
gaben geben. Die Wiedergabe war in allem
hervorragend.«
Nur wenige Wochen nach der erstmaligen
Wiedergabe der »Linzer« Version in Aachen
stellte sie Siegmund von Hausegger, der
damalige Chefdirigent der Philharmoniker,
auch in München vor, wobei im ersten Teil
des Programms Beethovens »Egmont«Ouvertüre und das Violinkonzert D-Dur von
Johannes Brahms zur Aufführung kamen.
Da die Abweichungen zu Bruckners späterer Version bei weitem nicht so gravierend
ausfielen, somit auch die Fassungsproblematik mitnichten die Komplexität der meisten anderen Symphonien erreichte, ist
davon auszugehen, dass sowohl Raabe als
auch Hausegger das alte Material entsprechend einrichteten oder aus einem Vorab­
exemplar des von Robert Haas heraus­
gegebenen und erst 1935 erschienenen
Neudruckes innerhalb der Kritischen Gesamtausgabe dirigierten.
WEITERE AUFFÜHRUNGEN
PRESSEMEINUNG
Oscar von Pander von den »Münchner Neuesten Nachrichten« rühmte die Aufführung
der Symphonie als ausgezeichnet. Die Abweichungen zu der »Wiener Fassung« empfand er insgesamt als nicht sehr wesentlich. Sie bezögen sich vornehmlich »›auf
rhythmische Erweiterung in kleinen Zügen‹, z. B. Einfügung von Einzeltakten, in
Kürzungen und ausgleichender Uminstrumentierung, die einige jugendliche Keckheiten und Ecken beseitigte. Wir empfinden
Während es die 2. Symphonie bis 1945 immerhin auf knapp zwanzig Aufführungen in
München brachte, war die »Erste« nur ungefähr zehnmal zu hören. Über die Gründe,
warum auch der große Bruckner-Dirigent
Oswald Kabasta, von 1938 bis 1944 Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, sich
nie für sie interessierte, ist nichts bekannt
geworden. So sehr sich Kabasta zu den
Symphonien Drei bis Neun, vor allem aber
zu seiner unendlich geliebte »Achten« hingezogen fühlte, so wenig überzeugten ihn
offensichtlich das »kecke Beserl« und die
»Zahme«, von der »Nullten« ganz zu
schweigen. Anscheinend betrachtete er
diese Arbeiten lediglich als Vorstufe zu
Bruckners eigentlichem symphonischen
Kosmos.
DIE »ERSTE« UNTER
HANS ROSBAUD
Mit Ausnahme der »Riesenquader der
5. und 8. Symphonie« verknüpfte Hans
Rosbaud, der nach dem Zweiten Weltkrieg
die Leitung der Münchner Philharmoniker
übernommen hatte, in seinem BrucknerZyklus zum 50. Todestag des Komponisten
im Jahre 1946 die anderen Symphonien mit
jeweils einem weiteren, stilistisch oder inhaltlich passenden Werk. Dem »kecken
Beserl« stellte Rosbaud Bruckners 1862/63
Bruckners 1. Symphonie bei den Münchner Philharmonikern
18
entstandene Ouvertüre in g-Moll voran.
Der Dirigent erweiterte sein Anliegen, den
Zuhörern ein »tiefes und wohlgegründetes
Verständnis und ein wirkliches Eindringen
in das Werk Anton Bruckners zu vermitteln« noch dahingehend, dass er eine Einführung in das jeweilige Werk anbot. Leider
gibt es von dem ersten Abend des Zyklus
keine Kritik, weil die »Süddeutsche Zeitung« noch 1948 nicht jeden Tag erschien.
Doch geht Heinz Pringsheim bei seiner Besprechung des zweiten Abends immerhin
indirekt auf das Eröffnungskonzert ein. Er
meinte, dass die nach den bisherigen Erfahrungen schon aufs höchste gespannten
Erwartungen womöglich noch übertroffen
wurden. »Nicht nur, weil die bereits in Wien
entstandene zweite c-moll-Symphonie
doch wesentlich reicher und reifer ist als
die Linzer, sondern weil ihre Interpretation
durch Hans Rosbaud mit den Münchner
Philharmonikern einen Höhepunkt nachschaffender Kunst bedeutete und deshalb
die stärksten Eindrücke hinterließ.«
tung von Gustavo Gimeno nach sehr langer
Zeit mal wieder in der »Wiener Fassung«,
also der Version von 1890/91, mit deren
Niederschrift der Komponist nur wenige
Tage nach Abschluss der Zweitfassung seiner »Achten« und ohne ersichtlichen
Zwang von außen begonnen hatte.
Die Wahl der »richtigen« Fassung indessen
ist nach wie vor Sache des jeweiligen Dirigenten. Für die Münchner Philharmoniker,
deren Bruckner-Tradition am 30. Dezember
1896 begann und die sich seit der zweimaligen Amtszeit ihres Chefdirigenten Ferdinand Löwe (1897−1898 und 1908−1914)
dem Brucknerschen Werk besonders verbunden fühlen, dürfte es nach wie vor ausgesprochen reizvoll sein, die neun Symphonien auch hinsichtlich ihrer komplexen
Entstehungs- und Bearbeitungsgeschichte
immer wieder und von neuem zur Diskussion zu stellen − nicht zuletzt deshalb, weil
es nach wie vor schwierig bleibt, von
Bruckners letztem Willen zu sprechen.
RESÜMEE
Noch ärger als der »Zweiten« erging es der
»Ersten« nach 1945. Nach Hans Rosbauds
Wiedergabe in der Aula der Universität am
8., 10., 11. und 13. Oktober 1946 nahm
sich lediglich Fritz Rieger (1951, 1954 und
1965) ihrer an, wobei auch er die ungestümere »Linzer Fassung« wählte. Rudolf
Kempe, Sergiu Celibidache, James Levine,
Christian Thielemann und Lorin Maazel
mieden die »Erste« ebenso wie die meisten
Gastdirigenten. Einzig Dennis Russell Davies setzte sie Anfang Dezember 2003
aufs Programm, in der Wiedergabe gleichermaßen präzise und inspiriert dirigiert.
− In den beiden philharmonischen Konzerten am 14. und 15. Juni 2017 hingegen
erklingt Bruckners »Erste« unter der Lei-
Bruckners 1. Symphonie bei den Münchner Philharmonikern
19
Ausblick auf den Bruckner-Zyklus bei den Münchner Philharmonikern im Konzertjahr 1946/47
Bruckners 1. Symphonie bei den Münchner Philharmonikern
20
Gustavo
Gimeno
DIRIGENT
de France, dem Rotterdam Philharmonic und
der Philharmonia Zürich. 2015 leitete
Gustavo Gimeno das Royal Concertgebouw
Orchestra Amsterdam auf seiner AsienTournee. Sein Operndebüt gab er im selben
Jahr mit Bellinis »Norma« an der Oper in
Valencia. Im März 2017 dirigierte er mit
Verdis »Simon Boccanegra« seine erste
Luxemburger Opernproduktion.
Nach seinem viel beachteten Debüt beim
Royal Concertgebouw Orchestra im Februar
2014 erreichten den jungen Spanier Gustavo Gimeno in kürzester Zeit Angebote zahlreicher renommierter Klangkörper. Seit der
Saison 2015/16 ist er Musikdirektor des
Orchestre Philharmonique du Luxembourg.
In jüngster Vergangenheit führten ihn Gastdirigate zu Orchestern wie dem Cleveland
Orchestra, dem City of Birmingham Symphony Orchestra, dem Orchestre National
Seine internationale Dirigentenkarriere begann der in Valencia geborene Musiker als
Assistent von Mariss Jansons im Jahr 2012,
damals noch Schlagzeuger beim Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam. Noch
während seiner Zeit als Orchestermusiker
widmete sich Gustavo Gimeno intensiv dem
Dirigierstudium am Konservatorium von
Amsterdam und besuchte zahlreiche Meisterklassen. Wichtige Erfahrungen sammelte
er außerdem als Assistent von Bernard Hai­
tink sowie von Claudio Abbado, der als Gimenos wichtigster Mentor seinen Werdegang intensiv förderte und in vielerlei Hinsicht prägte.
Bei den Münchner Philharmonikern ist
Gustavo Gimeno gern gesehener Gast, seit
er im Jahr 2014 für den erkrankten Lorin
Maazel in München einsprang und anschließend auch Tourneekonzerte für ihn übernahm.
Die Künstler
21
Sebastian
Förschl
Alexej
Gerassimez
SCHLAGZEUG
SCHLAGZEUG
Der Schlagzeuger Sebastian Förschl erhielt
seine Ausbildung an der Hochschule für
Musik und Theater München bei Peter Sadlo und Franz Bach. Im Sommer 2009 legte
er die Diplomprüfung ab und trat in die
Meisterklasse über. Sebastian Förschl war
Mitglied des Bayerischen Landesjugend­
orchesters und spielt seit 2005 in der Jungen Deutschen Philharmonie. Weitere Orchesterengagements führten ihn ans Mainfrankentheater Würzburg und zum Staatstheater Stuttgart. Außerdem gewann
Sebastian Förschl den 1. Bundespreis beim
Wettbewerb »Jugend musiziert« sowie den
Sonderpreis für die beste Interpretation
von »Tempo di Valse« beim Bertold HummelWettbewerb 2007. 2009 wurde er in die
Orchesterakademie der Münchner Philharmoniker aufgenommen und gewann kurze
Zeit später das Probespiel für die Position
des 1. Schlagzeugers.
Der in Essen geborene Percussionist Alexej
Gerassimez absolvierte sein Studium bei
Christian Roderburg und Stefan Hüge an
der Hochschule für Musik in Köln, an der
Hochschule für Musik Hanns Eisler und bei
Peter Sadlo an der Hochschule für Musik
und Theater München. Als Solist ist er Gast
international renommierter Orchester, u. a.
der NDR Radiophilharmonie Hannover, des
Konzerthausorchesters Berlin und des
Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des
SWR. Daneben gestaltet Alexej Gerassimez
Solo-Programme, ist ein begeisterter Kammermusiker und tritt mit seiner eigenen
Percussion Group bei Festivals wie dem Heidelberger Frühling, dem Schleswig-Holstein
Musik Festival und dem Bonner Beethovenfest auf. Sein breites Repertoire erweitert
er durch eigene Kompositionen, die von der
Auslotung rhythmischer und klanglicher
Möglichkeiten, als auch durch die Kreation
eigenwilliger Sounds gekennzeichnet sind.
Die Künstler
22
Jörg
Hannabach
Michael
Leopold
SCHLAGZEUG
SCHLAGZEUG
Jörg Hannabach erhielt seine Ausbildung
bei Arnold Riedhammer am Münchner
Richard-Strauss-Konservatorium und bei
Franz Bach an der Hochschule für Musik in
Frankfurt, wo er sein Studium mit dem
Künstlerischen Diplom abschloss. 1992
wurde er Mitglied der Staatsphilharmonie
Rheinland-Pfalz, bevor er 1998 als stellvertretender Solopauker zum Münchner
Rundfunkorchester wechselte. Seit 2009
ist er Schlagzeuger bei den Münchner Philharmonikern. Von 2001 bis 2008 hatte er
einen Lehrauftrag für Orchesterstudien
an der Musikhochschule Augsburg inne.
Kammermusikalisch engagiert sich Jörg
Hanna­bach in verschiedenen Schlagzeug­
ensembles, u. a. im Schlagzeugduo »Municussion« und dem Schlagzeugquartett der
Münchner Philharmoniker.
Michael Leopold studierte Schlagzeug bei
Peter Sadlo an der Hochschule für Musik
und Theater in München. 2007 gewann er
einen 1. Preis beim Bundeswettbewerb
»Jugend musiziert« und erhielt 2009 den
Kulturförderpreis seiner Heimatstadt
Pfaffenhofen a. d. Ilm. Er war Mitglied des
Bayerischen Landesjugendorchesters und
»ATTACCA«, dem Jugendorchester der
Bayerischen Staats­oper München. Weitere
Orchester­
e rfahrung sammelte er u. a.
durch Praktika und Engagements bei den
Stuttgarter Philharmonikern, dem Bayerischen Staatsorchester, dem Theater Coburg und den Münchner Symphonikern. Von
2014 bis 2016 war Michael Leopold Akademist der Münchner Philharmoniker, anschließend wurde er dort festes Orchestermitglied.
Die Künstler
23
Simone
Rubino
SCHLAGZEUG
Der 1993 in Turin geborene Simone Rubino
studierte zunächst in seiner Heimatstadt
am Konservatorium Giuseppe Verdi, bevor
er an die Münchner Musikhochschule zu Peter Sadlo wechselte. 2014 gewann er fulminant den ARD Musikwettbewerb und spielte
daraufhin Konzerte mit dem Symphonie­
orchester des Bayerischen Rundfunks, dem
Deutschen Sinfonieorchester Berlin und
dem Orchestra della RAI Turin. Neben seinen
Auftritten als Solist liegt ihm die Kammermusik am Herzen, was seine Konzerte mit
den Schlagzeug-Quartetten »Out of Time«
und »Esegesi« bezeugen. Die Saison
2016/17 startete der Perkussionist mit einem Highlight: Im Rahmen des Lucerne Festivals gab er sein Debüt mit den Wiener
Philharmonikern, an dessen Anschluss ihm
offiziell der Credit Suisse Young Artist
Award verliehen wurde. Außerdem gab er
sein Debüt in der New Yorker Carnegie Hall.
Weitere Höhepunkte waren seine Auftritte
mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom im Frühjahr 2017.
Die Künstler
24
Altlasten der
Vergangenheit
Herbert von Karajans verhindertes Gastspiel
bei den Münchner Philharmonikern
GABRIELE E. MEYER
Neben dem Bühneneingang zum großen
Konzertsaal im Gasteig hängt ein kaum zu
übersehendes Plakat der Münchner Philharmoniker, worauf in großen Lettern der
Name Herbert von Karajan prangt. Der
schon damals gefeierte Dirigent hatte für
sein Münchner Debüt 1948 Werke von Mozart, Debussy und Brahms gewählt. Die
drei Auftritte sollten in der Aula der Universität, dem Konzertsaal der Münchner
Philharmoniker nach 1945, stattfinden; die
Tonhalle war am 25. April 1944 bei einem
verheerenden Bombenangriff auf die Innenstadt zerstört worden. Am 26. November 1948 veröffentlichte auch der »Münchner Merkur« unter der Rubrik »Veranstaltungen« die genauen Daten der drei Termine: »Die Münchener Philharmoniker, Aula
der Universität. Konzert. Freitag, 3. 12.
(1. Auff. i. Abonn.), Samstag, 4. 12. (2.
Auff. i. Abonn.), jew. 18.30, Sonntag, 5.
12. (auß. Abonn.), 17 U.: 5. Philharmonisches Konzert. Ltg.: Herbert v. Karajan,
Mozart: Haffner-Symph.; Debussy: La mer;
Brahms: 1. Symph. c-moll.« Man kann sich
lebhaft vorstellen, wie gespannt Musik-
freunde und Kritiker hierzulande dem Ereignis entgegenfieberten.
Umso größer mag die Enttäuschung für die
Münchner gewesen sein, als sie erfuhren,
dass das »V. Philharmonische Konzert am
3., 4. und 5. Dez. wegen Einreiseschwierigkeiten Herbert von Karajans verlegt werden mußte«. Die hektische Aktivität hinter
den Kulissen hatte offenbar nichts ausrichten können. Zwei Tage später informierte
der »Merkur« seine Leser über die Verlegung auf einen späteren Zeitpunkt und das
Recht zur Kartenrückgabe. »Die außer
Abonn. gekauften Eintrittskarten werden
bis spätestens Montag, 6. 12., mittags 12
Uhr an der Kasse der Philh. (Rathaus-Stadthauptkasse) zurückgenommen.« Damit war
klar, dass mit einem Auftritt Karajans in
absehbarer Zeit nicht zu rechnen war.
Am 6. Dezember 1948 war, wiederum im
»MM« und unter dem Namenskürzel »gl«,
ein inzwischen eingegangener, möglicherweise lancierter, Brief mit der Überschrift
»Fragen um Karajan« an die Öffentlichkeit
Aus der Orchestergeschichte
25
Das Ankündigungsplakat zu Karajans Gastdirigaten bei den Münchner Philharmonikern
Aus der Orchestergeschichte
26
gelangt, in dem über die Gründe von Karajans Einreiseverbot Mutmaßungen angestellt wurden: »Wir lesen mit Erstaunen,
daß das kommende Abonnementkonzert
der Münchner Philharmoniker verschoben
werden muß, weil sich Einreiseschwierigkeiten für den Dirigenten Herbert von Karajan ergeben haben. Wir können nicht
begreifen, daß es dreieinhalb Jahre nach
Kriegsende nicht möglich sein soll, einen in
Österreich zugelassenen Dirigenten über
die deutsche Grenze zu bringen. Das Programm der Konzerte mit Karajan liegt seit
Monaten fest, es ist seit Wochen plakatiert. Viele Deutsche schätzen Karajan
sehr hoch, manche stellten ihn über Furtwängler. In einer der größten amerikanischen Zeitschriften lasen wir kürzlich,
daß man in Amerika Karajan als den gegebenen Nachfolger Toscaninis ansieht. Warum darf er nicht nach Deutschland ? Sind
es grenztechnische Schwierigkeiten oder
politische ? Wir möchten bei dieser Gelegenheit sagen, daß wir schon lange nicht
begreifen, weswegen es leichter ist, auf
legalem Wege nach der Schweiz oder Großbritannien oder nach den Vereinigten Staaten zu gelangen als nach Österreich ? Oder
sollte man es Karajan mehr verübeln, daß
er während des Dritten Reiches mit der
Berliner Staatskapelle [öfter] im Ausland
konzertiert hat, als Furtwängler [mit] den
Philharmonikern ?«
Der Brief ist in mehrfacher Hinsicht inte­
ressant, scheint er doch von einem Kenner
der damaligen Musikszene verfasst worden
zu sein. So gab es den indirekt angesprochenen Konflikt zwischen Furtwängler und
Karajan in der Tat, wobei möglicherweise
der Umstand eine Rolle gespielt haben
dürfte, dass Karajan 1935 sich nochmals
um Aufnahme in die NSDAP bemüht hatte,
Furtwängler aber nie Mitglied gewesen
war. Karajans erster Parteieintritt am
8. April 1933 in Ulm blieb zwar formell gültig, ruhte aber wegen des ab Juni 1933
geltenden Verbotes der NSDAP in Österreich. 1939 erfolgte dann doch die Rückdatierung auf den 1. Mai 1933. In Furtwänglers Augen ließ sich Karajan nur allzu
bereitwillig von den Nationalsozialisten
manipulieren, was angesichts der zahlreichen, auch parteinahen Konzerte nicht von
der Hand zu weisen ist. Und noch im Dezember 1944 begann er mit dem Reichs-­
Bruckner-Orchester in Linz mit dem erklärten Ziel zu arbeiten, es zum besten Orchester des Reiches zu formen. Nach seinem
letzten Konzert im Februar 1945 mit der
Berliner Staatskapelle setzte sich Karajan
nach Oberitalien ab. − Die bereits in der
amerikanischen Presse formulierte Überlegung zu einer Toscanini-Nachfolge durch
Karajan hingegen kam viel zu früh, weil der
italienische Dirigent und glühende Anti­
faschist weder Furtwängler noch Karajan
als seinen Nachfolger akzeptiert hätte.
»Ich will nichts mit Furtwängler, Karajan
und anderen zu tun haben, die im Dienste
Hitlers und der Nazis gestanden haben.«
Dank der Vermittlung eines britischen Offiziers konnte Karajan sehr bald nach
Kriegsende wieder auftreten. Die im Herbst
1945 von den Amerikanern anberaumten
Befragungen nach Parteizugehörigkeit und
seinen Beziehungen zu den nationalsozialistischen Machthabern wurde zunächst
ohne schriftliche Belege beiseite gelegt.
Karajan habe »genug gelitten«, hieß es.
Schon am 12. Januar 1946 gab er in Wien
sein erstes Konzert. Nun aber war es die
sowjetische Besatzungsmacht, die ihn
wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft mit
Berufsverbot belegte; die Aufhebung erfolgte erst 1947. Karajan scheint die Unterbrechung nicht sonderlich angefochten
Aus der Orchestergeschichte
27
Herbert von Karajan (1938)
zu haben, hatte er doch inzwischen Walter
Legge kennengelernt, der ihm sogleich eine
Reihe von Schallplattenaufnahmen bei Columbia Records (später EMI) mit seinem
neu gegründeten »Philharmonia Orches­
tra« ermöglichte. Warum also die geplante
Konzertserie mit den Münchner Philharmonikern im letzten Moment wegen angeblicher Einreisebeschränkungen abgesagt
wurde, bleibt rätselhaft. Zwar kam es in
den Nachkriegswirren und bei den ob der
Masse an auszuwertenden Fragebögen und
anderem Informationsmaterial teilweise
überforderten Siegermächten auch zu
widersprüchlichen Entscheidungen, doch
war Karajans Entnazifizierung zu diesem
Zeitpunkt schon abgeschlossen. Vielleicht
haben spontane politische Animositäten
auf lokaler Ebene die Einreise verhindert,
vielleicht die amerikanische Besatzungsmacht in Bayern ein unvermitteltes Veto
ausgesprochen. Die drei Konzerte mit den
Münchner Philharmonikern wurden allerdings ebensowenig nachgeholt wie Karajan
auch später nie mehr für ein Gastspiel zu
gewinnen war.
Aus der Orchestergeschichte
28
Münchner
Klangbilder
TITELGESTALTUNG ZUM
HEUTIGEN KONZERTPROGRAMM
»Um einen komplett neuen und einzigartigen Ansatz für das Motiv zu finden, analysierte ich bisherige Philharmoniker-Plakate.
Zudem suchte ich Inspiration und Motive im
Alltag. Diese hielt ich fotografisch fest,
prüfte jedoch parallel einige meiner älteren
Werke auf ihre Verwendbarkeit und Plakativität. Schließlich entschied ich mich für ein
Foto, welches ich einige Monate zuvor in
einem Leipziger Hinterhof gemacht hatte:
Das Motiv des hellen Tunnelendes brachte
meines Erachtens bereits die notwendige
›Spannung‹ mit sich, um den Blick des vorbeigehenden Betrachters zumindest für
einen Moment festzuhalten. Sowohl das Bild
als auch die Musik Gubaidulinas vermitteln
ein suchendes, experimentelles, treibendes
Gefühl. Auch das Spiel mit (Klang-) Räumen
und Bewegung ließ sich in beidem wiedererkennen. Aus der annähernd quadratischen
Grundform der Ausfahrt ließ sich zudem
nahezu ›unsichtbar‹ die zu verwendende
Grundform konstruieren. Ich würde die Musik von Gubaidulina als eine Aneinanderreihung verschiedener Räume beschreiben, in
die man geführt wird. Es gibt Pausen, Klappern und Echos wie in einem Tunnel. Die
Fluchtpunktperspektive verbildlicht das in
die Tiefe treibende der Musik. Das Aufbrechen des Bildraumes steht für die unregelmäßige, arhythmische Setzung musikalischer Elemente: Klopfgeräusche, Tritte,
Hall, Stadtgeräusche, Alltagsgeräusche.«
DER KÜNSTLER
Jonas Berrenberg, 1997 in München geboren, absolviert momentan seine allgemeine
Hochschulreife an der Fachhochschule für
Gestaltung in Giesing. Neben seinem Interesse an Fotografie arbeitet der Künstler
primär im Bereich des praktischen Designs.
In naher Zukunft strebt er deshalb an, seine Kenntnisse in einem Studium für Produkt- oder Industriedesign zu erweitern.
Er würde sich nicht direkt als ›Stadtmenschen‹ bezeichnen, da er zwar in München
geboren, jedoch auch einige Jahre auf dem
Land aufgewachsen ist. Dennoch fühle er
sich München sehr verbunden und genieße
die Möglichkeiten, die die Stadt ihm bietet.
DIE SCHULE
Unsere Fachoberschule bietet die Ausbildungsrichtung Gestaltung an. In den Profilfächern und im Praktikum werden bildnerische Grundlagen im zwei- und drei­
dimensionalen Bereich der »angewandten
Kunst« vermittelt. So werden gute Voraussetzungen für ein Studium im Fachbereich
Gestaltung an einer Fachhochschule geschaffen.
Jonas Berrenberg
29
Montag
19_06_2017 19 Uhr Juko
Konzert der Münchner Philharmoniker
mit dem ODEON-Jugendsinfonieorchester
München
Samstag
24_06_2017 19 Uhr d
Sonntag
25_06_2017 11 Uhr m
Montag
26_06_2017 20 Uhr Uni-Konzert
ROBERT SCHUMANN
»Ouvertüre, Scherzo und Finale« E-Dur
op. 52
JOHANNES BRAHMS
Variationen über ein Thema von Joseph
Haydn B-Dur op. 56a
MODEST MUSSORGSKIJ
»Eine Nacht auf dem Kahlen Berge«
LUDWIG VAN BEETHOVEN
Ouvertüre zu »Leonore«
Nr. 3 C-Dur op. 72
WOLFGANG AMADEUS MOZART
Konzert für Klavier und Orchester
C-Dur KV 503
JOHANNES BRAHMS
Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73
GUSTAVO GIMENO, Dirigent
JULIO DOGGENWEILER FERNÁNDEZ,
Künstlerische Leitung und Einstudierung
ODEON-Jugendsinfonieorchester München
ANDREAS KORN, Moderation
KRZYSZTOF URBAŃSKI, Dirigent
PIOTR ANDERSZEWSKI, Klavier
Donnerstag
06_07_2017 20 Uhr b
Freitag
07_07_2017 20 Uhr c
JOHANNES BRAHMS
Serenade Nr. 1 D-Dur op. 11
»Nänie« op. 82
»Gesang der Parzen« op. 89
»Schicksalslied« op. 54
ANDREW MANZE, Dirigent
PHILHARMONISCHER CHOR MÜNCHEN,
Einstudierung: Andreas Herrmann
Vorschau
30
Die Münchner
Philharmoniker
CHEFDIRIGENT VALERY GERGIEV
EHRENDIRIGENT ZUBIN MEHTA
1. VIOLINEN
Sreten Krstič, Konzertmeister
Lorenz Nasturica-Herschcowici,
Konzertmeister
Julian Shevlin, Konzertmeister
Odette Couch, stv. Konzertmeisterin
Claudia Sutil
Philip Middleman
Nenad Daleore
Peter Becher
Regina Matthes
Wolfram Lohschütz
Martin Manz
Céline Vaudé
Yusi Chen
Iason Keramidis
Florentine Lenz
Vladimir Tolpygo
Georg Pfirsch
Bernhard Metz
Namiko Fuse
Qi Zhou
Clément Courtin
Traudel Reich
Asami Yamada
BRATSCHEN
Jano Lisboa, Solo
Burkhard Sigl, stv. Solo
Max Spenger
Herbert Stoiber
Wolfgang Stingl
Gunter Pretzel
Wolfgang Berg
Beate Springorum
Konstantin Sellheim
Julio López
Valentin Eichler
2. VIOLINEN
VIOLONCELLI
Simon Fordham, Stimmführer
Alexander Möck, Stimmführer
IIona Cudek, stv. Stimmführerin
Matthias Löhlein, Vorspieler
Katharina Reichstaller
Nils Schad
Clara Bergius-Bühl
Esther Merz
Katharina Schmitz
Ana Vladanovic-Lebedinski
Michael Hell, Konzertmeister
Floris Mijnders, Solo
Stephan Haack, stv. Solo
Thomas Ruge, stv. Solo
Herbert Heim
Veit Wenk-Wolff
Sissy Schmidhuber
Elke Funk-Hoever
Manuel von der Nahmer
Isolde Hayer
Das Orchester
31
Sven Faulian
David Hausdorf
Joachim Wohlgemuth
KONTRABÄSSE
Sławomir Grenda, Solo
Fora Baltacigil, Solo
Alexander Preuß, stv. Solo
Holger Herrmann
Stepan Kratochvil
Shengni Guo
Emilio Yepes Martinez
Ulrich von Neumann-Cosel
FLÖTEN
Michael Martin Kofler, Solo
Herman van Kogelenberg, Solo
Burkhard Jäckle, stv. Solo
Martin Belič
Gabriele Krötz, Piccoloflöte
OBOEN
Ulrich Becker, Solo
Marie-Luise Modersohn, Solo
Lisa Outred
Bernhard Berwanger
Kai Rapsch, Englischhorn
KLARINETTEN
Alexandra Gruber, Solo
László Kuti, Solo
Annette Maucher, stv. Solo
Matthias Ambrosius
Albert Osterhammer, Bassklarinette
Ulrich Haider, stv. Solo
Maria Teiwes, stv. Solo
Robert Ross
Alois Schlemer
Hubert Pilstl
Mia Aselmeyer
TROMPETEN
Guido Segers, Solo
Florian Klingler, Solo
Bernhard Peschl, stv. Solo
Markus Rainer
POSAUNEN
Dany Bonvin, Solo
Matthias Fischer, stv. Solo
Quirin Willert
Benjamin Appel, Bassposaune
TUBA
Ricardo Carvalhoso
PAUKEN
Stefan Gagelmann, Solo
Guido Rückel, Solo
SCHLAGZEUG
Sebastian Förschl, 1. Schlagzeuger
Jörg Hannabach
Michael Leopold
HARFE
Teresa Zimmermann, Solo
FAGOTTE
ORCHESTERVORSTAND
Raffaele Giannotti, Solo
Jürgen Popp
Johannes Hofbauer
Jörg Urbach, Kontrafagott
Stephan Haack
Matthias Ambrosius
Konstantin Sellheim
HÖRNER
Paul Müller
INTENDANT
Jörg Brückner, Solo
Matias Piñeira, Solo
Das Orchester
32
IMPRESSUM
TEXTNACHWEISE
BILDNACHWEISE
Herausgeber:
Direktion der Münchner
Philharmoniker
Paul Müller, Intendant
Kellerstraße 4
81667 München
Lektorat:
Christine Möller
Corporate Design:
HEYE GmbH
München
Graphik:
dm druckmedien gmbh
München
Druck:
Gebr. Geiselberger GmbH
Martin-Moser-Straße 23
84503 Altötting
Susanne Stähr, Thomas
Leibnitz und Gabriele E.
Meyer schrieben ihre Texte
als Originalbeiträge für die
Programmhefte
der
Münchner Philharmoniker.
Künstlerbiographien: nach
Agenturvorlagen. Alle
Rechte bei den Autorinnen
und Autoren; jeder Nachdruck ist seitens der Urheber genehmigungs- und
kostenpflichtig.
Abbildungen zu Sofia Gubaidulina: The Japan Art
Association, The Sankei
Schimbun; © F. HoffmannLa Roche Ltd. Ab­bildungen
zu Anton Bruckner: Renate
Ulm (Hrsg.), Die Symphonien Bruckners – Entstehung, Deutung, Wirkung,
Kassel 1998. Künstlerphotographien: Marco Borg­
greve (Gimeno), wildundleise.de (Förschl, Hannabach), Nikolaj Lund (Gerassimez), Hans-Dieter
Goehre (Rubino), Ulrich
von Neumann-Cosel (Leopold).
Gedruckt auf holzfreiem und
FSC-Mix zertifiziertem Papier
der Sorte LuxoArt Samt
Impressum
HAUPTSPONSOR
UNTERSTÜTZT
SONNTAG, 16. JULI 2017, 20.00 UHR
V A L E RY G E R G I E V D I R I G E N T
Y U J A W A N G KL AV I E R
MÜNCHNER PHILHARMONIKER
BR AHMS: KONZERT FÜR KL AVIER UND
ORCHESTER NR.1 D - MOLL OP.15
MUSSORGSKI J: »BILDER EINER AUSSTELLUNG«
(INSTRUMENTIERUNG: M AURICE R AVEL)
KARTEN: MÜNCHEN TICKET TEL. 089/54 81 81 81
UND BEKANNTE VVK-STELLEN
WWW.KLASSIK−AM−ODEONSPLATZ.DE
’16
’17
DAS ORCHESTER DER STADT
Herunterladen