LwiD 10 (48466) / p. 1 / 7.6.2011 LEBENSWISSENSCHAFTEN IM DIALOG A LwiD 10 (48466) / p. 2 / 7.6.2011 Die Bioethik stellt eine junge und schnell wachsende Disziplin dar, die die neuen ethischen Herausforderungen der Lebenswissenschaften permanent im Blick haben muss. Nur so kann sie die ethischen Dimensionen der diversen Entwicklungen angemessen begleiten. Besondere Herausforderungen entstehen dabei durch die Dynamik des Forschungsfeldes sowie die Vielzahl der zu berücksichtigenden Diskurse. Dieser Sammelband macht daher Vorschläge zur Verortung, Strukturierung und Implementierung der Bioethik. Es werden inhaltliche und methodische Grenzen erfasst sowie eine thematische Gliederung des Themenfeldes vorgeschlagen: theoretische Grundfragen der bioethischen Diskussion, anthropologische Fundamente, Anwendungsfragen der Natur- und Tierethik sowie der Medizinethik und schließlich Themen zur gesellschaftlichen Implementierung bioethischer Forschungsergebnisse. Die jeweiligen Einzelbeiträge sind repräsentativ für die vorgeschlagene Gliederung und haben hinsichtlich ihrer Herangehensweise, Methodik und Begründungsstrukturen einen paradigmatischen Charakter. Dabei ist den Beiträgen gemein, dass sie auf einer genuin interdisziplinären Ebene argumentieren. So werden – neben den Herausforderungen der Neurowissenschaften und der Genetik – Schwierigkeiten interdisziplinärer Diskurse als solche, das Verhältnis des Menschen zu den Tieren in theoretischer und praktischer Hinsicht sowie rechtliche und ökonomische Aspekte naturwissenschaftlicher Errungenschaften diskutiert. Abschließend werden Rahmenbedingungen der Bioethikforschung und der Ausbildung von BioethikerInnen thematisiert. Somit leistet der Band einen grundlegenden Beitrag zur weiteren Etablierung der Bioethik als eigenständigem Forschungsgebiet. Die Herausgeber: László Kovács ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Ethik in den Biowissenschaften der Universität Tübingen. Cordula Brand ist Post-Doc Mitglied des Graduiertenkollegs »Bioethik – Zur Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken« am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen. LwiD 10 (48466) / p. 3 / 7.6.2011 László Kovács / Cordula Brand (Hg.): Forschungspraxis Bioethik LwiD 10 (48466) / p. 4 / 7.6.2011 Lebenswissenschaften im Dialog Herausgegeben von Kristian Köchy und Stefan Majetschak Band 10 LwiD 10 (48466) / p. 5 / 7.6.2011 László Kovács Cordula Brand (Hg.) Forschungspraxis Bioethik Verlag Karl Alber Freiburg / München LwiD 10 (48466) / p. 6 / 7.6.2011 Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des DFG-Graduiertenkollegs »Bioethik« (GRK 889). Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48466-1 Inhalt Eve-Marie Engels und Vera Hemleben Vorwort ............................................................................................. 11 Cordula Brand und László Kovács Einleitung .......................................................................................... 13 1. Theoretische Grundfragen Cordula Brand Alltagssprache und Expertenwissen: Die Terminologie bioethischer Diskurse .......................................... 29 László Kovács Metaphern in der Forschung ............................................................ 45 Teodora Manea Kategorien der Bioethik ................................................................... 59 Lara Huber Der „freie Wille“ im Labor: Über die Komplexität anthropologischer Grundkonstanten und die Deutungsmacht experimentalwissenschaftlicher Strategien ..................................... 73 2. Anthropologische Aspekte Michael Willam Mensch von Anfang an? Eine bioethische Frage im Kontext jüdischer, christlicher und islamischer Denktradition ..................... 91 Elke Steckkönig Alles Bewusstsein ist auch Selbstbewusstsein ............................... 105 8 Inhalt Orsolya Friedrich Persönlichkeit und ihre Störung: einige Anmerkungen ............... 121 3. Tierethik in Theorie und Praxis Ruth Denkhaus Sinn und Grenzen des Anthropozentrismus in der Ethik: Ein (erneuter) Blick auf die Diskursethik ...................................... 139 Daniel Loewe Der Umfang der moralischen Gemeinschaft: Einbezug nichtmenschlicher Tiere in einen vertragstheoretischen Argumentationsrahmen ................................................................. 155 Arianna Ferrari Zu ethischen und wissenschaftstheoretischen Aspekten der gentechnischen Veränderung von Tieren in der biomedizinischen Forschung ........................................................................................ 169 Norbert Alzmann Zur umfassenden Kriterienauswahl für die Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchsvorhaben .............. 183 4. Ethik in der medizinischen Praxis Daniel Strech Die Rolle von Werturteilen in der Evidenz-basierten Medizin .... 201 Tamara Matuz Betreuungsstrategien für schwerstgelähmte Patienten: Empirische Ethik und neurowissenschaftliche Ansätze ................ 219 Elfriede Walcher-Andris „Geistig fit durch Pillen“? Ein Ansatz zur ethischen Bewertung von Cognition Enhancement durch Stimulanzien ........................ 237 Inhalt 9 Lilian Marx-Stölting Pharmakogenetik und die medizinische Nutzung genetischer Variation: Überlegungen aus ethischer Perspektive ...................... 257 5. Gesellschaftliche Dimension Susanne Beck Stammzellforscher: Spielball von Politik und Staatsanwaltschaft? ................................................................. 279 Roberto Andorno Gendatenbanken: Eine Analyse aus der Perspektive der Menschenrechte .............................................................................. 295 Holger Furtmayr Patente als Eigentum ...................................................................... 311 Jochen Fehling Die Ethik des Value of a Statistical Life: Die Rolle individueller Risikokompetenz für die Legitimität des VSL ............................... 327 Beate Herrmann Die normative Relevanz der körperlichen Verfasstheit zwischen Selbst und Fremdverfügung ........................................................... 345 Cordula Brand und László Kovács Forschen im Team – ein Nachwort ................................................. 361 Autorinnen und Autoren ............................................................... 367 Register ........................................................................................... 379 Vorwort Die Beiträge des vorliegenden Buches sind aus den Forschungsschwerpunkten hervorgegangen, die von den Kollegiat(inn)en der ersten Förderphase des Graduiertenkollegs „Bioethik“ der Universität Tübingen bearbeitet wurden. Das Graduiertenkolleg „Bioethik“ ist eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Einrichtung, die am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen angesiedelt ist und neben ihrem Forschungsprogramm auch ein Studienprogramm mit einer strukturierten Doktorandenausbildung nach dem Konzept einer Ethik in den Wissenschaften anbietet. Das Graduiertenkolleg leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur Professionalisierung einer interdisziplinären, anwendungsbezogenen Bioethik. In diesem Programm einer Bioethik als Ethik in den Lebenswissenschaften spiegelt sich die Entstehungsweise des Tübinger EthikZentrums wider. Die Initialzündung zur Einrichtung einer Ethik in den Wissenschaften ging 1985 von der Fakultät für Biologie aus, als der Inhaber des Lehrstuhls für Mikrobiologie, Hans Zähner, bei der Einweihung eines Kernspintomographen auch auf einen Bedarf in einem ganz anderen Bereich hinwies: Angesichts der rapiden wissenschaftlich-technischen Entwicklungen in seinem eigenen Fachgebiet und der Notwendigkeit, mikrobiologische Forschung und deren Anwendung auf verantwortungsvolle Weise steuern zu können, forderte Hans Zähner eine Ethik der Naturwissenschaften, die auch in diesen Wissenschaften zu institutionalisieren sei. Der damalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Lothar Späth, war diesem Anliegen gegenüber aufgeschlossen, und auch die Leitung der Universität Tübingen unterstützte es. Sehr schnell bildete sich ein interdisziplinärer Gesprächskreis, der vor allem von dem Theologen und Sozialethiker Dietmar Mieth initiiert wurde und an dem Hochschullehrer(innen) aus allen Wissenschaftskulturen beteiligt waren. Dies war ein erster wichtiger Schritt, um im wechselseitigen Austausch mit Vertreter(inne)n aus anderen Disziplinen Erfahrungen mit einer interdisziplinären Ethik 12 Vorwort machen zu können. Aus diesem Kreis erwuchs zunächst die Forschungsstelle „Ethik der Naturwissenschaften“, mit deren Einrichtung sich für Nachwuchswissenschaftler(innen) aus Biologie und Medizin zugleich die Möglichkeit eröffnete, sich in ihrer eigenen Disziplin mit einer Arbeit zu ethischen Fragen zu qualifizieren. Neu und interdisziplinär waren nicht nur die Themen und der Aufbau der Dissertationen, sondern auch die Form ihrer Betreuung, die „Tandembetreuung“: Anders als sonst üblich wurde eine Arbeit nun von Hochschullehrer(innen) aus verschiedenen Disziplinen, wie beispielsweise Biologie und Philosophie oder Theologie, gemeinsam betreut. Die Forschungsstelle „Ethik der Naturwissenschaften“ wurde auf Beschluss des badenwürttembergischen Landtags zu einem Ethikzentrum ausgebaut, das 1990 gegründet wurde. In den 90er Jahren wurde zudem je ein Lehrstuhl für Ethik in den Biowissenschaften und für Ethik in der Medizin in den entsprechenden Fakultäten eingerichtet. Dies entsprach auch dem dringlichen Wunsch der Studierenden dieser Fächer, innerhalb ihrer eigenen Disziplin die Möglichkeit einer ethischen Auseinandersetzung mit den sich dort stellenden brennenden Fragen zu haben. Erwin Teufel, der 1991 als Nachfolger von Lothar Späth Ministerpräsident von Baden-Württemberg wurde, unterstützte viele Jahre lang den Aufbau der Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen. 1991 wurde am Ethik-Zentrum das interdisziplinäre DFG-Graduiertenkolleg „Ethik in den Wissenschaften“ eingerichtet, das unter der Leitung des Philosophen Reiner Wimmer nach mehrmaliger erfolgreicher Evaluation bis 2001 bestand. Das 2004 eingerichtete Graduiertenkolleg „Bioethik“, das nach zweimaliger erfolgreicher Evaluation ebenfalls die maximale Förderdauer erzielen konnte und bis zum Jahr 2012 verlängert wurde, setzt diese Arbeit am Aufbau und der Professionalisierung einer Ethik in den Wissenschaften mit einem anderen thematischen Schwerpunkt fort. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes geben einen vielseitigen Einblick in das breit gefächerte Themenspektrum der Bioethik sowie in die Verflechtung der Ethik mit anderen Bereichen und Disziplinen. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre engagierte Mitwirkung am Aufbau einer interdisziplinären Bioethik. Prof. Dr. Eve-Marie Engels Sprecherin des Graduiertenkollegs Bioethik Prof. Dr. Vera Hemleben Stellvertretende Sprecherin des Graduiertenkollegs Bioethik Einleitung Herausforderungen der Bioethik Die Biowissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten diverse neue Möglichkeiten entwickelt, unser Leben und unsere Umwelt zu gestalten. Dadurch eröffnen sich – jetzt und in Zukunft – vielfältige Handlungsräume, die mit einer großen Bandbreite an Chancen und Risiken verbunden sind. Angesicht dieser Herausforderungen wächst die Nachfrage nach einer übergreifenden ethischen Bewertung solcher Errungenschaften. Es öffnet sich ein diskursiver Raum der Reflexion über Theorien, Produkte, Anwendung, Ziele und Mittel der Biowissenschaften. Diesen diskursiven Raum will die Bioethik als eigenständige Disziplin gestalten, strukturieren und mit nicht-biowissenschaftlichen Perspektiven systematisch ergänzen. Dabei zeigen sich einige Besonderheiten bioethischer Diskurse. „Forschung“ stellt in diesem Rahmen ein komplexes Unternehmen dar, das gleich an mehreren Schnittstellen angesiedelt ist. Die Bioethik vermittelt nicht nur zwischen verschiedenen natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, sie muss darüber hinaus unterschiedliche Standpunkte integrieren. Bioethische Fragestellungen zu behandeln ist erst im Zusammenwirken verschiedener Perspektiven überhaupt möglich. Zudem steht die Bioethik zwischen den Wissenschaften und der Öffentlichkeit. Sie muss informieren und auch hier vermitteln. Konkret präsentiert sich „Bioethik“ als ein integratives Reflexionsfeld, das unterschiedliche Perspektiven aus Naturund Sozialwissenschaften, Philosophie und Theologie, politische sowie Einzelinteressen vereinigt. Vor allem aber ist Bioethik eine Disziplin an der Grenze zwischen Lebens- und Normwissenschaften. Bei aller Vielseitigkeit bioethischer Fragen und Problemstellungen sollte man jedoch nicht vergessen, dass Bioethik, als Form der ethischen Reflexion, primär das Anliegen der Vertreter1 der Lebenswissenschaften 1 Im Folgenden bezeichnet die männliche Form beide Geschlechter. 14 Cordula Brand und László Kovács selbst ist. Dies soll der Begriff der „Ethik in den Biowissenschaften“ zum Ausdruck bringen. Nach einem solchen Verständnis gibt ein Wissenschaftler die ethische Auseinandersetzung nicht an „Ethikexperten“ ab. Er befasst sich selbst, in Zusammenarbeit mit Experten aus der Ethik, mit normativen Fragen und Problemen seiner Arbeit. Die Aufgabe der Ethik-Experten besteht in der systematischen Prüfung und Entwicklung rationaler Begründungen und damit verbundener Normen und Werte für die moralisch relevanten Entscheidungsprozesse. Die ethische Reflexion beschränkt sich dabei allerdings nicht auf die konkreten Anfragen der forschenden Biowissenschaftler. Sie muss einen größeren Rahmen im Blickfeld haben und die gesellschaftlichen Dimensionen berücksichtigen. Sie erfasst die Ziele, Mittel und Folgen von Biowissenschaften und berücksichtigt zudem die Entwicklungsdynamiken, um zukünftige ethische Probleme zu antizipieren. Zu diesem Band Gerade diese Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit der Bioethik macht es notwendig, eine interne Differenzierung vorzunehmen. Es gibt auch in einem derart weiten Feld verschiedene Klassifikationsmöglichkeiten für Fragen und Probleme. Der vorliegende Band ist nach einer solchen Klassifikation aufgebaut. Zunächst stellen sich der Bioethik Grundlagenprobleme (Teil 1), die auf einer begrifflichen Ebene angesiedelt sind. Es gilt, die Sprache der Wissenschaften zu analysieren. Zudem gibt es wissenschaftstheoretische Fragen, die auch im Rahmen der Bioethik von besonderer Bedeutung sind. Ein zweiter grundlegender Problembereich betrifft im weitesten Sinne anthropologische Fragen (Teil 2). Gerade biowissenschaftliche Erkenntnisfortschritte haben zur Folge, dass wir unser Selbstverständnis immer wieder in Frage stellen müssen. Dazu gehören unser Begriff vom Menschen selbst sowie unsere Auffassungen über unsere Persönlichkeit und unser Bewusstsein. Konkrete Fragestellungen innerhalb der bioethischen Analysen beinhalten die Aufgabe, neben der Untersuchung von Grundlagenproblemen die vielen angesprochenen Perspektiven zu integrieren. Der vorliegende Band beinhaltet Beiträge aus zwei spezifischen Bereichen der Bioethik: der Tierethik (Teil 3) sowie der Ethik in der Medizin (Teil 4). Innerhalb der Tierethik stellt sich ein besonderes begründungstheoretisches Problem, das sie von anderen Bereichen der Bioethik unter- Einleitung 15 scheidet. Es gilt, die grundlegende Basis einer jeden Ethik, die Frage ihrer Reichweite, kritisch zu hinterfragen und an Perspektiven einer nicht-anthropozentrischen Ethik zu arbeiten. Es stellen sich aber auch viele normative Fragen auf der praktischen Ebene, die es dringend zu behandeln gilt. Die Medizinethik, als bereits etablierter Bereich der Bioethik, ist ein klassisches Beispiel für die Diversität der hier zu erörternden Probleme – von wissenschaftstheoretischen Fragen bis zu Fragen, die das menschliche Selbstverständnis betreffen. Einen dritten großen Komplex stellen diejenigen Probleme dar, die auf einer gesellschaftlichen Ebene angeordnet sind. Hier geht es auf der einen Seite um die gesellschaftliche und rechtliche Etablierung bioethischer Erkenntnisse (Teil 5). Dies kann sowohl Einzelinteressen betreffen, wie im Falle der strafrechtlichen Konsequenzen des Stammzellgesetzes. Es kann aber auch um eine gesamtgesellschaftliche Dimension gehen, wie im Falle von Gendatenbanken oder der Patentgesetzgebung. Darüber hinaus geht es jedoch auch darum, den normativen Gehalt bestehender Strukturen, z. B. in ökonomischen Überlegungen, zu analysieren und zu hinterfragen. Die vorgestellten Themen ergeben, im Zusammenhang betrachtet, einen Überblick über das Forschungsfeld der Bioethik. Zudem lässt sich über die Bestimmung der Konturen bioethischer Einzelthemen hinaus der gesamte Forschungsbereich auffächern. So zeigt sich ein Profil der Bioethik als Forschungsfeld insgesamt. Ergänzt werden die einzelnen Beiträge schließlich durch ein Nachwort, das einige Überlegungen und Anmerkungen der Herausgeber zur Institutionalisierung der Ausbildung im Bereich „Bioethik“ enthält. Eine strukturierte Ausbildung, die den Anforderungen der Disziplin „Bioethik“ mehr als gerecht wird, bietet das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Graduiertenkolleg „Bioethik“ am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Eberhard Karls Universität Tübingen. Die Beiträge in diesem Band fassen die Arbeitsergebnisse der Kollegiaten der ersten Förderphase des Kollegs (GGRK 889/1) zusammen und stellen somit einen Querschnitt aktueller bioethischer Forschung dar. Zugleich lassen sich den Beiträgen Modelle und mögliche Herangehensweisen für die Forschungspraxis entnehmen. Sie geben ein Beispiel für die Art und Weise, wie Fragen verschiedener Disziplinen in einer Forschungsfrage und in einem Forschungsergebnis zusammenwachsen können. 16 Cordula Brand und László Kovács Die Beiträge dieses Bandes im Überblick 1. Theoretische Grundfragen Cordula Brand beschäftigt sich mit der Problematik interdisziplinärer Diskurse. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen weisen unterschiedliche Terminologien auf, die ein einheitliches Verständnis von Sachverhalten im interdisziplinären Austausch erschweren. Bioethiker stehen, über den wissenschaftlichen Austausch hinaus, zudem im öffentlichen Diskurs und haben eine beratende Funktion im politischen Rahmen. Dieser Umstand erweitert den Interpretationsrahmen von Fachtermini zusätzlich. Interdisziplinäre Diskurse bedürfen, um zu möglichste breit akzeptierten Ergebnissen zu führen, eines Analyseverfahrens, das Missverständnisse auf dieser terminologischen Ebene aufdecken kann. Ein solches Verfahren kann mit Hilfe der Putnamschen Bedeutungstheorie erarbeitet werden. Anhand des Begriffs „Person“ lässt sich zeigen, wie diese Analyse-Technik eingesetzt werden kann. Es wird deutlich, dass diese begriffliche Untersuchung über die Benennung der Differenzen hinaus einen entscheidenden Schritt zur Behebung der terminologischen Schwierigkeiten beitragen kann. So wird ein wichtiges Problem, vor allem bioethischer Diskurse, analysierbar und damit handhabbar gemacht. László Kovács untersucht ebenfalls die Problematik wissenschaftlicher Terminologien. In der naturwissenschaftlichen Forschung, hier am Beispiel der Genetik, lässt sich eine Verbreitung metaphorischer Beschreibungen erkennen. Metaphern sind in diesem Kontext jedoch keine Zeichen von Objektivitätsverlust, sondern sind einerseits aufgrund der veränderten Erwartung in der Wissenschaft (Fortschrittsorientierung), andererseits aufgrund einer weiten Definition der Metapher zu erklären. Mithilfe der neuen Definition können viele Funktionen der identifizierten Sprachbilder analytisch erfasst und kritisch durchleuchtet werden. Als vorteilhaft für die Forschung zeigt sich vor allem die Motivations- und Kombinationskraft der Metaphern. Sie unterstützen partikuläre Perspektiven, lassen produktive Unklarheiten zu und weisen auf neue Zusammenhänge hin. Nachteile ergeben sich durch übermäßiges Vertrauen in ihre Erklärungskraft. Um interpretationsbedingte Sackgassen der Forschung und ähnliche Nachteile zu vermeiden sowie Vorteile zu nutzen, müssen Forschungsdiskurse auf metaphorische Leistungen überprüft werden. Einleitung 17 Theodora Manea untersucht einen dritten Aspekt wissenschaftlicher Diskurse. Sie widmet sich der Verwendung von Kategorien innerhalb der Bioethik. Der Begriff der Kategorie wird heute sehr breit interpretiert und dementsprechend vielfältig eingesetzt. Dabei bietet die philosophische Verwendungsweise des Begriffs, wie sie vor allem von Aristoteles eingeführt wurde, ein großes Potential innerhalb bioethischer Problemstellungen. Dieses lässt sich in mehreren Bereichen ausmachen, vor allem im Rahmen terminologischer Spezifizierung, der Beschreibung der behandelten Gegenstände sowie des Erfassens neuer praktischer Dimensionen. Dabei erweisen sich die aristotelischen Kategorien sowie Heideggers Existenzialien als eine sehr hilfreiche Erweiterung bioethischer Analysen. Anhand der Kategorien „Zeit“, „Raum“, „Quantität“ und „Qualität“ lassen sich Problembereiche, wie z. B. der embryonale Status oder das Phänomen der Biofakte, aus einem ganz neuen Blickwinkel betrachten. Darüber hinaus lassen sich anhand der verschiedenen Diskurse neue Kategorien ausmachen, die als Zeichen eines Paradigmenwechsels gewertet werden können. Auf diese Weise führen die philosophischen Kategorien im Rahmen der Bioethik zu einem vertieften Verständnis ontologischer wie erkenntnistheoretischer Aspekte. Lara Huber verlässt die rein terminologische Ebene wissenschaftlicher Diskurse und fragt nach der Deutungsmacht, die experimentalwissenschaftliche Strategien hinsichtlich anthropologischer Grundkonstanten haben. Der Fokus der Analyse liegt auf dem populär diskutierten Forschungsfeld um neuro- und kognitionswissenschaftliche Studien zu willentlichen Handlungen. Hier lässt sich die Frage stellen, wie sich solche lebensweltlichen Konzepte zu ihrer Objektivierung verhalten. Dazu gilt es, die methodischen Rahmenbedingungen experimentalwissenschaftlicher Strategien zu skizzieren sowie die Deutungsmacht der Neuro- und Kognitionsforschung im Hinblick auf anthropologische Grundkonstanten zu kontextualisieren. Es wird deutlich, dass sich die Deutungsmacht experimentalwissenschaftlicher Datensätzen bis heute zu einem erheblichen Teil aus dem Renommee speist, das dem „analytischen Wissen“ durch die Institutionalisierung experimenteller Strategien zugesprochen wird. Daher ist die Entscheidung über den Stellenwert daraus erwachsender Deutungs- und Erklärungsmodelle immer auch daran gebunden, ob alternative Erklärungsmodelle zu den natur- und lebenswissenschaftlichen vorliegen und welchen epistemischen Stellenwert diesen wiederum zugestanden wird. 18 Cordula Brand und László Kovács 2. Anthropologische Aspekte Michael Willam beschäftigt sich mit der Frage der Entstehung bzw. Beseelung des Menschen in den drei großen abrahamischen Religionen: Judentum, Christentum und Islam. Alle drei Religionen verstehen den Menschen als ein Geschöpf Gottes. Zur Feststellung der Grenzen dieser Geschöpflichkeit – ab wann also die neue Entität als Mensch anzusehen ist – entwickelten alle drei Religionen zunächst einen Bezug zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Antike, vor allem zum Formparadigma des Aristoteles. Diese Ansichten sind in maßgebliche religiöse Schriften eingegangen, sie wurden weitertradiert und im religiösen Kontext gedeutet. In allen drei Religionen sind dadurch unterschiedliche Ansichten zur Schutzwürdigkeit des beginnenden menschlichen Lebens gewachsen. Diese sind teilweise immer noch vom alten und heute überholten Formparadigma des Aristoteles geprägt. Daher plädiert der Text für eine Neuorientierung der Beseelungsfrage nach aktuelleren wissenschaftlichen Erkenntnissen in allen drei Religionen. Elke Steckkönig widmet sich in ihrem Beitrag dem Selbstbewusstsein bzw. dem Bewusstsein phänomenaler Zustände. Die besonderen Eigenschaften des menschlichen sowie des tierischen Selbstbewusstseins sind nicht nur Gegenstand bewusstseinstheoretischer Untersuchungen sondern auch in interdisziplinären Kontexten, wie der Medizinethik und der Tierethik von besonderem Interesse. Auf der Basis der so genannten „Qualia“ wird innerhalb der Philosophie des Geistes gegen die Reduktion von Bewusstseinszuständen auf physiologische Prozesse argumentiert. Der Beitrag skizziert zunächst zwei Hauptargumente dieser Art, das Argument der Erklärungslücke sowie das Argument des unvollständigen Wissens, und schildert deren Probleme. Im Anschluss wird die These vertreten, dass sich diese Probleme lösen lassen, wenn man ein neues Verständnis der Qualia zu Grunde legt. Dieses Verständnis beruht auf einer phänomenologischen Analyse unserer Bewusstseinsinhalte und definiert phänomenales Bewusstsein als Wechselverhältnis von Subjekt und Objekt. Orsolya Friedrich untersucht einen weiteren wichtigen Aspekt des Menschen, seine Persönlichkeit. Unter „Persönlichkeit“ werden in verschiedenen empirischen und analytischen Bereichen ganz verschiedene Dinge verstanden. Um Eingriffe in die menschliche Persönlichkeit bewerten zu können, ist es zudem notwendig, unterschiedliche Aspekte des Persönlichkeitsbegriffs zu analysieren. Hierzu zählen die terminologische Bestimmung der Persönlichkeit, eine epistemische Dimension, Einleitung 19 die Bestimmung des Phänomens „Krankheit“ sowie die Beurteilung therapeutischer Veränderungen von Persönlichkeit. Dabei zeigt sich, dass das Persönlichkeitsverständnis eng mit der Bestimmung der psychophysischen Relation sowie der erkenntnistheoretischen Grundhaltung korreliert. Diese ziehen entweder ein rein objektivistisches Verständnis von Persönlichkeit nach sich oder machen es erforderlich, die Erste-Person-Perspektive zu integrieren. Darüber hinaus muss festgehalten werden, dass eine „natürliche“ Persönlichkeit nicht existiert und somit auf dem Natur-Begriff basierende Argumentationen zur Bewertung von Eingriffen in die Persönlichkeit nicht geltend gemacht werden können. 3. Tierethik in Theorie und Praxis Ruth Denkhaus fragt in ihrem Beitrag nach den Grundlagen des Anthropozentrismus in der Ethik und wirft dabei einen erneuten Blick auf die Diskursethik. Ziel ist es, dem Sinn und zugleich den Grenzen des Anthropozentrismus auf die Spur zu kommen. Dabei gilt es, die Frage zu klären, wessen Interessen bzw. Wohlergehen die diskursethisch verstandene Moral schützt. Nach einer genaueren Betrachtung der Äußerungen Apels und Habermas’ zu tier- und naturethischen Fragen wird zunächst die Begründung der gemeinsamen Wurzel der moralischen und moralanalogen Pflichten problematisiert. Es folgt ein zusammenfassender Versuch, Sinn und Grenzen des Anthropozentrismus im Rahmen der „hegelianisch gewendeten“ Diskursethik zu bestimmen. Dabei wird die These vertreten, dass die hegelianisch gewendete Diskursethik im Kern anthropozentrisch ist. Sie lässt sich jedoch erweitern, indem man ein dynamisches Verständnis der moralanalogen Pflichten, als in der Moral selbst angelegte Tendenz, zur Überschreitung ihres ursprünglichen Geltungsbereiches anlegt. Daniel Loewe untersucht die Möglichkeit, nichtmenschliche Tiere in einen vertragstheoretischen Argumentationsrahmen einzubeziehen. Er vertritt die These, dass eine solche Möglichkeit nicht nur besteht, sondern dass es darüber hinaus gute Gründe dafür gibt, nichtmenschliche Tiere als Gerechtigkeitssubjekte zu verstehen. Dabei unterscheidet er zunächst zwischen verschiedenen Formen von Vertragstheorien und zeigt Schwierigkeiten auf, die sich jeweils für den Einbezug der Tiere ergeben. Schließlich skizziert er einen Weg, diesen Problemen begegnen zu können. Die Argumentation basiert auf einer Auseinan- 20 Cordula Brand und László Kovács dersetzung mit den Ansätzen von Rowlands und Scanlon. So wird das Moment des Wohlergehens bzw. der Leidensfähigkeit mit einem grundlegenden moralischem Prinzip verknüpft. Dieses besagt, dass Menschen in einer Beziehung zu Tieren stehen wollen, die moralisch vertretbar ist. Ergänzt um das typische contrafaktische Element der Vertragstheorien ergibt sich so ein Rahmen, der es ermöglicht, Tiere in die moralische Gemeinschaft einzubeziehen. Wir sind es den Tieren demzufolge schuldig, sie als Gerechtigkeitssubjekte zu betrachten. Arianna Ferrari fragt nach den ethischen und wissenschaftstheoretischen Aspekten der gentechnischen Veränderung von Tieren in der biomedizinischen Forschung. Sie argumentiert, dass wissenschaftstheoretische Aspekte der Gentechnik an Versuchstieren immer eine gewisse ethische Relevanz haben. Umgekehrt können ethische Implikationen gleichzeitig auch wissenschaftstheoretisch relevant sein. Um zu einer umfassenden ethischen Bewertung des Einsatzes gentechnisch veränderter Tiere zu gelangen, müssen besonders drei Themenbereiche untersucht werden. Zunächst muss erörtert werden, ob die Veränderungen als Eingriff einer neuen Dimension gelten können und ob sie den intrinsischen Wert des Tieres verletzen. Zudem muss eine Auseinandersetzung mit dem Erkenntnisgewinn solcher Tiermodelle für die biomedizinische Forschung stattfinden sowie die Ziele dieser Forschung hinterfragt werden. Schließlich gilt es zu analysieren, ob die Forschung an transgenen Tieren den bereits etablierten „3R-Prinzipien“ entspricht. Anhand dieser Überlegungen wird schließlich das Modell einer „integrierten Bewertung“ entwickelt. Norbert Alzmann stellt zunächst fest, dass Wissenschaftler bei der ethischen Bewertung der von ihnen geplanten Tierversuche oft überfordert sind. Der Gesetzgeber fordert zwar die ethische Vertretbarkeit von Tierversuchen, gibt dem Forscher aber keinen Leitfaden für seine ethische Entscheidungsfindung an die Hand. Ebenso wenig verfügen die beratenden Kommissionen und die genehmigenden Behörden über einen einheitlichen Kriterienkatalog, anhand dessen Tierversuchsvorhaben einschätzen können. Um einen solchen Katalog entwickeln zu können, müssen zunächst die dem Abwägungsprozess prinzipiell immanenten Schwierigkeiten benannt werden. Im Anschluss können anhand eines prominenten Beispiels und seiner Kritik zwei unterschiedliche Positionen zur Abwägung der ethischen Vertretbarkeit klassifiziert werden: eine eng auf das Experiment beschränkte Position und eine weiter gefasste Position, die Aspekte berücksichtigt, die über das eigentliche Experiment hinaus gehen. Abschließend wird für die Einleitung 21 umfassende Position und damit für die Verwendung eines ebenso umfassenden Kriterienkataloges argumentiert. 4. Ethik in der medizinischen Praxis Daniel Strech beschäftigt sich mit der der Rolle von Werturteilen in der Evidenz-basierten Medizin (EbM). Er möchte ein Problembewusstsein für ethisch relevante Aspekte der EbM schaffen, denn Werturteile finden sich sowohl bei der Recherche, der Auswahl und kritischen Bewertung von klinischen Studien zu Zwecken der systematischen Technikbewertung sowie der Nutzenevaluation. Der Fokus der Überlegungen liegt auf der spezifischen Rolle der methodischen Autoritäten sowie ihrer Werturteile in der Informationsbewertung. Dabei wird eine systematische Übersicht zu den einzelnen Ebenen von Werturteilen im Prozess der Studienbewertung erstellt. So wird deutlich, dass es einer kontextsensitiven, konstruktiv-kritischen Analyse und Weiterentwicklung der handlungslegitimierenden Aspekte des EbM-Begriffs bedarf. Aus der Praxisperspektive ist insbesondere die transparente Darstellung der eigenen Werturteile in Abgrenzung zu den entsprechenden Alternativ-Werturteilen von besonderer Relevanz. Tamara Matuz untersucht in ihrem Beitrag den Zusammenhang zwischen Konzepten psychosozialer Anpassung und Betreuungsstrategien für schwerstgelähmte Patienten. Anhand einer empirischen Studie zeigt sie, dass die Lebensqualität von Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) deutlich höher ist, als man als gesunder Mensch erwarten würde. Sie argumentiert, dass die Bedeutung der Kontrolle über das eigene Leben sowie die positiven Auswirkungen, die eine künstliche Ernährung und Beatmung für die Patienten haben, oft unterschätzt werden. Es wird einerseits gezeigt, dass das Wohlergehen dieser Gruppe chronisch Kranker zwar auch von körperlichen, aber vor allem von psychosozialen Faktoren abhängt. Darüber hinaus wird deutlich, dass lebenserhaltende Maßnahmen mit Vorurteilen verknüpft sind, die sich nicht bestätigen lassen. Auf der Basis diverser Ergebnisse wird eine Veränderung im Fokus der Betreuung von ALS-Patienten sowie die Weiterbildung und Aufklärung von Betreuenden und Angehörigen gefordert. Elfriede Walcher-Andris rät im Gegensatz zu der prominent vertretenen liberalen Einstellung hinsichtlich psychologischem Enhancement zu großer Vorsicht gegenüber solchen Techniken. Sie vertritt die These, dass die möglichen Folgen des pharmakologischen „Cogni- 22 Cordula Brand und László Kovács tion-Enhancements“ auf individueller und gesellschaftlicher Ebene nicht nur für Kinder- und Heranwachsende problematisch sind, sondern auch für Erwachsene. Dabei argumentiert sie einerseits auf der Basis aktueller Forschungsergebnisse, die sowohl Zweifel am Nutzen bestimmter Mittel aufkommen lassen als auch diverse Nebenwirkungen aufdecken. Andererseits greift sie auf Überlegungen zurück, die mit dem Begriff der Autonomie zusammenhängen. So kann gezeigt werden, dass pharmakologisches Cognition-Enhancement die Autonomie in zweierlei Hinsicht beeinträchtigen kann: im Blick auf die Autonomie „nach außen“ sowie in Hinblick auf die Autonomiefähigkeit. Daher, so das Fazit, ist pharmakologisches Cognition-Enhancement als ethisch sehr problematisch zu beurteilen. Lilian Marx-Stölting setzt sich mit den ethischen Aspekten des Bereichs der Pharmakogenetik auseinander. Nach einer eingängigen Schilderung des naturwissenschaftlichen Forschungsstandes wird einerseits deutlich, wo der Nutzen der Pharmakogenetik erwartet werden kann. Andererseits werden die Grenzen dieses Forschungsbereiches herausgearbeitet. Die Grundlage der ethischen Bewertung bildet eine sowohl pragmatische als auch kohärentistische und konvergentistische Methode, die sich auf mittlere Prinzipien stützt. Im Zuge der Überlegungen werden die klassischen Prinzipien nach Beauchamp und Childress um ein sozialethisches Prinzip erweitert. Anhand dieses Ansatzes werden zwei häufig erwähnte ethische Probleme der Pharmakogenetik diskutiert: das Argument des genetischen Exzeptionalismus sowie Argumente der schiefen Ebene. Es stellt sich heraus, dass die Pharmakogenetik sich hinsichtlich ihres ethischen Problempotentials dadurch von anderen Bereichen der Genetik unterscheidet, dass es keiner Fundamentalkritik bedarf. Die ethische Arbeit besteht darin, den Regulationsbedarf auszuloten und zu strukturieren. 5. Gesellschaftliche Dimension Susanne Beck fragt danach, ob und wenn ja inwiefern, Stammzellforscher in Deutschland zum Spielball von Politik und Staatsanwaltschaft geworden sind. Einleitend weist sie zunächst auf die konkreten strafrechtlichen Risiken hin, die den Forschern nur selten bekannt sind. Nach einer Schilderung des Sachstandes wird die Rechtslage bewertet. Die Kernthese des Beitrags lautet, dass das Strafrecht in der Humanbiotechnologie im Regelfall mehr Nachteile als Vorteile auf- Einleitung 23 weist. Daher ist anzuraten, primär auf andere Mittel, wie das Verwaltungs- oder Zivilrecht, Richtlinien der Forschung, finanzielle Förderungsmaßnahmen, politische Aufklärung und Mitwirkung an gesellschaftlichen Debatten zurückzugreifen. Eine integrative, gesetzliche Lösung, die verschiedene Rechtsgebiete vereint und so deren unterschiedliche Vor- und Nachteile in einem ausgeglichenen Verhältnis nutzt, wird als gängige Alternative zum vorherrschenden Strafrecht vorgeschlagen. Eine solche Lösung verhindert, dass Forscher tatsächlich zum Spielball der Legislative und Judikative werden. Roberto Andorno analysiert in seinem Beitrag Gendatenbanken aus einer menschenrechtlichen Perspektive. Er geht davon aus, dass so genannte „Biobanken“ in Zukunft ein besseres Verstehen der Entstehung und Behandlung genetisch bedingter Krankheiten erlauben. Dabei generieren genetische Datenbanken jedoch eine Reihe von anspruchsvollen ethischen und rechtlichen Dilemmata. Ziel des Beitrages ist es, einen Überblick über diese ethischen und rechtlichen Herausforderungen zu liefern sowie mögliche Lösungsansätze vorzuschlagen. Dabei liegt der Fokus auf den Erfahrungen von Island und Estland hinsichtlich der Erstellung von Biobanken. Es zeigt sich, dass die Einrichtung von Gendatenbanken, die große Teile der Bevölkerung eines Landes erfassen sollen, direkte Implikationen für die Menschenrechte hat. Daher sollten unabhängige Ethikkommissionen von Anfang an überprüfen, ob solche Datenbanken-Projekte die erarbeiteten ethischen und rechtlichen Voraussetzungen erfüllen. Holger Furtmayer fragt nach den ethischen Problemen, die die Patentierung von Lebewesen in sich birgt. Er zeigt auf, dass die in Europa bislang von den Rechtswissenschaften dominierte Diskussion in weiten Teilen einer wichtigen philosophischen Grundlage entbehrt. Zwar ist mittlerweile unumstritten, dass Patente als eine Form des Eigentums verstanden werden, ein solches Eigentumsrecht des Erfinders an seiner Erfindung wird jedoch lediglich postuliert und ist bislang nicht ausreichend begründet worden. Dieses Defizit auf der Begründungsebene führt dazu, dass der bestehende Patentschutz immer mehr ausgeweitet werden kann. Zu einer plausiblen Rechtfertigung des Patentschutzes gehört jedoch gerade dazu, dass die Grenzen dieses Schutzes klar ausgewiesen sind. Dieses Desiderat gilt für das gesamte Patentrecht, zeigt sich aber vor allem hinsichtlich der Biopatente, die einen besonders empfindlichen Anwendungsbereich umfassen. Gerade dieser Bereich macht es also erforderlich, dass das Patentrecht als Ganzes rechtsphilosophisch umfassend begründet wird. 24 Cordula Brand und László Kovács Jochen Fehling befasst sich mit einem ökonomischen Konzept, dass bei diversen praktischen Entscheidungen angewendet wird. Für jede Bevölkerungsgruppe lässt sich ein Sterberisiko angeben, auf das man mit staatlichen Regulierungen Einfluss nehmen kann. Solche Maßnahmen verursachen allerdings Kosten. Aus ökonomischer Sicht gilt es, die spezifischen Kosten einer Maßnahme deren Nutzen gegenüberzustellen. Dabei wird davon ausgegangen, dass anhand einer Monetarisierung sehr heterogene Effekte vergleichbar werden. Der „Value of a Statistical Life“ (VSL) steht für die monetäre Bewertung von Sterberisiken. Der Artikel legt zunächst die ethischen und methodologischen Grundlagen des VSL offen und prüft sie auf ihre normativen Implikationen. Anschließend wird der Vorschlag einer „Risikoethik der Selbstbestimmtheit“ erarbeitet, die die VSL-Methode ethisch rechtfertigen kann. Wird diese risikoethische Position akzeptiert, so wird abschließend argumentiert, sollten bei risikopolitischen Entscheidungen neben wohlfahrtsökonomischen Kosten-Nutzen-Analysen auch Instrumente der politischen Partizipation herangezogen werden. Beate Herrmann beschäftigt sich mit einem erheblichen ethischen Dilemma, dass die technische Entwicklung der Transplantationsmedizin generiert: Sollen Körperteile aus Gründen der Solidarität oder der Verteilungsgerechtigkeit zu einer veräußerbaren Ressource werden? Herkömmliche Moraltheorien sind in dieser Hinsicht uneinheitlich und z. T. stark kontraintuitiv. Herrmann zufolge ist dies anhand der impliziten Dichotomie zwischen Körper und Person zu erklären. Zur Überwindung dieser Dichotomie schlägt sie vor, den Begriff der Leiblichkeit in die Überlegungen zu integrieren. In seinem Leib ist der Mensch nicht Autor seiner Existenz, sondern die leibliche Existenz widerfährt ihm. Er kann sich als Person nicht anders ausdrücken und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen als durch seinen Leib. Durch diesen Perspektivenwechsel wird klar, dass der Leib einen Wert an sich darstellt und als Grundlage von sozialen Werten und Normen sowie der Handlungsautonomie unerlässlich ist. Daraus lässt sich die Einschränkung der Körpereingriffe ethisch rechtfertigen, die die körperlich-leibliche Integrität stark beeinträchtigen. Danksagung Den vorgestellten Beiträgen ist gemein, dass sie sich alle in einem jeweils breiten Feld unterschiedlicher Disziplinen bewegen. Um diese Einleitung 25 Vielzahl an Perspektiven bewältigen zu können, muss der Bioethiker mit den Vertretern dieser Disziplinen in den Dialog treten können. Ein solcher Prozess der interdisziplinären Auseinandersetzung wäre jedoch ohne einen entsprechenden institutionellen Rahmen nicht möglich gewesen. Genau diesen Rahmen schaffen das IZEW und das GK „Bioethik“. Dafür möchten wir uns an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich bedanken: Allen voran gilt unser Dank der Sprecherin des Graduiertenkollegs „Bioethik“, Frau Prof. Dr. Eve-Marie Engels. Mit ihrem unermüdlichen Einsatz und ihren engagierten Diskussionsbeiträgen hat sie das Kolleg zum Leben erweckt und uns alle durch unsere Promotionen hindurch begleitet. Weiterhin gilt unser Dank der stellvertretenden Sprecherin der ersten Förderphase, Frau Prof. Dr. Vera Hemleben, die mit Herz und Einsatz die naturwissenschaftliche Seite repräsentierte und der wir alle viele interessante Einsichten verdanken. PD Dr. Thomas Potthast war nicht nur maßgeblich an der Gestaltung des institutionellen und inhaltlichen Rahmens des Graduiertenkollegs beteiligt. Wir verdanken ihm vor allem viele wertvolle Anregungen dank seiner immer sehr konstruktiven Kritik. Ein weiterer steter Fels in der Brandung war auch Prof. Dr. Peter Hausen, der mit der Sachlichkeit des Naturwissenschaftlers vielen Diskussionen eine Praxisorientierung verliehen hat. Darüber hinaus gilt unser Dank allen Gutachtern und Betreuern, den Mitgliedern des Trägerkreises des Graduiertenkollegs, der Universität Tübingen sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Bei den Koordinatoren Dr. Olaf Schumann und Dr. Axel Kühn bedanken wir uns hiermit für ihren organisatorischen Einsatz. Sie haben uns damit viel ermöglicht und so einige Hürden für uns genommen. Frau Dr. Birgit Leweke und Christel Stroh möchten wir für die Unterstützung aus den Reihen der Verwaltung danken. Nicht zuletzt gilt unser Dank Michael Botsch für die Hilfe bei der abschließenden formalen Überarbeitung des Bandes und den Mitarbeitern des Verlags für die hervorragende Zusammenarbeit. Darüber hinaus möchten wir allen Kollegiaten der ersten Förderphase des Graduiertenkollegs „Bioethik“ für die unvergessliche gemeinsame Zeit danken und wünschen Allen auf diesem Wege alles Gute, nicht nur für ihre berufliche Zukunft. Cordula Brand und László Kovács Tübingen, im November 2010