EINE PHILOSOPHISCHE MANAGEMENT-ETHIK EIN PROBLEMORIENTIERTER ANSATZ AUF DER GRUNDLAGE DES KRITISCHEN RATIONALISMUS INAUGURALDISSERTATION DER PHILOSOPHISCH-HISTORISCHEN FAKULTÄT DER UNIVERSITÄT BERN ZUR ERLANGUNG DER DOKTORWÜRDE VORGELEGT VON JOSEF H. NAEF SCHENKON (LU) BUCHBINDEREI SCHLAPFER, LUZERN, 2009 Von der Philosophisch-historischen Fakultät auf Antrag von PD Dr. Martin Bondeli (Hauptgutachter) und Prof. Dr. Enno Rudolph (Zweitgutachter) angenommen. Bern, den 9. Oktober 2009 Die Dekanin: Prof. Dr. Karénina Kollmar-Paulenz Abstract Im Zusammenhang mit dem in den ökonomisch fortgeschrittenen Gesellschaften vorherrschenden Wirtschaftssystem zeigen sich gravierende moralische Probleme: Trotz bester Konjunktur in den letzten Jahren erreicht die weltweite Arbeitslosigkeit neue Höchststände. In der Folge der Weltwirtschaftskrise wird die Zahl arbeitsloser Menschen allein im Jahre 2009 um weitere 50 Millionen zunehmen. Dabei sind junge und ältere Menschen am stärksten betroffen. Obschon die Weltpolitik versucht, das Problem der Armut zu bekämpfen, sterben tagtäglich unzählige Kinder wegen Hunger und fehlender medizinischer Versorgung. Angesichts der Tatsache, dass 10 Prozent der reichsten Menschen 85 Prozent des Weltvermögens gehören, während die ärmere Hälfte der Menschheit sich gerade mal mit 1 Prozent begnügen muss, ist dieses moralische Problem ganz besonders störend. Die Forschung auf dem Gebiet der gesundheitlichen Probleme im Zusammenhang mit den Arbeitsprozessen zeigt klar, dass die Belastungen der Mitarbeiter und Führungspersonen ständig steigen, mit der Konsequenz, dass die Gefahren hinsichtlich der physischen und psychischen Gesundheit zunehmen. Es ist bedenklich, dass nicht wenige Mitarbeiter und Führungsleute die geforderten Leistungen mittlerweile mithilfe von Pharmaka erbringen. Zwar ist die ökologische Gefährdung inzwischen vielen Menschen bekannt, auch gibt die Natur uns längst genügend unmissverständliche Zeichen, nichtsdestotrotz kann ein wirksames Umdenken der Menschen, insbesondere der Wirtschaftsakteure, nur sehr zögerlich festgestellt werden. Die Tatsache, dass die politische Instabilität grösser geworden ist, kommt allein durch die terroristischen Anschläge in jüngster Zeit deutlich zum Ausdruck. Zu denken geben sollte aber auch, dass es für die Durchführung eines europäischen Fussballfestes inzwischen ein Sicherheitsdispositiv bestehend aus 16'000 Polizisten, 15'000 Soldaten, unzähligen, rund um die Uhr bereitstehenden Personen privater Sicherheitsfirmen, 80 Szeneninsidern, die Namen und Daten von Hooligans sammeln, 68 Kampfjets sowie 24 den nationalen Luftraum abriegelnden Aufklärungsdrohnen braucht. Die Wirtschaftskriminalität nimmt sowohl in der Zahl der Fälle wie auch in der Dimension der Verstösse zu. Erschreckend ist dabei, dass oft multinationale Unternehmen die Frage der Legalität aus den Augen verlieren. Das Bewusstsein einer hohen Finanz- und Marktstärke kann offensichtlich dazu führen, die Frage nach der Legalität im Rahmen eines ökonomischen Kalküls zu berechnen. Nicht weniger gravierend ist die Tatsache, dass global operierende Unternehmen im Bereich Neuroökonomie bzw. Neuromarketing – weit mehr als die Kompetenzzentren der Hochschulen – interdisziplinäre Forschung betreiben. Und dabei steht längst nicht mehr die Rationalität der Konsumenten im Blickpunkt des Interesses, sondern die Antwort auf die Frage, wie die Erkenntnisse über das Unbewusste der Menschen für den Absatz der Produkte und Dienstleistungen verwendet werden können. Die aus moralischer Sicht dringliche Frage, inwieweit die Verwendung solcher Erkenntnisse die Autonomie der Menschen tangiert, wird dabei kaum gestellt. Multinationale Unternehmen formen sich immer mehr zu Unternehmensgiganten. Dass Konzerne mittlerweile so mächtig sind, dass sie vom Staat – trotz eines desolaten betriebswirtschaftlichen Zustandes und miserablen Management-Handelns – wegen des volkswirtschaftlichen Schadens gerettet werden müssen, ist aus moralischer Sicht äusserst bedenklich. Es zeigt sich bei diesen Fällen nämlich, dass exorbitante Gewinne privatisiert und die Verluste, die zweifellos mit einer zu hohen Gewinnabschöpfung zusammenhängen, sozialisiert werden. Im Kontext des Wirtschaftsgeschehens könnten weitere moralische Probleme genannt werden, allerdings genügen die hier dargestellten Phänomene, um zu sagen, dass erstens diese moralischen Probleme keine Naturphänomene, sondern das Resultat von künstlichen Institutionen (zum Beispiel Wirtschaftssystem und politisches System) sind, deren Verantwortung bei uns Menschen liegt. Zweitens besteht eine deutlich feststellbare Tendenz, dass das Wirtschaftssystem in den ökonomisch fortgeschrittenen Gesellschaften, insbesondere in der neoliberalen Verfassung, zunehmend menschliches Leid verursacht sowie die menschliche Autonomie schwächt. Worin liegen die Ursachen dieser gravierenden Fehlentwicklung in Bezug auf gesellschaftlich tief verankerte moralische Werte? Als zentrale Ursachen werden die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die damit zusammenhängende Marktsättigung in beinahe allen Branchen, der ständig zunehmende Konkurrenzkampf in fast allen Gebieten des menschlichen Daseins sowie die menschliche Erkenntnissituation gesehen. Gesellschaftssysteme wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik oder Medien operieren in unserer modernen Gesellschaft in einer je eigenen Funktionslogik. Und dabei zeigt sich beim politischen System die politische Macht und beim Wirtschaftssystem die Beseitigung von Geld- und Güter-Knappheit als die Fluchtpunkte des Denkens, Entscheidens und Handelns der Akteure in diesen sozialen Systemen. Mit anderen Worten: Noch bevor das politische System sich überhaupt mit sozialen Anliegen beschäftigen kann, braucht es als Grundbedingung die politische Macht und bevor Unternehmen für die Gesellschaft wertvolle Produkte bzw. Dienstleistungen sowie sinnvolle Arbeitsstellen anbieten können, müssen sie das dauernd – mehr oder weniger – bestehende Problem der Geldknappheit beseitigen. In einer Gesellschaft, wo die Zahl der Menschen, die sich für ein hochrangiges politisches Mandat bewerben, inzwischen hoch ist, und die Unternehmen längst nicht mehr mit dem Problem der Produktbereitstellung konfrontiert sind, sondern mit der Frage, wie sie ihre grossen Mengen von Produkten und Dienstleistungen im Umfeld der Marktsättigung absetzen können, nimmt das Konkurrenzdenken immer härtere Formen an. Mit der Konsequenz der beträchtlichen Gefahr, dass nun diese Funktionslogiken (die Erringung der politischen Macht im politischen System und die Beseitigung von Geldknappheit im Wirtschaftssystem) zum Selbstläufer werden und gesellschaftlich tief verankerte moralische Werte immer mehr aus dem Bewusstsein verschwinden. Anders gesagt: Es besteht die zunehmende Problematik, dass die eigentlichen Aufgaben des politischen Systems einerseits und des Wirtschaftssystems andererseits, nämlich die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung bzw. die Orientierung der ökonomischen Prozesse an der gesellschaftlichen Lebensdienlichkeit bloss noch als (mögliche) Instrumente hinsichtlich der höheren Funktionslogik wahrgenommen werden. Dass Letzteres in der Tat eine äusserst schwerwiegende Gefahr ist, zeigen erkenntnistheoretische Untersuchungen. Der Alltagsverstand hat die Vorstellung, dass wir bloss die Augen und Ohren zu öffnen brauchen, um richtige Erkenntnisse zu gewinnen. Diese Erkenntnistheorie des Alltagsverstandes ist jedoch völlig falsch. Der menschliche Erkenntnisprozess ist kein passives Hinnehmen, sondern – ähnlich einem Scheinwerfer – ein aktives Konstruieren und Interpretieren von Sinnesdaten, wobei dieser aktive Konstruktionsprozess an die Subjektivität des erkennenden Menschen geknüpft ist. Das bedeutet: Jede einzelne Erkenntnis hängt mit dem Charakter, der Erfahrung, den Gewohnheiten, Interessen, Zielen und Zwecken des Menschen zusammen, der die Erkenntnis hervorbringt. Der Grund, weshalb der Alltagsverstand seine falsche Erkenntnistheorie nicht erkennt, hängt vor allem damit zusammen, dass jeder Erkenntnisprozess von einem blinden Fleck begleitet ist, wir jedoch von diesem blinden Fleck – und damit von der Kontingenz einer jeden Erkenntnis – so gut wie nichts wissen. Mit der fatalen Konsequenz, dass der Alltagsverstand keine systematischen ErkenntnisFortschritte macht, sondern seine zum grössten Teil unbewussten Handlungskonzepte sowie handlungsanleitenden Prämissen erst dann korrigiert, wenn schwerwiegende Probleme im Bewusstsein auf sich aufmerksam machen. In Bezug auf die moralischen Probleme bzw. auf die soziale Ordnung ist die Inadäquatheit des Alltagsverstandes besonders gravierend. Und zwar deshalb, weil die über Macht verfügenden Menschen, also die Eliten in Politik und Wirtschaft, die genannten moralischen Probleme – im Allgemeinen gesehen – nicht tragen müssen und deshalb bei ihnen sich kaum ein genügend kritisches Bewusstsein entwickeln kann, um die Gefahren im Zusammenhang mit den ausdifferenzierten Gesellschaftssystemen, der weitgehenden Marktsättigung sowie dem immer härter werdenden Konkurrenzkampf zu erkennen. Stattdessen glauben angesehene Ökonomen uns sagen zu müssen, dass wir nicht im Nirwana leben und der Markt kein Paradies ist – als ob es tatsächlich viele Menschen gäbe, die solches zu glauben bereit wären –, während wir von hochrangigen Politikern zum Konsum aufgefordert werden; also ganz nach dem Motto: the show must go on! Die philosophische Management-Ethik ist als Beitrag zur Lösung der gravierenden moralischen Probleme konzipiert und basiert auf der Philosophie des Kritischen Rationalismus. Der Kern der Management-Ethik besteht aus zehn ethischen Prinzipien sowie der kritischen Methode. Für die Aufgabe der Entwicklung ethischer Regeln werden zentrale Beobachtungspunkte im Bereich der Managementtätigkeit bestimmt, die dann mit ethischen Vorgaben versehen werden, so dass – als Ergebnis – zehn ethische Prinzipien gefasst werden können, die allesamt eine konkrete Vorstellung davon abgeben, wie in einzelnen Situationen seitens der Mitglieder des Managements gehandelt werden soll. Um die Inadäquatheit der Erkenntnistheorie des Alltagsverstandes bzw. die Gefahren des mit jeder menschlichen Erkenntnis untrennbar verbundenen blinden Flecks abzuschwächen, muss im Weiteren nach einem wirksamen Instrument gesucht werden. Mit der kritischen Methode wird eine grundsätzlich für alle Menschen anwendbare und hoch effiziente Methode für die systematische und konsequente Anwendung der ethischen Prinzipien vorgestellt, die das Problem des blinden Flecks zwar nicht beseitigt, aber doch in bedeutender Weise entschärft, so dass die Grenzen der ökonomischen Logik sowie die moralischen Probleme Teil des Bewusstseins werden. Um einen Eindruck davon abzugeben, wie die kritische Methode in den Managements institutionalisiert werden kann, werden wichtige didaktische Prozesse skizziert. Dabei zeigt sich unter anderem, dass Veränderungen in der Einstellung und in den Gewohnheiten der Mitglieder des Managements unerlässlich sind. Insbesondere muss die häufig anzutreffende Gewohnheit, Menschen nach dem politischen oder ökonomischen Status einzuschätzen, aufgegeben werden. Das bedeutet: Die philosophische Management-Ethik geht im Grundsatz davon aus, dass alle Menschen gleichwertig sind, wir alle voneinander lernen können und es nicht so sehr darauf ankommt, wer Recht hat, sondern wie dringliche moralische Probleme am besten gelöst werden können. Die philosophische Management-Ethik wird Unternehmensverantwortlichen, das heisst Verwaltungsräten bzw. Aufsichtsräten, im Sinne einer Übernahme der sozialen Verantwortung zur Annahme empfohlen, und zwar verbunden mit der Idee, die systematische und konsequente Anwendung der ethischen Prinzipien sowie der kritischen Methode zum Bestandteil der Verträge zu machen, die mit den Mitgliedern des Managements abgeschlossen werden. Aber weshalb sollen Verwaltungsräte bzw. Aufsichtsräte die philosophische Management-Ethik überhaupt annehmen? Den Unternehmensverantwortlichen wird auf den drei Ebenen: Führungsleute, Unternehmen und Wirtschaftssystem aufgezeigt, dass mit ethischen Systemstrukturen bzw. ethischen Prinzipien nicht nur gesellschaftlich tief verankerte moralische Werte geschützt werden, sondern zugleich wichtige ökonomische Interessen seitens der Unternehmen. Auf der Ebene der Führungsleute wird dargelegt, dass die ethischen Prinzipien sowie die kritische Methode einen positiven Einfluss auf die erfolgreiche Vermittlung zwischen dem beruflichen und dem privaten Erfolg bewirken können und dass diese Vermittlung sich auch für die Unternehmen ausbezahlt. Auf der Ebene des Unternehmens wird darauf hingewiesen, dass es für die Unternehmen zunehmend existenziell wichtig ist, die gesellschaftlichen Veränderungen in der Unternehmensstrategie zu berücksichtigen. Insbesondere wird betont, dass vor allem kleinere und mittlere Unternehmen sich auf ihre gesellschaftliche Bedeutung besinnen müssen, wenn sie in einer Welt gesättigter Märkte, immer grösserer Konkurrenz sowie einer kaum erfassbaren Menge gleichartiger Produkte überleben wollen. Dabei kommt klar zum Ausdruck, dass ihnen dies am besten durch die Anwendung der ethischen Prinzipien gelingt. Und zwar deshalb, weil Letztere eine Unternehmensstrategie fordern, wonach die Unternehmen sich als Anbieter von innovativen und für die Gesellschaft wertvollen Produkten und Dienstleistungen, als berechenbare und umsichtige Arbeitgeber sowie als verantwortungsvolle Verbraucher natürlicher Ressourcen auszeichnen und den betriebswirtschaftlichen Erfolg als Massstab für das Gelingen dieser so gefassten Marktleistung betrachten. Und auf der Ebene des Wirtschaftssystems schliesslich werden Argumente vorgebracht, wonach die soziale Ordnung für alle Wirtschaftsakteure von fundamentaler Bedeutung ist, diese jedoch ohne die Einhaltung gesellschaftlich tief verankerter moralischer Werte, insbesondere auf Seiten von global operierenden Unternehmen, auf Dauer nicht aufrechterhalten werden kann.