Geschichte und Entwicklungslinien der Qualitativen Sozialforschung Geschichte der qualitativen Sozialforschung Zwei Entwicklungslinien: USA und Deutschland USA: Anfänge in den 20er Jahren Klassiker: Thomas/Znaniecki: „The Polish Peasent in Europe and America“ (1918/22) Die wissenschaftliche Wiege qualitativer Sozialforschung: „Chicago School of Sociology“ - 20er Jahre Vorläufer der „Chicago School“ Die Großstadt-Dokumente von Berlin Schriftenreihe in Berlin 1904-1908 Herausgeber: Hans Ostwald (Schriftsteller) Insgesamt 50 Bände Das Ziel: eine soziologische Beschreibung Berlins als moderner Großstadt Interdisziplinäre Studien Themen der Großstadt-Dokumente Hans Ostwald: Dunkle Winkel in Berlin Magnus Hirschfeld: Berlins drittes Geschlecht Hans Ostwald: Zuhältertum in Berlin Max Marcuse: Uneheliche Mütter Johannes Werthauer: Moabitrium. Szenen aus der GroßstadtStrafrechtspflege Hans Hyan: Schwere Jungen Ernst Schuchardt: Sechs Monate Arbeitshaus Johannes Werthauer: Sittlichkeitsdelikte in der Großstadt Albert Südekum: Großstädtisches Wohnungselend Alfred Lasson: Gefährdete und verwahrloste Jugend Großstadtdokumente und Chicago School 1914 – Anschaffung der 50 Bde. ‚Großstadtdokumente‘ für die Bibliothek der Uni-Chicago Entdeckung der Bücher durch Orientierung eigener Forschung an den Großstadtdokumenten Max Winter als Obdachloser verkleidet Leihkarte: William I. Thomas Der erste Klassiker der qualitativen Sozialforschung: Thomas/Znaniecki: The Polish Peasant in Europe and America. 2 Bände. Boston 1918/22 1. Band: Analyse von Briefen, Leserbriefen, Zeitungsartikeln, Akten von Kirchengemeinden 2. Band: Lebensgeschichte des polnischen Bauern „Wladek. W.“ Bedeutung biographischer Quellen für die Sozialforschung "Indem wir die Erfahrungen und Einstellungen eines einzelnen Menschen analysieren, erhalten wir immer Daten und elementare Fakten, die nicht ausschließlich auf dieses Individuum begrenzt sind, sondern die als mehr oder weniger allgemeine Klassen von Daten und Fakten behandelt werden und so für die Bestimmung von Gehsetzmäßigkeiten des sozialen Prozesses genutzt werden können." Werner Fuchs (1984) Thomas/Znaniecki – Das Neue: Erste soziologische Biographieanalyse Erste soziologische Studie, in der objektive und subjektive Elemente des sozialen Lebens berücksichtigt wurden. Thomas Theorem: Das Thomas Theorem „Wenn Menschen eine Situation als real definieren, dann hat sie auch reale Konsequenzen.“ Chicago School of Sociology Einflussreiche soziologische Denkschule an der Universität von Chicago – ab 20er Jahre Vertreter: A.W. Small, William Isaac Thomas, Robert Ezra Park und Ernest W. Burgess u.a. Begründer einer sozialökologischen Perspektive auf soziale Probleme Robert E. Park Ernest Burgess Chicago School of Sociology Forschungsthemen Polnische Aussiedler in Chicago Straßenjungen, Obdachlosigkeit Städtische Ghettos, Prostitution Jugendliche Straftäter Kriminelle Karrieren Familien in der Wirtschaftskrise Armut im Stadtteil usw. Exkurs: Sozialarbeit Die Chicagoer Soziologen hielten engen Kontakt zur Sozialarbeit in Chicago Auf dem Campus der Uni hatte Jane Addams ihr später berühmtes Hull-House gegründet – ein einflußreiches Zenrtum für Sozialarbeit Exkurs: Chicagoer Sozialarbeit Hull House in Chicago – 30er Jahre Exkurs: Chicagoer Sozialarbeit Jane Addams - 1888 und 1928 Chicagoer Sozialarbeit Immigrantensprachkurs im Hull-House Chicagoer Sozialarbeit Buch über Hull-House - Chicago. hrsg. v. Alice Salomon Clifford Shaw: The Jack-Roller Chicago 1930 „A delinquent boy‘s own story“ Einzelfallstudie über einen jugendlichen Straftäter Beobachtung des Jungen über 6 Jahre Daten: Biographisches Interview, Familienerzählungen, Akten und Dokumente „The Jack-Roller“ - Erkenntnisinteresse Drei Aspekte: wie die persönlichen Einstellungen, Gefühle und Interessen" des Jugendlichen sind wie diese individuellen Verhaltenszüge durch soziokulturelle Faktoren bestimmt ist, nämlich durch Traditionen, Sitten, moralische Maßstäbe der sozialen Umwelt. wie die gegenwärtige Persönlichkeit des Jugendlichen bestimmt ist durch die Abfolge von früheren Erfahrungen (also die biographische Dimension) 30er/40er Jahre: Siegeszug der quantitativen Sozialforschung Die Gründe: Entwicklung neuer statistischer Verfahren (z.B. standardisierte Fragebögen) Neue technische Erfindungen: Rechenmaschinen und Hollorith-Maschinen Entwicklung des Strukturfunktionalismus (Talcott Parsons) Szenenwechsel… …von den USA …nach Deutschland Qualitative und biographische Forschung in Deutschland Interesse an Biographien hat andere Wurzeln als in USA: Klassische geisteswissenschaftliche Hermeneutik (z.B. Dilthey, Spranger) Interesse an Arbeiterbiographien Psychoanalyse Psychologische Jugendforschung Aber keine Soziologie! Zwei Entwicklunslinien Psychoanalytische Pädagogik Wissenschaftliche Jugendkunde (Jugendforschung) 1. Entwicklungslinie: Die Psychoanalytische Pädagogik Psychoanal.Pädagogik Jugendforschung Frühe Vertreter: Ferenci (1908); Oskar Pfister (1913), Hans Zulliger (1921) Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik (ab 1926) als Organ der Bewegung Autoren:Anna Freud, August Aichhorn, Siegfried Bernfeld, Wilhelm Reich, Hans Zulliger u.a. Aber auch Erzieher, Kindergärtnerinnen, Fürsorgerinnen, Lehrer Viele Fallanalysen zu frühkindliche Erziehung, Erziehungsberatung, Sexualität, Fürsorgeerziehung, Jugendgerichtshilfe Umfangreichere Studien der Psychoanalytischen Pädagogik Psychoanal.Pädagogik Jugendforschung Siegfried Bernfeld: „Kinderheim Baumgarten“ – 1921 August Aichhorn: „Verwahrloste Jugend“ - 1925 Hans Zulliger - Fallsammlungen über „erziehungsschwierige Kindern“ (1921, 1935). 2. Entwicklungslinie: Psychoanal.Pädagogik Jugendforschung und Biographie Jugendforschung Jugendkunde entsteht nach der Jahrhundertwende mit der wissenschaftlichen Entdeckung der Jugendphase Jugendphase als Phase der kulturellen Selbstvergewisserung: Tagebuch schreiben Deshalb: Erforschung des „Seelenlebens“ Deshalb: Nachfrage nach jugendlichen Selbstzeugnissen: Tagebücher, Briefe, Historische Vorläufer mit Interesse an Biographien Pestalozzi (1774) Thienmann (Tagebuch einer kindlichen Entwicklung – 1787) Rousseau: Emile (1762) Rousseau Pestalozzi Psychoanal.Pädagogik Jugendforschung Psychoanal.Pädagogik Jugendforschung Rousseaus Erziehungsroman „Emile“ - 1762 Wichtigste Vertreter biographischer Studien in der Jugendforschung – 20er Jahre: Psychoanal.Pädagogik Jugendforschung Zwei Namen: Siegfried Bernfeld Charlotte Bühler beide in Wien Psychologentag Wien– 1929 Siegfried Bernfeld (1892-1953) Psychoanalytiker und Sozialpädagoge in Wien Bücher: Über den Begriff der Jugend – Diss 1915 Kinderheim Baumgarten – 1921 Vom dichterischen Schaffen der Jugend 1924 Trieb und Tradition im Jugendalter –1931 Siegfried Bernfeld: Psychoanal.Pädagogik Jugendforschung Zur Begründung einer qualitativen Forschung: "Wir bedürfen eines Antworten Materials, das nicht durch eine gestellte Frage angeregt ist. Alle Produkte jugendlicher spontaner Tätigkeit sind als Material verwertbar: Zeichnungen, Sammlungen, Gedichte, Tagebücher, Briefe, Notizen, Gespräche usw.“ aus: Über den Begriff der Jugend - 1915 Charlotte Bühler (1893-1974) Psychologin aus Berlin/Wien Privatdozentin an der Uni-Dresden Professorin für Psychologie Uni-Wien Pionierin der Jugendforschung und Tagebuchforschung Qualitative Studien: Das Seelenleben des Jugendlichen – 1921 Das Tagebuch eines jungen Mädchens – 1922 Jugendtagebuch und Lebenslauf - 1932 Jugendforschung als Königsweg der qualitativen Forschung Psychoanal.Pädagogik Jugendforschung „In dem Faktum des Isolierungs-, des Einsamkeitsbedürfnisses, in den Fakten der Ablehnung der gegebenen Umwelt, der Sehnsucht nach nicht vorhandenen Menschen, der Beschäftigung mit Fragen, die sich der Aussprache mehr oder minder verwehren, haben wir nun in der Tat die Grundtatsachen der Pubertät beisammen.“ Charlotte Bühler Paul Lazarsfeld (1901-1976) Soziologe und Mathematiker 1933 – Emigration in die USA Ab 1940 Professor für Soziologie – NY Er wird einer der Begründer der modernen statistischen Sozialforschung Forschungen u.a.: Die Arbeitslosen von Marienthal - 1933 Radio Research Project (mit Theodor Adorno) - 1937 Paul Lazarsfeld - Biographie geb. 13.Februar 1901 in Wien. Studium der Mathematik an der Universität (Promotion 1924). Als Student Mitglied der "Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler„ 1924 - 1925 Post-Graduierten-Studium in Frankreich Bis 1929 Gymnasiallehrer für Mathematik in Wien. 1926 bis 1934 Ehe mit Marie Jahoda 1927 Gründung und Leitung der "Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle". 1929 - 1933 Forschungsassistent bei Karl und Charlotte Bühler am Psychologischen Institut der Universität Wien. Mit einem Rockefeller-Stipendium ging er 1933 in die USA. Wegen der politischen Entwicklung in Österreich blieb er dort und übernahm 1937 als Direktor die Leitung des Radio Research Projects an der Universität in Princeton. 1943 - amerikanischer Staatsbürger. 1940 - 1969 Lehrtätigkeit an der Columbia University of New York 1969-1976 Prof. an der University of Pittsburgh. Mit O. Morgenstern Gründung des ‚Institut für Höhere Studien‘ in Wien - 1963. Seine Arbeiten zur Methodenlehre der empirischer Sozialforschung trugen wesentlich zur Entwicklung der quantitativen Analyse sozialer und politischer Prozesse bei. Er starb am 30. August 1976 in New York. Paul Lazarsfeld – Originalmanuskript: Die Prinzipien der Soziographie - 1934 Interview mit Marie Jahoda 1 Interview mit Marie Jahoda 2 Emigration der Psychoanalytiker und qualitativer Forscher Sigmund Freud Anna Freud (1938) Siegfried Bernfeld (1934) Bruno Bettelheim (1939) Fritz Redl (1936) Michael Balint Paul Lazarsfeld (1933) Qualitative Studien in der Nachkriegszeit Bruno Bettelheim Der Positivismusstreit - 1961 Karl Popper Theodor Adorno Aktions- und Handlungsforschung Politisierte Variante qualitativer Forschung vor allem 60er und 70er Jahre Insbesondere in der Pädagogik und Sozialpädagogik „Sozialforschung als politische Aktion“ (Fuchs) Renaissance der Qualitativen Forschung Mitte der 70er Jahre In Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Geschichtswissenschaft usw Methodologischer Schwerpunkt: Interpretatives Paradigma (Phänomenologie, Interaktionsmus, Ethnomethodologie) Kritische Frontstellung gegen traditionelle Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Geschichtswissenschaft usw quantitative Sozialforschung Pädagogische Biographieforschung Zwei Perspektiven: Biographien als pädagogische Didaktik: „Aus Geschichten lernen“ Lebensgeschichten als subjektive Perspektive pädagogischer Klientel Oral history als „Geschichte von unten“ Oral history als „Geschichte von unten“ Qualitative Forschung und Biographieforschung heute Ende Qualitative Sozialforschung Qualitative Sozialforschung besteht aus einer Vielzahl von methodischen und methodologischen Zugängen. Die Gemeinsamkeit der meisten – vor allem soziologischen – Ansätze besteht in ihrem interpretativen und rekonstruktiven Zugang zur sozialen Welt. Diese Ansätze werden deshalb zusammengefasst unter dem Begriff Interpretatives Paradigma Qualitative Sozialforschung Forschungsansätze: Methoden: Biographieforschung Ethnographische F. Psychoanalytische SF. Oral History Objektive Hermeneutik Narrative Interviews Biographische Interv. Gruppendiskussionen Teilnehmende Beobachtung Konversationsanalyse Foto- und Filmanalyse Qualitative Sozialforschung: Synonyme: Rekonstruktive Sozialforschung Interpretative Sozialforschung Verstehende Sozialforschung Kommunikative Sozialforschung Ziel qualitativer Sozialforschung Qualitative Sozialforschung zielt auf die Rekonstruktion der sozialen Sinnstrukturen in der Lebenswelt der Menschen. Sie versucht zu verstehen und zu interpretieren, wie Menschen ihre soziale Welt (ihre sozialen und kulturellen Formen und Traditionen, ihre Sinnstrukturen, ihre Glaubenssysteme, ihre Selbstbilder usw.) aufbauen und welche sozialen Strukturen und Regeln sie dabei entwickeln. Ende Methodenstreit Quantitative Methoden Vorwurf: Positivistisch, naturwissenschaftlich, konservativ, herrschaftsfestigend Qualitative Methoden Vorwurf: Eher links, kritisch, tendenziell unwissenschaftlich, wenig methodisch elaboriert II. Qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung Qualitative Sozialforschung – Grundlagen Biographieforschung Geschichte und Entwicklungslinien der qualitativen Sozialforschung