GUBAIDULINA Schlagzeugkonzert »Glorious Percussion« BRUCKNER 1. Symphonie GIMENO, Dirigent FÖRSCHL, Schlagzeug GERASSIMEZ, Schlagzeug HANNABACH, Schlagzeug LEOPOLD, Schlagzeug RUBINO, Schlagzeug Mittwoch 14_06_2017 20 Uhr Donnerstag 15_06_2017 19 Uhr VALERY GERGIEV Strauss Ab 31. März im Handel erhältlich SOFIA GUBAIDULINA »Glorious Percussion« Konzert für Schlagzeugensemble und Orchester (in einem Satz) ANTON BRUCKNER Symphonie Nr. 1 c-Moll 2. Fassung von 1890/91 (»Wiener Fassung«) 1. Allegro 2. Adagio 3. Scherzo: Lebhaft, schnell 4. Finale: Bewegt, feurig GUSTAVO GIMENO, Dirigent SEBASTIAN FÖRSCHL, Schlagzeug ALEXEJ GERASSIMEZ, Schlagzeug JÖRG HANNABACH, Schlagzeug MICHAEL LEOPOLD, Schlagzeug SIMONE RUBINO, Schlagzeug 118. Spielzeit seit der Gründung 1893 VALERY GERGIEV, Chefdirigent ZUBIN MEHTA, Ehrendirigent PAUL MÜLLER, Intendant 2 »Damit die Kunst lebendig bleibt« SUSANNE STÄHR ENTSTEHUNG SOFIA GUBAIDULINA (geb. 1931) »Glorious Percussion« Konzert für Schlagzeugensemble und Orchester (in einem Satz) Die damals 76-jährige Sofia Gubaidulina komponierte »Glorious Percussion« im Jahr 2008. Den Impuls dazu gab ein kollektiver Kompositionsauftrag von gleich fünf Orchestern bzw. Ensembles: von den Göteborger Symphonikern, der Dresdner Philharmonie, dem Luzerner Sinfonieorchester, dem Philharmonischen Orchester Bergen und dem Ensemble Anders Loguin und Kollegen. WIDMUNG Widmungsträger ist der schwedische Schlag­ zeuger Anders Loguin (1954–2011). URAUFFÜHRUNG LEBENSDATEN DER KOMPONISTIN Geboren am 24. Oktober 1931 in Tschistopol (Tatarische Autonome Sowjetrepublik). Am 18. September 2008 in Göteborg / Schweden (Göteborger Symphoniker unter Leitung ihres seinerzeitigen Chefdirigenten Gustavo Dudamel; Solisten: Anders Loguin, Robyn Schulkowsky, Mika Takehara, Eirik Raude und Anders Haag). Der Erfolg der Premiere war so nachhaltig, dass die fünf Schlagzeuger unter dem Namen »Glorious Percussion« weiter gemeinsam konzertierten. Der frühe Tod von Anders Loguin im Jahr 2011 setzte dieser Zusammenarbeit indes ein jähes Ende. Sofia Gubaidulina: »Glorious Percussion« 3 Sofia Gubaidulina Sofia Gubaidulina: »Glorious Percussion« 4 DER SINN DES LEBENS Als Sofia Gubaidulina noch ein kleines Kind war, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, da gab es für sie nichts Aufregenderes als den Konzertflügel, der sich im Wohnzimmer ihres Elternhauses befand. »Das Leben war für mich damals ziemlich grau und uninteressant, ich spürte die Armut. Im Hof gab es keinen Baum, keinen Busch, kein Stück Rasen. Ich hatte keine Puppen, kein Spielzeug, keine Kinderbücher«, erinnert sie sich an ihre ersten Jahre, die sie in Kasan in der tatarischen Sowjetrepublik verbrachte. Der Flügel aber erschien ihr wie eine bessere Welt, ein Zauberreich: »Man konnte über die Tasten gleiten und dabei die Pedale halten. Man konnte sich darunter legen, wenn die Schwester spielte, und in den Klangströmen baden. Und vor allem: Der Deckel ließ sich öffnen und gab ein wunderbares Innenleben frei – das war der eigentliche Tempel. Die Saiten, über die man mit den Fingern streichen, der Resonanzboden, gegen den man klopfen konnte. Ich brauchte keinerlei pianistische Fähigkeiten und konnte dem Flügel doch schon ganz früh die aufregendsten Klänge entlocken. Das war die Rettung, das war der Sinn des Lebens.« AM ANFANG WAR DER RHYTHMUS Die Lust am Experiment, an ungewohnten Klängen und unorthodoxen Spielweisen hat sie ihr Leben lang begleitet und ihr kompositorisches Schaffen beflügelt. Kein Zufall ist es, dass Sofia Gubaidulina, die seit 1992 in der Nähe von Hamburg lebt, von Anfang an eine besondere Vorliebe für das Schlagwerk hegte. Denn in dieser Instrumentengruppe gibt es eine Fülle verschiedenster Klangerzeuger, hölzerne und blecherne, schnarrende und tönende, die ihre Neugier weckten, nicht zuletzt, weil man sie immer wieder neu kombinieren oder auch »artfremd« behandeln kann. Schon in ihrem Frühwerk setzte Gubaidulina die Perkussionsinstrumente prominent ein, etwa in den Fünf Etüden, die sie 1965 für Harfe, Kontrabass und Schlagzeug schuf. Später entstanden sogar etliche Stücke für reines Schlagzeugensemble, darunter das »Misterioso« für sieben Perkussionisten (1977), »Jubilatio« für vier Perkussionisten (1979) oder »Gerade und ungerade« für sieben Spieler (1991). Dass sie mit »Glorious Percussion« 2008 ein Konzert für gleich fünf Soloschlagzeuger und Orchester herausbrachte, erscheint deshalb – so ungewöhnlich die Besetzung auch ist – als ganz folgerichtig. Schon das Attribut »glorious«, zu Deutsch: herrlich, prächtig oder ruhmreich, gibt Auskunft darüber, welchen Stellenwert dieses Instrumentarium für sie einnimmt. In der Tat entfesselt Gubaidulina hier ein unglaubliches Spektrum an Klängen, vom zarten, kaum hörbaren Flimmern und Pochen bis zum mark- und bein­ erschütternden Fortissimo-Ausbruch. »Die ganze Welt pulsiert«, bringt Sofia Gubaidulina den Grundgedanken des einsätzigen, doch mit 40 Minuten Spieldauer recht umfangreichen Werks auf einen Nenner. Musikalisch kann dieses Pulsieren einerseits durch rhythmische Texturen zum Ausdruck gebracht werden – »Am Anfang war der Rhythmus« heißt nicht zufällig ein weiteres Stück für sieben Schlagzeuger, das sie 1984 geschrieben hat. Der Rhythmus sei für ihre Kompositionen, erläuterte Gubaidulina einmal, wie das Wurzelwerk, das einen Baum mit Wasser und Mineralien versorge und ihn so überhaupt erst am Leben erhalte. Andererseits pulsiert aber auch schon jeder einzelne Ton für sich allein, denn er basiert auf einer bestimmten Sofia Gubaidulina: »Glorious Percussion« 5 Sofia Gubaidulina (2012) Frequenz, auf Schwingungsverhältnissen, die seine Höhe oder seine Lautstärke determinieren. Erklingen zwei Töne gleich­ zeitig, wird also ein Intervall gebildet, so schwingt durch die Mischung der Amplituden noch ein dritter Ton mit. In »Glorious Percussion« arbeitet Sofia Gubaidulina mit allen drei genannten Varianten der Pulsation: auf der sofort hörbaren, äußeren Ebene durch die Rhythmisierung, in einer tieferen Schicht dann durch das Innenleben der Einzeltöne und schließlich auch durch die komplexer schwingenden Intervalle, wobei sie bevorzugt Sekunden und Terzen einsetzt. UNGESCHRIEBENE MUSIK Alle drei Ebenen greifen in der Partitur ineinander. Insgesamt dreimal bringt Gubaidulina die Klangbewegung im Verlauf des Werks zum völligen Stillstand: Dann übernehmen die Schlagzeuger nur noch die Pulsation des vorangegangenen Akkords und führen sie mit ihren Mitteln tonlos fort. Ebenso wichtige Schnittstellen bilden die eingefügten improvisatorischen Passagen. An sieben Stellen des Konzerts dürfen die fünf Solisten das musikalische Geschehen nach eigenem Gutdünken fortspinnen, wobei sie natürlich auf den Kontext, sprich: Sofia Gubaidulina: »Glorious Percussion« 6 auf das soeben Gehörte, reagieren sollen. Die Improvisationspraxis hat Sofia Gubaidulinas Ästhetik wesentlich geprägt: 1975 gründete sie mit ihren beiden russischen Komponistenkollegen Wjatscheslaw Artjomow und Viktor Suslin unter dem Namen »Astreja« eine freie Gruppe oder, besser gesagt, eine Art Werkstatt für alternative Aufführungspraxis, in deren Rahmen das Trio auf Zithern, georgischen Flöten und anderen volkstümlichen Instrumenten ohne notierte Vorlage musizierte, spontan wie bei einer Jazzimprovisation. Auch öffentlich traten die Drei mit diesen Darbietungen auf und setzten so einen Gegenakzent zum traditionellen klassischen Konzert­ leben. »Noch und nochmals segne ich den Einfall, ungeschriebene Musik zu spielen«, bekannte Gubaidulina später. »Das ist für mich heute wie die Luft zum Atmen. Und es scheint jetzt ganz klar zu sein, ohne diese Musik hungert unser Unterbewusstsein.« Durch den Einbezug der sieben improvisierten Passagen – es sind virtuose Intermezzi auf Stabspielen, Gongs und Trommeln – möchte Sofia Gubaidulina zugleich an die Wurzeln der Musikgeschichte rühren: an weit zurückliegende Zeiten, als die Notation noch lange nicht erfunden war. Die Archaik, so glaubt sie, sei ohnehin ein wesentliches Merkmal ihrer Musik. Tatsächlich fasziniert »Glorious Percussion« durch seine geradezu elementare, erdverbundene Klanggewalt. Die auch viel mit der Orchesterbesetzung zu tun hat, mit dem schweren Blech aus Posaunen, WagnerTuben und Basstuben, mit dem sie erratische Klanggebirge auftürmt und Sogwirkungen entfacht, denen man sich kaum entziehen kann. Demgegenüber stehen geradezu immaterielle und ätherische Abschnitte von ganz ausgespartem Tonsatz, fragil und flirrend, als würde man durch das Weltall fliegen. »MEIN INNERES DRAMA« Die fünf Soloperkussionisten mit ihrem Instrumentenarsenal sollen vor dem Orchester platziert werden. Sie traktieren an die zwanzig verschiedene Klangerzeuger: Melodieinstrumente wie Xylophon und Marimbaphon sind darunter, auf Tonhöhe gestimmte Instrumente wie Röhren-, Glasund Bambusglocken, Triangel oder java­ nesische Gongs, aber auch Trommeln, Rasseln und Zimbeln, Holzblock und Tamburin. Hinter dem Tutti korrespondieren mit dem Solistenensemble noch drei Orchesterperkussionisten. Die diffizile Koppelung der beiden Schlagwerkgruppen bezeichnete Gubaidulina als »mein inneres Drama im Moment des Komponierens«. Sie löste es dadurch, dass sie den fünf Solisten eine wesentlich virtuosere, subtilere und raffiniertere Klangwelt zuwies, während die Orchesterkollegen, ausgestattet u. a. mit Pauken, Schellen, verschiedenen Trommeln und Tamtam, eher massive und kraftvolle Akzente beisteuern. Eigentlich sei sie ein intuitiver Mensch, gesteht Sofia Gubaidulina – und genau so mag »Glorious Percussion« mit seinem Feuerwerk an Klangeffekten, mit seiner unmittelbar sinnlich berührenden Ausstrahlung, auch auf die Hörer wirken. Ungeachtet dessen arbeitet sie mit strengen architektonischen Prinzipien, tüftelt ihre Rhythmen nach mathematischen Formeln aus, errechnet Konsonanzen und Dissonanzen nach den präzisen Schwingungsverhältnissen der Intervalle. Dieses logische Vorgehen sei für sie ein Korrektiv und Gegengewicht im Sinne einer idealen Balance, Sofia Gubaidulina: »Glorious Percussion« 7 erklärt sie. Wie aber gelingt ihr der Spagat, Konstruktion und Emotion so zu verbinden, dass es ganz folgerichtig und natürlich erscheint ? »Ich wünsche mir, dass sich die Kunst organisch entwickelt und nicht intellektuell aufgesetzt ist«, sagt Sofia Gubaidulina. »Ich habe einmal das Gleichnis des Baumes gewählt, der jedes Jahr neue Triebe und Blätter zeugt: Er ist ein natürlich gewachsenes Werk. Der Künstler muss hier zunächst ein Gärtner sein, der den Boden bestellt, das Wachstum fördert und in die richtigen Bahnen lenkt. Die eigentliche Herausforderung dabei ist, die perfekte Verbindung zwischen der Spontaneität der natürlichen Entwicklung und der Konstruktion des Eingriffs zu finden. Auf die Musik übertragen heißt das: Die Energie der intuitiven Eingebung muss gepflegt werden, damit die Kunst lebendig bleibt. Aber der spontane Impuls bedarf der Bewusstwerdung. Die Natürlichkeit muss gestaltet und auf einer höheren, durchgeistigten Stufe wiedererlangt werden.« Sofia Gubaidulina: »Glorious Percussion« 8 Nicht die erste Symphonie THOMAS LEIBNITZ ANTON BRUCKNER (1824–1896) Symphonie Nr. 1 c-Moll 2. Fassung von 1890/91 (»Wiener Fassung«) 1. Allegro 2. Adagio 3. Scherzo: Lebhaft, schnell 4. Finale: Bewegt, feurig LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN Geboren am 4. September 1824 in Ans­ felden (Oberösterreich); gestorben am 11. Oktober 1896 in Wien. ENTSTEHUNG Neben zwei Versuchen mit später als »Schularbeiten« deklarierten Symphonien in f-Moll (1863) und d-Moll (1869) entstand von Januar 1865 bis April 1866 in Linz Bruckners erste von ihm selbst als »gültig« anerkannte Symphonie in c-Moll, wobei das Adagio von 1865 erst ein Jahr später seine endgültige Gestalt erhielt. 1890/91 überarbeitete Bruckner alle vier Sätze in einer zweiten, der sogenannten »Wiener Fassung«, in der zahlreiche der unkonventionellen Besonderheiten der Linzer Urfassung zurückgenommen oder zumindest geglättet sind. WIDMUNG »Universitati Vindobonensi primam suam Symphoniam venerabundus Antonius Bruck­ner Doctor Honarius«. Anlässlich seiner Ernennung zum Ehrendoktor widmete Anton Bruckner 1891 die 1. Symphonie der Universität Wien. URAUFFÜHRUNG »Linzer Fassung«: Am 9. Mai 1868 in Linz (im Rahmen eines Konzerts im Linzer Redoutensaal unter Leitung von Anton Bruckner). »Wiener Fassung«: Am 13. Dezember 1891 in Wien (Wiener Philharmoniker unter Leitung von Hans Richter). Anton Bruckner: 1. Symphonie 9 DAS GEGENTEIL EINES WUNDERKINDES SCHRITTE ZUR SYMPHONIE Es dürfte kein bloßer Zufall sein, dass manche Komponisten assoziativ mit bestimmten Lebensphasen gekoppelt werden. So wie etwa Mozart – das Wunderkind, der übermütige Briefschreiber, der früh Verstorbene – als Inbegriff der Jugendlichkeit gilt, stellt sich bei der Nennung des Namens »Anton Bruckner« unwillkürlich das Bild eines alten Mannes ein. Fast alle zeitgenössischen Fotografien zeigen ihn in vorgerückten Jahren, die Bruckner-Büste von Viktor Tilgner – wahrscheinlich die beste Abbildung Bruckners, die wir besitzen – stellt einen visionär in die Ferne blickenden Greis dar. Warum ist so wenig vom »jungen Bruckner« die Rede ? Bruckners 1. Symphonie, wiewohl so be­ titelt, war nicht sein erster Versuch auf symphonischem Gebiet. Inspiriert von der ersten Aufführung von Wagners »Tannhäuser« in Linz, einem musikalischen Erlebnis von prägender Bedeutung, konzipierte er 1863 unter Leitung seines Lehrers Otto Kitzler eine Symphonie in f-Moll (später als »Studiensinfonie« bezeichnet). Das Werk entstand innerhalb von nur vier Monaten, zeigt zwar die Einflüsse der Vorbilder Schubert, Spohr und Weber, kann aber als bereits durchaus eigenständige Schöpfung gelten. Dennoch versah Bruckner die Partitur später mit dem Vermerk »Schularbeit« und nahm sie nicht in die Zählung der späteren Symphonien auf. Dies liegt nicht an Versäumnissen der musik­wissenschaftlichen Biografik, sondern an der merkwürdigen Tatsache, dass Bruckners Entwicklung zu kompositorischer Individualität spät, sehr spät, erfolgte. Hätte Bruckner das Alter Schuberts oder Mozarts erreicht, was besäßen wir von ihm ? Einige Gelegenheitswerke für den Gottesdienst, Klavierstücke und Chöre in der Nachfolge Mendelssohns, Mengen an Kompositionsübungen und Kontrapunktstudien, die zwar den äußerst gewissenhaften Studenten, kaum aber das zu schöpferischer Aussage befähigte Genie ausweisen. Und dennoch: War Bruckner auch das Gegenteil eines Wunderkindes, so mutet es doch wie ein Wunder an, dass auf Jahrzehnte der Studien und der epigonalen Kompositionsversuche schließlich ein Lebenswerk folgte, das an markanter Originalität seinesgleichen sucht. So mancher Brucknerfreund vermutet ein weiteres symphonisches Werk in chronologischer Platzierung vor der 1. Symphonie: eine Symphonie in d-Moll, oftmals – aber fälschlich – als »Nullte« bezeichnet. Lange bestand in der Brucknerforschung Uneinigkeit in der Frage, ob dieses Werk vor oder nach der 1. Symphonie entstanden sei; die dokumentarischen Quellen belegen jedoch 1869 als Entstehungsjahr der Komposition, die zwar Züge des späteren Symphoniestils Bruckners trägt, vom Komponisten jedoch verworfen wurde. »Annulirt« schrieb er auf das Titelblatt; darauf bezieht sich die unauthentische, aber sich hartnäckig haltende Bezeichnung als »Nullte«. Immerhin wird hier bereits Bruckners selbstkritische Distanz dem eigenen Schaffen gegenüber deutlich, die ihn in späteren Jahren immer wieder zu Neufassungen bereits vollendeter Werke veranlasste. Anton Bruckner: 1. Symphonie 10 »... IN DIE SYMPHONIE ­EINIG’HETZT« Zu den Mentoren des jungen Bruckner, die in dem unbeholfenen Schullehrer und Organisten die außerordentliche schöpferische Begabung erkannten, zählt der Linzer Beamte und Musikkritiker Moritz von Mayfeld. Nach der Konzertaufführung von Bruckners Messe in d-Moll am 18. Dezember 1864 in Linz schrieb Mayfeld in seiner Rezension: »Wohin diese Wege ihn [Bruckner] führen werden, ist bei seinem ungewöhnlichen Reichtum an Fantasie und bei seinem musikalisch-technischen Wissen schwer voraus zu sehen. Nur dies Eine dürfte sicher sein, daß er schon in nächster Zukunft das Feld der Symphonie, und zwar mit größtem Erfolge bebauen dürfte.« Dies war wohl nicht die einzige Gelegenheit, bei der Mayfeld Bruckner drängte, sich als Symphoniker zu versuchen, was dieser in späteren Jahren launig mit den Worten kommentierte: »In die Symphonie hat mi der Mayfeld einig’hetzt«. Die 1. Symphonie entstand in Linz im Zeitraum zwischen Januar 1865 und April 1866. Ihre Uraufführung am 9. Mai im Linzer Redoutensaal trug dem Komponisten ersten – wenn auch nur lokalen – Ruhm ein, und sie bestärkte ihn zweifellos in seinem Entschluss, die Übersiedlung nach Wien in die Wege zu leiten. Dieser Neubeginn in der Hauptstadt der Monarchie war ein Wagnis, das Bruckner ebenso anstrebte wie fürchtete. Wenn auch viele der Befürchtungen (mitleidlos scharfe Rezensionen, berufliche Schwierigkeiten) tatsächlich eintrafen, so konnte doch nur Wien der Ort sein, wo Bruckner sich zu dem Symphoniker von internationalem Format entwickelte, den sein Gönner Mayfeld als einer der ersten Zeitgenossen in ihm geortet hatte. DIE SÄTZE Einige Wesensmerkmale der unverwechselbaren »Bruckner-Symphonie« späterer Jahre sind bereits in der »Ersten« ausgebildet: die Neigung zu Steigerungswellen und zu »Kraftausbrüchen« des vollen Orchesters, ein motorisches Scherzo mit lyrischem Trio. Noch nicht zu finden ist hier das Wiederaufgreifen der Thematik des Kopfsatzes im Finale, womit Bruckner ab der 2. Symphonie einen ideellen Bogen über die Gesamtheit der Sätze spannt. Der 1. Satz beginnt unmittelbar mit dem Hauptthema: Über einem energisch pochenden Marschrhythmus erklingt ein motivisch feingliedriges, punktiertes thematisches Gebilde, das im Gegensatz zu den Hauptthemen der Klassiker kein »Ende« hat, sondern sofort in Entwicklung übergeht. Abspaltungen des rhythmischen Kernmotivs führen zu einem ersten dynamischen Höhepunkt, dominiert von der Blechbläsergruppe. In der Paralleltonart Es-Dur folgt das kantable Seitenthema, vorgestellt von erster und zweiter Violine. Wie auch später bei Bruckner, hat die Linien­ führung der zweiten Violine keineswegs bloß die Funktion einer »Begleitung«, sondern kontrapunktiert die erste Violine mit eigenständiger Melodik. Eine neuer­ liche Steigerung führt zum kraftvollen, den Tonraum in großen Intervallschritten durchmessenden dritten Thema (»mit vollster Kraft«, wie Bruckner in der Partitur vorschreibt). Mit diesem Material bestreitet der Komponist die Durchführung, die mit der Verarbeitung des dritten Themas beginnt und in ihrem weiteren Verlauf das Kopfthema durch Sextolenfiguren der tiefen Streicher verfremdet. Analog zur Exposition, freilich nicht »wortgetreu«, folgt die Reprise, die in einen energischen, Anton Bruckner: 1. Symphonie 11 Anton Bruckner zur Entstehungszeit seiner 1. Symphonie (1868) Anton Bruckner: 1. Symphonie 12 rhythmisch prägnanten Abschluss mündet. Melancholisch und grüblerisch beginnt das dreiteilig angelegte Adagio; vereinzelte Seufzermotive finden sich erst nach längerer Einleitung zu melodischem Fluss zusammen. Eine Violinkantilene über der Triolenbegleitung der anderen Streicher führt zu einer Steigerung im gesamten Orchester. Deutlich kontrastiert zu diesem ersten Rahmenteil das lebhaftere Mittelstück des Satzes (Andante); die Wiederkehr der Eingangsthematik erscheint gemilderter und versöhnlicher. In diesem Satz hat Bruckner sich von Vorbildern völlig emanzipiert und Passagen von harmonischer Kühnheit gewagt, die auch den späteren Werken weit vorauseilen. Ebenfalls dreiteilig ist das Scherzo, das die charakteristischen Merkmale der »Bruckner-Scherzi« trägt: Dominanz des Rhythmisch-Motorischen, hämmernde Wiederholungen, Fortissimo-Steigerungen. In langsamerem Tempo und idyllischer Klanggebung setzt das Trio einen lyrischen Kontrast, ehe die Wiederholung des ScherzoRahmenteils einsetzt. Wie der Kopfsatz entspricht auch das Finale im zugrundeliegenden formalen Konzept der Sonatenform. Wieder werden drei Themen exponiert: Dem energischen Haupt­ motiv folgt ein Seitenthema mit einer spielerisch-heiteren Trillerfigur und schließlich die Schlussgruppe im vollen Orchester. In der Durchführung zieht Bruckner alle Register seiner kontrapunktischen Kunst; Themenkombinationen und motivische Engführungen stellen an das strukturelle Aufnahmevermögen der Hörer einige Anforderungen. In der Reprise ändert sich der Charakter des Hauptthemas: Statt des »tragischen« c-Moll des Satzbeginns wendet sich das harmonische Geschehen nun nach C-Dur, und in dieser Tonart findet der Satz seinen breit und triumphal auskomponierten Abschluss. URAUFFÜHRUNG IN LINZ Als Bruckner sein Werk am 9. Mai 1868 im Linzer Redoutensaal erstmals der Öffentlichkeit vorstellte, war der ohnehin kleine Saal nur schütter besetzt. Ein Unglücksfall wenige Tage zuvor – ein Schleppschiff hatte die Donaubrücke zum Einsturz gebracht – lenkte das Interesse der Linzer Bürger vom musikalischen Ereignis ab. Es war schwierig gewesen, ein Orchester zusammenzustellen, das den hohen und ungewohnten Anforderungen der Partitur gerecht werden konnte; das Linzer Theaterorchester, verstärkt durch Mitglieder des »Musikvereins« und kunstbegeisterte Dilettanten, tat sein Bestes, wenngleich der Komponist in den Proben oftmals dringend gebeten wurde, »unspielbare« Passagen zu ändern. Trotz der Unzulänglichkeit der Aufführung errang Bruckner – vor allem mit dem 1. und 3. Satz des Werkes – respektablen Erfolg und auch die Kritiken in der Linzer Lokalpresse zeigen, dass die Talentprobe wohlwollend aufgenommen wurde, obwohl es nicht an Vorbehalten fehlte. Die »Tagespost« berichtete am 12. Mai 1868 über das Konzert: »Die Sinfonie in C-moll, deren Ausführung um ihrer ungeheuren Schwierigkeiten willen den Mitwirkenden zur vollsten Ehre gereicht, zeugt wieder für die große Begabung Anton Bruckner’s, entwickelt große, reiche Schönheiten, die jedoch durch ein zu großes Haschen nach Effekt verdeckt werden. Um die Instrumente feinsinnig zu gebrauchen, um jedes der einzel- Anton Bruckner: 1. Symphonie 13 Anton Bruckner (Büste von Viktor Tilgner, 1891) nen Tonwerkzeuge in seiner Sprache reden lassen zu können, muß und kann dem In­ strumente eben nur das zugemuthet werden, was es zu leisten im Stande ist. Herr Bruckner hat wahrscheinlich selbst Klang­ effekte anders gefunden, als sie ihm beim Niederschreiben in der Partitur geklungen.« Moritz von Mayfeld bemängelte ebenfalls das »Streben nach Effekt«, sprach aber den Wunsch aus, dass Bruckner »bald eine seinen Fähigkeiten und musikalischen Kenntnissen entsprechende Stellung in der Residenzstadt Wien finden möchte, um seinem schöpferischen Schaffen mit Muße obliegen zu können«. Anton Bruckner: 1. Symphonie 14 »LINZER« UND »WIENER« FASSUNG Die 1. Symphonie führte während der weiteren Lebenszeit Bruckners ein Schattendasein; die späteren, in Wien entstandenen Werke traten in den Vordergrund. Josef Schalk und Ferdinand Löwe, die sich als Schüler und Freunde des Komponisten unermüdlich für ihn einsetzten, erkannten die erstaunlichen Qualitäten des Frühwerks und führten es – auf einzelne Sätze beschränkt – einem kleinen Kennerkreis vor. So wurde auch Hermann Levi, der Uraufführungsdirigent des »Parsifal« und Förderer Bruckners, 1889 mit der 1. Symphonie bekannt und äußerte sich Bruckner gegenüber begeistert: »I. Symphonie wundervoll!! Die muß gedruckt werden und gespielt – aber bitte – ändern Sie nicht zu viel – es ist alles gut, wie es ist, auch die Instrumentration ! Nicht zu viel retouchieren !« Nicht nur Levi, auch Hans Richter, der Wiener Dirigentenstar der Zeit, konnte für die Symphonie gewonnen werden. Bruckner berichtete seinem Steyrer Kopisten am 1. November 1889: »Hofk.[apellmeister] Hans Richter schwärmt unaussprechlich für meine I. Symphonie. Er ist mir mit der Partitur davongelaufen, läßt sie abschreiben und führt sie in einem philh. Concerte auf, nachdem er mich weinend abgeküßt und mir die Unsterblichkeit prophezeiht hat.« Bruckner selbst allerdings hinderte Richter daran: Wie bereits in vielen anderen Fällen übermannten ihn auch hier Skrupel und Zweifel. Obwohl Levi davon dringend abgeraten hatte, unterzog er das Werk einer gründlichen Revision. So verging ein Großteil des Jahres 1890 mit einer Neubearbeitung, die sich vorrangig auf Details der Instrumentation bezog und den Charakter des Werkes merklich veränderte. Während die »Linzer Fassung« mit ihrem unbekümmerten Schwung, mit »Frische und Wildheit« überzeugt, weshalb Bruckner sie als »'s kecke Beserl« bezeichnet hatte, profitiert die »Wiener Fassung« von der inzwischen 25-jährigen symphonischen Erfahrung des Komponisten. WIDMUNG AN DIE UNIVERSITÄT Im Herbst 1891 erfuhr Bruckner eine Ehrung, die er als die größte seines Lebens empfand: Die Wiener Universität ernannte ihn zum Ehrendoktor. In feierlichem Rahmen fand am 7. November des Jahres die Promotion statt, und Rektor Adolf Exner beschloss seine Rede mit den Worten: »Wo die Wissenschaft Halt machen muss, wo ihr unübersteigliche Schranken gesetzt sind, da beginnt das Reich der Kunst, welche das auszudrücken vermag, was allem Wissen verschlossen bleibt. Ich beuge mich vor dem ehemaligen Unterlehrer von Windhaag.« Bruckner, tief bewegt, widmete zum Dank der Universität seine 1. Symphonie. Am 13. Dezember 1891 wurde sie, erstmals seit der Linzer Uraufführung von 1868, in der umgearbeiteten Fassung dem Wiener Publikum in einem Konzert der Wiener Philharmoniker unter Hans Richter vorgestellt. Anton Bruckner: 1. Symphonie 15 »Das kecke Beserl« GABRIELE E. MEYER ERSTE BRUCKNER-AUFFÜHRUNGEN IN MÜNCHEN Ein Überblick über die Erstaufführungen der Brucknerschen Symphonien zeigt – wie schon in dem Anfang März 2016 erschienenen Beitrag über die 2. Symphonie ausgeführt –, dass vor der Gründung des Kaim-Orchesters (spätere Münchner Philharmoniker) im Oktober 1893 einzig das Königliche Hofopernorchester in der Lage war, Bruckners Musik zu spielen. Mit dem Hofopernorchester hob Hermann Levi zunächst die »Siebente« (1885), dann die »Dritte« (1893) für München aus der Taufe. Franz Fischer, ein weiterer Dirigent der Hofoper, hatte sich, für Levi eingesprungen, der »Vierten« angenommen (1890). Danach stellten sich die Kaim-Musiker der anspruchsvollen Aufgabe. Ferdinand Löwe dirigierte die »Fünfte« (1898; Deutsche Erstaufführung) und »Sechste« (1905), Siegmund von Hausegger die »Achte« (1900) und Bernhard Stavenhagen die »Neunte« (1903). Die »Zweite«, Bruckners »Zahme« hingegen erfuhr ihre erste Wiedergabe in München (und damit in Deutschland) schon 1897 und zwar durch ein Laienorchester. Die Symphonie Nr. 1 wiederum scheint im Frühjahr 1909 zunächst mehr schlecht als recht exekutiert worden zu sein, höchstwahrscheinlich durch das 1908 gegrün­dete »Tonkünstler-Orchester München«, wenn man dem Rezensenten der »Münchner Zeitung« Glauben schenken darf. Diese neue Vereinigung hatte sich während der weitreichenden Finanz- und Vertrauenskrise, die schließlich zur Auflösung des KaimOrchesters im selben Jahre führte, einen guten Namen gemacht. Nach der mit städtischer Unterstützung geglückten Revitalisierung und Umbenennung der alten Institution in »Orchester des Konzertvereins« im Herbst 1908 − ein Teil der ehemaligen Kaim-Musiker war trotzalledem beim Tonkünstler-Orchester verblieben − waren in München zeitweise zwei Konzertorchester zu hören. DIE »ERSTE« UNTER FERDINAND LÖWE Schon in der Wintersaison 1910/11 kam es zu einer neuerlichen Begegnung mit der 1. Symphonie. Ferdinand Löwe, der unermüdliche Bruckner-Adept, ging nun das Bruckners 1. Symphonie bei den Münchner Philharmonikern 16 Wagnis ein, alle neun Symphonien seines verehrten Lehrers in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufzuführen, wohlbemerkt nur in den damaligen Druckfassungen. In dem ersten Konzert des Zyklus am 17. Oktober 1910 stellte der Dirigent dem »kecken Beserl« noch Mozarts Bläser-Serenade B-Dur und die symphonische Dichtung »Tod und Verklärung« von Richard Strauss zur Seite. Zwar verwahrten sich die Musikkritiker zunächst scharf gegen die »gerade grassierende Zyklomanie«, nahmen jedoch das Vorhaben Löwes ausdrücklich aus, weil es in der projektierten Gestalt ein bisher noch ohne Vorgängerschaft dastehendes künstlerisches Unternehmen bedeute. »Nun will uns aber Ferdinand Löwe mit der Vorführung der Bruckner-Symphonien im Laufe einer Saison einmal ein übersichtliches und vollständiges Bild von der künstlerischen Persönlichkeit seines Meisters, ihrer Eigenart und Wesenseigentümlichkeit entrollen« (Münchner Zeitung, 18. Okt. 1910). PRESSEECHO Bemerkenswert sind die Rezensionen schon deshalb, weil hier nicht die ursprüngliche Version der »Ersten«, in diesem Falle wäre das die »Linzer Fassung« gewesen, zu Gehör gebracht wurde, sondern die 1890/91 entstandene Druckfassung, bekannt geworden unter dem Namen »Wiener Fassung«. Doch spricht der nicht namentlich genannte Kritiker derselben Zeitung trotz einiger Einschränkungen hinsichtlich Form, Inhalt und Disposition von den schon »ganz und gar unverkennbaren Zügen der Brucknerschen Art und Eigenwüchsigkeit: in thematischen und instrumentalen Gedanken ebenso wie im Gesamtausdruck und Einzelwendungen«. Und er fährt fort, dass diese Überlegung auch für den außer Frage stehen muss, »der das noch Ungeklärte an die- ser ersten c-moll-Symphonie nicht über­ sehen mag und ihrem Inhalt im einzelnen und der musikalischen Ausgestaltung mit unterschiedlichem Interesse gegenübersteht. Wer aber besonders die weitere Entwicklung des Tondichters im Auge hat und vergleicht, der wird an diesem Werke genug als bedeutsame Anzeichen und Anläufe, ja manches auch beträchtlich höher als solche, zu würdigen wissen. Jeder der vier Sätze bietet hinreichend Belege in dieser Richtung, in jedem findet sich urechtester Bruckner. Von besonderer Eindrucksstärke erwies sich mir diesmal der erste Satz, ebenso Teile des Adagio und der Schluß des Finale, dessen anfänglicher Verlauf allerdings vielleicht am wenigsten zu fesseln vermag.« Kritiker wie Zuhörer schienen von der »glanzvollen Wiedergabe« gleichermaßen beeindruckt gewesen zu sein. »Es war zum nicht geringen Teile das Verdienst Löwes, des berufenen BrucknerAnwaltes, der hier auch zur Einheit zusammenzuschweißen versteht, was manch anderen leicht wie Stückwerk unter den Händen zerbröckeln will.« DIE »ERSTE« IN DER »LINZER FASSUNG« Anton Bruckners 1. Symphonie, der, nicht zu vergessen, ein vom Komponisten später als »Schularbeit« beiseite gelegter symphonischer Versuch in f-Moll (1863) vo­ rausgegangen war (ein zweiter Versuch, die sogenannte »Nullte« entstand erst 1869) erlebte ihre wenig beachtete Uraufführung unter der Leitung des Komponisten am 9. Mai 1868 in Linz. Diese nach der Stadt benannte »Linzer Fassung« war durch Bruckners 1890/91 vorgenommene Um­ arbeitung und nachfolgende Drucklegung in Vergessenheit geraten. Erst im Herbst 1934 sollte sie wieder erklingen. Den An- Bruckners 1. Symphonie bei den Münchner Philharmonikern 17 lass zu dieser Aufführung am 2. September 1934 in Aachen unter der Leitung von Peter Raabe gab die »Internationale Bruckner-Gesellschaft«, deren Vorgängerin die 1927 in Leipzig gegründete »BrucknerGesellschaft« war. Sie hatte sich satzungsgemäß der Herausgabe des Gesamtwerks in »peinlich genauer Textkritik« verschrieben. heute die ursprüngliche Form wohl als die stärkere, originellere. Wirkliche Notwendigkeit der ›Verbesserungen‹ aus klanglichen Gründen (wie bei der sechsten und neunten Symphonie) liegt bei diesem Werk wohl nirgends vor. Man sollte demnach dieser Fassung den Vorzug bei Gesamtaus­ gaben geben. Die Wiedergabe war in allem hervorragend.« Nur wenige Wochen nach der erstmaligen Wiedergabe der »Linzer« Version in Aachen stellte sie Siegmund von Hausegger, der damalige Chefdirigent der Philharmoniker, auch in München vor, wobei im ersten Teil des Programms Beethovens »Egmont«Ouvertüre und das Violinkonzert D-Dur von Johannes Brahms zur Aufführung kamen. Da die Abweichungen zu Bruckners späterer Version bei weitem nicht so gravierend ausfielen, somit auch die Fassungsproblematik mitnichten die Komplexität der meisten anderen Symphonien erreichte, ist davon auszugehen, dass sowohl Raabe als auch Hausegger das alte Material entsprechend einrichteten oder aus einem Vorab­ exemplar des von Robert Haas heraus­ gegebenen und erst 1935 erschienenen Neudruckes innerhalb der Kritischen Gesamtausgabe dirigierten. WEITERE AUFFÜHRUNGEN PRESSEMEINUNG Oscar von Pander von den »Münchner Neuesten Nachrichten« rühmte die Aufführung der Symphonie als ausgezeichnet. Die Abweichungen zu der »Wiener Fassung« empfand er insgesamt als nicht sehr wesentlich. Sie bezögen sich vornehmlich »›auf rhythmische Erweiterung in kleinen Zügen‹, z. B. Einfügung von Einzeltakten, in Kürzungen und ausgleichender Uminstrumentierung, die einige jugendliche Keckheiten und Ecken beseitigte. Wir empfinden Während es die 2. Symphonie bis 1945 immerhin auf knapp zwanzig Aufführungen in München brachte, war die »Erste« nur ungefähr zehnmal zu hören. Über die Gründe, warum auch der große Bruckner-Dirigent Oswald Kabasta, von 1938 bis 1944 Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, sich nie für sie interessierte, ist nichts bekannt geworden. So sehr sich Kabasta zu den Symphonien Drei bis Neun, vor allem aber zu seiner unendlich geliebte »Achten« hingezogen fühlte, so wenig überzeugten ihn offensichtlich das »kecke Beserl« und die »Zahme«, von der »Nullten« ganz zu schweigen. Anscheinend betrachtete er diese Arbeiten lediglich als Vorstufe zu Bruckners eigentlichem symphonischen Kosmos. DIE »ERSTE« UNTER HANS ROSBAUD Mit Ausnahme der »Riesenquader der 5. und 8. Symphonie« verknüpfte Hans Rosbaud, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Leitung der Münchner Philharmoniker übernommen hatte, in seinem BrucknerZyklus zum 50. Todestag des Komponisten im Jahre 1946 die anderen Symphonien mit jeweils einem weiteren, stilistisch oder inhaltlich passenden Werk. Dem »kecken Beserl« stellte Rosbaud Bruckners 1862/63 Bruckners 1. Symphonie bei den Münchner Philharmonikern 18 entstandene Ouvertüre in g-Moll voran. Der Dirigent erweiterte sein Anliegen, den Zuhörern ein »tiefes und wohlgegründetes Verständnis und ein wirkliches Eindringen in das Werk Anton Bruckners zu vermitteln« noch dahingehend, dass er eine Einführung in das jeweilige Werk anbot. Leider gibt es von dem ersten Abend des Zyklus keine Kritik, weil die »Süddeutsche Zeitung« noch 1948 nicht jeden Tag erschien. Doch geht Heinz Pringsheim bei seiner Besprechung des zweiten Abends immerhin indirekt auf das Eröffnungskonzert ein. Er meinte, dass die nach den bisherigen Erfahrungen schon aufs höchste gespannten Erwartungen womöglich noch übertroffen wurden. »Nicht nur, weil die bereits in Wien entstandene zweite c-moll-Symphonie doch wesentlich reicher und reifer ist als die Linzer, sondern weil ihre Interpretation durch Hans Rosbaud mit den Münchner Philharmonikern einen Höhepunkt nachschaffender Kunst bedeutete und deshalb die stärksten Eindrücke hinterließ.« tung von Gustavo Gimeno nach sehr langer Zeit mal wieder in der »Wiener Fassung«, also der Version von 1890/91, mit deren Niederschrift der Komponist nur wenige Tage nach Abschluss der Zweitfassung seiner »Achten« und ohne ersichtlichen Zwang von außen begonnen hatte. Die Wahl der »richtigen« Fassung indessen ist nach wie vor Sache des jeweiligen Dirigenten. Für die Münchner Philharmoniker, deren Bruckner-Tradition am 30. Dezember 1896 begann und die sich seit der zweimaligen Amtszeit ihres Chefdirigenten Ferdinand Löwe (1897−1898 und 1908−1914) dem Brucknerschen Werk besonders verbunden fühlen, dürfte es nach wie vor ausgesprochen reizvoll sein, die neun Symphonien auch hinsichtlich ihrer komplexen Entstehungs- und Bearbeitungsgeschichte immer wieder und von neuem zur Diskussion zu stellen − nicht zuletzt deshalb, weil es nach wie vor schwierig bleibt, von Bruckners letztem Willen zu sprechen. RESÜMEE Noch ärger als der »Zweiten« erging es der »Ersten« nach 1945. Nach Hans Rosbauds Wiedergabe in der Aula der Universität am 8., 10., 11. und 13. Oktober 1946 nahm sich lediglich Fritz Rieger (1951, 1954 und 1965) ihrer an, wobei auch er die ungestümere »Linzer Fassung« wählte. Rudolf Kempe, Sergiu Celibidache, James Levine, Christian Thielemann und Lorin Maazel mieden die »Erste« ebenso wie die meisten Gastdirigenten. Einzig Dennis Russell Davies setzte sie Anfang Dezember 2003 aufs Programm, in der Wiedergabe gleichermaßen präzise und inspiriert dirigiert. − In den beiden philharmonischen Konzerten am 14. und 15. Juni 2017 hingegen erklingt Bruckners »Erste« unter der Lei- Bruckners 1. Symphonie bei den Münchner Philharmonikern 19 Ausblick auf den Bruckner-Zyklus bei den Münchner Philharmonikern im Konzertjahr 1946/47 Bruckners 1. Symphonie bei den Münchner Philharmonikern 20 Gustavo Gimeno DIRIGENT de France, dem Rotterdam Philharmonic und der Philharmonia Zürich. 2015 leitete Gustavo Gimeno das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam auf seiner AsienTournee. Sein Operndebüt gab er im selben Jahr mit Bellinis »Norma« an der Oper in Valencia. Im März 2017 dirigierte er mit Verdis »Simon Boccanegra« seine erste Luxemburger Opernproduktion. Nach seinem viel beachteten Debüt beim Royal Concertgebouw Orchestra im Februar 2014 erreichten den jungen Spanier Gustavo Gimeno in kürzester Zeit Angebote zahlreicher renommierter Klangkörper. Seit der Saison 2015/16 ist er Musikdirektor des Orchestre Philharmonique du Luxembourg. In jüngster Vergangenheit führten ihn Gastdirigate zu Orchestern wie dem Cleveland Orchestra, dem City of Birmingham Symphony Orchestra, dem Orchestre National Seine internationale Dirigentenkarriere begann der in Valencia geborene Musiker als Assistent von Mariss Jansons im Jahr 2012, damals noch Schlagzeuger beim Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam. Noch während seiner Zeit als Orchestermusiker widmete sich Gustavo Gimeno intensiv dem Dirigierstudium am Konservatorium von Amsterdam und besuchte zahlreiche Meisterklassen. Wichtige Erfahrungen sammelte er außerdem als Assistent von Bernard Hai­ tink sowie von Claudio Abbado, der als Gimenos wichtigster Mentor seinen Werdegang intensiv förderte und in vielerlei Hinsicht prägte. Bei den Münchner Philharmonikern ist Gustavo Gimeno gern gesehener Gast, seit er im Jahr 2014 für den erkrankten Lorin Maazel in München einsprang und anschließend auch Tourneekonzerte für ihn übernahm. Die Künstler 21 Sebastian Förschl Alexej Gerassimez SCHLAGZEUG SCHLAGZEUG Der Schlagzeuger Sebastian Förschl erhielt seine Ausbildung an der Hochschule für Musik und Theater München bei Peter Sadlo und Franz Bach. Im Sommer 2009 legte er die Diplomprüfung ab und trat in die Meisterklasse über. Sebastian Förschl war Mitglied des Bayerischen Landesjugend­ orchesters und spielt seit 2005 in der Jungen Deutschen Philharmonie. Weitere Orchesterengagements führten ihn ans Mainfrankentheater Würzburg und zum Staatstheater Stuttgart. Außerdem gewann Sebastian Förschl den 1. Bundespreis beim Wettbewerb »Jugend musiziert« sowie den Sonderpreis für die beste Interpretation von »Tempo di Valse« beim Bertold HummelWettbewerb 2007. 2009 wurde er in die Orchesterakademie der Münchner Philharmoniker aufgenommen und gewann kurze Zeit später das Probespiel für die Position des 1. Schlagzeugers. Der in Essen geborene Percussionist Alexej Gerassimez absolvierte sein Studium bei Christian Roderburg und Stefan Hüge an der Hochschule für Musik in Köln, an der Hochschule für Musik Hanns Eisler und bei Peter Sadlo an der Hochschule für Musik und Theater München. Als Solist ist er Gast international renommierter Orchester, u. a. der NDR Radiophilharmonie Hannover, des Konzerthausorchesters Berlin und des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR. Daneben gestaltet Alexej Gerassimez Solo-Programme, ist ein begeisterter Kammermusiker und tritt mit seiner eigenen Percussion Group bei Festivals wie dem Heidelberger Frühling, dem Schleswig-Holstein Musik Festival und dem Bonner Beethovenfest auf. Sein breites Repertoire erweitert er durch eigene Kompositionen, die von der Auslotung rhythmischer und klanglicher Möglichkeiten, als auch durch die Kreation eigenwilliger Sounds gekennzeichnet sind. Die Künstler 22 Jörg Hannabach Michael Leopold SCHLAGZEUG SCHLAGZEUG Jörg Hannabach erhielt seine Ausbildung bei Arnold Riedhammer am Münchner Richard-Strauss-Konservatorium und bei Franz Bach an der Hochschule für Musik in Frankfurt, wo er sein Studium mit dem Künstlerischen Diplom abschloss. 1992 wurde er Mitglied der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, bevor er 1998 als stellvertretender Solopauker zum Münchner Rundfunkorchester wechselte. Seit 2009 ist er Schlagzeuger bei den Münchner Philharmonikern. Von 2001 bis 2008 hatte er einen Lehrauftrag für Orchesterstudien an der Musikhochschule Augsburg inne. Kammermusikalisch engagiert sich Jörg Hanna­bach in verschiedenen Schlagzeug­ ensembles, u. a. im Schlagzeugduo »Municussion« und dem Schlagzeugquartett der Münchner Philharmoniker. Michael Leopold studierte Schlagzeug bei Peter Sadlo an der Hochschule für Musik und Theater in München. 2007 gewann er einen 1. Preis beim Bundeswettbewerb »Jugend musiziert« und erhielt 2009 den Kulturförderpreis seiner Heimatstadt Pfaffenhofen a. d. Ilm. Er war Mitglied des Bayerischen Landesjugendorchesters und »ATTACCA«, dem Jugendorchester der Bayerischen Staats­oper München. Weitere Orchester­ e rfahrung sammelte er u. a. durch Praktika und Engagements bei den Stuttgarter Philharmonikern, dem Bayerischen Staatsorchester, dem Theater Coburg und den Münchner Symphonikern. Von 2014 bis 2016 war Michael Leopold Akademist der Münchner Philharmoniker, anschließend wurde er dort festes Orchestermitglied. Die Künstler 23 Simone Rubino SCHLAGZEUG Der 1993 in Turin geborene Simone Rubino studierte zunächst in seiner Heimatstadt am Konservatorium Giuseppe Verdi, bevor er an die Münchner Musikhochschule zu Peter Sadlo wechselte. 2014 gewann er fulminant den ARD Musikwettbewerb und spielte daraufhin Konzerte mit dem Symphonie­ orchester des Bayerischen Rundfunks, dem Deutschen Sinfonieorchester Berlin und dem Orchestra della RAI Turin. Neben seinen Auftritten als Solist liegt ihm die Kammermusik am Herzen, was seine Konzerte mit den Schlagzeug-Quartetten »Out of Time« und »Esegesi« bezeugen. Die Saison 2016/17 startete der Perkussionist mit einem Highlight: Im Rahmen des Lucerne Festivals gab er sein Debüt mit den Wiener Philharmonikern, an dessen Anschluss ihm offiziell der Credit Suisse Young Artist Award verliehen wurde. Außerdem gab er sein Debüt in der New Yorker Carnegie Hall. Weitere Höhepunkte waren seine Auftritte mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom im Frühjahr 2017. Die Künstler 24 Altlasten der Vergangenheit Herbert von Karajans verhindertes Gastspiel bei den Münchner Philharmonikern GABRIELE E. MEYER Neben dem Bühneneingang zum großen Konzertsaal im Gasteig hängt ein kaum zu übersehendes Plakat der Münchner Philharmoniker, worauf in großen Lettern der Name Herbert von Karajan prangt. Der schon damals gefeierte Dirigent hatte für sein Münchner Debüt 1948 Werke von Mozart, Debussy und Brahms gewählt. Die drei Auftritte sollten in der Aula der Universität, dem Konzertsaal der Münchner Philharmoniker nach 1945, stattfinden; die Tonhalle war am 25. April 1944 bei einem verheerenden Bombenangriff auf die Innenstadt zerstört worden. Am 26. November 1948 veröffentlichte auch der »Münchner Merkur« unter der Rubrik »Veranstaltungen« die genauen Daten der drei Termine: »Die Münchener Philharmoniker, Aula der Universität. Konzert. Freitag, 3. 12. (1. Auff. i. Abonn.), Samstag, 4. 12. (2. Auff. i. Abonn.), jew. 18.30, Sonntag, 5. 12. (auß. Abonn.), 17 U.: 5. Philharmonisches Konzert. Ltg.: Herbert v. Karajan, Mozart: Haffner-Symph.; Debussy: La mer; Brahms: 1. Symph. c-moll.« Man kann sich lebhaft vorstellen, wie gespannt Musik- freunde und Kritiker hierzulande dem Ereignis entgegenfieberten. Umso größer mag die Enttäuschung für die Münchner gewesen sein, als sie erfuhren, dass das »V. Philharmonische Konzert am 3., 4. und 5. Dez. wegen Einreiseschwierigkeiten Herbert von Karajans verlegt werden mußte«. Die hektische Aktivität hinter den Kulissen hatte offenbar nichts ausrichten können. Zwei Tage später informierte der »Merkur« seine Leser über die Verlegung auf einen späteren Zeitpunkt und das Recht zur Kartenrückgabe. »Die außer Abonn. gekauften Eintrittskarten werden bis spätestens Montag, 6. 12., mittags 12 Uhr an der Kasse der Philh. (Rathaus-Stadthauptkasse) zurückgenommen.« Damit war klar, dass mit einem Auftritt Karajans in absehbarer Zeit nicht zu rechnen war. Am 6. Dezember 1948 war, wiederum im »MM« und unter dem Namenskürzel »gl«, ein inzwischen eingegangener, möglicherweise lancierter, Brief mit der Überschrift »Fragen um Karajan« an die Öffentlichkeit Aus der Orchestergeschichte 25 Das Ankündigungsplakat zu Karajans Gastdirigaten bei den Münchner Philharmonikern Aus der Orchestergeschichte 26 gelangt, in dem über die Gründe von Karajans Einreiseverbot Mutmaßungen angestellt wurden: »Wir lesen mit Erstaunen, daß das kommende Abonnementkonzert der Münchner Philharmoniker verschoben werden muß, weil sich Einreiseschwierigkeiten für den Dirigenten Herbert von Karajan ergeben haben. Wir können nicht begreifen, daß es dreieinhalb Jahre nach Kriegsende nicht möglich sein soll, einen in Österreich zugelassenen Dirigenten über die deutsche Grenze zu bringen. Das Programm der Konzerte mit Karajan liegt seit Monaten fest, es ist seit Wochen plakatiert. Viele Deutsche schätzen Karajan sehr hoch, manche stellten ihn über Furtwängler. In einer der größten amerikanischen Zeitschriften lasen wir kürzlich, daß man in Amerika Karajan als den gegebenen Nachfolger Toscaninis ansieht. Warum darf er nicht nach Deutschland ? Sind es grenztechnische Schwierigkeiten oder politische ? Wir möchten bei dieser Gelegenheit sagen, daß wir schon lange nicht begreifen, weswegen es leichter ist, auf legalem Wege nach der Schweiz oder Großbritannien oder nach den Vereinigten Staaten zu gelangen als nach Österreich ? Oder sollte man es Karajan mehr verübeln, daß er während des Dritten Reiches mit der Berliner Staatskapelle [öfter] im Ausland konzertiert hat, als Furtwängler [mit] den Philharmonikern ?« Der Brief ist in mehrfacher Hinsicht inte­ ressant, scheint er doch von einem Kenner der damaligen Musikszene verfasst worden zu sein. So gab es den indirekt angesprochenen Konflikt zwischen Furtwängler und Karajan in der Tat, wobei möglicherweise der Umstand eine Rolle gespielt haben dürfte, dass Karajan 1935 sich nochmals um Aufnahme in die NSDAP bemüht hatte, Furtwängler aber nie Mitglied gewesen war. Karajans erster Parteieintritt am 8. April 1933 in Ulm blieb zwar formell gültig, ruhte aber wegen des ab Juni 1933 geltenden Verbotes der NSDAP in Österreich. 1939 erfolgte dann doch die Rückdatierung auf den 1. Mai 1933. In Furtwänglers Augen ließ sich Karajan nur allzu bereitwillig von den Nationalsozialisten manipulieren, was angesichts der zahlreichen, auch parteinahen Konzerte nicht von der Hand zu weisen ist. Und noch im Dezember 1944 begann er mit dem Reichs-­ Bruckner-Orchester in Linz mit dem erklärten Ziel zu arbeiten, es zum besten Orchester des Reiches zu formen. Nach seinem letzten Konzert im Februar 1945 mit der Berliner Staatskapelle setzte sich Karajan nach Oberitalien ab. − Die bereits in der amerikanischen Presse formulierte Überlegung zu einer Toscanini-Nachfolge durch Karajan hingegen kam viel zu früh, weil der italienische Dirigent und glühende Anti­ faschist weder Furtwängler noch Karajan als seinen Nachfolger akzeptiert hätte. »Ich will nichts mit Furtwängler, Karajan und anderen zu tun haben, die im Dienste Hitlers und der Nazis gestanden haben.« Dank der Vermittlung eines britischen Offiziers konnte Karajan sehr bald nach Kriegsende wieder auftreten. Die im Herbst 1945 von den Amerikanern anberaumten Befragungen nach Parteizugehörigkeit und seinen Beziehungen zu den nationalsozialistischen Machthabern wurde zunächst ohne schriftliche Belege beiseite gelegt. Karajan habe »genug gelitten«, hieß es. Schon am 12. Januar 1946 gab er in Wien sein erstes Konzert. Nun aber war es die sowjetische Besatzungsmacht, die ihn wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft mit Berufsverbot belegte; die Aufhebung erfolgte erst 1947. Karajan scheint die Unterbrechung nicht sonderlich angefochten Aus der Orchestergeschichte 27 Herbert von Karajan (1938) zu haben, hatte er doch inzwischen Walter Legge kennengelernt, der ihm sogleich eine Reihe von Schallplattenaufnahmen bei Columbia Records (später EMI) mit seinem neu gegründeten »Philharmonia Orches­ tra« ermöglichte. Warum also die geplante Konzertserie mit den Münchner Philharmonikern im letzten Moment wegen angeblicher Einreisebeschränkungen abgesagt wurde, bleibt rätselhaft. Zwar kam es in den Nachkriegswirren und bei den ob der Masse an auszuwertenden Fragebögen und anderem Informationsmaterial teilweise überforderten Siegermächten auch zu widersprüchlichen Entscheidungen, doch war Karajans Entnazifizierung zu diesem Zeitpunkt schon abgeschlossen. Vielleicht haben spontane politische Animositäten auf lokaler Ebene die Einreise verhindert, vielleicht die amerikanische Besatzungsmacht in Bayern ein unvermitteltes Veto ausgesprochen. Die drei Konzerte mit den Münchner Philharmonikern wurden allerdings ebensowenig nachgeholt wie Karajan auch später nie mehr für ein Gastspiel zu gewinnen war. Aus der Orchestergeschichte 28 Münchner Klangbilder TITELGESTALTUNG ZUM HEUTIGEN KONZERTPROGRAMM »Um einen komplett neuen und einzigartigen Ansatz für das Motiv zu finden, analysierte ich bisherige Philharmoniker-Plakate. Zudem suchte ich Inspiration und Motive im Alltag. Diese hielt ich fotografisch fest, prüfte jedoch parallel einige meiner älteren Werke auf ihre Verwendbarkeit und Plakativität. Schließlich entschied ich mich für ein Foto, welches ich einige Monate zuvor in einem Leipziger Hinterhof gemacht hatte: Das Motiv des hellen Tunnelendes brachte meines Erachtens bereits die notwendige ›Spannung‹ mit sich, um den Blick des vorbeigehenden Betrachters zumindest für einen Moment festzuhalten. Sowohl das Bild als auch die Musik Gubaidulinas vermitteln ein suchendes, experimentelles, treibendes Gefühl. Auch das Spiel mit (Klang-) Räumen und Bewegung ließ sich in beidem wiedererkennen. Aus der annähernd quadratischen Grundform der Ausfahrt ließ sich zudem nahezu ›unsichtbar‹ die zu verwendende Grundform konstruieren. Ich würde die Musik von Gubaidulina als eine Aneinanderreihung verschiedener Räume beschreiben, in die man geführt wird. Es gibt Pausen, Klappern und Echos wie in einem Tunnel. Die Fluchtpunktperspektive verbildlicht das in die Tiefe treibende der Musik. Das Aufbrechen des Bildraumes steht für die unregelmäßige, arhythmische Setzung musikalischer Elemente: Klopfgeräusche, Tritte, Hall, Stadtgeräusche, Alltagsgeräusche.« DER KÜNSTLER Jonas Berrenberg, 1997 in München geboren, absolviert momentan seine allgemeine Hochschulreife an der Fachhochschule für Gestaltung in Giesing. Neben seinem Interesse an Fotografie arbeitet der Künstler primär im Bereich des praktischen Designs. In naher Zukunft strebt er deshalb an, seine Kenntnisse in einem Studium für Produkt- oder Industriedesign zu erweitern. Er würde sich nicht direkt als ›Stadtmenschen‹ bezeichnen, da er zwar in München geboren, jedoch auch einige Jahre auf dem Land aufgewachsen ist. Dennoch fühle er sich München sehr verbunden und genieße die Möglichkeiten, die die Stadt ihm bietet. DIE SCHULE Unsere Fachoberschule bietet die Ausbildungsrichtung Gestaltung an. In den Profilfächern und im Praktikum werden bildnerische Grundlagen im zwei- und drei­ dimensionalen Bereich der »angewandten Kunst« vermittelt. So werden gute Voraussetzungen für ein Studium im Fachbereich Gestaltung an einer Fachhochschule geschaffen. Jonas Berrenberg 29 Montag 19_06_2017 19 Uhr Juko Konzert der Münchner Philharmoniker mit dem ODEON-Jugendsinfonieorchester München Samstag 24_06_2017 19 Uhr d Sonntag 25_06_2017 11 Uhr m Montag 26_06_2017 20 Uhr Uni-Konzert ROBERT SCHUMANN »Ouvertüre, Scherzo und Finale« E-Dur op. 52 JOHANNES BRAHMS Variationen über ein Thema von Joseph Haydn B-Dur op. 56a MODEST MUSSORGSKIJ »Eine Nacht auf dem Kahlen Berge« LUDWIG VAN BEETHOVEN Ouvertüre zu »Leonore« Nr. 3 C-Dur op. 72 WOLFGANG AMADEUS MOZART Konzert für Klavier und Orchester C-Dur KV 503 JOHANNES BRAHMS Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73 GUSTAVO GIMENO, Dirigent JULIO DOGGENWEILER FERNÁNDEZ, Künstlerische Leitung und Einstudierung ODEON-Jugendsinfonieorchester München ANDREAS KORN, Moderation KRZYSZTOF URBAŃSKI, Dirigent PIOTR ANDERSZEWSKI, Klavier Donnerstag 06_07_2017 20 Uhr b Freitag 07_07_2017 20 Uhr c JOHANNES BRAHMS Serenade Nr. 1 D-Dur op. 11 »Nänie« op. 82 »Gesang der Parzen« op. 89 »Schicksalslied« op. 54 ANDREW MANZE, Dirigent PHILHARMONISCHER CHOR MÜNCHEN, Einstudierung: Andreas Herrmann Vorschau 30 Die Münchner Philharmoniker CHEFDIRIGENT VALERY GERGIEV EHRENDIRIGENT ZUBIN MEHTA 1. VIOLINEN Sreten Krstič, Konzertmeister Lorenz Nasturica-Herschcowici, Konzertmeister Julian Shevlin, Konzertmeister Odette Couch, stv. Konzertmeisterin Claudia Sutil Philip Middleman Nenad Daleore Peter Becher Regina Matthes Wolfram Lohschütz Martin Manz Céline Vaudé Yusi Chen Iason Keramidis Florentine Lenz Vladimir Tolpygo Georg Pfirsch Bernhard Metz Namiko Fuse Qi Zhou Clément Courtin Traudel Reich Asami Yamada BRATSCHEN Jano Lisboa, Solo Burkhard Sigl, stv. Solo Max Spenger Herbert Stoiber Wolfgang Stingl Gunter Pretzel Wolfgang Berg Beate Springorum Konstantin Sellheim Julio López Valentin Eichler 2. VIOLINEN VIOLONCELLI Simon Fordham, Stimmführer Alexander Möck, Stimmführer IIona Cudek, stv. Stimmführerin Matthias Löhlein, Vorspieler Katharina Reichstaller Nils Schad Clara Bergius-Bühl Esther Merz Katharina Schmitz Ana Vladanovic-Lebedinski Michael Hell, Konzertmeister Floris Mijnders, Solo Stephan Haack, stv. Solo Thomas Ruge, stv. Solo Herbert Heim Veit Wenk-Wolff Sissy Schmidhuber Elke Funk-Hoever Manuel von der Nahmer Isolde Hayer Das Orchester 31 Sven Faulian David Hausdorf Joachim Wohlgemuth KONTRABÄSSE Sławomir Grenda, Solo Fora Baltacigil, Solo Alexander Preuß, stv. Solo Holger Herrmann Stepan Kratochvil Shengni Guo Emilio Yepes Martinez Ulrich von Neumann-Cosel FLÖTEN Michael Martin Kofler, Solo Herman van Kogelenberg, Solo Burkhard Jäckle, stv. Solo Martin Belič Gabriele Krötz, Piccoloflöte OBOEN Ulrich Becker, Solo Marie-Luise Modersohn, Solo Lisa Outred Bernhard Berwanger Kai Rapsch, Englischhorn KLARINETTEN Alexandra Gruber, Solo László Kuti, Solo Annette Maucher, stv. Solo Matthias Ambrosius Albert Osterhammer, Bassklarinette Ulrich Haider, stv. Solo Maria Teiwes, stv. Solo Robert Ross Alois Schlemer Hubert Pilstl Mia Aselmeyer TROMPETEN Guido Segers, Solo Florian Klingler, Solo Bernhard Peschl, stv. Solo Markus Rainer POSAUNEN Dany Bonvin, Solo Matthias Fischer, stv. Solo Quirin Willert Benjamin Appel, Bassposaune TUBA Ricardo Carvalhoso PAUKEN Stefan Gagelmann, Solo Guido Rückel, Solo SCHLAGZEUG Sebastian Förschl, 1. Schlagzeuger Jörg Hannabach Michael Leopold HARFE Teresa Zimmermann, Solo FAGOTTE ORCHESTERVORSTAND Raffaele Giannotti, Solo Jürgen Popp Johannes Hofbauer Jörg Urbach, Kontrafagott Stephan Haack Matthias Ambrosius Konstantin Sellheim HÖRNER Paul Müller INTENDANT Jörg Brückner, Solo Matias Piñeira, Solo Das Orchester 32 IMPRESSUM TEXTNACHWEISE BILDNACHWEISE Herausgeber: Direktion der Münchner Philharmoniker Paul Müller, Intendant Kellerstraße 4 81667 München Lektorat: Christine Möller Corporate Design: HEYE GmbH München Graphik: dm druckmedien gmbh München Druck: Gebr. Geiselberger GmbH Martin-Moser-Straße 23 84503 Altötting Susanne Stähr, Thomas Leibnitz und Gabriele E. Meyer schrieben ihre Texte als Originalbeiträge für die Programmhefte der Münchner Philharmoniker. Künstlerbiographien: nach Agenturvorlagen. Alle Rechte bei den Autorinnen und Autoren; jeder Nachdruck ist seitens der Urheber genehmigungs- und kostenpflichtig. Abbildungen zu Sofia Gubaidulina: The Japan Art Association, The Sankei Schimbun; © F. HoffmannLa Roche Ltd. Ab­bildungen zu Anton Bruckner: Renate Ulm (Hrsg.), Die Symphonien Bruckners – Entstehung, Deutung, Wirkung, Kassel 1998. Künstlerphotographien: Marco Borg­ greve (Gimeno), wildundleise.de (Förschl, Hannabach), Nikolaj Lund (Gerassimez), Hans-Dieter Goehre (Rubino), Ulrich von Neumann-Cosel (Leopold). Gedruckt auf holzfreiem und FSC-Mix zertifiziertem Papier der Sorte LuxoArt Samt Impressum HAUPTSPONSOR UNTERSTÜTZT SONNTAG, 16. JULI 2017, 20.00 UHR V A L E RY G E R G I E V D I R I G E N T Y U J A W A N G KL AV I E R MÜNCHNER PHILHARMONIKER BR AHMS: KONZERT FÜR KL AVIER UND ORCHESTER NR.1 D - MOLL OP.15 MUSSORGSKI J: »BILDER EINER AUSSTELLUNG« (INSTRUMENTIERUNG: M AURICE R AVEL) KARTEN: MÜNCHEN TICKET TEL. 089/54 81 81 81 UND BEKANNTE VVK-STELLEN WWW.KLASSIK−AM−ODEONSPLATZ.DE ’16 ’17 DAS ORCHESTER DER STADT