Klaus Merten Konstruktion von Kommunikation in der

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Klaus Merten
Konstruktion von Kommunikation in der Mediengesellschaft
Klaus Merten (Hrsg.)
Konstruktion von
Kommunikation in der
Mediengesellschaft
Festschrift für
Joachim Westerbarkey
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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1. Auflage 2009
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© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009
Lektorat: Katrin Emmerich / Jens Ossadnik
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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg
Satz: Anke Vogel, Ober-Olm
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-16645-2
Inhalt
5
Inhalt
Inhalt
Klaus Merten
Joachim Westerbarkey: Zueignung und Vita .........................................................................7
I. Öffentliche Kommunikation
André Donk
Kommunikation über Vergangenheit –
Soziales Gedächtnis in kommunikationswissenschaftlicher Perspektive.............................13
Volker Gehrau
Basisgenres. Ein Ansatz zur Strukturierung medienvermittelter fiktionaler
Öffentlichkeit am Beispiel des Fernsehangebots .................................................................31
Alexander Görke
Globalisierung und Öffentlichkeit. Wegmarken eines Theoriediskurses .............................45
Matthias Kohring
Alles Medien, oder was?
Eine öffentlichkeitstheoretische Standortbestimmung .........................................................71
Armin Scholl
Vom Dissens zur Dissidenz.
Die Bedeutung alternativer Gegenöffentlichkeit für die Gesellschaft..................................83
II. Public Relations/Werbung
Klaus Merten
Schwierigkeiten mit der Kommunikation einer Ethik der Kommunikation.........................99
Ulrike Röttger
Alles eine Frage der Perspektive. PR-Qualität und die Sicht der Bezugsgruppen .............119
Katja Scheidt/Christine Thieleke
Public Relations im dritten Jahrtausend .............................................................................135
Guido Zurstiege
Die Produktion und Vermarktung werblicher Kreativität ..................................................149
6
Inhalt
III. Nichts oder nicht Nichts
Walter Hömberg/Johannes Karasek
Der Schweißfleck der Kanzlerkandidatin...........................................................................161
Christoph Jacke
„Rektales Reinigungserlebnis“.
Unterhaltung und Medienkritik in Zeiten des latenten Als-ob ...........................................175
Siegfried J. Schmidt
Faszinationstyp NICHTS ...................................................................................................195
IV. Fachgeschichte(n)
Hans Bohrmann
Studenten und Politik an der FU Berlin.
Erinnerungen an mein Publizistik-Studium. 1959-1967 ....................................................207
Klaus Kocks/Jan-Paul Klünder
Ur- und Abgründe der Markentechnik – Hans Domizlaff als Großvater der PR ...............215
Christoph Neuberger
„Stille Post“ in der Kommunikationswissenschaft: Tradierungsfehler in der
wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit ...............................................................................231
Walter J. Schütz
Zeitungsgeschichte und Institutsgeschichten. Publizistik in Münster 1946 bis 1959.........263
Joachim Westerbarkey: Bibliographie ...............................................................................275
Autorinnen und Autoren.....................................................................................................281
Gesamtliteraturverzeichnis.................................................................................................287
Joachim Westerbarkey: Zueignung und Vita
7
Joachim Westerbarkey: Zueignung und Vita
Joachim Westerbarkey: Zueignung und Vita
Vita des Joachim Westerbarkey, geboren zu Gütersloh am 22.10.1943.
Jochen Westerbarkey wurde am 22.10.1943 im ostwestfälischen Gütersloh geboren.
Den Westfalen sagt man viel Geradlinigkeit nach, die semantisch in sehr bösartiger
Diktion und im extremsten Extremfall in Sturheit mutiert. Die ostwestfälische Variante der
Westfalen ist hiergegen allerdings gut gefeit, weil die Markierung des Ostens als Antipode
zum Westen eine Differenz aufmacht, die für die Betroffenen einen besonderen, attraktiven
Raum darstellt, der viele weitere Differenzierungen zulässt, insbesondere dann, wenn durch
die Namensgebung eine sekundäre Differenz erzeugt werden kann: Der westlich siedelnde
des Geschlechts der Barkey im Osten des Westens des fälischen Landes.
Jochen Westerbarkey machte 1963 in Gütersloh Abitur, absolvierte danach ein Volontariat bei der „Glocke“ und schrieb sich an der Westfälischen Wilhelms-Universität zeitgleich als Student der Publizistik, Soziologie und Germanistik ein – womit er sich, ohne
dies damals schon erkennen zu können, bis auf den heutigen Tag der Wissenschaft verschrieben hat. Damals war das noch weniger klar, denn der junge Westerbarkey war mindestens wie zwei Sack Flöhe: Er machte allerlei Musik an allerlei Orten, ängstigte gelegentlich brave Bürger und Bürgerinnen mit verbaler Rede und nonverbalem Charme und kandidierte bei passender Gelegenheit engagiert für die Liberalen als Landtagsabgeordneter. Von
dieser Karriere ließ er allerdings recht bald ab, als er erkannte, dass die Politik jene wendigste aller Geschmeidigkeiten unabdingbar verlangt, die für einen Ostwestfalen vom Schlage
der Westerbarkey nicht ohne bleibende Verbiegungen zu haben war. Die 1968er Revolte
überstand er glänzend, wozu sein gewaltiger Schnäuzer, der gelegentlich einer markanten
Stoßstange mit biologischer Feinstruktur glich, das Seine beigetragen haben mag.
Er promovierte 1970 so erfolgreich mit einer Arbeit über „klerikale Kommunikation“,
dass ihm flugs eine Assistentenstelle angeboten wurde, die Jochen Westerbarkey annahm
und die unmittelbar danach in eine akademische Ratsstelle auf Lebenszeit umgewandelt
wurde – man wollte den jungen Heißsporn unbedingt festhalten, um ihn für die Entwicklung eines publizistikwissenschaftlichen Curriculums zu gewinnen. Das gelang. Dr. Westerbarkey machte sich über alles, was publizistische Lehre sein konnte oder durfte oder
sollte, mit Eifer her und entwickelte ein Curriculum, das dann bundesweit unter dem Markenzeichen „Mümo“ (Münsteraner Modell für Publizistikwissenschaft) bekannt wurde,
aber erst viel später, nämlich 1978, vom Senat der Universität verabschiedet wurde.
Die damalige Zeit war eine Zeit heftiger akademischer Umbrüche und erstmalig wurde
der erlauchten Klasse der bis dato nach Gutsherrenart agierenden, sich gerierenden, ab- und
aufregenden Professoren klar, dass neue Zeiten vor der Tür standen. Das elitäre Studium
der Publizistik in Münster brauchte für diese Erkenntnis allerdings etwas länger, denn ein
Mitarbeiter ließ alle Studenten, die keine vermögenden Erzeuger im Hintergrund hatten,
ungeschminkt wissen, dass „Herr Professor und ich“ die Auffassung teilten, dass man in
diesem Fall nichts an der Universität verloren habe. Jochen Westerbarkey übernahm – ganz
offenbar um solchen rückgewandten Auffassungen zu entgehen – in dieser Zeit Lehraufträge in Hagen, an der Universität Bielefeld und an manchen anderen Orten gelahrten Daseins.
8
Joachim Westerbarkey: Zueignung und Vita
Entgangen ist er diesen Strukturen gleichwohl doch nicht, denn sein Habilitationsvater
weigerte sich aus vielerlei bis heute nicht nachvollziehbaren Gründe über Jahre beharrlich,
die Habilitationsschrift zum Thema „Geheimnis“ zu lesen oder gar zu begutachten. Wie
hält man das aus? Jochen Westerbarkey schrieb nicht nur über Geheimnisse, sondern hatte
auch ein solches, das man mit den Worten „wer sich die Musik erkiest“ zutreffend beschreiben könnte. Der von ihm geleitete ostwestfälische Gesangsverein, der in allen europäischen Ländern gastiert hat und gastiert, war nicht nur ein Herzensanliegen, sondern auch
eine nicht versiegende Quelle klingender Freude.
Aber zurück zur alma mater: Die oben angedeuteten Behinderungen zeigten sich erneut bei der längst überfälligen Ernennung zum Professor, auf die er aus ungeklärten Gründen mehr als ein Dezennium warten musste: Jochen Westerbarkey, derjenige, der binnen
zwanzig Jahren die meisten Prüfungen am Fachbereich – bis heute weit über 1000 – abnahm, wurde das, wahrhaft schmählich, nicht gelohnt.
Wieder ging Jochen Westerbarkey ins akademische Exil, übernahm Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Dortmund und Düsseldorf, war Gastprofessor an der Lomonossow in Moskau, in Gwangju, in Seoul, später in Brasilien an der Universidad Estadual
de Campinas und an anderen Orten. Endlich, wir schreiben das Jahr 2002, die vormaligen
Widersacher, Bremser und Behinderer beiderlei Geschlechts haben sich verflüchtigt oder
gar diversifiziert, wird Dr. phil. habil. Jochen Westerbarkey zum Professor ernannt.
Mehr als 1.000 Studenten und Studentinnen, von denen heute nur die wenigsten anwesend sein können, verneigen sich in Ehrfurcht vor dem Mann, der sich als unerschrockener
Dozent, als anteilnehmender Mentor und als engagierter Hochschullehrer wie kein anderer
an diesem Institut um die Sorgen und Nöte dieser Studierenden gekümmert und sie zum
Examen geführt hat.
Mit viel Stolz auf einen solchen Kollegen im eigenen Haus wünschen wir ihm alles
Gute für das, was noch auf seinem Wege liegt oder liegen geblieben ist oder noch vom
Baum der Erkenntnis auf solchen niederfallen mag und sagen „Ad multos annos, lieber
Jochen!“
Münster, im Januar 2009
Klaus Merten
Joachim Westerbarkey: Zueignung und Vita
9
I.
I. Öffentliche Kommunikation
Öffentliche Kommunikation
11
Kommunikation über Vergangenheit
13
Kommunikation über Vergangenheit –
Soziales Gedächtnis in kommunikationswissenschaftlicher
Perspektive
Kommunikation über Vergangenheit
André Donk
1
Einleitung
Gedächtnis und Erinnerung scheinen dann, so die Interpretation des Historikers Wulf
Kantsteiner, zentrale Kategorien gesellschaftlicher Selbstbeschreibung zu werden, wenn
ihre Legitimität oder ihre Kontinuität in Frage gestellt werden (vgl. 2004). Pierre Nora, einer der Doyen der Gedächtnisforschung, stellt dazu fest: „Nur deshalb spricht man so viel
von Gedächtnis, weil es keines mehr gibt“ (Nora 1998: 11) und identifiziert als zentrale
Gründe für eine Konjunktur des Gedächtnisses in den letzten 30 Jahren drei gesellschaftliche Transformationsprozesse: (1) Ölpreiskrise, (2) gesellschaftliche Liberalisierung in der
Folge der 68er-Bewegungen sowie (3) den Zusammenbruch der kommunistischen Regime
in Osteuropa (vgl. Nora 2002: 18ff.). So schreiben die Gründungsherausgeber in der ersten
Ausgabe der 2008 gestarteten multidisziplinär orientierten Fachzeitschrift Memory Studies:
„Public discourses on our past have intensified over the past 30 years. Technological, political,
interpersonal, social and cultural shifts affect what, how and why people and societies remember
and forget. What is ‚memory‘ then under these conditions?“ (Hoskins et al. 2008: 1)
Die Kommunikationswissenschaft indes hat sich weniger um diesen Gegenstand bemüht.
Auch wenn es vereinzelt – gerade im angelsächsischen Forschungsraum – empirische wie
auch konzeptuelle Arbeiten gibt, fehlt bis heute ein an die Sozialwissenschaften ebenso wie
an die aktuelle Kommunikations- und Medientheorie anschlussfähiges Modell des Zusammenhangs von sozialem Gedächtnis und Kommunikation resp. Medien. Auf der Jahrestagung
der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im Jahr 2004
hatten Reinhardt sowie Jäckel dieses Fehlen bereits angemahnt und gefordert, das theoretische
Instrumentarium neuerer kulturwissenschaftlicher Forschungen zum sozialen Gedächtnis auf
öffentliche Kommunikation anzuwenden (vgl. 2005: 94). Der vorliegende Aufsatz will diesen
Faden aufgreifen und fragt daher danach, wie eine Kategorie Soziales Gedächtnis innerhalb
der Kommunikationswissenschaft definiert und operationalisiert werden kann, denn es erscheint evident, dass Gedächtnis und Kommunikation in vielfältiger Weise in individueller
wie sozialer Perspektive mit einander verwoben sind – von der Konstitution von Erinnerungsgemeinschaften qua Kommunikation über gemeinsame Medienbiografien bis zu unzähligen sich auf Vergangenheit beziehenden Medieninhalten und -formaten.
Welche Funktionen haben also Kommunikation und Medien für (soziales) Gedächtnis? Wenn wir Kantsteiner zustimmen, dass Gedächtniskrisen zur intensivierten Beobachtung von bis dato als selbstverständlich antizipierten Mechanismen führen, dann erscheint
es sinnvoll, in einem ersten explorativen Schritt Fälle zu beobachten, in denen Kommunikation und Medien offensichtlich nicht die ihnen zugeschriebenen Leistungen zum Funktio-
14
André Donk
nieren von (sozialem) Gedächtnis erbringen. Ein solches Verfahren war und ist bei der
Erforschung des individuellen Gedächtnisses in der Medizin und Psychologie hochgradig
erfolgreich. Gerade an Hand von durch Krankheit oder Unfall ausgelösten Gedächtnisstörungen haben Psychologie und Neurowissenschaften immer genauer bestimmen können,
welche Einflussfaktoren auf Gedächtnis und Erinnerung einwirken und welche Hirnregionen Gedächtnisleistungen erbringen (vgl. Markowitsch 2005: 14; Roediger/Wertsch 2008:
11). Wenn wir uns dabei ex negativo durch die Beobachtung von Vergessen dem Erinnern
und dem konstitutiven Anteil der Medien nähern, verfahren wir ähnlich wie Medizin und
Psychologie, aus deren Bereich der Begriff Gedächtnis stammt und von individuellen auf
soziale Phänomene übertragen wurde. In einem ersten Schritt werden wir daher die (kultur)wissenschaftliche Diskussion um eine medieninduzierte Digitale Amnesie moderner
Informationsgesellschaften hinsichtlich des verwendeten Medienbegriffs sowie des postulierten Zusammenhangs von Medien und Gedächtnis und dessen theoretische Fundierung
aufarbeiten und vergleichend darstellen. Kontrastiert wird die dort als dominant erwartete
Überbewertung des medientechnischen Einflusses und die Verengung der Vorstellung von
Gedächtnis auf Speicherfunktionen mit Befunden aus dem Bereich der Forschung zum
individuellen Gedächtnis. Ziel ist es zu zeigen, dass die Übernahme von Begriff und Gedächtniskonzept in weiten Teilen nicht gelungen und die Metaphorizität eines solchen sozialen Gedächtnisbegriffs durchaus problematisch erscheint. Wir werden deshalb in einem
zweiten Schritt – aufbauend auf systemtheoretischen Konzepten zu Gedächtnis und Öffentlichkeit sowie unter Einbezug vorhandener empirischer Forschungen zum kollektiven Gedächtnis – einen funktionalen und kommunikationswissenschaftlich zu operationalisierenden Gedächtnisbegriff entwickeln.
2
Medien und Gedächtnis: Theorievergleich zur Problematik des
Digitalen Vergessens
Das soziale Gedächtnis ist bedroht. Vielfach wird beklagt, dass E-Mails, Videos und Dateien in Zukunft, wenn nicht gelöscht, zumindest unlesbar würden, weil sowohl digitale Medientechnologien also auch neue Formen der Kommunikation (Mail, Chat, SMS) in hohem
Maße unbeständig seien: „Offenbar verfügen die neuen Medien nur über technisch begrenztes Kurzzeitgedächtnis. Die kulturellen Implikationen dieser Tatsache sind bisher
noch gar nicht erkannt worden.“ (Enzensberger 2003: 122)
Mittels eines Theorievergleichs werden im Folgenden kurz jene Theorieangebote untersucht, die im kulturwissenschaftlichen Diskurs den Verlust des sozialen Gedächtnisses
durch Veränderungen im Ensemble der Kommunikations- und Medientechnologien erwarten. Dies sind vor allem die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann (Assmann, J. 1999,
2002; Assmann, A. 1996, 1999, 2000, 2001, 2004 a&b.), die vor dem Hintergrund ihrer
allgemeinen Theorie sozialer Formen von Gedächtnis oben zitierte Auswirkungen der Digitalisierung diskutieren. Ähnlich gelagerte Szenarien finden sich zudem in Manfred Ostens
Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur
(2004) und Digitalisierung und kulturelles Gedächtnis (2006) sowie in Stewart Brands
Diskussionen um das digitale Vergessen von Gesellschaften (2000, 2003). Theorievergleich
meint dabei die Adaption einiger weniger Untersuchungskategorien des soziologischen
Verfahrens von Hondrich. Als mögliche Gesichtspunkte (für unsere Erfordernisse entsprechend modifiziert) schlägt Hondrich unter anderem vor (vgl. ebd. 1976: 21-24):
Kommunikation über Vergangenheit
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
15
Problemhinsicht: Welche Gegenstandsverhältnisse will eine Theorie behandeln und
welche Probleme prognostiziert sie?
Voraussetzungen: Welche Axiome werden übernommen?
Medienbegriff: Welcher Medienbegriff liegt der Theorie zu Grunde?
Gedächtnisbegriff: Wie wird innerhalb der Theorie Gedächtnis konzeptualisiert?
Problemhinsichten
Die Digitalisierung der Kommunikationstechnologien hat massive Auswirkungen auf das
kulturelle Gedächtnis, so die Kernthese aller Theorieangebote. Paradigmatisch schreibt
Aleida Assmann:
„Mit der flächendeckenden Einführung der Digitalisierung im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts haben sich die Voraussetzungen von Kommunikation und Gedächtnis in der Kultur
dramatisch verschoben. [...] Was zu entschwinden droht ist alles, was nicht in den ebenso rasanten wie homogenen Datenstrom eingespeist werden kann. Mit der Materialität von Artefakten
verschwindet aber weit mehr als die geheimnisvolle Aura; mit ihr verschwinden Realität, Geschichte und Gedächtnis.“ (Assmann 2004a: 75, 77)
Dabei seien vor allem drei Trends zu beobachten: Erstens hätten wir es mit Phänomenen
der Entmaterialisierung von Informationen sowie ihrer Speichermedien zu tun, die sich in
der Möglichkeit der rückstandslosen Löschung digitaler Speicher, der fehlenden Archivierung von Onlineinhalten sowie der permanenten Vernichtung von Spuren der Alltagskommunikation (Email, Handy, Chat) zeigten. Zweitens trete eine drastische Reduktion der
Langzeitstabilität als Problem hinzu, sodass selbst als gesichert geltende Bestände in Wahrheit gefährdet seien, dem Vergessen anheim zu fallen. Drittens sorgt die Einführung immer
neuer Technologien und Software in immer kürzeren Abständen dafür, dass Datenträger
wie Datenformate rasant altern und unlesbar werden (vgl. Assmann 2001: 276f.; 2004a;
2004b: 55ff.). Als Folgen der genannten drei Trends machen die Autoren ein momentanes
Anschwellen der Archive bei gleichzeitig wachsender Unübersichtlichkeit (vgl. Assmann
2001: 278f.) sowie den massiven Verlust von Daten für zukünftige Generationen aus (vgl.
Brand 2000: 91). Digitale Kommunikationstechnologien bedeuteten den Abbruch der Überlieferungen und stellten letztendlich nicht anderes als den Ausdruck einer Kultur des „Vergangenheitshasses“ (Osten 2004: 11) dar. Dabei bedrohten die digitalen Technologien und
das Internet aber auf Grund der oben beschriebenen Probleme der Dauerhaftigkeit der Speicherung in nie da gewesener Weise das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft (vgl. Osten
2006: 4 f.).
Voraussetzungen I: Gedächtnisbegriff
Den vorgestellten Theorieangeboten liegt ein Modell des sozialen Gedächtnisses zu Grunde, das von Jan und Aleida Assmann mit Rückgriff auf die Arbeiten von Halbwachs (1985)
entwickelt wurde und in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften weite Verbreitung
gefunden hat. Gedächtnis ist für sie dabei vor allem ein soziales Phänomen, das die Kontinuierung von Kultur ermöglicht. Zentral in ihrem Konzept ist die Unterscheidung von
16
André Donk
kommunikativem und kulturellem Gedächtnis als Formen des sozialen Vergangenheitsbezugs (vgl. Assmann/Assmann 1994: 114f.). Das kommunikative Gedächtnis wird als individuelles, über Interaktionen mit anderen Aktanten geteiltes Gedächtnis konzeptualisiert.
Es umfasst jene Erinnerungen, die Menschen mit ihren Zeitgenossen teilen, und vergeht
zumeist unmerklich mit seinen Trägern. Soll dieses biografische Gedächtnis erhalten bleiben, weil es Erinnerungen ‚enthält‘, die über ihren zeitlichen Horizont für relevant erachtet
werden, muss es „in ein kulturelles Gedächtnis der Nachwelt übersetzt werden“ (Assmann
1999: 15), d.h. es bedarf der Speicherung in externen Medien, zu denen auch Denkmäler,
Bilder und Museen zählen. Das kulturelle Gedächtnis hält in diesem Sinne die materielle
Basis in Form von Erinnerungstexten zur generationen- und epochenübergreifenden Kommunikation bereit und bildet damit die stabile Grundlage für die Konstruktion von Gruppengedächtnissen über Generationengrenzen. Durch die Sicherung inter- und übergenerationeller Kommunikation dient das kulturelle Gedächtnis der Identitätskonstruktion von
Gesellschaften. Menschen stützen sich also bei der Bildung einer kollektiven Identität auf
die Ereignisse ihrer Vergangenheit. Ein gemeinsames, geteiltes Gedächtnis ist die Grundlage für das Bewusstsein sozialer Zugehörigkeit (vgl. Assmann, J. 1999: 139). In einem zweiten Schritt wird zwischen Funktions- und Speichergedächtnis als Dimensionen des kulturellen Gedächtnisses differenziert. Dabei stellt das Speichergedächtnis das Archiv oder den
Fundus potenzieller Erinnerungsanlässe dar, die mittels Selektion, Interpretation und Nutzung ins Funktionsgedächtnis übertragen werden können. Während das Funktionsgedächtnis als bewohnt konzeptualisiert wird (d.h. an einen Träger gebunden), bleibt das Speichergedächtnis unbewohnt (vgl. ebd.: 133ff.). Die folgende Übersicht fasst dies noch einmal
zusammen:
Abbildung 1:
Modell des sozialen Gedächtnisses in Anlehnung an Assmann/Assmann
1994; eigene Darstellung
Kollektives Gedächtnis
Kulturelles Gedächtnis
- von Akteuren abhängig
- mediale Speicherung
Funktionsgedächtnis
- Aktualisierung
- Vordergrund
- „bewohnt“
Aufführung
Kommunikatives Gedächtnis
- an Akteure gebunden
- über Interaktion geteilt
Speichergedächtnis
- Archiv, Reservoir
- Hintergrund
- „unbewohnt“
Identität & Legitimierung
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Kommunikation über Vergangenheit
In den vorgestellten Problemhinsichten wird vor allem das kulturelle Gedächtnis und dort
der Aspekt des Speichergedächtnisses fokussiert. Die Autoren gehen davon aus, dass es
einen gesicherten Bestand an überlieferungsrelevanten Wissensbeständen oder Geschichten
gibt, die zur Kontinuierung von Kultur nötig sind und der Konstruktion kollektiver Identität
dienen. Als Paradebeispiel für das kulturelle Gedächtnis dient Brand die Bibliothek von
Alexandria (vgl. 2000: 78). In allen Konzeptionen wird der Aspekt der Speicherung betont,
um das kulturelle Gedächtnis zu beschreiben.
Voraussetzungen II: Medienbegriff
Bei Brand und Osten werden Medien als Mittel zur Speicherung von Wissen aufgefasst. So
beschäftigt sich Brands Darstellung ausschließlich mit den potentiellen Risiken digitaler
Medientechnologien in Abgrenzung zu den Vorzügen des Print. Die Funktion von Medien
im Kontext des Theorieangebotes von Jan und Aleida Assmann liegt in der Überlieferung.
Sie werden in erster Linie verstanden als Speichermedien des kollektiven wie individuellen
Wissens zur Übermittlung1 von Kultur und werden also als materielle Daten- und Bedeutungsträger konzeptualisiert (vgl. Assmann 1999: 344). Dabei wird die Materialität erst
dann als Problem erkannt, respektive ihre Vorzüge gewürdigt, wenn sie sich verändert.
Damit antizipieren alle drei vorgestellten Entwürfe letztlich einen Zusammenhang von
Medien- und Gedächtniswandel, der im Weiteren auch auf das Soziale wirkt, d.h. die Ablösung eines (Gedächtnis-)Leitmediums bedeutet gleichzeitig Veränderungen in den Formen
der Speicherung und Aktualisierung von Vergangenem. Diese Veränderungen wiederum
wirken zurück auf die Organisation von Gesellschaft, also auf Kultur. Die folgende Übersicht verdeutlicht den Wandel gesellschaftlicher Strukturen in der Folge der Entwicklung
und Durchsetzung neuer Medientechnologien als sozialem Gedächtnis:
Tabelle 1: Medien-, Gedächtnis- und Gesellschaftswandel; eigene Darstellung in
Anlehnung an Assmann/Assmann 1994: 131, 139.
Oralität
Literalität
Print
Elektronik
Speicherung
Personaler
Träger
Manuskript
Buch
Digitale Medien
Zirkulation
Rituale
Rezitation/
Lektüre
einsame
Lektüre /
Öffentlichkeit
globalisierte
Mediennetzwerke
Soziale Folgen
Kleine Gemeinwesen
Vereinheitlichung
von Wissen; Ausbildung größerer
Kollektive
Verbreitung
von Wissen;
Nationalstaaten
Transnationale
Gemeinschaftsbildung
1
Die mittlerweile als unterkomplex bewertete Containermetapher der Bedeutungsübermittlung in Kommunikation scheint hier durch.
18
André Donk
Zusammenfassung und kommunikationswissenschaftliche Einordnung
Medien werden in den vorgestellten Theorieangeboten in erster Linie als Technologien zur
Speicherung und Übertragung von Informationen verstanden, sie überformen in diesem
Sinne den Medieninhalt und stehen in einem linear kausalen Wirkungsprinzip zu Gesellschaft. Dabei bestimmt die jeweilige Leittechnologie als Ursache die Organisation der Gesellschaft als Folge. Gesellschaftliches Gedächtnis ist bei Aleida und Jan Assmann, Brand
und Osten ebenfalls auf die Dimension der Speicherung beschränkt – das kulturelle Gedächtnis liegt in den Medien. Im Theorienraum der Kommunikationswissenschaft, folgt
man der von Stefan Weber vorgeschlagenen Systematisierung (vgl. Weber 2003: 5ff.),
können wir bei den vorgestellten Arbeiten deutliche Anknüpfungspunkte zu den sogenannten Techniktheorien der Medien ausmachen – ein Feld, in dem die Beschäftigung mit den
Zusammenhängen von Medien und Gedächtnis durchaus Tradition hat.
Technische Medien, so eine Annahme, entlasten das menschliche Gedächtnis durch
die Bereitstellung eines körperunabhängigen Speichers und setzen so kreatives Potenzial
frei: „[...] weg von der Erinnerung, um Raum für Erfindungen zu schaffen“ (Hartmann
2003: 74). Die oben untersuchten Theorieangebote favorisieren die Annahme, dass Medientechnologien Gesellschaft und Kultur kausal determinieren. Sie verstehen Medien, wie
gezeigt wurde, allein als Medientechnologie zur Speicherung und Übertragung von Informationen oder Daten und unterstellen, die Technologie bestimme letztlich sowohl den Inhalt des einzelnen Medienangebotes als auch die sozialen Praxen einer Gesellschaft, mithin
ihre Kultur. Diese Argumentation kann als technologiedeterministischer Fehlschluss interpretiert werden. Neue Medientechnologien sind nicht nur Ursache gesteigerter gesellschaftlicher Komplexität, sondern auch eine Reaktion darauf. Über die Nutzung von Medientechnologien entscheidet folglich nicht nur die Hardware der Technik, sondern auch ihre soziale, politische und ökonomische Einbettung: „Medien entfalten ihre Wirkungen, weil sie
Bestandteil von sozialen Praktiken sind (Münch/Schmidt 2005: 204). Der Zusammenhang
von sozialem Gedächtnis und Medien ist aus der Perspektive des digitalen Vergessens, also
der Beobachtung des Fehlens von sozialem Gedächtnis, folgendermaßen zu rekonstruieren:
Medien sind die Garanten der Stabilität des kulturellen Gedächtnisses. Sie speichern und
übertragen Zeugnisse aus der Vergangenheit und stellen Anlässe zur gemeinschaftsstiftenden Erinnerung an Vergangenheit dar. Im Folgenden wird versucht, den Gedächtnisbegriff
jenseits der Speichermetaphorik in seiner individuellen Dimension zu erklären, um daran
anschließend ein komplexeres Modell von sozialen Formen des Vergangenheitsbezuges
und deren Verschränkungen mit öffentlicher Kommunikation zu entwickeln.
3
Gedächtnis – Individuelle und soziale Dimensionen
Häufig finden wir in der philosophischen Beschäftigung mit dem Gedächtnis Metaphern
aus dem Bereich der Medientechnologien, die die Vorstellungen vom Gedächtnis prägen –
eben jener Technologien, denen die Möglichkeit als Erinnerungsstützen oder Gedächtnisprothesen zu fungieren, zugeschrieben wurde:
„Unsere Auffassungen über den Hergang des Erinnerns werden von den Verfahren und Techniken gespeist, die wir für das Konservieren und Reproduzieren von Informationen erfunden haben. [...] Die Geschichte des Gedächtnisses erinnert an einen Rundgang durch die Magazine eines technischen Museums.“ (Draaisma 1999: 11)
Kommunikation über Vergangenheit
19
Unsere Vorstellungen vom Gedächtnis sind im Alltag – wie auch in Teilen des wissenschaftlichen Diskurses – stark von Metaphern der Aufbewahrung und Speicherung geprägt.
Metaphern, die mittlerweile zu Begriffen „erstarrt“ sind (Zierold 2006: 21) und damit Zusammenhänge aus dem Bereich der kognitionswissenschaftlichen Gedächtnisforschung
behaupten. Dass ein solches Konzept vom menschlichen Gedächtnis als einem Ort des
Aufbewahrens und des Wiederfindens in dieser Form unterkomplex ist, haben in den letzten Jahren neurologische wie psychologische Forschungen zu zeigen versucht. Als Folge
neuerer Erkenntnisse der Neurowissenschaften wissen wir heute, dass das Gedächtnis einerseits keinen festen Ort im Gehirn besitzt und andererseits bei der Generierung von Erinnerungen hochgradig konstruktiv verfährt. Die Suche nach dem Ort des Gedächtnisses
innerhalb unseres Gehirns ist zum Scheitern verurteilt, haben doch Forschungen gezeigt,
dass bei dem Ausfall der einen oder anderen Region, in der das Gedächtnis zunächst verortet worden war, andere Hirnregionen deren Funktion übernehmen können, man spricht hier
von ‚Äquipotentialität‘ (vgl. Schmidt 2000: 107 ff.). Das Gedächtnis hat nicht einen Ort im
Gehirn, viele Hirnregionen nehmen Gedächtnisfunktionen wahr, z.B. der polymodale Cortex als Ort der Einspeicherung von Faktenwissen oder Hyppocampusformation, Amygdala
und das limbische System als Orte der Übertragung von Wissen ins Langzeitgedächtnis
(vgl. Markowitsch 2005: 104).
Hirnforscher unterscheiden temporal zwei Gedächtnistypen: das Kurzzeit- und das
Langzeitgedächtnis. In ersterem werden Informationen nur für wenige Sekunde bis zu einer
oder zwei Minuten bereit gehalten, jede Form längerfristiger Informationsspeicherung sowie deren Abruf findet im Langzeitgedächtnis statt. Dieses wiederum kann man hinsichtlich seiner Funktion in fünf Langzeitgedächtnissysteme unterscheiden: Das prozedurale
Gedächtnis ist auf die Erinnerung motorischer Fähigkeiten, die Priming-Form des Gedächtnisses auf das Wiedererkennen unbewusst wahrgenommener Reize und das perzeptuelle Gedächtnis auf Erkennen auf Grund der Bekanntheit einzelner Merkmale ausgerichtet. Das Wissenssystem sorgt für das Lernen von Fakten und dessen kontextfreie Wiedergabe und das episodisch-autobiografische Gedächtnis für das aktive und bewusste Erinnern
von biografisch bedeutsamen Ereignissen (vgl. Markowitsch/Welzer 2005: 80ff.). Wenn
wir weiterhin annehmen, dass das Gedächtnis Realität nicht abbilden kann, sondern vielmehr ein konstruktives System ist, das auf vielfältige Art und unterschiedlichen Wegen
selektiert, filtert und interpretiert, dann wird umso mehr deutlich, dass das menschliche
Gedächtnis mit Metaphern der Speicherung nur völlig unzureichend beschrieben werden
kann. Erinnerung lässt sich auf dieser Grundlage als assoziativer, komplexer Vorgang
bestimmen und als aktuelle Leistung kognitiver Systeme verstehen. Erinnerungen können
immer in der Gegenwart „anwendungsbezogen modelliert“ (Welzer 2002: 20) werden und
sind keine direkten, ungefilterten Zugriffe auf die Inhalte von Speichern (vgl. ebd.: 84).
Das individuelle Gedächtnis des Menschen ist sozial orientiert, hat kommunikative
Dimensionen. Einerseits geht es dabei um die Bildung von Gedächtnis und andererseits um
die Modulation von Erinnerungen in und durch Kommunikation. Auch wenn es sich um
organische, hirnphysiologische Prozesse handelt, ist die komplette Entwicklung unseres
Gedächtnisses nicht genetisch festgelegt, sondern erfahrungsabhängig und wird in Interaktion mit anderen gebildet. Und für die Herausbildung des episodisch-autobiografischen
Gedächtnisses ist die Praxis des Memory Talk unabdingbar, i.e. das Sprechen über vergangene Ereignisse, Erlebnisse oder Handlungen innerhalb einer sozialen Gruppe. Damit verweisen wir schon auf den zweiten Aspekt der Sozialität und Kommunikativität des Gedächtnisses, Erinnern folgt dem Schema des Erzählens (vgl. Schacter 2005: 54f.). Erinne-
20
André Donk
rungen unterliegen dem Prinzip der Montage, denn Menschen neigen dazu, Erinnerungsgeschichten kohärent zu halten, wodurch es sowohl zu inhaltlichen Verzerrungen, Auslassungen etc. als auch zum Schließen von Erinnerungslücken mit fremdem Material kommen
kann – der amerikanische Psychologe Daniel Schacter hat diese Gedächtnis beeinflussenden Phänomene als seven sins of memory beschrieben (vgl. ebd.). Gerade öffentliche
Kommunikation wird von vielen Menschen in ihre Erinnerung integriert. In psychologischen Experimenten wurde nachgewiesen, dass Kriegserlebnisse aus Spielfilmen und historischen Fernsehdokumentationen in die Erinnerung von Kriegsteilnehmern und deren Angehörigen montiert wurden (vgl. Welzer 2002: 233).
Neben dieser Sozialität und Kommunikativität des je individuellen menschlichen Gedächtnisses2 ist die Annahme eines sozialen Gedächtnisses – also ein Gedächtnis von sozialen Gruppen – in den Kulturwissenschaften etabliert und in vielen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen weitgehend akzeptiert. Die Vorstellungen eines kollektiven
Gedächtnisses, wie sie Jan Assmann maßgeblich entwickelt und verbreitet hat (vgl. Kapitel
2), bauen dabei auf den Forschungen der Soziologen Emile Durkheim und Maurice Halbwachs auf. Schon Durkheim ging intuitiv davon aus, so die heutige Rezeption (vgl. Misztal
2003: 123f.), dass soziale Gruppen zur Stabilisierung ihrer Gruppengrenzen und zur Stärkung der Gruppensolidarität den Bezug auf eine gemeinsame Vergangenheit benötigten:
Durch die Überlieferung von für die Gruppe wichtigen Ereignissen werde historische Kontinuität erzeugt. Aber seit vielen Jahren werden auch Einwände an einem solchen Konzept
formuliert. Krippendorf bezweifelt, dass es sinnvoll ist einen Begriff aus Psychologie und
Biologie, der für individuelle Phänomene angemessen und hinreichend erforscht ist, auf
soziale Gruppen zu übertragen:
„The concept of memory comes to us from psychology, where it serves certain functions in explaining cognitive behaviour, and from biology, where it has in addition a clear local and
physiological reference. In society, the function of maintaining past information and its material
basis is less clearly identifiable. [...] But, in using this notion, we are [...] [not; AD] able to go
beyond the biological concepts which might not be appropriate in explaining social phenomena
of memory.“ (1975: 15f.)
Konzeptualisierungen von Medientechnologien als Gedächtnis der Gesellschaft oder die
Annahme, das Gedächtnis der Gesellschaft sei als Speicherinstitution vorstellbar, sind metaphorisch und stellen eine recht einseitige, ontologisierende Übernahme des Gedächtnisbegriffs aus individuellen in soziale Zusammenhänge dar. Dementsprechend kann das kollektive oder kulturelle Gedächtnis auch nicht in den Festplatten, Bibliotheken und Fernseharchiven gesucht und verortet werden. Die Ähnlichkeit zwischen dem individuellen und
dem sozialen Gedächtnis ist demnach nicht viel mehr als eine behauptete. Weder wird die
Differenzierung in Gedächtnistypen noch die Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung reflektiert noch findet eine theoretische Prüfung der Übertragung dieser Konzepte
statt. Die Herkunft der Metaphorik wird nicht problematisiert. Umstritten ist ferner die
normative Ausrichtung des oben skizzierten Ansatzes, der als Funktionen von kollektivem
Gedächtnis die Identitätsstiftung wie Legitimierung von sozialen Ordnungen annimmt. Ein
Modell, das aus dem Studium antiker (Hoch-)Kulturen gewonnen wurde, lässt sich aber nur
sehr begrenzt auf moderne Gesellschaftsformen übertragen (vgl. Misztal 2005: 1329ff.).
2
Hierbei handelt es sich, wenn man der Unterscheidung Erlls folgen will, um die metonymische (in Abgrenzung zur metaphorischen) Verwendung des Begriffs kollektives Gedächtnis (vgl. Erll 2005: 96f.).
Kommunikation über Vergangenheit
21
Demokratie z.B. gewinnt Legitimität sowohl aus einem Verfahrenskonsens (sensu Dahrendorf) als auch durch Wahlen und nicht in erster Linie durch einen gemeinsamen Bezug auf
Vergangenheit. Und der Begriff der kollektiven Identität kann mit Krippendorfs Argumenten ähnlich kritisch hinterfragt werden, sodass in pluralisierten Gesellschaften nicht von
einem kollektiven Gedächtnis und einer kollektiven Identität ausgegangen werden kann.
Ein Ausweg könnte darin bestehen, deshalb sowohl auf ontologische Vorstellungen eines
sozialen Gedächtnisses als auch auf normative Ansprüche wie die Überlieferung eines wie
auch immer gearteten kulturellen Erbes zur Ausbildung von Geschichte und damit Realität
zu verzichten. Gedächtnis ist keine Entität, die eine soziale Gruppe besitzen oder eben nicht
besitzen kann, sondern vielmehr als Kategorie des Beobachtens zu perspektivieren. Oder
wie es Halbwachs ausdrückt: „Man kann ebensogut sagen, dass das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und dass das Gedächtnis der
Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen.“ (Halbwachs
1985: 23) Die Zuschreibung von Gedächtnis dient in einem solchen Sinne der Erklärung
von aktuellen Zuständen durch vergangene Zustände, sie kann aber nur über den Weg der
Beobachtung (Selbst- wie Fremdbeobachtung) stattfinden (vgl. Krippendorf 1975: 16f.;
Baecker 1991: 339; Luhmann 1984: 102f.). Ein solches, der Systemtheorie entlehntes und
an kommunikationswissenschaftliche Theoriebildung wie empirische Forschungen anschlussfähiges Konzept, soll daher im folgenden Kapitel entwickelt werden.
4
Soziales Gedächtnis als Thema und Kategorie der Kommunikationswissenschaft
In einem ersten Schritt habe ich zu zeigen versucht, dass die Übernahme eines individuellen
Gedächtnisbegriffs in soziale Zusammenhänge sich dann als problematisch erweist, wenn
soziales Gedächtnis nicht mehr meint als die Speicherung und Übertragung von kollektiven
Wissensbeständen. Ein solches Modell des sozialen Gedächtnisses ist zudem für kommunikationswissenschaftliche Forschung empirisch wie theoretisch insofern unbefriedigend, als
dass Medieninhalte, Kommunikatoren und Mediennutzung zu Gunsten der Medientechnik
vernachlässigt werden. Warum aber ist es überhaupt wichtig, ein kommunikationswissenschaftlich anschlussfähiges Konzept zu entwickeln? Handelt es sich bei sozialem Gedächtnis nicht vielleicht doch eher um eine kultur- und geisteswissenschaftliche Kategorie? Und
wenn ja, warum sollte man dann nicht auf einen Bereich der kommunikationswissenschaftlichen Erinnerungsforschung verzichten? Jürgen Wilke hält dagegen, dass die Menschen
„zu den meisten zeitgeschichtlichen Vorgängen [...] keinen anderen Zugang als den über
die Massenmedien“ (1999: 24) haben. Man könnte im Sinne des bekannten Luhmannschen
Diktums also sagen, dass alles, was wir eigentlich nicht wissen (nämlich aus eigenem Erleben nicht wissen können), durch die Medien erfahrbar wird, da sie die zentralen gesellschaftlichen Institutionen zur Überwindung räumlicher aber auch zeitlicher Grenzen sind.
Unser Wissen über Vergangenheit stammt primär aus öffentlicher Kommunikation. Ferner
haben Reinhardt und Jäckel (vgl. 2005: 96f.) darauf hingewiesen, dass Medien Erinnerungsgeneratoren darstellen – und dies in dreifacher Hinsicht: Massenkommunikation trägt
durch ihre Angebote zur Bildung von sozialen Erinnerungen bei (Gedächtnis durch Medien), ihre Angebote selbst werden zu sozialen Erinnerungen (Medien als Gedächtnis) und
soziale Erinnerungen werden als Themen in Massenkommunikation verhandelt (Gedächtnis
in Medien). Ich werde daher im Folgenden einen kurzen, synoptischen Überblick über
vorliegende kommunikationswissenschaftliche Forschungen geben.
22
André Donk
Die journalistische Konstruktion von sozialem Gedächtnis nimmt in der recht spärlichen
kommunikationswissenschaftlichen Forschung eine dominante Stellung ein. Zelizer betont
schon seit Mitte der 1990er die zentrale Rolle von Journalisten bei der Darstellung und
Interpretation von Vergangenheit (vgl. Zelizer 1995) und kommt in einem aktuellen Beitrag
(vgl. Zelizer 2008: 80f.) zu dem Ergebnis, dass der Beitrag von Journalisten zur Konstruktion von sozialem Gedächtnis gemeinhin unterschätzt werde. Journalisten fungieren aber
als „Agenten“ der Erinnerungsarbeit, weil Journalismus einerseits durch große Reichweiten
und große Verbreitung zur Konstitution von Gruppen beitrage, die eine gemeinsame Sicht
auf Vergangenheit etabliert hätten. Andererseits gelte die journalistische Darstellung von
Vergangenheit als besonders glaubwürdig (vgl. Edy 1999; Meyers 2007). Drei spezifische
Arten journalistischer Berichterstattung über Vergangenheit werden unterschieden: Jahrestagsjournalismus, Historische Analogien und Historische Kontextualisierungen (vgl.
Edy 1999: 74ff; Zelizer 2008: 82). Kitch (1999, 2000, 2003) untersucht an Hand von Nachrichtenmagazinen die Rolle der Medien als öffentliche Historiker, die durch die Kommunikation von Erinnerungsdarstellungen und damit der Kanonisierung von Geschichte individuelle Identitätskonstruktion wie gesellschaftliche Integration ermöglichen. Medien sind
Agenten der Erinnerung, die vermittels ihrer Verbreitungskanäle und Ubiquität alle anderen
erinnerungsstiftenden Institutionen in ihrer Leistung übertreffen, folgert auch Peri (1999)
an Hand einer Untersuchung über mediale Kontroversen zur Erinnerung an Yitzhak Rabin
in Israel. Ziel der Studien von Lang/Lang (1990) und Volkmer und Kollegen (Volkmer et
al. 2006) war es aufzuzeigen, ob ein Zusammenhang zwischen Ereignissen, die als ‚big
news‘ kommuniziert wurden, und ihrer Stellung im kollektiven Gedächtnis besteht. Kollektives Gedächtnis wird dabei als aggregierte Erinnerungen einer größeren Anzahl von Menschen konzeptualisiert (vgl. ebd.: 24). Gemeinsames Wissen über nachrichtliche Ereignisse
soll kollektive Erinnerung – national wie global – konstituieren. Gunter präsentiert als Ergebnis von Rezipientenbefragungen, dass die Befragten sich direkt nach der Sendung
durchschnittlich nur an eines von zwanzig Themen erinnern konnten; eine Stunde nach der
Sendung konnte sich nur noch jeder zweite Teilnehmer überhaupt an ein Thema erinnern
(vgl. Gunter 1983: 166). Die Informationen des Journalismus verwandeln sich im Moment
ihrer Publikation unmittelbar in Nichtinformationen und müssen dementsprechend nur
solange zur Sicherung des Verständnisses weiterer Kommunikationen erinnert werden, bis
sie durch neue ersetzt werden (vgl. Esposito 2002: 260ff.). Merten folgert: „Nachrichtenwissen wird daher nicht kumuliert (wie etwa das Erlernen eines bestimmen Sachwissens),
sondern es hat nur eine konservative updating-Funktion. Sowie diese erfüllt ist, ist das
Nachrichtenwissen wertlos: Nachrichten sind zum Vergessen.“ (Merten 1990: 36) Filk und
Kirchmann (2000) fragen an Hand spezieller TV-Formate nach der Erinnerungsfähigkeit
des Fernsehens, das – so die Annahme dieser Studie – für breite Bevölkerungsschichten das
bevorzugte Medium zur Aneignung von Geschichte darstellt. Meyer und Leggewie (2004)
sowie Sumner (2004) perspektivieren die Leistungen des Internets zur Überwindung gerade
von Raumgrenzen bei der Konstitution von Erinnerungsgemeinschaften sowie den Wechsel
von individueller und kollektiver Nutzung. Erinnerungsportale im Internet, so das Ergebnis
dieser Studien, stellen Formen kollektiver Gedächtnisse im Kontext kultureller Globalisierung und Individualisierung der Massenmedien dar.
Kommunikation über Vergangenheit
5
23
Öffentliches Gedächtnis und öffentliche Kommunikation über Vergangenheit
Was haben die oben vorgestellten Studien nun gemeinsam? In der Regel wird der Bezug
auf das soziale Gedächtnis eher implizit deutlich, nur wenige der Autorinnen und Autoren
definieren diesen ihre Untersuchung leitenden Begriff. Soziales Gedächtnis ist das gemeinsame Wissen und der gemeinsame Bezug auf Vergangenheit, der durch öffentliche Kommunikation gebildet und im Moment der öffentlichen Kommunikation beobachtbar wird.
Gemeinsames Wissen bedeutet dabei die Unterstellbarkeit von Wissen qua seiner hohen
Verbreitung und Relevanz in den Nachrichten. Eine solche Vorstellung von sozialem Gedächtnis erinnert an die Kategorie der Öffentlichkeit: „Öffentlichkeit ist folglich keine bürgerliche Institution, sondern ein kognitives Sozialverhältnis, im weitesten Sinne eine unterstellbare soziale Qualität von Wissen (nämlich aktuell und reflexiv mit-geteiltes Wissen),
und es genügen zwei Personen und ein Thema, um sie herzustellen.“ (Westerbarkey 2005:
58; Hervorhebung im Original) Oder anders formuliert: Öffentlichkeit ist in einer systemtheoretischen Konzeption erst einmal nichts anderes „als ein Ausdruck für die Unterstellung, dass Themen als Voraussetzung zwischenmenschlicher Kommunikation akzeptiert
sind“ (Marcinkowski 2002: 89).
Soziale Systeme können, auch wenn sie autonom operieren, nicht als autark konzeptualisiert werden. Ihre eigene Operationsweise kann durch Irritationen aus der Umwelt gestört
oder gar gefährdet werden. Zwischen den gesellschaftlichen Funktionssystemen bestehen
komplexe, wechselseitige Abhängigkeits- und Ergänzungsverhältnisse. Deshalb bedarf es
der Ausbildung von gesellschaftsweiten (Kommunikations-)Strukturen zur verlässlichen
Beobachtung der einzelnen Funktionssysteme. Dabei kann sich Gesellschaft aber weder auf
die Selbstbeobachtung aller Systeme verlassen noch besteht die Möglichkeit der Beobachtung aller durch alle. Erstere steht unter Motivverdacht, letztere erscheint unmöglich komplex. Daher entwickelt Gesellschaft ein eigenes Funktionssystem Öffentlichkeit, dessen
Funktion in der Beobachtung und der Mitteilung von Beobachtungen über die Interdependenzen funktional differenzierter Gesellschaften liegt (vgl. Kohring 2005: 259ff.; 2006:
166f.). Nur über das Bekanntsein öffentlicher Kommunikationen (und das Bekanntsein
ihres Bekanntseins) sind Systeme in der Lage, verlässliche Umwelterwartungen als „Orientierung von Handlungen an anderen Handlungen“ (Marcinkowski 1993: 40) auszubilden.
Damit entsteht Öffentlichkeit vor dem gleichen Problem wie soziales Gedächtnis, nämlich
der Herausbildung handlungsorientierender Strukturen zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation. Wenn wir voraussetzen, dass Kommunikation das Letztelement sozialer Systeme darstellt, dann können Systeme nur dann anschlussfähige (i.e.
verstehbare) Kommunikationen bereitstellen und damit die Reproduktion des Systems sicherstellen, wenn sie stabile Erwartungen darüber aufbauen können, was der Adressat der
Kommunikation schon weiß beziehungsweise nicht weiß, was er also verstehen oder nicht
verstehen kann. Da es jedoch unmöglich ist, Verstehen psychisch zu testen (operative Geschlossenheit psychischer Systeme) oder die Voraussetzungen der Kommunikation im
Kommunikationsakt beständig zu thematisieren, sind autopoietische Systeme bei ihrer
Reproduktion auf Strukturbildung zur Konventionalisierung von Erwartungen angewiesen
(vgl. Luhmann 1996: 326; 2000: 172). Deshalb muss es einen „Mechanismus“ (Luhmann
1996: 310) geben, der entscheidet, was erinnert und was vergessen wird und diese Erinnerungen latent bereit hält. Diesen Mechanismus bezeichnet Luhmann als Gedächtnis. Dem
System wird es durch die Funktion eines Gedächtnisses möglich, zwischen Vergangenheit
und Zukunft zu unterscheiden und damit auch Unsicherheit insoweit über Strukturbildung
24
André Donk
zu reduzieren, als dass es induktive Schlüsse aus vergangenen auf zukünftige Ereignisse
ziehen kann: „Gedächtnis ist dann nur ein anderes Wort für jene Zunahme innerer Organisation (...).“ (Baecker 1996: 520) Die Hauptaufgabe des Gedächtnisses liegt nach Luhmann
„im laufenden Diskriminieren von Erinnern und Vergessen“ (2004: 76), es schafft dabei
Routinen und sorgt für deren Aktualisierung (i.e. Auslösung). Dabei bildet es keinen Speicher von vergangenen Erfahrungen und Beobachtungen aus, die dem jeweiligen sozialen
System zur Verfügung stünden und abgerufen werden könnten. Gedächtnis sorgt vornehmlich – und das ist, wenn nicht paradox, so doch zumindest contra-intuitiv – für Vergessen.
Nur so kann garantiert werden, dass die geringen Informationsverarbeitungskapazitäten
nicht blockiert, sondern für neue Aufgaben frei gemacht werden. Dabei wird lediglich zur
Komplexitätssteigerung ein Schema für einen Re-Entry zurückbehalten, alles andere wird
vergessen. Wer einmal gelernt hat, mit dem Löffel zu essen, muss sich nicht bei jedem
Teller Suppe daran erinnern, wie er das Essen mit dem Löffel erlernt hat, sondern nur, dass
er diese Fähigkeit besitzt und jetzt ein Ereignis zu deren Auslösung vorliegt (vgl. Luhmann
1996: 311). Eine ähnliche „medienkulturwissenschaftliche“ Perspektive auf soziales Gedächtnis findet sich bei Zierold (2006), der Gedächtnis als Struktur konzipiert, die jedem
gegenwärtigen Handeln zu Grunde liegt. Das Gedächtnis der Gesellschaft ist dann das Resultat bisheriger Handlungen: „Gedächtnis [ist] für jede gesellschaftliche Setzung relevant
als Voraussetzungszusammenhang und damit als Basis für Sinnorientierungen im Rahmen
bisheriger Programmanwendungen.“ (ebd. 2006: 150) Jedes Handeln, jede Kommunikation
fängt also nicht bei Null an, sondern findet auf einem Plafond vergangener Handlungen und
Kommunikationen statt.
Bei Öffentlichkeit geht es also ebenso wie bei sozialem Gedächtnis in der gewählten
systemtheoretischen Perspektive um die Anschlussfähigkeit von Kommunikationen, die über
gemeinsames Wissen hinsichtlich von Themen und deren Bekanntsein geleistet wird. Daher
schlage ich vor, soziales Gedächtnis als eine spezielle Form von Öffentlichkeit, die man als
memoriale Öffentlichkeit oder als öffentliches Gedächtnis bezeichnen könnte, zu fassen:
Soziales Gedächtnis als systemweite Reflexivierung von Vergangenheit, die die Differenz
zwischen erinnerten und vergessenen Sachverhalten dergestalt bestimmt, dass Themen mit
Bezug auf Vergangenheit als erwartbar und anschlussfähig gelten. In einem solchen Verständnis meint soziales Gedächtnis als memoriale Öffentlichkeit das Bekanntsein des Bekanntseins oder die Unterstellbarkeit des Wissens über vergangene, als sozial relevant erachtete Themen. Oder anders gewendet: Kommunikationen über Vergangenheit, die mithin
einen gemeinsamen Themenhorizont über vergangene Ereignisse konstituieren, sind vergleichbar mit dem Phänomen der öffentlichen Meinung. Das Gedächtnis von Funktionssystemen wird damit erst dann beobachtbar, so die These, sobald öffentlich über vergangene
Ereignisse eines Systems mit der Erwartung der Anschlussfähigkeit und damit Relevanz in
anderen (psychischen wie sozialen) Systemen kommuniziert wird. Damit konstituiert memoriale Öffentlichkeit sowohl einen möglichen thematischen Rahmen von Wissen über Vergangenheit als auch den Raum für den gemeinsamen Bezug auf Vergangenheit.
Wovon reden wir, wenn wir von Gedächtnis in sozialen Zusammenhängen reden? Einerseits von der sozialen und kommunikativen Prägung des menschlichen Gedächtnisses.
Andererseits bezeichnet der Terminus soziales Gedächtnis in der von mir hier angewandten
systemtheoretischen Perspektive eine Sonderform von Öffentlichkeit: Erstens als Unterstellungsunterstellung des Bekanntseins von vergangenheitsorientierten Themen öffentlicher
Kommunikation, zweitens als Erwartungserwartung der damit verbundenen Anschließbarkeit von Kommunikation. Eine Operationalisierung für kommunikationswissenschaftliche
Kommunikation über Vergangenheit
25
Forschung kann entweder auf der Ebene der öffentlichen Kommunikation über Vergangenheit (Medieninhalte) oder der Individuen und deren Verwendungsweisen öffentlicher
Kommunikation zur Konstruktion von Identität oder Etablierung von Gruppenzugehörigkeit (Medienrezeption und -nutzung) erfolgen. Damit verabschieden wir einerseits einen
auf Entitäten ausgerichteten Begriff des sozialen Gedächtnisses, für den es so keine empirische Entsprechung gibt. Andererseits orientieren sich Begriff und Theorie des öffentlichen
Gedächtnisses/der memorialen Öffentlichkeit an aktuellen Konzepten zum menschlichen
Gedächtnis und bieten einen kohärenten Rahmen für kommunikationswissenschaftliche
Forschungen. Die Funktion von Medien und Kommunikation für ein solch öffentliches
Gedächtnis ist auch deutlich präziser zu fassen: Weder stellen Medien das Gedächtnis der
Gesellschaft dar noch sind sie allein Garanten der Überlieferung von Wissen über die Vergangenheit. Medien und ihre Akteure stellen vielmehr unter den systemspezifischen Konstruktionsbedingungen öffentliche Kommunikation über Vergangenheit her und bereit, über
deren Annahme dann aber immer noch die Mediennutzer selbst entscheiden. Zudem lenkt
ein solches Begriffsinstrumentarium den Blick von den Technologien der Medien auf reflexive Strukturen. Gegenstand einer empirischen Kommunikationswissenschaft ist die öffentliche Kommunikation, ihre Herstellung, Darstellung und Wirkung – und eben nicht die
Informationstechnologie mit ihren Schaltungen, über die Kommunikationswissenschaft
keine derart qualifizierten Aussagen machen kann, wie sie dies über das eigene Materialobjekt zu leisten im Stande ist.
Und die Zukunft der Erinnerung im Zeitalter des Digitalen? Jenseits kulturkritischer
Lamentos und technikeuphorischem Optimismus zeichnet sich auf der Ebene der öffentlichen Kommunikation über Vergangenheit weder im Internet noch im Fernsehen das Ende
der Geschichte ab. Spiegel Online hat gerade als erstes Nachrichtenportal eine eigene Sparte zur Zeitgeschichte etabliert. Auf einestages.de schreiben sowohl Redaktionsmitglieder
als auch Leser über Personen, Ereignisse und Phänomene der erlebten Vergangenheit und
überführen so das kommunikative in ein kulturelles Gedächtnis, wie es Jan und Aleida
Assmann ausdrücken würden. Das Internet erhöht zudem die Chance zur Teilnahme an
öffentlicher Kommunikation, indem Minderheiten und Subkulturen dort ihre vernachlässigten oder verdrängten Geschichten in den Strom der öffentlichen Erinnerung einbringen
können – wobei zumindest erwähnt werden muss, dass einem Plus im Bereich der Teilnahmechance die Segmentierung relevanter Publika und damit einem Minus im Bereich der
Aufmerksamkeit von großen Gruppen für einzelne Medienangebote gegenübersteht.
6
Resümee und Ausblick
Einer kommunikationswissenschaftlichen Perspektive auf Gedächtnis muss, wenn sie theoretisch hinreichend komplex wie empirisch valide sein will, ein differenziertes Begriffsinstrumentarium zur Verfügung stehen. Ein erster Schritt ist die Verabschiedung eines Gedächtnisbegriffs auf der Ebene des Sozialen, der soziales Gedächtnis als Speicher kollektivierter Erinnerungen begreift, zu Gunsten einer funktionalen Konzeptualisierung von Gedächtnis im Anschluss an die Systemtheorie. Gedächtnis ist dann eine Funktion sozialer
Systeme, die zur Stabilisierung von Umwelterwartungen und damit zur Handlungsorientierung über die Bereitstellung latenter Frames über vergangene Ereignisse beiträgt. Gedächtnis ist im weitesten Sinne ein Sinnmedium, das die Anschlussfähigkeit und die Annahme
von Kommunikationen erhöht, eben weil sie als bekannt voraus gesetzt werden können.
26
André Donk
Gedächtnis in einer nicht-metaphorischen Wortbedeutung kann Kommunikationswissenschaft nur auf der Mikroebene untersuchen. Interpersonale wie öffentliche Kommunikation
sind Co-Konstituenten individueller Gedächtnissysteme. Medien sind – und dies ist eine
banale Feststellung – sicherlich (technische) Erinnerungsstützen, aber das ist der Knoten im
Taschentuch ebenso wie der Einkaufszettel. Ein eher enger Medienbegriff im Sinne komplexer institutionalisierter Systeme um Kommunikationskanäle (vgl. Saxer 1999: 5f.) verweist auf die Bedeutung der gesellschaftsweiten aktuellen und beobachtbaren Zirkulation
von Kommunikationen über Vergangenheit. Und dies wiederum heißt, dass nicht die Speicherung von Informationen und die damit verbundenen Chancen wie Risiken im Mittelpunkt unserer Untersuchungen stehen sollte, sondern „the way in which the past is called
up and used“ (Misztal 2005: 1336). Der Historiker Stefan Haas hat das so ausgedrückt:
„Texte allein können sich nicht erinnern, nur Menschen. Erinnern bleibt in der Notwendigkeit des Vollzugs.“ (ebd. 1996: 54) Kommunikationswissenschaftlicher Erinnerungsforschung öffnet sich ein weites Feld, dessen Erforschung die Reflexion seiner Grundbegriffe
Gedächtnis und Erinnerung sowie ihrer häufig metaphorischen Verwendung sowie belastbare Konzepte zur Übertragung von individuellen Konzepten in soziale Zusammenhänge
benötigt. Daher habe ich einerseits eine Orientierung auf das individuelle Gedächtnis und
dessen medialer/kommunikativer Bedingtheit angeregt und für den Bereich des sozialen
Gedächtnisses vorgeschlagen, theoretisch auf Öffentlichkeit und deren Kommunikation
umzustellen. Die Gleichung Medien = Gedächtnis jedenfalls geht nicht auf.
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Ein Ansatz zur Strukturierung medienvermittelter fiktionaler Öffentlichkeit
31
Basisgenres. Ein Ansatz zur Strukturierung
medienvermittelter fiktionaler Öffentlichkeit am Beispiel des
Fernsehangebots1
Ein Ansatz zur Strukturierung medienvermittelter fiktionaler Öffentlichkeit
Volker Gehrau
1
Struktur medialer Öffentlichkeit (systemtheoretische Perspektive)
„Öffentlichkeit ist ein Ergebnis jeder Kommunikation, denn Kommunikation ist gemeinsame Aktualisierung von Sinn […], Themen und Informationen – oder zumindest deren Unterstellbarkeit – aufgrund von Interaktion […]“, so Westerbarkey (1999: 148). Kommunikation ist und schafft Öffentlichkeit, solange sie sich an ein Gegenüber richtet bzw. von einem
Gegenüber stammt. Deshalb kann es die Öffentlichkeit nicht geben, sondern nur verschiedene Öffentlichkeiten. Im Zentrum publizistik- bzw. kommunikationswissenschaftlicher
Betrachtungen steht die mediale Öffentlichkeit (vgl. Westerbarkey 1999). Unter medialer
Öffentlichkeit werden Kommunikationsangebote verstanden, die durch Massenmedien dem
Publikum zugänglich gemacht werden.
Ein Anliegen der systemtheoretisch orientierten Kommunikationswissenschaft ist die
Analyse der Struktur und Funktion medialer Öffentlichkeit. Ausgangspunkt der funktionalstrukturellen Systemtheorie ist nach Görke (vgl. 2001: 54, 2002: 69, 2007: 88) die Frage,
wie durch Reduktion von Komplexität soziale Strukturen entstehen. Die strukturbildende
Funktion medialer Öffentlichkeit wird systemtheoretisch meist in der Selbstbeobachtung
der Gesellschaft gesehen. Die Gesellschaft erfasst ihren Zustand und ihre Möglichkeiten in
medialen Kommunikationsangeboten, die, wenn sie genutzt werden, den Nutzern die Verfasstheit und das Potenzial der Gesellschaft widerspiegeln. Die Gesellschaft wird allerdings
nicht in umfassender Komplexität abgebildet, sondern es werden bestimmte Aspekte nach
besonderen Regeln selektiert und aufbereitet. Durch diese Art der Selbstbeobachtung kann
die Gesellschaft ebenso synchronisiert wie irritiert werden. (Vgl. Görke 2002: 71-74 sowie
2007: 89-90)
Für ein genaueres Verständnis medialer Öffentlichkeit ist aber eine weitergehende
Strukturierung und Funktionsanalyse nötig. Westerbarkey (2001: 15) greift an dieser Stelle
Aristoteles auf: „Eine der folgenreichsten Ideen für die kommunikationswissenschaftliche
Theorieentwicklung und Forschungspraxis war die idealtypische Klassifikation publizistischer Inhalte oder Funktionen […]. Ihre Wurzeln liegen ganz offensichtlich in der Aristotelischen Rhetorik, in der bekanntlich die drei Redestrategien docere, persuare und declare
gelehrt werden.“ Mit Bezug zu Luhmanns Systemtheorie verbindet Westerbarkey (2001:
16) docere mit dem Subsystem Nachrichten und Berichte in den Massenmedien, persuare
mit dem Subsystem Werbung in den Massenmedien und delectare mit dem Subsystem
massenmedialer Unterhaltung.
1
Ich danke Alexander Görke, Siegfried J. Schmidt und Armin Scholl für den Gedankenaustausch sowie die
vielen hilfreichen Hinweise zum vorliegenden Beitrag.
32
Volker Gehrau
Die meisten systemtheoretischen Analysen der Struktur medialer Öffentlichkeit beziehen
sich auf den Bereich der Informationen in den Massenmedien aus Nachrichten und Berichten. Er wird in der Regel im Zusammenhang mit dem publizistischen (vgl. Marcinkowski
1993) bzw. journalistischen (vgl. Blöbaum 1994) System analysiert. Görke (2002: 73-81)
konzeptionalisiert dabei Journalismus als eigenständiges Leistungssystem, das als autonomer Beobachter von Weltgeschehen fungiert und nach autonom gesetzten Regeln massenmediale Inhalte erstellt. Eine Strukturierung dieses Teils der medialen Öffentlichkeit ergibt
sich durch Koorientierung und Kooperation mit anderen Systemen. Das Leistungssystem
Journalismus hat Ordnungs-, Darstellungs-, Informationssammlungs-, Selektions- und
Prüfprogramme herausgebildet (vgl. Blöbaum 1994), die sowohl mit Rollen im Redaktionsalltag als auch mit journalistischen Kommentierungs- und Darstellungsformen einhergehen. Nach diesen lässt sich das entsprechende Fernsehangebot in unterschiedliche Formate einteilen. Andererseits lässt sich das Angebot inhaltlich nach Themen differenzieren.
Hier ergibt sich die Strukturierung durch Orientierung des Leistungssystems Journalismus
an anderen Systemen wie Politik, Recht, Ökonomie oder Wissenschaft.
Auch das persuasive Subsystem der medialen Öffentlichkeit hat einige systemtheoretische Aufmerksamkeit erfahren. Die Werbung hat sich als eigenständiges System innerhalb
des Systems Wirtschaft entwickelt. (Vgl. Schmidt 1991) Auch sein Beitrag zur medialen
Öffentlichkeit lässt sich nach der Ausdifferenzierung von Arbeitsprogrammen sowie nach
Referenzsystem differenzieren. Das Arbeitsprogramm der PR orientiert sich am Journalismus (vgl. Westerbarkey 1995), das der klassischen Werbung an der Wirtschaft ebenso wie
an den Medien (vgl. Kramer 2001). Beide bestimmen eher die Form der entsprechenden
Medienangebote. Die inhaltliche Strukturierung des persuasiven Medienangebots wird in
der Regel nach der Binnendifferenzierung im ökonomischen System z.B. nach Branchen
und nach Arten von Produkten/Dienstleistungen vorgenommen.
Demgegenüber wurde das mediale Unterhaltungsangebot systemtheoretisch kaum beachtet. Einer der wenigen Ansätze stammt von Görke (vgl. 2001, 2002, 2007), der die Leistungssysteme Journalismus und Unterhaltung durch den Code der Aktualität abgrenzt:
Medienangebote der journalistischen Öffentlichkeit zielen auf Aktualität, Angebote der
unterhaltenden Öffentlichkeit hingegen nicht. Auch beim Leistungssystem Unterhaltung
macht sich die Binnendifferenzierung an Arbeitsprogrammen fest (vgl. Görke 2007: 91-97).
Aus grundsätzlichen und rechtlichen Erwägungen hat sich allgemein die Einteilung in fiktionale und nicht-fiktionale Fernsehangebote durchgesetzt. Im Bereich nicht-fiktionaler Unterhaltung wird das Fernsehangebot aus systemtheoretischer Perspektive in Anlehnung an
den Journalismus differenziert (vgl. Görke 2007: 97-99) und als Unterhaltungspublizistik
analysiert (vgl. Trebbe/Maurer 2007). Eine eingehende systemtheoretische Analyse des
fiktionalen Unterhaltungsangebots steht noch aus, abgesehen von ersten Analysen der Arbeitsprogramme (vgl. Altmeppen 2007).
Eine systemtheoretisch fundierte Strukturierung des nicht-fiktionalen Unterhaltungsangebots im Fernsehen ist in Anlehnung an die Strukturierung des journalistischen Informationsangebots gut argumentierbar. Die Strukturierung des fiktionalen Unterhaltungsangebots fällt demgegenüber schwer, weil sie weder in Anlehnung an das journalistischpublizistische System noch an das System Wirtschaft oder Werbung fundiert werden kann,
obgleich eine starke Abhängigkeit zwischen Medien und Werbung besteht. Ich schlage
stattdessen vor, die inhaltliche Strukturierung des fiktionalen Unterhaltungsangebots im
Fernsehen am Fernsehpublikum zu orientieren und greife dazu die konstruktivistische Mediengattungstheorie auf.
33
Ein Ansatz zur Strukturierung medienvermittelter fiktionaler Öffentlichkeit
Arbeitsprogramme
Journalismus
Publizistik
Ĺ
ĺ
ĺ
massenmediale Öffentlichkeit
docere
declare
persuare
Information
UnterhalWerbung
tung
Ĺ
Ĺ
Ĺ
Ĺ
Referenzsysteme
Politik, Wissenschaft etc.
2
ĸ
ĸ
Arbeitsprogramme
Werbung
(PR)
Ĺ
Referenzsystem
Wirtschaft
Mediengattungen (konstruktivistische Perspektive)
Die konstruktivistische Mediengattungstheorie (vgl. Rusch 1987a/b, Schmidt 1987a/b)
versteht unter Mediengattungen kognitive Schemata, die individuell ausgebildet werden,
um den alltäglichen Umgang mit Medien und Medienangeboten zu ermöglichen bzw. zu
vereinfachen. Ausgangspunkt der Überlegungen sind Ansätze aus der Entwicklungs- und
Kognitionspsychologie zur Ausbildung von Schemata, die bestimmte Reiz- und Informationskonstellationen so zusammenfassen, dass wenige dazugehörige Informationen reichen,
um ein entsprechendes Schema bottom-up zu aktivieren und ein aktiviertes Schema topdown die Interpretation auftretender Reize und Informationen leitet. Mediengattungen sind
eine spezielle Klasse solcher kognitiven Schemata, die sich auf den alltäglichen Umgang
mit Medien und deren Inhalten beziehen. Durch gemeinsames Medienhandeln sowie durch
Kommunikation über Medienhandeln und Medienangebote werden die individuellen
Schemata gesellschaftlich abgestimmt und synchronisiert. Durch diese Synchronisierung,
die Ähnlichkeit von Medienangeboten und Medienhandlungen sowie die Mediensozialisation sind die individuellen Medienschemata mit Erwartungen an die Medienangebote verbunden. (Vgl. im Überblick Gehrau 2001: 24-27) Durch die Abstimmung von Erwartungen
und die Notwendigkeit, Medienangebote an die Bedürfnisse des Publikums anzupassen,
haben sich die Medienproduzierenden mit bestimmten Arbeitsroutinen z.B. im Journalismus (vgl. Schmidt/Weischenberg 1994) an die Mediengattungen angepasst. Die Strukturierungsfunktion von Mediengattungen wirkt sich selbst so auf die Organisation von Medienunternehmen aus (vgl. Rusch 1987a/b).
Nach Rusch (1987a/b) entwickeln sich Genres und Gattungen im Spannungsverhältnis
zwischen verschiedenen Komponenten: (a) der Beziehung zu anderen Genres und Gattungen, (b) den visuellen und auditiven Rezeptionserfahrungen, (c) Aspekten des Medienangebots und Medieninhalts sowie (d) Besonderheiten der Mediennutzung. Deshalb sind bei
unterschiedlichen Gattungen unterschiedliche Aspekte von Bedeutung (vgl. Rusch 1993)
und es werden jeweils andere Erwartungen geweckt. Schmidt (1987a: 169) knüpft daran
eine Strategie der konstruktivistischen Mediengattungsforschung: „Empirische Untersuchungen richten sich demgemäß auf die Ermittlung von Gattungsbezeichnungen, auf die
Ermittlung von Gattungswissen und auf die Ermittlung der tatsächlichen Funktion der Anwendung von Medienhandlungsschemata bei verschiedenen Aktanten(typen) im Medienhandlungssystem […].“
34
Volker Gehrau
Ich habe die Idee aufgegriffen und untersucht, wie Fernsehangebote bezeichnet und klassifiziert werden. Ausgangspunkt war die Grundeinteilung in Gattungen2, Genres und Themen
(vgl. Gehrau 2001: 17-19). Gattungen bezeichnen und systematisieren das gesamte Fernsehangebot nach Form und Aufbereitung in Formate wie Magazine, Shows, Serien, Filme
etc. Genres sind Begriffe und Klassifikationen für fiktionale Fernsehangebote nach inhaltlichen Kriterien. Sie unterscheiden sich von Themen, die das nicht-fiktionale Fernsehangebot
nach inhaltlichen Kriterien systematisieren (z.B. in Sport, Kultur, Politik, Wissenschaft
etc.). Da sich die hier angestellten Überlegungen auf die Struktur der fiktionalen Fernsehangebote beziehen, beschränkt sich die weitere Darstellung auf Genres.
Bei der Analyse der Bezeichnungen, die Zuschauer für Fernsehangebote benutzen,
wurde deutlich, dass diese zwar individuelle Konstrukte sind, weshalb sie bei bestimmten
Angeboten sehr unterschiedlich ausfallen, aber überindividuell zu gesellschaftlichen Konstrukten abgestimmt werden, weshalb die Bezeichnungen bei anderen Angeboten erstaunlich homogen ausfallen (Gehrau 1999). Anders ausgedrückt besteht die Menge der Bezeichnungen für Fernsehangebote aus einem überindividuell geteilten Kernrepertoire (vgl.
Gehrau 2001: 130-134, Hoffmann 2003: 115-116) von Begriffen plus einem individuellen
Spezialrepertoire. Interessant ist die Struktur innerhalb der Repertoires. Sie deutet auf eine
Hierarchie zwischen Form und Inhalt, bei der die Form dem Inhalt übergeordnet ist. Sie
manifestiert sich immer, wenn Bezeichnungen für Form und Inhalt kombiniert werden.
Dann beginnen die Bezeichnungen mit der Spezifikation von Genres und enden auf dem
Gattungsbegriff: z.B. Science-Fiction-Serie. Die Hierarchie ergibt sich aus der Konstruktion zusammengesetzter Begriffe in der deutschen Sprache. Diese beginnen mit dem spezifischen Konzept, z.B. Apfel, und enden mit dem übergeordneten Konzept, z.B. Baum. Deshalb verstehen wir den Apfelbaum als einen spezifischen Baum. Diesen würden wir aber
nicht Baumapfel nennen, weil dieser Begriff, wenn er überhaupt interpretierbar ist, ein
besonderer Apfel wäre, vielleicht im Gegensatz zu Erdäpfeln. Wäre bei den Bezeichnungen
für das Fernsehangebot der Inhalt der Form übergeordnet, so gäbe es Serien-ScienceFiction. Aber diese Bezeichnung ist weder eindeutig interpretierbar noch wird ein Medienbezug deutlich.
Eine andere Überlegung setzt bei der Funktion solcher Bezeichnungen an. Die konstruktivistische Mediengattungstheorie vermutet diese in der Reduktion von Komplexität
durch Strukturierung von Erwartungen. Wenn Genrebezeichnungen diese Funktion erfüllen, müsste der Umgang mit ihnen systematisch Unsicherheit reduzieren. Theoretisch lässt
sich die unsicherheitsreduzierende Funktion von Genres über Anschlussfähigkeit auf vier
Ebenen modellieren (vgl. Gehrau 2003):
ƒ
In der kulturellen Modellierung reduziert die Verwendung von Genrebegriffen Unsicherheit, indem sie Anschlussfähigkeit von einzelnen Werken bzw. einer Gruppen von
Werken an die kulturelle Entwicklung und die Gesamtheit aller Werke sicher stellt. So
kann das einzelne Filmwerk, indem es einem Genre zugeordnet wird, mit anderen
Filmen desselben Genres verglichen und von Filmen anderer Genres differenziert werden. Erst über diese Anschlussfähigkeit erscheint es sinnvoll, Filme als Werke im
kulturellen Kontext zu interpretieren. Genres lassen sich kulturell vereinfacht als
2
Im Gegensatz zum umgangssprachlichen Gebrauch verwende ich Gattung nicht als Spezifikation für Form
und Inhalt von Fernsehangeboten, sondern nur als Spezifikation der Form und verwende Gattung synonym
zu Format.
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