Bruckner ist der Schubert unserer Zeit« Zu Anton

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»Bruckner ist der Schubert unserer Zeit«
Zu Anton Bruckners 4. Sinfonie Es-Dur (»Romantische«)
Viele populäre Werktitel der klassisch-romantischen Musik stammen nicht von den
Komponisten selbst, sondern wurden den Werken wie Etiketten nachträglich
angeheftet. Anders verhält es sich mit Anton Bruckners vierter Sinfonie, der so
genannten »Romantischen«: Bruckner selbst nannte sie so. Fast alle Definitionen
von Romantik haben irgendwie mit der Vorstellung einer »Gegenwelt« zur
bestehenden Welt zu tun. Dies gilt auch für Bruckner, der im Entstehungsjahr dieser
Sinfonie bekannte: »Weil die gegenwärtige Weltlage geistig gesehen Schwäche ist,
flüchte ich zur Stärke und schreibe kraftvolle Musik.« Ein Kritiker sprach von
Bruckner als vom »Schubert unserer Zeit«. Und Bilder einer romantischen
Mittelalter-Sehnsucht prägten Bruckners eigene Deutungen der Vierten. Der erste
Satz, meinte er, sei »ein romantisches Bild von einer mittelalterlichen Stadt«; das
Horn sei »das Horn, das vom Rathause herab den Tag ausruft! Dann entwickelt sich
das Leben; in der Gesangsperiode ist das Thema: der Gesang der Kohlmeise Zizipe.
2. Satz: Lied, Gebeth, Ständchen. 3. Jagd und im Trio wie während des
Mittagsmahles im Wald ein Leierkasten aufspielt.«
Letzten Endes erschließt sich diese Musik auch ohne Kenntnis programmatischer
Kommentare. Der erste Satz ist ein traditioneller Sonatenhauptsatz und dennoch
von hoher Originalität. Über dem piano-pianissimo tremolierenden Klanggrund der
Streicher erhebt sich die Stimme der Hörner, die ein rhythmisch scharf punktiertes,
lapidares Motiv exponieren – mehr klingendes Naturereignis als ausgebildetes
Thema. Nach einem überleitenden Motiv im »Bruckner-Rhythmus« setzt ein heiteres
Vogelstimmenthema ein, das die Stelle des lyrischen Seitenthemas einnimmt.
Ungewöhnlich ist, dass Bruckner im Durchführungsteil ein neues, choralartig
feierliches Thema der Blechbläser einführt.
Das den ersten Satz prägende Intervall der fallenden Quinte kehrt im Andantesatz
in den Celli und Holzbläsern wieder. Doch im Charakter schlägt der zweite Satz ganz
andere Töne an. Es ist eine Art Trauermarsch mit einem Choral in den Streichern.
Eine lange innige Melodie der Bratschen setzt einen lyrischen Gegensatz.
Bemerkenswert sind die Proportionen dieses Satzes: Seine in der Themenfolge
weitgehend identischen zwei Teile sind annähernd gleich lang. Ursprünglich hatte
Bruckner an dritter Stelle ein Scherzo vorgesehen, das in B-Dur begann und in EsDur endete. Doch komponierte er für die meist aufgeführte zweite Fassung von
1878 ein Jagdscherzo nach, in dem wiederum den Hörnern eine tragende Rolle
zukommt. Streicher und Holzbläser kommen vor allem im eigenwilligen Trio mit
seiner Leierkasten-Thematik zur Geltung.
Wie planmäßig auch der »Romantiker« Bruckner bisweilen beim Komponieren
vorgegangen ist, zeigt das Finale. Es umfasst ein Vorspiel und dreimal 180 Takte –
kaum ein Zufall, eher das Resultat genauer Kalkulation. Ein 42 Takte langer
Orgelpunkt grundiert das Hauptthema des Finalsatzes, das mit zwei
niederstürzenden Intervallen höchst dramatisch gehalten ist. Bald aber ruft sich das
Quintmotiv aus dem ersten Satz in Erinnerung. Eine für Bruckner typische
Apotheose steht am Ende: eine sich über 65 Takte aufschraubende Steigerung,
zugleich Triumph und Untergang. In der ersten Fassung von 1874 hieß dieser Satz
noch »Volksfest«; diesen Titel hat Bruckner in der späteren Fassung gestrichen.
Deren Uraufführung 1881 in Wien unter Hans Richter war ein riesiger Erfolg, den
Bruckner – enttäuscht vom Misserfolg seiner Dritten und materiell nahezu verarmt –
wahrhaft brauchen konnte. Vielleicht trug auch das Reizwort »Romantische « dazu
bei.
Sigfried Schibli
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