Herbert Quandt-Stiftung Die Stiftung der ALTANA AG S inclairHaus Gespräche Die Zukunft des Gewesenen – Erinnern und Vergessen an der Schwelle des neuen Millenniums 13. Gespräch 12.–13. November 1999 © Herbert Quandt-Stiftung Bad Homburg v.d.H. April 2000 ISSN 1438-7875 ISBN 3-00-005594-0 13. Sinclair-Haus Gespräch Die Zukunft des Gewesenen – Erinnern und Vergessen an der Schwelle des neuen Millenniums Dreizehntes Gespräch Inhalt Editorial 6 Wolfgang R. Assmann Geschäftsführender Vorstand Herbert Quandt-Stiftung Auftakt 10 Hans Graf von der Goltz Ehrenvorsitzender des Stiftungsrates Herbert Quandt-Stiftung Der Mensch und sein Gedächtnis: Wissenschaftliche Grundlagen des Erinnerns und Vergessens 14 Prof. Dr. John R. Hodges Cambridge Erinnern und kollektive Identität 20 Prof. Pierre Nora Paris Privates und öffentliches Vergessen 23 Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Harald Weinrich München Historia magistra vitae – Politiker und Geschichte 30 Prof. Dr. Wladyslaw Bartoszewski Warschau Kulturelle Überlieferung und das kurze Gedächtnis der neuen Medien 42 Prof. Klaus-Dieter Lehmann Berlin Erinnern und Bearbeiten als Bedingungen politischer Zukunft 48 Dr. h.c. Joachim Gauck Berlin Prof. Dr. Hermann Schäfer, Direktor Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 56 Dr. Thomas M. Gauly Mitglied des Vorstandes Herbert Quandt-Stiftung Autoren 60 Kurzbiographien Teilnehmer 64 Diskussionsrunde Rückblick 66 Zwölf Sinclair-Haus Gespräche Hintergrund 70 Herbert Quandt und Isaak von Sinclair Beiträge Interview Impressum Editorial Wolfgang R. Assmann Von der Vielschichtigkeit des Erinnerns und Vergessens Der Wechsel zur Jahreszahl 2000 ist kein Datum historischer Periodisierung und doch geht von ihm eine Faszination aus. Fast zwanghaft blickten wir zurück auf vergangene Jahrhunderte, insbesondere aber auf das 20. Jahrhundert, das Historiker als „kurzes“ Jahrhundert bezeichnen, weil für sie die geschichtliche Epoche erst 1914 mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges beginnt und schon 1989/90 beim Fall des Eisernen Vorhangs endet. Gerade dieses kurze letzte Jahrhundert hat uns Deutsche aber nachhaltig gezeichnet. Abhängig vom Alter des Einzelnen gehen individuelle und kollektive Erinnerungen eine enge Verbindung ein. Wir erinnern uns zweier verlorener Weltkriege, der grausamen Verbrechen, die der NS-Staat im deutschen Namen begangen hat, der Vertreibung von Millionen Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten und der vierzigjährigen Teilung Restdeutschlands. Die Erinnerung erscheint insoweit als drückende, aber notwendige Last, bei deren historischer Einordnung und Kategorisierung man stets Gefahr läuft, den Verdacht der Verdrängung zu wecken. Aber wir Deutschen dürfen uns auch daran erinnern, dass es in den letzten 50 Jahren gelungen ist, einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat aufzubauen, der zum Motor für die europäische Einigung wurde. Und dankbar stellen wir fest, dass vor zehn Jahren durch eine „friedliche Revolution“ in der ehemaligen DDR die Menschen gewaltlos das Ende einer totalitären Diktatur herbeiführten. Was hat dies mit dem Thema des 13. Sinclair-Haus Gespräches zu tun? Die Beispiele zeigen, dass Erinnern wichtig ist für das Leben des Einzelnen, der Familie, aber auch eines Volkes. Unser Selbstbild, unsere Identität und unser Selbstvertrauen bauen auf Erinnerungen auf. Und wie wichtig gerade Identitäts- 6 Alexanderplatz, Berlin 1990 bewusstsein in einer zusammenwachsenden Welt ist, haben wir beim letzten Sinclair-Haus Gespräch erfahren. Die Frage des Erinnerns und Vergessens ist aber nicht ein nur die Deutschen beschäftigendes Phänomen. Schon vor 2500 Jahren soll nach einer von Cicero überlieferten Anekdote der athenische Staatsmann und Feldherr Themistokles dem Dichter Simonides, der anbot, Themistokles die Gedächtniskunst zu lehren, geantwortet haben, er – Themistokles – brauche keine Gedächtniskunst, sondern allenfalls eine Kunst des Vergessens, er habe schon jetzt viel zu viele Dinge im Kopf. Themistokles spricht damit die Erkenntnis aus, dass geordnetes Erinnern nur durch Vergessen möglich ist. Von der Fülle des Erlebten und des Erfahrenen trennt das Gedächtnis das Erinnerungswerte vom Erinnerungsunwerten. Die Kunst des Vergessens ist damit notwendige Voraussetzung für eine Kunst des Erinnerns.1 7 Editorial Wolfgang R. Assmann Die Fähigkeiten zum Erinnern und Vergessen sind in den Anlagen des Menschen begründet, in den physiologischen und psychologischen Bedingungen seines Lebens. Durch die Untersuchung von an Gedächtnisverlust leidenden Kranken haben die Mediziner viel über das Erinnerungsvermögen des Menschen gelernt.2 Das Gedächtnis jedes Einzelnen von uns wird darüber hinaus ganz wesentlich geprägt von der gesellschaftlichen Umgebung, von der Familie, vom Schulunterricht, vom Beruf, von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, von der Zeitungslektüre, vom Fernsehen, von vielen unser Denken beeinflussenden Faktoren, die wir bewusst nicht mehr wahrnehmen. Das Ergebnis dieses feinmaschigen Netzwerkes gegenseitiger Beeinflussung, Informationen und gelegentlich auch Manipulationen kann gemeinsames Erinnern und kollektive Identität sein. Dies ist heute aber nicht mehr regelmäßig so, weil durch die „Beschleunigung der Geschichte“ und die Demokratisierung der Gesellschaften an die Stelle eines allgemeinen kollektiven Gedächtnisses immer häufiger unterschiedliche Versionen von Erinnerungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen treten. 3 Durchaus kontrovers diskutiert wurde während des 13. Sinclair-Haus Gespräches die Frage, ob der demokra„W e r a l s P o l i t i k e r tisch verfasste freiheitliche Rechtsstaat auch Vergessensverdie Zukunft bote beziehungsweise Erinnerungsgebote erlassen kann gestalten will, und wer dazu gegebenenfalls legitimiert ist. Kann also Erinbraucht zur nern und Vergessen staatlich geregelt werden? Was auf den Zielbestimmung ersten Blick abwegig erscheint, ist in Teilen unseres RechtsWertmaßstäbe und lebens allgemein akzeptierte Praxis. Die Amnestie, die VerKontrollmarken.“ jährung und die Begnadigung sind traditionsreiche Formen des öffentlichen Vergessens. Das Datenschutzrecht beispielsweise ist eine moderne Strategie des öffentlichen Vergessens zum Schutz der Privatheit und des informationellen Selbstbestimmungsrechtes der Menschen. Ein Vergessensverbot, über das es in der Bundesrepublik Deutschland einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, betrifft den an sechs Millionen europäischen Juden unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Völkermord, den zu leugnen oder zu verharmlosen nicht nur gesellschaftlich geächtet, sondern heute sogar unter Strafe gestellt ist.4 Da man nicht alles, was man erlebt und erfährt, im Kopf behalten kann, haben die Menschen schon frühzeitig begonnen, ihr Gedächtnis generationsübergreifend in Bibliotheken, Archive und Museen „auszulagern“. Aber auch insoweit hat sich im 20. Jahrhundert die Situation tiefgreifend verändert. 5 Stichworte hierfür sind die vom Fortschritt der Technik ermöglichte Globalisierung und die damit einhergehende Flüchtigkeit der Medien. Das digitale Archiv ist beliebig erweiterbar und jederzeit von überall her zugänglich; mancher träumt von einer durch Computer garantierten freien Verfügbarkeit allen existenten Wissens. Aber Speichern hat mit Erinnern ebenso viel gemein wie Auswendiglernen mit Verstehen. Die Frage ist deshalb heute: Wie bewahren wir uns Inseln des Wissens und Verstehens im Strom der Daten? Wie schützen wir uns vor dem Ertrinken in diesem Strom? Und wie verhindern wir, dass durch das „kurze Gedächtnis“ der neuen Medien ungewollt große Informationsmengen vergessen werden, weil wir schon nach einigen Jahrzehnten nicht mehr die Betriebssysteme zur Entschlüsselung des Gespeicherten beherrschen? 8 Wolfgang R. Assmann Aber nicht nur die technischen Bedingungen des Erinnerns haben sich gegenüber dem 19. Jahrhundert verändert, auch die Gemeinsamkeit von kultureller und intellektueller Überlieferung, die einst beispielsweise das Bildungsbürgertum auszeichnete, gibt es heute nicht mehr. Umso erstaunlicher ist es, dass in Deutschland die Zahl der Museen wächst und diese Orte des Erinnerns von 90 bis 95 Millionen Menschen jährlich besucht werden.6 Das virtuelle Museum kann eben doch nicht den Schauer des Authentischen vermitteln, der vom Original ausgeht. Ging es bis hierher mehr um eine beschreibende Darstellung von Grundlagen und Bedingungen des Erinnerns und Vergessens, müssen bei der Behandlung der Frage, warum Erinnern eine Bedingung politischer Zukunft ist, inhaltliche Schwerpunkte gesetzt und Wertentscheidungen getroffen werden. Wer als Politiker die Zukunft gestalten will, braucht zur Zielbestimmung Wertmaßstäbe und Kontrollmarken. Woher nimmt er diese, wenn nicht aus der Geschichte und seiner persönlichen Erfahrung? Das Diktum Hegels, man könne aus der Geschichte nur eines lernen: dass niemals etwas aus ihr gelernt worden ist, scheint mir in den letzten 50 Jahren durch die Entwicklung der Bundesrepublik widerlegt. Die vom Grundgesetz ermöglichte demokratische Stabilität war eine Lehre aus den Schwächen der Weimarer Reichsverfassung. Mit der bewussten Einbindung Deutschlands in ein zusammenwachsendes Europa zog man Konsequenzen aus den kriegerischen Erfahrungen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Staatsmänner wie Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl ließen keinen Zweifel daran, dass historisches Bewusstsein für sie Bedingung politischer Zukunft war. Aber wird das zwangsläufig so bleiben? Wie würde es sich auf Inhalt und Stil der Politik auswirken, wenn führende Politiker ohne unsere Geschichte zu bedenken, die Zukunft gestalten wollten? Können Politiker durch Vergessen tatsächlich der Geschichte entkommen? Diese Fragen beantworten auf sehr persönliche und dadurch besonders beeindruckende Weise zwei Männer, die Geschichte erlitten und mitgestaltet haben. Der ehemalige polnische Außenminister Professor Dr. Wladyslaw Bartoszewski verbindet die Erfahrungen als Opfer sowohl der Nationalsozialisten als auch der Kommunisten mit den Erfahrungen des Widerstandskämpfers, er ist Homme de lettres und zugleich handelnder Politiker.7 Joachim Gauck, der im kirchlichen Dienst als Oppositioneller den Alltag der DDR erlebte und erlitt, hilft heute als Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes den Ostdeutschen, ihre Erinnerungen zu bearbeiten statt sie zu verdrängen. Er weiß: „Die Wiederbegegnung mit den Traumata der Vergangenheit ist ein befreiendes Element.“ 8 J 1 Vertiefend dazu Weinrich: „Privates und öffentliches Vergessen“. 2 Hierüber berichtet Hodges: „Der Mensch und sein Gedächtnis – Wissenschaftliche Grundlagen des Erinnerns und Vergessens“. 3 Siehe hierzu im Einzelnen Nora: „Erinnern und kollektive Identität“. 4 Vertiefend zur Problematik öffentlicher Vergessensverbote Weinrich: „Privates und öffentliches Vergessen“. 5 Siehe dazu im Einzelnen Lehmann: „Kulturelle Überlieferung und das kurze Gedächtnis der neuen Medien“. 6 Siehe zu den Merkmalen moderner Museumsarbeit das Interview Gauly/Schäfer. 7 „Historia magistra vitae – Politiker und Geschichte“ löste beim Abendgespräch eine außerordentlich engagierte Diskussion aus. 8 Siehe im Einzelnen Gauck: „Erinnern und Bearbeiten als Bedingungen politischer Zukunft“. 9 Auftakt Hans Graf von der Goltz Dreizehntes Sinclair-Haus Gespräch Es ist mir eine große Freude, Sie im Namen der Herbert Quandt-Stiftung sehr herzlich zum 13. Sinclair-Haus Gespräch begrüßen zu dürfen. Es steht unter dem Thema „Die Zukunft des Gewesenen – Erinnern und Vergessen an der Schwelle des neuen Millenniums“. Der Titel lässt uns stutzen, begreifen wir doch die Vergangenheit als abgeschlossen, dem gestaltenden Eingriff menschlichen Handelns entzogen. Wie also kann das Gewesene eine Zukunft haben? Und braucht diese Zukunft beides, das Erinnern wie das Vergessen gleichermaßen? Und wenn das so ist, wie ordnen wir Gewesenes dem einen wie dem anderen zu? Dem Wort Vergessen haftet etwas Endgültiges an. Wie ein Urteilsspruch ohne Revision. Trauen wir uns das zu? Wohl bleibt die Vergangenheit der Einwirkung menschlichen Handelns verschlossen, in den Erinnerungsräumen von Individuen und Gesellschaften lebt sie jedoch fort. Aber wie? Erinnerung verleiht der menschlichen Existenz die Sicherheit einer Erfahrungswelt und ermöglicht es, Eindrücke und Erfahrungen der Gegenwart zu ordnen und in zukunftsgerichtetes Handeln umzusetzen. Erinnerungen sind wesentlich für die Herausbildung unserer individuellen Identität. Und doch ist unsere Erinnerung immer wieder Veränderungen, Eintrübungen und Verzerrungen unterworfen. Sie bedarf des Vergessens. Die Bilder vom Gewesenen leben in unseren Erinnerungswelten nicht einfach fort, sondern nehmen immer wieder andere Gestalt an – nicht zuletzt durch Manipulation und Suggestion. Auch sie können dem Gewesenen eine oft fragwürdige Zukunft geben. Erinnerung bezieht sich aber nicht nur auf unsere individuellen Erfahrungsräume, sondern auch auf jene Traditionen und historischen Zusammenhänge, die wir mit anderen teilen. Diese gemeinsamen Erinnerungen an das Gewesene können zum konstituierenden Element von Gruppenidentitäten werden. Folgerichtig hat der französische Soziologe Maurice Halbwachs dafür den Begriff der „kollektiven Erinnerung“ geprägt. Damit wird auch jene mythologische Geschichtssicht erfasst, der wir im romantischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts ebenso begegnen wie im aggressiven serbischen Nationalismus dieser Tage. Die Erinnerung an eine Schlacht im 14. Jahrhundert wird, um beim Beispiel Serbiens zu bleiben, zum Legitimationsinstrument politischer Gewaltherrschaft. Als gegenläufiges, aber ebenso willkürliches Phänomen stellt sich das verordnete Vergessen dar, wie es etwa in der sogenannten Entstalini- 10 sierung offenbar wurde. Durch die Tilgung von Erinnerungsposten, also Denkmälern, Büsten und anderen Symbolen, sollen historische Mythen aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht werden. Dass dies nicht immer gelingt, hat nach 1989 auch die „Rückkehr der Geschichte“ in den Ländern Mittel- und Osteuropas gezeigt, als längst vergessen geglaubte Symbole und historische Bezüge – gleichsam über Nacht – wieder entdeckt wurden. Wenn Erinnerung Völker dauerhaft zu trennen vermag, stellt sich die Frage, ob politische Zukunftsgestaltung nicht auch des öffentlichen Vergessens bedarf? Oder hat José Ortega y Gasset recht, wenn er schreibt, dass man die Vergangenheit nicht „mit einem runden Nein“ begraben könne. Sie sei, so heißt es weiter bei ihm, „ihrem Wesen nach ein ‚revenant‘. Wenn man sie hinauswirft, kommt sie wieder. Darum kann man sie nur wahrhaft abtun, wenn man mit ihr rechnet, sich mit dem Blick auf sie bewegt.“ Aber auch andere Gründe sprechen für eine öffentliche Erinnerung. Schließlich versuchen wir auf diese Weise jenes kulturelle und historische Erbe zu wahren, das einer Gesellschaft die Sicherung und Fortentwicklung ihrer zivilisatorischen Standards erlaubt. Erinnerung macht uns zukunftsfähig. Dieses historische Erbe allerdings können wir uns nicht aussuchen. Es umfasst auch die dunkelsten Momente der Vergangenheit, die sich nicht bewältigen, also zu einem Ende bringen lassen. Erinnerung wird hier zur Mahnung. Vergessen hingegen muss dann, ganz im Sinne Ortega y Gassets, als Akt der Barbarei erscheinen. Nicht nur in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Geschichtsbild der handelnden Politiker. Können Lehren aus einer Geschichte gezogen werden, die man nicht kennt oder nicht verstanden hat? Am Ende dieses Jahrhunderts bleiben uns die Fragen nach dem Erinnernswerten. Was bleibt, ja, was muss bleiben? Was kann, sollte oder muss vergessen werden? Trauen wir uns das Urteil zu? Reichen unsere Einsicht, unsere moralische Kraft, unsere Integrität und intellektuelle Redlichkeit? Am Ende dieses Jahrhunderts helfen uns vielleicht unsere Zweifel. Schon in den Tagen Isaak von Sinclairs, einem Gelehrten und Diplomaten, der Hölderlin, Hegel und Schelling zu seinen Freunden zählte und dem dieses Haus seinen Namen verdankt, dienten die Räume, in denen wir heute und morgen tagen, dem offenen und freimütigen Gedankenaustausch. Auch beim 13. Sinclair-Haus Gespräch wollen wir an diese Tradition anknüpfen und die anregende Ruhe des Sinclair-Hauses zum intensiven und fruchtbaren Diskurs über die Fragen nutzen, die ich mir lediglich anzureißen erlaubt habe. Das 13. Sinclair-Haus Gespräch ist hiermit eröffnet. J 11 Die Zukunft des Gewesenen: Der Pergamonaltar, Pergamon Museum Berlin Der Zeus und Athena geweihte Altar, errichtet zwischen 180 und 160 v. Chr., galt in der Antike als eines der sieben Weltwunder. Beiträge John R. Hodges Der Mensch und sein Gedächtnis: Wissenschaftliche Grundlagen des Erinnerns und Vergessens „Du musst anfangen, Dein Gedächtnis zu verlieren, wenn auch nur teilweise, um zu erkennen, dass es das Gedächtnis ist, das unser Leben ausmacht. Leben ohne Gedächtnis ist überhaupt kein Leben. Unser Gedächtnis ist unser innerer Zusammenhalt, unser Verstand, unser Gefühl, ja, selbst unser Tun. Ohne Gedächtnis sind wir nichts.“ Luis Buñuel „Mein letzter Seufzer“ 1984 Während der letzten zehn Jahre haben wir in Cambridge Patienten mit Gedächtnisstörungen im Hinblick auf zwei verschiedene Fragestellungen untersucht: Zum einen, um auf diese Weise mehr über die verschiedenen Erkrankungen zu lernen, die das menschliche Gedächtnis befallen können, insbesondere die Alzheimer’sche Krankheit. Der vernichtende Einfluss, den diese Erkrankung auf die menschlichen Erinnerungen hat, ist jüngst von John Bayley in seinem Buch „Eine Elegie für Iris“, in dem er den allmählichen Verfall seiner an der Alzheimer’schen Erkrankung leidenden Ehefrau Iris Murdoch beschreibt, eindrucksvoll dargestellt worden. Ich durfte Iris Murdoch während ihrer letzten beiden Lebensjahre, die der Diagnose folgten, beobachten und begleiten. Zum anderen verfolgen wir mit unseren Studien ein allgemeineres wissenschaftliches Ziel: Durch die genaue Beobachtung, welche Gedächtnisleistungen infolge von Gehirnschädigungen verschie14 dener Art beeinträchtigt werden, können wir auch sehr viel über die normale Gedächtnisfunktion lernen. Die Gehirnerkrankungen, die als eine Art „Unfall der Natur“ bezeichnet werden können, bieten uns die einzigartige Möglichkeit zum Studium des Gedächtnisses, da eine willkürliche Schädigung des menschlichen Gehirns aus ethischen Gründen grundsätzlich nicht in Frage kommt. Tierexperimente dagegen, in denen künstliche Gehirnläsionen gesetzt werden, vermögen die uns interessierenden Fragen nicht zu beantworten, da nur der Mensch über den einzigartigen, über sich selbst reflektierenden Aspekt des Gedächtnisses verfügt. Der Begriff des „Gedächtnisses“ beschreibt nicht eine einzige geistige Funktion, sondern bezieht sich vielmehr auf eine Reihe interaktiver Subsysteme im menschlichen Gehirn. Dies kann anhand der unterschiedlichen Formen von Gedächtnisproblemen, mit denen Patienten unsere Gedächtnissprechstunde aufsuchen, verdeutlicht werden. Wenn ein Patient über Gedächtnisschwierigkeiten klagt, kann dies auf eine Reihe verschiedener Probleme hinweisen. Manchmal bedeutet es: „Ich gehe in mein Arbeitszimmer und vergesse sofort, weshalb ich hineingegangen bin“ oder „ Jemand ruft mich an und nennt mir seine Telefonnummer, ich werde durch die Kinder kurz abgelenkt und – schon habe ich die besagte Nummer vergessen“. Diese wohlbekannten Beispiele aus dem Alltag gehen auf Störungen des Kurzzeitgedächtnisses (in der Fachsprache meist „Arbeitsgedächtnis“ genannt) zurück. Dieses System hängt in erster Linie von der Stirnlappenfunktion ab und wird durch Erkrankungen wie Morbus Parkinson, Depression oder Schädel-Hirn Trauma, aber auch durch den normalen Alterungsprozess beeinflusst. Die meisten Patienten in unserer Sprechstunde klagen allerdings über ein anderes Problem. Sie berichten zum Beispiel: „Ich genieße es wohl, fernzusehen oder Freunde zu treffen, doch in der darauffolgenden Woche erinnere ich mich nicht mehr, welches Programm ich gesehen oder worüber ich mit den Freunden beim Abendessen gesprochen habe.“ Diese Art des Gedächtnisses für bestimmte, in Raum und Zeit verankerte Ereignisse der Vergangenheit wird als „episodisches Gedächtnis“ bezeichnet. Veteranen, Frankfurt am Main 1989 Eine andere, dritte Form der Gedächtnisstörung zeigt sich bei Patienten, die Folgendes berichten: „Ich kann mich gut an kurz zurückliegende Ereignisse erinnern und auch mein geparktes Auto wiederfinden, aber ich merke, dass mein Gedächtnis für Worte allmählich nachlässt“. Diesen Aspekt des Gedächtnisses beschreiben wir als das semantische Gedächtnis. Im Gegensatz zum episodischen Gedächtnis, das individuell spezifisch ist, wird das semantische Gedächtnis von verschiedenen Menschen gleicher Kultur geteilt. Es ist vergleichbar mit einer gemeinsamen Datenbank, die unseren Wahrnehmungen Sinn verleiht. Der Unterschied zwischen dem episodischen und dem semantischen Gedächtnis wird auf Abbildung 1 (S. 17 o.) veranschaulicht. Ich habe dieses Foto bei einem Ausflug zum Erlebnispark „Sea World“ in San Diego, Kalifornien, aufgenommen. Ich habe ähnliche, nahezu identische Erlebnisparks in Florida und San Diego besucht. An dieses besondere Bild kann ich mich allerdings sehr gut erinnern, es entstand bei meinem dritten Besuch, zusammen mit meinen Kindern. Sie waren völlig begeistert, besonders als sie vom Wal Shamu mit Wasser bespritzt wurden. Ich kann mich an diese Episode sehr klar erinnern. Diese Erinnerung löst bei mir eine „Reise in Raum und Zeit“ aus, eines der Schlüsselmerkmale des episodischen Gedächtnisses. Das Beispiel veranschaulicht auch den multisensorischen Aspekt des episodischen Gedächtnisses, das typischerweise visuelle, akustische und sprachliche Elemente, zuweilen sogar Geschmack und Geruch miteinander verbindet. Unsere eigene Autobiographie besteht aus einer Reihe solcher Episoden. Sollte ich jedoch die Frage stellen „Wie viele Wale sieht man auf diesem Foto?“, versteht jeder sofort, was mit dem Wort „Wal“ gemeint ist und kann sofort erkennen, dass es sich um zwei Wale handelt. Zum Verständnis und zur Beantwortung solcher Fragen benutzen wir das semantische Gedächtnis, das nicht von der Erinnerung an bestimmte, einzelne Lebensepisoden abhängt. Nachdem ich den Unterschied zwischen dem episodischen und dem semantischen Gedächtnis definiert habe, will ich nun die anatomischen Grundlagen für die beiden Gedächtnissysteme und die Folgen ihrer Schädigung durch Gehirnerkrankungen und Verletzungen darstellen. Die Fähigkeit zur Entwicklung neuer, episodischer Gedächtnisinhalte und ihrer Integration in eine zusammenhängende Autobiographie, die für unsere Selbstwahrnehmung von so entscheidender Bedeutung ist, hängt von einer paarigen, phylogenetisch sehr alten Struktur in der Tiefe des 15 Beiträge John R. Hodges Schläfenlappens, die Hippokampus genannt wird, ab. Der Name geht auf die Ähnlichkeit zwischen dem Querschnitt dieser Struktur (Abbildung 2) und einem Seepferdchen (griechisch: „Hippokampus“) zurück. Der Hippokampus hat Verbindungen zu allen Teilen des Gehirns, insbesondere aber zu solchen, die an der Verarbeitung der unmittelbaren Sinneseindrücke beteiligt sind. Er erhält Informationen sowohl über visuelle und akustische Sinneseindrücke als auch über Berührungs-, Geruchs- und Geschmackssinn und ist somit ideal geeignet, die Funktion einer „Telefonzentrale“, die die verschiedenen Sinneseindrücke miteinander verbindet, zu übernehmen. Aber woher wissen wir, dass ausgerechnet der Hippokampus für das episodische Gedächtnis so wichtig ist? Den ersten Hinweis gab es 1950, als kanadische Chirurgen begannen, die mittleren Anteile des Schläfenlappens (zu denen der Hippokampus auch gehört) zu entfernen, um damit therapieresistente Epilepsie-Fälle zu behandeln. Eine einseitige Entfernung erwies sich zunächst als sehr erfolgreich. Als aber die Chirurgen daraufhin begannen, in besonders schwierigen Fällen den Hippokampus auf beiden Seiten zu entfernen, führte dies unerwarteterweise zu einem fast völligen Verlust des episodischen Gedächtnisses. Einer der Patienten, der heute noch lebende H.M., wurde seitdem von verschiedenen Forschergruppen kontinuierlich untersucht und ist wohl mittlerweile zum berühmtesten Patienten in der Geschichte der Neuropsychologie geworden. Seit seiner Operation in den späten fünfziger Jahren hat er keine neuen episodischen Gedächtnisinhalte mehr entwickelt. Er weiß nicht, dass viele seiner Familienangehörigen inzwischen verstorben sind und glaubt, noch immer 20 Jahre alt zu sein. Zeigt man ihm Bilder von Menschen auf dem Mond, glaubt er, dass dies eine Szene aus einem Spielfilm sei. Ebenso wenig erkennt er auf Fotos bekannte Persönlichkeiten, wie den ehemaligen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Er kann sich allerdings gut an die Erlebnisse seiner Kindheit und Jugend bis zu etwa zwei Jahren vor seiner Operation erinnern. Das Muster seines Gedächtnisverlustes wird als anterograde Amnesie bezeichnet, da er unfähig ist, neue Gedächtnisinhalte anzulegen, sich aber an die alten, bereits vorhandenen, sehr wohl erinnern kann. In den fünfziger Jahren mussten wir uns auf die Berichte der Chirurgen verlassen, um zu erfahren, 16 welche Teile des Gehirns in solchen Fällen genau entfernt wurden. Heutzutage ermöglichen nicht invasive bildgebende Verfahren, wie z.B. die Kernspintomographie, eine detaillierte Darstellung des lebenden Gehirns. Die Kernspinaufnahme des Patienten H.M. zeigte, dass bei dem chirurgischen Eingriff der Hippokampus auf beiden Seiten entfernt wurde, die übrigen Teile des Schläfenlappens allerdings unversehrt waren. Eine andere Ursache, die zu einer schweren Amnesie dieser Art führen kann, wird bei Patienten mit Encephalitis (Gehirnentzündung) beobachtet. Jonathan Miller drehte einen Dokumentarfilm über einen bekannten Musiker, Clive, der an einer Herpes Encephalitis erkrankte und dessen Gedächtnisverlust in Folge der Krankheit sogar noch stärker ausgeprägt war als der von H.M.. Clive ist überzeugt, dass er „gerade aufgewacht“ ist und kann keine neue Information länger als wenige Sekunden lang behalten. Wenn seine Ehefrau das Zimmer kurzzeitig verlässt, um gleich darauf wiederzukommen, denkt er, dass er sie jahrelang nicht gesehen hat. Allerdings hat er, im Gegensatz zu H.M., auch die Erinnerungen an seine frühen Jahre verloren. Bis auf einige wenige Fakten ist er nicht imstande, sich an bestimmte Ereignisse aus seinem früheren Leben zu erinnern. Seine Kernspintomographie zeigt neben einer Zerstörung der beidseitigen Hippokampi auch eine weitergehende Schädigung anderer Teile des Schläfenlappens. Der Vergleich dieser beiden Patienten verdeutlicht, dass unterschiedliche Gehirnstrukturen daran beteiligt sind, wenn Gedächtnisinhalte neu angelegt und alte gespeichert werden. H.M. und Clive haben zwar gemeinsam, dass ihr Hippokampus nicht mehr funktionsfähig ist und dass sie deshalb außerstande sind, neue Gedächtnisinhalte anzulegen. Clive hat aber darüber hinaus Läsionen in anderen Bereichen der Großhirnrinde (besonders des Schläfenlappens), die für die Speicherung alter Gedächtnisinhalte verantwortlich sind. Mit unserer Forschungsarbeit haben wir in den letzten Jahren versucht, die Ergebnisse der neuropsychologischen Studien (wie die von H.M. und Clive) mit den modernen, auf einer Netzwerk-Theorie basierenden Modellen der menschlichen Gehirnfunktion zu verbinden. Das sogenannte „Spur und Verbindung“-Verarbeitungsmodell („TraceLink“), mit dem Hippokampus als „Verbindung“ und der Großhirnrinde als „Spur“, wird in Abbildung 3 dargestellt. Wenn wir an das Beispiel des John R. Hodges Abb. 1: Erlebnispark „Sea World“, San Diego, Kalifornien Hippokampus Nucleus Basalis Bulbus Olfactorius Amygdala Locus Coeruleus Nuclei Raphe Abb. 2: Die wichtigsten Strukturen des Gehirns, die für die Speicherung neuer episodischer Gedächtnisinhalte verantwortlich sind. Dabei gilt es besonders den Hippokampus zu beachten. Verbindungssystem ∅W Modulatorisches System Spursystem Sensorischer Input Motorischer Output Abb. 3: Schema des „Spur und Verbindung“-Verarbeitungsmodells vom menschlichen Gedächtnis. Verbindungssytem = Hippokampus; Spursystem = Kortex Besuches im Erlebnispark „Sea World“ in San Diego zurückdenken, können wir uns vorstellen, wie die sensorischen Hirnareale jeweils die visuellen und auditiven Reize verarbeiten und an den Hippokampus weiterleiten, der sie dann in kürzester Zeit zu einer zusammenhängenden und mit einer bestimmten Zeitangabe verbundenen Episode zusammenführt. Im Laufe der Zeit habe ich an genau diese Episode häufiger gedacht, mir Bilder davon angeschaut und sie mehrmals mit meiner Familie besprochen. Diese wiederholten Erinnerungen haben allmählich dazu geführt, dass neue Verbindungen innerhalb der Großhirnrinde entstanden sind, die schließlich vom Hippokampus unabhängig werden: ein Prozess, den wir als Konsolidierung bezeichnen. Daher werde ich mich an diesen Besuch in San Diego selbst dann erinnern können, wenn ich durch eine Schädigung des Hippokampus die Fähigkeit zum Anlegen neuer Gedächtnisinhalte dieser Art verlieren sollte. Im Gegensatz zu dem erwähnten Besuch im Erlebnispark „Sea World“ in San Diego werden die meisten Alltagsepisoden nicht bewusst wiedererlebt und somit nicht in der Großhirnrinde konsolidiert. So könnte ich beispielsweise nach einem normalen Arbeitstag den Inhalt der meisten Gespräche und Sitzungen genau wiedergeben; nach einigen Wochen oder gar Monaten wäre das meiste jedoch aus der Erinnerung verschwunden. Einfache Intuition sagt uns, dass es einen aktiven Prozess des Vergessens geben muss, der unser Gedächtnis vor der Überflutung durch triviale Alltagsereignisse schützt. Das gleiche Modell erklärt aber auch, warum uns manchmal besonders wichtige oder auch traumatische Erlebnisse dauerhaft in Erinnerung bleiben. Störungen, wie ich sie bei den Patienten H.M. und Clive beschrieben habe, kommen glücklicherweise nur äußerst selten vor – die Alzheimer’sche Krankheit dagegen ist sehr häufig. Die pathologischen Veränderungen bei dieser Krankheit beginnen im Hippokampus und in den angrenzenden anatomischen Strukturen. Die Ergebnisse unserer Forschung zeigen, dass die Unfähigkeit, neue Gedächtnisinhalte anzulegen als ein frühes Merkmal der Erkrankung anzusehen ist. Wir waren an der Entwicklung neuer diagnostischer Verfahren zur Früherkennung der Alzheimer’schen Krankheit beteiligt, die darauf beruhen festzustellen, inwieweit neue Assoziationen, beispielsweise Verknüpfung zwischen Namen und Gesichtern, hergestellt wer17 Beiträge John R. Hodges den können. Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu einer Ausdehnung der pathologischen Veränderungen auf andere Gehirnareale, die den Verlust der älteren episodischen Erinnerungen als auch den des semantischen Gedächtnisses zur Folge haben. Dies führt dazu, dass sich Alzheimer-Patienten zunehmend in Kindheitserinnerungen zurückziehen, die am Ende häufig als die einzigen verschont gebliebenen Fragmente des Erinnerungsvermögens übrig bleiben. Dieses zeitliche Gefälle, das nur die frühesten Gedächtnisinhalte verschont, wurde bereits vor über 100 Jahren erkannt und wird häufig das Ribot’sche Gesetz genannt. Nun wollen wir uns dem anderen wichtigen System des Langzeitgedächtnisses, das sich mit Fakten- und Allgemeinwissen beschäftigt, dem semantischen Gedächtnis, zuwenden. Ein beträchtlicher Teil unserer Forschung der letzten Jahre war darauf ausgerichtet, die Struktur des menschlichen Wissens im Gehirn besser zu verstehen. Unser besonderes Interesse galt dabei einer seltenen Erkrankung, die als „semantische Demenz“ beschrieben wird. Bei dieser Erkrankung kommt es zu einer graduellen „Erosion“ des allgemeinen Wissens. Die Patienten verlieren die Fähigkeit, Gegenstände zu benennen, oder sie vermögen die Bedeutung von Worten und Gegenständen nicht mehr zu erfassen. Die Erkrankung äußert sich am frühesten und am ausgeprägtesten in der Sprache, was auf die Grundveranlagung des Menschen sich über Sprache zu definieren schließen lässt. Sie kann aber auch in rein visuellen Tests festgestellt werden. Einer unserer Patienten, J.L., wurde mehrmals anhand der gleichen Testreihe, die 260 Zeichnungen enthält, untersucht. Die zeitliche Entwicklung seiner Versuche, 12 Vogelarten zu benennen (in Abbildung 4 dargestellt) zeigt den allmählichen Zerfall seines Wissens. Bei der ersten Testrunde konnte er die am häufigsten vorkommenden Vögel („Huhn“ und „Ente“) richtig benennen, alle anderen Vogelarten, wie „Pfau“ oder „Pinguin“ bezeichnete er ebenfalls als „Ente“. Ein Jahr später konnte er nur noch das Huhn korrekt benennen, die anderen Vögel wurden einfach als „Vogel“ beschrieben. Nach einem weiteren Jahr konnte er sie nicht einmal mehr als „Vogel“ erkennen und nannte sie „Tier“, „Katze“ oder „Hund“, als ob der Begriff des Vogels an sich für ihn völlig verloren gegangen sei. Dieses Muster beschreibt das Gegenteil der Entwicklung, die bei kleinen Kindern beobachtet werden kann: Zuerst verwenden sie Sammelbegriffe wie „Miezekatze“, die sich auf alle Tiere beziehen, bis sie allmählich die spezifischen Namen verschiedener Tierarten erlernen. Nach der Definition eines Schwans gefragt, würde J.L. wohl sagen: „Es ist ein Vogel, aber ich kann mich an nichts Genaueres erinnern.“ Wir entwickelten ein Reihe von Tests, um auch das non-verbale semantische Gedächtnis zu überprüfen (wie beispielsweise das farbige Ausmalen von Schwarzweißzeichnungen oder die praktische Verwendung von verschiedenen Gegenständen), und zeigten, dass Patienten mit semantischer Demenz in diesen Tests schwerwiegende Defizite Vögel 9/91 3/92 9/92 3/93 Vogel (Gattung) Huhn Ente Schwan Adler Strauß Pfau Pinguin Hahn + + + + Ente Schwan Ente Ente Huhn + + Vogel Vogel Vogel Vogel Vogel Vogel Huhn + Vogel Vogel Vogel Vogel Katze Katze Katze Vogel Tier Tier Hund Tier Pferd Tier Fahrzeug Teil eines Tieres Hund Abb. 4: Antworten von Patienten mit semantischer Demenz ( J.L.) bei vier aufeinanderfolgenden Befragungen zwischen September 1991 und März 1993 bei der Benennung von neun Vogelzeichnungen. Anmerkung: + = korrekt 18 John R. Hodges L a b c h Schläfenlappen Abb. 5: Kernspintomographien: a) normales Gehirn mit dem Hippokampus (h) und Schläfenlappen (Pfeil); b) geschrumpfter Hippokampus (Pfeile) eines im frühen Stadium an Alzheimer Erkrankten; c) fortgeschrittene Zerstörung der seitlichen (lateralen) Anteile des linken Schläfenlappens (Pfeil) bei semantischer Demenz mit intaktem Hippokampus. aufweisen. Bemerkenswert ist dabei die Übereinstimmung der Testergebnisse: Ein Patient, der einen Schraubenzieher nicht korrekt benennen kann, hat auch Probleme, das Bild eines Schraubenziehers mit dem entsprechenden Wort in Verbindung zu setzen; mit einem richtigen Schraubenzieher konfrontiert, kann er ihn zwar korrekt halten, weiß aber nicht, wie und wofür er ihn benutzen soll. Diese Befunde deuten darauf hin, dass verschiedene Arten des Wissens über einen Gegenstand (oder auch ein Tier) im Gehirn zusammenhängend repräsentiert sind. Patienten, die an semantischer Demenz leiden, verlieren ihr Wissen über natürliche Lebewesen und über die von Menschen hergestellten Objekte. Die Kernspintomographie zeigt bei ihnen eine ausgeprägte Atrophie (Gewebeschwund) der vorderen und der seitlichen Anteile des linken Schläfenlappens, wie auf Abbildung 5 zu erkennen ist. Dieses Ergebnis, zusammen mit anderen, die aus der funktionellen Bildgebung bei gesunden Probanden gewonnen wurden, weist dieser Gehirnregion eine entscheidende Rolle bei der Speicherung von Wissen zu. Eine der Schlüsselfiguren bei der Erforschung des semantischen Gedächtnisses war Professor Elisabeth Warrington aus London. In den achtziger Jahren beschrieb sie einige Patienten, bei denen das Wissen über Lebewesen schwerst gestört, das über die von Menschen hergestellten Objekte dagegen weitgehend erhalten war. Solche Patienten waren weder imstande, Tiere wie Elefanten oder Finken zu benennen, noch konnten sie sie näher beschreiben. Sie benannten und beschrieben aber Gegenstände wie Kerzen oder Hosen durchaus richtig. Kurze Zeit darauf wurden Patienten mit einer spiegelbildlichen Störung entdeckt, so dass also dieses Phänomen nicht auf die Tatsache zurückgeführt werden kann, dass der westliche Mensch nur wenig über seine natürliche Umgebung weiß. Eine wachsende Anzahl von verschiedenen Forschungsergebnissen hat seitdem die Hypothese von zwei, in unterschiedlichen Gehirnarealen verarbeiteten, Wissensbereichen unterstützt. Unsere Forschung in Cambridge hat kürzlich gezeigt, dass das Wissen über Menschen (das unter anderem Wissen über Namen und Gesichter beinhaltet) eine andere Wissensdomäne darstellt, die ebenfalls getrennt verarbeitet wird und dementsprechend selektiv gestört werden kann. Der rechte Temporallappen scheint dabei eine entscheidende Rolle zu spielen. Zusammenfassend habe ich in dieser Vorlesung versucht, die Vielfalt des menschlichen Gedächtnisses zu skizzieren. Innerhalb des Langzeitgedächtnisses gibt es eine klare Unterscheidung zwischen dem Gedächtnis für die individuellen, persönlichen Erlebnisse einerseits und dem Allgemeinwissen über Lebewesen, Gegenstände sowie Worte und Gesichter andererseits; die drei letzteren Wissensbereiche werden ihrerseits im Gehirn getrennt gespeichert und verarbeitet. Auch wenn die Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten – insbesondere durch das Studium gedächtnisgestörter Patienten – unser Wissen über das menschliche Gedächtnis erheblich erweitert hat, sind wir doch von einem umfassenden Verständnis seiner Komplexität noch weit entfernt. J 19 Beiträge Pierre Nora Erinnern und kollektive Identität Wir wohnen derzeit der weltweiten Verbreitung des Erinnerns bei. Seit zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren sind alle Länder, alle ethnischen oder sozialen Gruppen einer grundlegenden Veränderung des traditionellen Verhältnisses zu ihrer Vergangenheit unterworfen. Diese Veränderung nimmt vielfältige, fallgerechte Formen an: Kritik an den offiziellen Geschichtsversionen; Anspruch auf abgeschaffte oder konfiszierte Spuren der Vergangenheit; Kult der „Wurzeln“ (roots); kommemoratives Aufwallen; Konflikte um symbolische Orte oder Monumente; Vermehrung der Museen; zunehmende Sensibilisierung im Hinblick auf die Verschlusshaltung oder Ausbeutung von Archiven; erneutes Anknüpfen an das, was die Angelsachsen „heritage“ und die Franzosen „patrimoine“ nennen. Wie auch immer diese „W i r b e w o h n e n Elemente kombiniert die Welt der werden, es ist wie eine Vergangenheit Woge des Gedenkens, nicht mehr die sich über die Welt spontan; sie ergießt und die überall spricht nur die Treue an die – reale n o c h i n A n d e uoder imaginäre – Vertungen zu uns...“ gangenheit knüpft sowie das Gefühl der Zugehörigkeit an das kollektive Bewusstsein und an das Selbstbewusstsein. Erinnerung und Identität. Diese Bewegung ist so allgemein, grundlegend, mächtig, dass es vielleicht der Mühe wert ist, ihre Ursachen, wenn auch nur kurz, zu hinterfragen. Ich sehe zwei prinzipielle Ursachen, die ich hier zur Diskussion stellen möchte. 20 Die erste Ursache hängt mit dem zusammen, was man neuerdings die „Beschleunigung der Geschichte“ zu nennen übereingekommen ist. Genau betrachtet, besagt die Formulierung, dass das kontinuierlichste und andauerndste Phänomen nicht mehr die Dauer und die Kontinuität sind, sondern der Wandel, und zwar ein immer schnellerer, immer umfassenderer Wandel. Die Folgen dieser Verkehrung für das Erinnern müssen erst noch ermessen werden. Sie sind grundlegend. Dieser Wandel hat die Einheit der geschichtlichen Zeit zerbrochen, die schöne Linearität, die die Gegenwart und die Zukunft mit der Vergangenheit vereinte. Wie ein Bindeglied zog sich diese Vorstellung, die festlegte, was in Vorbereitung auf die Zukunft von der Vergangenheit erhalten werden musste und auf diese Weise der Gegenwart einen Sinn verlieh, durch eine Gesellschaft, Nation, Gruppe oder Familie. Folglich drückt die absolute Unsicherheit fortan auf die Zukunft und legt der Gegenwart, die in ihrem Verlustwahn über Konservierungstechniken ohnegleichen verfügt, eine Erinnerungsverpflichtung auf. Sie fordert von der Gegenwart, gewissenhaft alles undifferenziert zu sammeln, alle sichtbaren Spuren und materiellen Zeichen, die dokumentieren und bezeugen werden, was eine Nation, eine Gruppe oder eine Familie sind oder gewesen sein werden. Anders gesagt, es ist das Ende einer Geschichtsteleologie – das Ende einer Geschichte, deren Ausgang bekannt ist – die der Gegenwart diese majestätische „Erinnerungspflicht“ auferlegt, von der man uns so viel erzählt. Doch zugleich hat diese Beschleunigung, dieser Wandel den brutalen Effekt, die gesamte Vergangenheit in die Ferne zu rücken – wir sind von ihr abgeschnitten: Sie ist, nach den berühmten Worten eines englischen Historikers, „die Welt, die wir verloren haben“. Wir bewohnen sie nicht mehr spontan, sie spricht nur noch in Andeutungen zu uns, in mysteriösen, zu erforschenden Andeutungen, die das Geheimnis dessen enthalten, was wir sind, unsere „Identität“. Wir stehen nicht mehr mit beiden Beinen in dieser Vergangenheit, wir können sie nicht mehr wiederfinden, es sei denn durch dokumentierende, archivierende und monu- Hutu-Flüchtlinge im Lager Magara, Burundi 1995 „Die Erinnerung ist als die Rache der Armen und Unterdrückten erschienen, als die Geschichte derjenigen, die kein Recht auf Geschichte hatten.“ mentale Rekonstruktion, aus der dann „das Erinnern“ entsteht, jene konstruierte Erinnerung, mit der man sich heute auf das bezieht, was früher „Geschichte“ hieß. Auf diese Weise kreuzt sich auf der Ebene der Gegenwart – einer Gegenwart, die sich im historischen Bewusstsein verdoppelt – ein doppelter Imperativ, der aus der Verdunkelung der Zukunft wie aus der Verdunkelung der Vergangenheit herrührt und der aus dem Gedenken das Zeichen unserer Zeit macht. Wir erleben das „Augenblicks-Geden- ken“ der Geschichte. Dies bedingt, jenseits der Vehemenz in der Identitätsbestätigung und des Willens zum Gedenken, eine tiefe Unsicherheit gegenüber der Natur dieser Identität und der Wahrheit dieses Gedenkens. Die zweite Ursache dieses Erinnerungsschubs ist verknüpft mit dem, was man in Anlehnung an die „Beschleunigung“ die „Demokratisierung der Geschichte“ nennen könnte. Sie besteht in jener kraftvollen Bewegung der Befreiung und Emanzipation von Völkern, ethnischen Gruppen und selbst Individuen, die die heutige Zeit beeinflusst; kurz gesagt handelt es sich dabei um ein zunehmendes Zutagetreten der Erinnerungen von Minderheiten, für die die Wiedergewinnung ihrer Vergangenheit ein integraler Bestandteil der Bestätigung ihrer Identität ist. Diese Erinnerungen von Minderheiten gehen hauptsächlich aus drei Entkolonisierungstypen hervor: Aus der weltweiten Entkolonisierung, die denjenigen Gesellschaften, die bisher im ethnologischen Tiefschlaf kolonialer Unterdrückung vegetierten, den Zugang zu historischem Bewusstsein und 21 Beiträge Pierre Nora zur Gedächtnis-Wiedergewinnung bzw. -Heranbildung ermöglichte; aus der inneren Entkolonisierung in den klassischen abendländischen Gesellschaften, durch die sexuelle, soziale, religiöse und regionale Minderheiten auf dem Wege der Integration sich durch die Bestätigung ihres Gedächtnisses, das heißt, ihrer eigenen Geschichte, die Anerkennung ihrer Besonderheit innerhalb der größeren Gemeinschaft verschafften, die ihnen bislang dieses Recht verweigerte. Schließlich aus der Auslöschung der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, aus der ideologischen Entkolonisierung und aus dem Zusammenfinden der Völker und ihren umfangreichen überlieferten Erinnerungen, die jene Regime konfisziert, zerstört oder manipuliert hatten: Russland, der Balkan, Afrika. Die Explosion der Erinnerungen dieser Minderheiten wirkte sich grundlegend auf den jeweiligen Status und die Wechselbeziehung von Historie und Gedenken aus. Um genauer zu sein: auf die begriffliche Aufwertung des kollektiven Erinnerns. Im Vergleich zur Geschichte, die schon immer in den Händen der Mächtigen, der intellektuellen oder professionellen Autoritäten lag, ist das Erinnern mit den Privilegien populärer Protestformen gepaart. Es ist als die Rache der Armen, Unterdrückten und Unglücklichen erschienen, als die Geschichte derjenigen, die kein Recht auf Geschichte hatten. Ihm allein gehörte bislang, wenn nicht die Wahrheit, so doch die Treue. Neu daran ist – und dies hat mit dem unsagbaren Unglück des Jahrhunderts zu tun – der Anspruch auf eine Wahrheit, die wahrer ist als die historische Wahrheit. Die gesamte Geschichte, inzwischen ei„Es gab eine ne Disziplin mit wissenGeschichte, das schaftlichem Anspruch, Erinnern jedoch hatte sich bislang tatbezieht sich sächlich gegen das Erseinem Wesen innern formiert, das imnach auf eine mer als persönlich oder Vielzahl von psychologisch verfärbt Individuen.“ angesehen wurde, da es nur auf Überlieferung beruhte. Geschichte war der Bereich des Kollektiven, Erinnern der des Einzelnen. Es gab eine Geschichte, das Erinnern jedoch bezieht sich seinem Wesen nach auf eine Vielzahl von Individuen. Die Idee einer kollektiven Erinnerung, emanzipatorisch und unantastbar, impliziert eine vollstän- 22 dige Umkehrung. Die Individuen hatten ihre Erinnerung und die Kollektive ihre Geschichte. Die Vorstellung, dass nun das Kollektiv Erinnerungen haben könnte, unterstellt eine tiefe Umwälzung der Stellung der Individuen in der Gesellschaft und ihrer Beziehung zur Kollektivität: Dort liegt das Geheimnis jenes anderen und mysteriösen Aufkommens – der Identität. Die Identität kennt in der Tat eine Metamorphose analog und parallel zu derjenigen der Erinnerung: Von einem individuellen wird sie zu einem kollektiven und von einem subjektiven zu einem quasi formellen Begriff. Traditionellerweise charakterisierte sie die Einzigartigkeit des Individuums bis zu dem Punkt, wo ihr Hauptverständnis einen Polizei- und Verwaltungssinn annimmt: Akteneintrag, Karte, Ausweis. Sie ist zu einer Gruppenkategorie geworden, zu einer äußeren Bestimmung: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird zur Frau gemacht“, schrieb Simone de Beauvoir in jener berühmt gewordenen Aussage, sie ist diejenige aller in der Selbstbestätigung begriffenen „Identitäten“ geworden. Die Identität, wie das Erinnern, ist eine Form der Pflicht. Der Befehl wird mir erteilt, das zu werden was ich bin, Korse, Jude, Arbeiter, Algerier, Türke. Auf dieser Ebene der Verpflichtung knüpft sich das Gedenken auf entscheidende Weise an die Identität – sie gehorchen fortan beide denselben Mechanismen. Beide Worte sind nun praktisch synonym geworden und charakterisieren eine neue Ökonomie der sozialen Dynamik. Die Identitätsbestätigung hat nun wie was Gedächtnis und aus denselben Gründen einen positiven und befreienden Wert angenommen. Die Authentizität der Identität stärkt die Treue zur Erinnerung. Wann aber dreht sich das Emanzipationsprinzip soweit um, dass es wie das Erinnern eine Form der Isolation, des sich Verschließens gegenüber dem Anderen, eine egoistische, zuweilen verheerende Anspruchshaltung annimmt, zu einem Bruch mit dem gesamten Umfeld führt? Es ist unmöglich, diesen Moment theoretisch zu definieren, aber es ist zweifellos derjenige, den wir in der Praxis weltweit sich durchsetzen sehen. Deshalb zählen wir uns zu denen, die zwar einst zu den ersten gehörten, die vor fünfzehn oder zwanzig Jahren von einer „Erinnerungs-Pflicht“ sprachen, die aber heute für ein Recht auf Erinnerung und für eine „Geschichts-Pflicht“ plädieren. J Harald Weinrich Privates und öffentliches Vergessen Wenn wir, das Jahr 2000 im Blick, mit Unruhe und einiger Besorgnis dem neuen Jahrhundert und Jahrtausend entgegensehen, können wir uns vielleicht etwas bei dem Gedanken beruhigen, daß uns die Zukunft nicht ganz unvertraut ist. Einige ihrer Boten sind schon im 20. Jahrhundert unter uns gewesen: Der Futurist Marinetti mit seinem Bekenntnis zum Reiz und Rausch der Geschwindigkeit (ich sehe davon ab, daß er sein Fiat-Sportcabriolet auf der Via Domodossola in Mailand zu Schrott gefahren hat); der Futurologe Ossip K. Flechtheim, der unter allgemeinem Beifall die Zukunft zum Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung erhoben hat (ich sehe davon ab, daß dieses Jahrhundert in seinem Verlauf noch weniger zuverlässig vorhergesagt worden ist als andere Jahrhunderte), schließlich unsere tüchtigen Com„Nur ein von puter-Ingenieure mit s t a r k e n M i tihren Simulationsmogedächtnissen dellen (hier sehe ich g e s t ü t z t e s I n d i v inur davon ab, daß sie dual-Gedächtnis beim Bau ihrer Anlagen ist in der Lage, den Jahrtausendwechdem Vergessen sel vergessen haben). zu widerstehen.“ Deshalb nun eine ziemlich enttäuschungsfeste und insofern tröstliche Nachricht: Wir werden auch sonst wohl noch manches vergessen haben, was als Rüstzeug für das neue Jahrhundert und Jahrtausend gut zu gebrauchen wäre. Denn es steht nach meiner Prognose wohl zu erwarten, daß der Mensch auch nach dem Jahr 2000 ein vergeßli- ches Lebewesen (animal obliviscens) bleiben wird. Mindestens in dieser Hinsicht werden wir uns auf ein vergeßliches Jahrhundert einzustellen haben, hoffentlich jedoch nicht auf ein Jahrhundert der Vergesser. Zwischen diesen beiden Erwartungen bewegen sich die nachfolgenden Überlegungen, die nach den Bereichen des privaten und des öffentlichen Vergessens gegliedert sind. Wenn das Vergessen nichts als eine Naturkraft wäre, eine Art vis inertiae der menschlichen Seele, bliebe mir nicht viel zu sagen übrig. Aber das Vergessen ist, ebenso wie sein positives Gegenbild, das Erinnern, vielfältigen kulturellen Einflüssen ausgesetzt, die darüber bestimmen oder jedenfalls mitbestimmen, was wir vergessen oder nicht vergessen können, wollen, sollen, dürfen oder müssen. Für diese Zusammenhänge hat der französische Soziologe Maurice Halbwachs (ich will nicht vergessen, an seinen gewaltsamen Tod in Buchenwald zu erinnern, 1945, wenige Wochen vor der Befreiung des Konzentrationslagers) seit den 20er Jahren ein vielbeachtetes Denkmodell ausgearbeitet. Es besagt, daß jedes Individual-Gedächtnis (mémoire individuelle) immer schon durch das Kollektiv-Gedächtnis (mémoire collective) seiner gesellschaftlichen Umwelt geformt oder wenigstens mitgeformt ist. Nur ein von starken Mitgedächtnissen gestütztes Individual-Gedächtnis widersteht dem Sog des Vergessens. Insofern umfaßt diese Gedächtnis-Theorie als Nebenprodukt auch eine Theorie des individuellen und des kollektiven Vergessens. Die Halbwachs’sche Theorie hat jedoch auch ihre Schwächen. Sie kann nicht erklären, inwiefern gegen die Macht der zahlreichen Kollektiv-Gedächtnisse, die ihren Einfluß ausüben, ein Individual-Gedächtnis überhaupt Bestand haben kann, so daß den Kollektiv-Gedächtnissen eigentlich nur ein Individual-Vergessen gegenübersteht. Daher hat der ebenfalls französische Philosoph Paul Ricœur bereits vorgeschlagen, die Halbwachs’sche Dichotomie durch die Einführung eines vermittelnden „Nah-Gedächtnisses“ (genauer: mémoire des proches) zu mildern und aufzulokkern. Das wird auch durch den Sprachgebrauch nahegelegt, der dem Vergessen sowohl im Deutschen wie im Französischen auf der memoriellen Seite zwei Begriffe gegenüber stellt: Gedächtnis 23 Beiträge Harald Weinrich Hessisches Landesmuseum Darmstadt „Es steht [...] wohl zu erwarten, daß der Mensch auch nach dem Jahr 2000 ein v e r g e ß l i c h e s L e b ewesen (animal obliviscens) bleiben wird.“ und Erinnerung (mémoire und réminiscence). Dieser Unterscheidung hat schon Aristoteles einen eigenen Traktat gewidmet. Nach heutigem Sprachgebrauch kann die Erinnerung ungefähr als die private oder privatisierte Form des Gedächtnisses aufgefaßt werden. Dem versuche ich im folgenden dadurch Rechnung zu tragen, daß ich beim Vergessen – darin von Halbwachs abweichend – einen Privatbereich (privacy) und einen Öffentlichkeitsbereich (etwa im Sinne des Habermas’schen Öffentlichkeitsbegriffs) unterscheide. Für den Privatbereich ist seit der Zeit, von der an überhaupt sinnvoll zwischen Privatheit und Öffentlichkeit zu unterscheiden ist, also seit dem 17./18. Jahrhundert, eine bemerkenswerte Vergessenstoleranz zu verzeichnen. Als einer der ersten 24 ist der französische Moralist La Rochefoucauld (17. Jahrhundert) auf diesen Sachverhalt aufmerksam geworden, als er die Maxime formulierte: „Alle Leute klagen über ihr schlechtes Gedächtnis, niemand über seinen schlechten Verstand“. Es scheint nunmehr anders als in früheren Zeiten dem gesellschaftlichen Prestige nicht mehr abträglich zu sein, vieles zu vergessen oder vergessen zu haben. Wer vergeßlich ist, braucht wenigstens nicht zu fürchten, ein Pedant genannt zu werden. Ein anderer Moralist, wenn ich noch einmal einen französischen Gewährsmann, diesmal aus dem 20. Jahrhundert zitieren darf, Eduard Herriot, hat das mit dem Satz bestätigt: „Kultur ist das, was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat“. Im privaten Leben ein bißchen vergeßlich zu sein, macht also eher einen angenehmen und sympathischen Eindruck. Man fürchtet mehr denjenigen, der nichts vergißt. So können wir also in unserem Privatleben auch weiterhin unsere Schlüssel, Schirme und pin numbers vergessen; damit geben wir nur eine liebenswürdige Schwäche zu erkennen, die von unserer Umwelt vorwiegend anekdotisch zur Kenntnis genommen und freundlich belächelt wird. Als Indikator für das nur leichte Manko des Vergessens im privaten Leben kann weiterhin die linguistische Tatsache genommen werden, daß sich seit den 70er Jahren im deutschen Sprachge- Harald Weinrich brauch die Redensart „das kannst du vergessen“ (nach englisch-amerikanischem Muster: forget it, forget about it) sehr rasch ausgebreitet und alltagssprachlich eine hohe Frequenz angenommen hat. Sie drückt in der Regel einen im Ton der Erleichterung ausgesprochenen, meistens privatistischen Ratschlag aus, wie man einen Gedächtnisinhalt, dessen Bewahrung mit einer bestimmten Anstrengung verbunden ist, leicht aus dem Bewußtsein abdrängen kann. Freud kannte diese Redensart noch nicht. Aber er, der sich nur mit Privatpatienten zu beschäftigen hatte, wußte sehr wohl und bemerkte als erster, wie eine streng erzogene Ich-Instanz, von Unlust bedroht, unliebsame Gedächtnisinhalte ohne Umstände ins Unbewußte „verdrängen“, das heißt, vergessen machen kann. Doch halt, nur für das Bewußtsein sind diese Inhalte vergessen; im Unbewußten behalten und verstärken sie ihre Kraft und setzen mit ihren pathogenen Folgen dem Leib und der Seele aufs schlimmste zu. Es war Freuds große Entdeckung, daß jenes Verdrängt-Vergessene in seinen Krankheitsfolgen nicht durch bloße Abschwächung zu heilen ist, sondern nur durch eine bewußte Wiederaufnahme des psychi‚Alle Leute schen Prozesses in klagen über zweiter Instanz befrieihr schlechtes det werden kann. Da Gedächtnis, sich die Psychoanalyse, niemand die solche Vergessensüber seinen schäden zu beheben schlechten verspricht, seit Freuds Verstand.‘ Tagen eine geachtete Stellung in der Welt verschafft hat, ist nicht zu erwarten, daß die Menschen aufhören werden, Unliebsames, Peinliches und Schuldhaftes aus ihren Seelen zu verdrängen, was dann am Ende ein ungutes oder mit psychoanalytischer Hilfe doch noch ein gutes Ende nimmt. Ganz privat, nebenbei gesagt, ist diese Sache nicht einzuschätzen. Gesellschaftliches wirkt in allen Phasen auf die psychischen Prozesse des Individuums ein. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß die Freud’schen Patienten in der Regel Patientinnen waren. Für den Bereich der Privatheit gilt nämlich, von der Forschung wenig beachtet, daß Frauen anders vergessen als Männer, wenigstens insoweit noch die traditionelle Rollenverteilung gilt, derzufolge Frauen sich durch ihr häusliches Leben zu definieren haben, wäh- rend Männer durch ihren Beruf an die Öffentlichkeit angeschlossen sind: In ihr gibt es Aufgaben und Pflichten, die von den Männern nicht vergessen werden dürfen. Daheim dürfen sie dann wohl vergessen, zum Beispiel – wiederum anekdotisch – den Hochzeitstag, während Frauen hingegen zur großen Überraschung ihrer Männer, „nie etwas vergessen“. Sehr kurz streifen möchte ich an dieser Stelle noch, bevor ich das private Vergessen verlasse, die an anderer Stelle dieses Colloquiums zu besprechende Tatsache, daß die Diktaturen des 20. Jahrhunderts die erheblichen Vergessenstoleranzen des privaten Lebens für ihre finsteren Zwecke zu nutzen wußten. In ihren Geheimgedächtnissen (Gestapo, GPU, Stasi) ist das Privateste zu erpresserischen Zwecken registriert und unvergessen gemacht, so daß es bei passender Gelegenheit nach dem Gutdünken dieser Nicht-Vergesser an die Öffentlichkeit gebracht werden kann. Für das öffentliche Vergessen, das nun betrachtet werden soll, wollen wir eine Reihe von historischen Zeugnissen aufrufen, als erstes die Ereignisse der Französischen Revolution. Diese große Revolution war für die französische Nation unter anderem deshalb ein Ereignis von größter Tragweite, weil sie in einem bis dahin unbekannten Ausmaß mit einem Gedächtnisexperiment verbunden war. Ein radikaler Gedächtnissturz beseitigte in kürzester Zeit alle Merkzeichen des Ancien Régime: die traditionsreichen Gedächtnisorte und Geschichtslandschaften, den julianisch-gregorianischen Kalender und die Rituale der zeremoniellen Höflichkeit. Das Vergessen war nun die erste Pflicht des citoyen und der citoyenne. Diese Vergessenspolitik ging weit über die seit der Antike bekannte damnatio memoriae einzelner „Unpersonen“ hinaus und verordnete einer ganzen Nation ein öffentliches Vergessen, das den Platz freimachen sollte für ein neues, republikanisches Gedächtnis. Es steht uns Heutigen nicht an, dieses historische Experiment politisch oder moralisch zu bewerten. Vieles offiziell Vergessene wurde ja bald wiederbelebt, so der alte Kalender. Andere, wie zum Beispiel die historisch gewachsenen „Regionen“ gerieten durch die neu eingeführten „départements“ für lange Zeit in politische Vergessenheit. Für unsere Überlegungen ist vor allen Dingen relevant, daß die Akteure der Französischen Revolution in großem Stil den Versuch unternommen haben, mit dem öffentlichen Vergessen politische Geschichte zu machen. 25 Beiträge Harald Weinrich Ich erörtere nun noch einige weitere Formen des historisch belegten öffentlichen Vergessens, wobei jeweils außer der politischen Intention auch die juristische Verfaßtheit zu beachten ist. Es handelt sich um Amnestie, Verjährung und Begnadigung. Von der Begnadigung soll hier nur kurz die Rede sein. Sie hat heute eine wesentlich geringere Bedeutung als in früheren Zeiten, in denen ihre Verwirklichung der Milde (clementia) eines von Gottes Gnaden herrschenden Souveräns anheim Gottesdienst in Nairobi, Kenia „Darf auch das Vergessen, sofern bestimmte Bedingungen [...] erfüllt sind, christlich genannt werden?“ gegeben war. Von ihm konnte eine gerechte oder ungerechte Strafe mit oder ohne Begründung gemildert und „gnädig“ vergessen werden. Aus diesen knappen Hinweisen ist jedoch schon ersichtlich, daß mit den juristischen Formen der Begnadigung im Grunde schon das ganze Problem des „gnädigen Vergessens“ (Saul Bellow: merciful forgetting) angesprochen ist. Im deutschen und englischen Sprachraum hat es eine besondere, durch Alliteration markierte Rechtsformel hervorgebracht: „Vergeben und Vergessen, forgiving and forgetting“. Für Christen ist dieses Begriffspaar mit der Person Jesu verbunden, der ohne „christliches“ Vergeben nicht vorstellbar ist. Darf auch das Vergessen, sofern bestimmte Bedin26 gungen (Reue, Beichte, Buße) entweder katholisch-öffentlich oder protestantisch-privat erfüllt sind, christlich genannt werden? Das ist eine Frage, die uns sehr beschäftigen müßte, wenn wir noch Christen wären, wie Jesus von Nazareth sie sich erwünscht hat. Eine weitere Form des öffentlichen und öffentlich geregelten (und in diesem Sinne „offiziellen“) Vergessens ist die Verjährung (praescriptio). Bei der Verjährung werden, unterschiedlich nach den verschiedenen Rechtssystemen und jeweiligen strafrechtlichen Delikten, bestimmte Fristen gesetzt, nach deren Ablauf die Strafverfolgung zu unterbleiben hat. Für die Justiz kann somit ein strafbares Delikt, ohne dadurch seinen Unrechtscharakter einzubüßen, von heute auf morgen „in Vergessenheit gestellt“ werden, wie die alte Rechtssprache zu sagen pflegte. Selbst eine schwere Bluttat ist prinzipiell von einer möglichen Verjährung nicht ausgeschlossen. Warum gibt es nun, gegen alles Gefühl von Recht und Unrecht, eine solche Vergessens-Verfügung? Es gibt sie, weil auch die Justiz weiß, daß der Mensch ein vergeßliches Lebewesen ist. Da nun für jedes gerechte Urteil Beweismittel gebraucht werden, sind verläßliche Zeugenaussagen kaum entbehrlich. Wenn aber das Gedächtnis der Zeugen versagt, weil seit der Tat zuviel Zeit verstrichen ist (sagen wir: weil zuviel Wasser durch den Lethestrom geflossen ist), dann ist es besser, daß ein Schuldiger nicht bestraft, als daß ein Unschuldiger bestraft wird. Eine dritte und politisch besonders folgenreiche Form des öffentlich verfügten Vergessens ist die Amnestie, bei der schon sprachlich zu beachten ist, daß das griechische Wort „amnestia“ nichts anderes bedeutet als Vergessen. Es wird daher in der lateinischen Rechtssprache auch oft in synonymischer Verbindung mit oblivio gebraucht. Die Amnestie ist dem Staats- und Strafrecht seit dem Jahr 403 v. Chr. bekannt, als der athenische Staatsmann Thrasybulos nach seinem Sieg über die Tyrannis der dreißig Oligarchen keine Siegerjustiz übte und statt dessen für beide Parteien des Bürgerkrieges ein Nicht-Erinnern des gegenseitig zugefügten Unrechts verordnete. Es wurde sogar die Todesstrafe denjenigen Personen angedroht, die diesem öffentlichen Vergessensgebot zuwider handelten. Seit frühgriechischer Zeit ist Harald Weinrich also der Gedanke in der Welt, daß es in einer gegebenen Situation „um des lieben Friedens willen“ politisch geboten sein kann, begangenes Unrecht nicht fallweise zu bestrafen, sondern es kurzerhand zu vergessen. Die Geschichte lehrt, daß der Gedanke einer politischen Amnestie besonders oft nach Bürgerkriegen und Religionskriegen aufgekommen ist. So hat beispielsweise Cicero zwei Tage nach der Ermordung Cäsars noch einen Gesetzesentwurf eingebracht, der eine „Zerstörung jeglicher Erinnerung an die Zwietrachten durch ewiges Vergessen“ (oblivio sempiterna) zum Inhalt hatte. Auf diese Weise sollte dem drohenden Bürgerkrieg noch einmal Einhalt geboten werden – vergeblich. Ebenso wurde nach dem Dreißigjährigen Krieg, der in mancher Hinsicht sowohl ein Bürgerkrieg als auch ein Religionskrieg war, schon im zweiten Artikel des Westfälischen Friedens „ewige Vergessenheit und Amnestie“ (perpetua oblivio et amnestia) verfügt – ob mit oder ohne Erfolg, will ich dahingestellt sein lassen. Jedenfalls konnte noch Kant sich einen Friedensvertrag ohne Amnestiebestimmungen nicht vorstellen. Auch in neuerer und neuester Zeit hat es in verschiedenen Staaten politische Generalamnestien als öffentlich verordnetes Vergessen gegeben, in Frankreich beispielsweise nach den Wirren und Verwerfungen der Pariser Kommune, des Dreyfus-Prozesses und des Algerienkrieges. Ob allerdings die Wunden, die bei Konflikten dieser Art geschlagen werden, durch öffentlich verordnetes Vergessen schneller und besser geheilt werden können, als es durch die vergessensspendende Zeit ohnehin geschieht, ist eine bei Politikern und Juristen heftig umstrittene Frage, die auch hier aufs neue dem öffentlichen Nachdenken anempfohlen wird. Ausgeschlossen von jeder Begnadigung, Verjährung oder Amnestie sind im deutschen und internationalen Strafrecht alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie sie erstmalig in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und dann in der sogenannten „Verjährungsdebatte“ des Deutschen Bundestags vom 16.07.1979 als schwerste und durch kein Vergessen abzuschwächende Verbrechen definiert worden sind. Gemeint sind in erster Linie die Verbrechen, die mit den Schreckenswörtern Auschwitz, Holocaust oder Shoah bezeichnet werden, die also bei der Verwirklichung des planmäßigen Völkermords an sechs Millionen europäischen Juden sowie anderen Kollektivopfern der Nazidiktatur begangen worden sind. Keinerlei Form des öffentlich verordneten Vergessens ist hier je vorstellbar. Es kann vielmehr in der Bundesrepublik Deutschland als gesellschaftlicher Konsens gelten, daß keine Anstrengung zu groß ist, um die Verbrechen, Schrecken und Leiden dieses Völkermords dem öffentlichen Vergessen zu entziehen. Im Gegensatz zu den vorher besprochenen Formen des öffentlich verordneten Vergessens gilt hier also, und zwar ohne jede erkennbare Einschränkung, ein öffentliches Vergessensverbot. Über dessen Charakter wird jedoch öffentlich und privat zu wenig nachgedacht, was wohl nur als Wirkung eines unausgesprochenen Tabus zu erklären ist. Mit der pauschalen Maxime „Wider das Vergessen“ ist es nämlich nicht getan. Ist denn überhaupt klar, ob das öffentliche oder das private Vergessen gemeint ist, oder beide? Und wenn beide gemeint sein sollen, wie können dann in dem einen und in dem anderen Bereich die Sanktionen beschaffen sein, die für hartnäckige Vergesser vorgesehen sind? Sicher scheint mir zu sein, daß pri- „Für die Justiz k a n n e i n s t r a fbares Delikt, von heute auf m o r g e n ‚ i n V e r g e ssenheit gestellt‘ werden.“ Haftanstalt Preungesheim, Frankfurt am Main 27 Beiträge Harald Weinrich vates Vergessen nicht mit öffentlichen Sanktionen, öffentliches Vergessen nicht mit privaten Sanktionen beantwortet werden kann. Viele Fragen sind also noch offen bei der Maxime „Wider das Vergessen“, deren doppelte Negation ja auch nicht zu erkennen gibt, für welches Gedächtnis oder welche Erinnerung sie sich genau ausspricht. Ich meinerseits halte es für sehr wichtig, daß hier außer der dem Privaten nahestehenden Erinnerung immer auch das der Öffentlichkeit nahestehende Gedächtnis angesprochen wird. Diese und manche anderen Unklarheiten hängen sicher damit zusammen, daß die Geschichte, anders als beim vorher erörterten verordneten Vergessen für das verbotene (oder verwehrte? verfemte? verpönte?) Vergessen keine erprobten und bewährten Handlungsund Unterlassungsmuster zur Verfügung stellt – außer vielleicht in Form jenes unbedingten Vergessensverbots, das die jüdisch-christliche Religionsgeschichte für den „ewigen“ Gedächtnisbund mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs kennt und geradezu obsessiv eingeprägt hat. Aber ist es denn Religion, was uns das Vergessen der Shoah verwehrt, oder doch Recht, Moral und Politik? So läßt die fast allgemein anerkannte Maxime „Wider das Vergessen“ auch gemeinhin die konkreten Verhaltensregeln vermissen, wie sie in der nüchternen Sprache der Juristen „Ausführungsbestimmungen“ genannt werden. Diese müßten, wenn es sie gäbe, vor allem der Freud’schen oder postfreudianischen Erkenntnis Rechnung tragen, daß ein Vergessensverbot, das mit Empfindungen von Schuld, Scham und Schande einhergeht, nicht leicht einzuhalten ist, zumal über Generationsgrenzen hinweg, an denen sich das Vergessen besonders leicht einnistet. Ein öffentliches Vergessensverbot muß auch privat akzeptiert und von vielen Individuen mitgetragen werden. Und das alles soll in einer Gesellschaft verwirklicht werden, die sonst von fröhlichen Rufen „das kannst du vergessen – forget it“ widerhallt. Da muß nun sorgfältig und mit Verantwortung überlegt, gezeigt und gesagt werden, wie die vielen sorglosen Vergesser – Männer und Frauen können es heutzutage sein – für einmal zum Nicht-Vergessen gebracht werden können. Da muß man ihnen – also uns – doch Ratschläge geben, wie dies gegen alle permissive Vergeßlichkeit vollbracht werden kann. Ohne sanfte Überredung geht das alles wohl nicht. Mit einem Polizeigriff läßt sich das Vergessen jedenfalls nicht in die Knie zwingen. Es ist nämlich selber listig, 28 hintersinnig, eigenwillig und bisweilen, wie wir von Freud wissen, tückisch. Daraus folgt, wie mir scheint, daß derjenige, der dem Vergessen dauerhaft widerstehen will, mit dem Gedächtnis verhandeln muß, zäh, wie bei einer Tarifverhandlung und bisweilen nachgiebig, wie bei einem Friedensvertrag. Es ist dann bei solchen Verhandlungen gut zu wissen, daß die Nicht-Vergesser, wenn sie mit dem Gedächtnis gute Konditionen aushandeln wollen, einige Verbündete an ihrer Seite haben. An erster Stelle ist als ihr Verbündeter die Geschichtswissenschaft zu nennen. Historia ist zwar nicht das gleiche wie Memoria, und die Geschichtsschreibung ist nur – aber das ist viel – eine Mnemotechnik unter mehreren anderen. Dem Vergessen ist folglich nicht mit den Anstrengungen der Historiker allein zu widerstehen. Doch sind sie verläßliche Partner des kulturellen Gedächtnisses, unter der Voraussetzung allerdings, daß sie selber eine gedächtnisfreundliche, in Klarschrift: eine narrative Historiographie betreiben. Als zweiten Verbündeten nenne ich die Kunst, vor allem in Gestalt der Literatur. Sie schlägt die tragfähigste Brücke zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Zum Beispiel Primo Levi und sein Auschwitz-Bericht „Ist das ein Mensch?“. Zum Beispiel Jurek Becker und sein Getto-Roman „Jakob der Lügner“. Zum Beispiel Heine, Börne, Feuchtwanger. Deren Bücher können wir dann auch bei uns tragen, wenn wir in Zukunft das Berliner HolocaustMahnmal besuchen werden. Sie lesend, erfahren wir am besten, wie dort und andernorts dem Vergessen am dauerhaftesten zu widerstehen ist. J „Wer dem Vergessen dauerhaft widerstehen will, muß mit dem Gedächtnis verhandeln, zäh, wie bei einer Tarifverhandlung und bisweilen nachgiebig, wie bei einem Friedensvertrag.“ Hessische Landesbibliothek Wiesbaden Beiträge Abendveranstaltung anlässlich des 13. Sinclair-Haus Gespräches Wladyslaw Bartoszewski Historia magistra vitae – Politiker und Geschichte Natürlich ist es für mich eine Ehre und eine Freude hier zu sein und mit Ihnen sprechen zu können. Eigentlich war ich mir nicht ganz sicher, in welcher Eigenschaft ich eingeladen bin: als Politiker, als Historiker, als Zeitzeuge, als ehemaliger Minister, als jetziger Senator oder als in Deutschland relativ bekannter Publizist. So sind es verschiedene Gründe, dass ich hier bei Ihnen bin. Als Politiker fühle ich mich nie sehr gut. Ich wurde spät in meinem Leben Politiker, als ich schon fast siebzig war. Vorher habe ich mich aber theoretisch sehr für Politik, für die Geschichte der Politik und besonders für Diplomatie und Außenpolitik in unserem Jahrhundert interessiert und war ihr Zeitzeuge. Dabei war 30 ich Gegenstand oder Opfer der Politik. Und das war ich längere Zeit, ab meinem 17. Lebensjahr im Jahre 1939 bis 1989. Als ich 16 Jahre alt war, hat der sogenannte Anschluss Österreichs stattgefunden. Als ich mich auf mein Abitur vorbereitete, kam es im Dritten Reich zum Münchner Abkommen und der Pogromnacht vom November 1938. Zwei Monate vor meinem Abitur hat man die Tschechoslowakei liquidiert, einen faschistischen Staat Slowakei und das Protektorat Böhmen und Mähren geschaffen. Hitlers Ankündigung der politischen Konfrontation gegenüber Polen erfolgte am 28. April 1939 über den Rundfunk. Das erlebte ich genau zwei Wochen vor meiner schriftlichen Abiturprüfung in deutscher Literatur zu Lessings Minna von Barnhelm. Der Hitler’sche Lessing unterschied sich deutlich von meiner Weltsicht, auch meiner Sicht Deutschlands... Danach kam der Krieg mit allen Besonderheiten, mit der Erfahrung von Auschwitz, des Widerstandes, menschlicher Solidarität und den Aktivitäten zu Gunsten der betroffenen Menschen. Nach dem Krieg hat man mich dafür reichlich „belohnt“. Die neue polnische Volksrepublik, quasi die DDR an der Weichsel, hat 31 Beiträge Wladyslaw Bartoszewski mich für sechseinhalb Jahre hinter Gitter gesperrt. Dann habe ich erfahren, dass ich ein einfacher „Imperialist“ und „Spion“ bin und überhaupt kein polnischer Patriot. Denn polnische Patrioten waren allein diejenigen, die aus Moskau mit dem Flugzeug gebracht wurden. Alle anderen waren natürlich keine Patrioten, sie waren Imperialisten oder Werkzeuge des Imperialismus. Jetzt komme ich in meiner Eigenschaft als Redner, der halbwegs Politiker, halbwegs Zeitzeuge, aber auch Zeithistoriker ist, zum heutigen Problem. Im Herbst 1986 ist in München ein Sammelband meiner Aufsätze und Reden zur Kriegs- und Nachkriegsgeschichte Polens unter dem Titel „Aus der Geschichte lernen?“ erschienen. Der Autor des Vorwortes, mein in Deutschland wohlbekannter Landsmann, Stanislaw Lem, hat am Ende seiner im Grundton pessimistischen Ausführungen bemerkt: „Der Autor des Buches, ein Pole, der Gefängnisse aller Art, alle Erscheinungsformen der Gewalt, die jede Äußerung der Freiheit oder nur das Streben nach ihr im Keim erstickt, kennengelernt hat, hat zwar sowohl seinen Glauben als auch seine Überzeugung von einer besseren zukünftigen Welt bewahrt, in der Polen und Deutschland gleichberechtigte Plätze einnehmen. Doch der Schatten des Zweifels, der ihn insgeheim quält, kam in dem Fragezeichen zum Ausdruck, das er hinter den Titel des Buches gesetzt hat. ‚Aus der Geschichte lernen?‘.“ Zehn historisch für Europa schwerwiegende Jahre sind inzwischen vorüber. Diese Jahre brachten uns neue, damals nicht vorhersehbare Ereignisse. Die Frage, ob die Geschichte eine „Magistra vitae“ ist oder „non“ ist, beschäftigte und beschäftigt aber weiterhin nicht nur Historiker, sondern alle, die sich reflektierend sowohl für die Zukunft der eigenen Familie als auch für die Zukunft ihres Volkes, vielleicht sogar der Menschheit mitverantwortlich fühlen. Das betrifft oder sollte auch die Politiker betreffen. Eine eindeutige und endgültige Antwort auf diese Frage gibt es jedoch nicht, und kann es wohl auch nicht geben. Die Wiederholbarkeit oder Unwiederholbarkeit historischer Ereignisse ist ein ganz anderes Problem, das dennoch eng mit der Bewertung der Geschichte als einer Lehrmeisterin oder mit der Ablehnung dieser Funktion der Geschichte verknüpft ist. Dieses hängt davon ab, ob im Bewusstsein „In keinem einzelner Persönlichkeiten, aber auch von nationalen Land gibt es oder gesellschaftlichen Gruppen die Überzeugung nichts zu vorherrscht, dass die Geschichte einen Einfluss auf die verdrängen Entscheidung hat, welcher Weg für die Gegenwart und und nichts die Zukunft einzuschlagen sei oder nicht. Die Existenz zu vergessen, eines historischen Bewusstseins ist jedoch ein unbeund kein Volk strittenes Phänomen. Wenngleich es nicht in jeder Zeit besteht nur aus und in jeder Gesellschaft in gleicher Weise gestaltet ist den besten und zum Ausdruck kommt, kann man dennoch das Menschen.“ Interesse an den Traditionen der engeren Heimat, der Nation und des Staates als ein dauerhaftes, allgemeines und besonders in historisch schwierigen Zeiten häufig auftretendes Phänomen beobachten. Vereinfachend könnte man hier die Behauptung wagen, dass die Mächtigen, Einflussreichen und Wohlhabenden weit geringere Neigungen zu historischen Reflexionen haben als Schwache, Bedrohte, Unterdrückte oder moralisch besonders Empfindliche, die sich über die Lage der eigenen Nation und Gesellschaft Gedanken machen. Diese Behauptung findet vielfache Bestätigung in der neuen europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. 32 Wladyslaw Bartoszewski Eine sehr charakteristische Eigenschaft eines historischen Bewusstseins, das sich auf die Vergangenheit beruft, ist die Neigung, eigene Erfolge und Errungenschaften hervorzuheben und die Rolle hervorragender, im politischen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Leben besonders verdienter Persönlichkeiten zu betonen. Diese Neigung ist übernational, tritt allerorts auf und ist psychologisch erklärbar. Eine der Gefahren besteht darin, dass zweifelhafte Kriterien bei der Beurteilung der Erfolge oder der Bedeutung herausragender Persönlichkeiten angewandt werden. Eine andere, ebenfalls übernationale und relativ weit verbreitete Gefahr ist der Wunsch, niederträchtige oder auch nur falsche oder moralisch bedenkliche Tendenzen, Erscheinungen, Fakten und Handlungen im historischen Prozess zu übersehen, insbesondere, wenn es um die Geschicke des eigenen Volkes und Staates geht. Diese Neigung, die eigene Geschichte zu schönen oder die Überlieferung falsch und tendenziös auszuwählen, ist ein Zeichen von nationalem Egoismus, der dem Chauvinismus gleichzustellen ist. Dahinter verbirgt sich aber auch ein Mangel an Mut, negative Erscheinungen, Handlungsweisen und Tendenzen kritisch zu betrachten. Dabei gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass erst die Anerkennung ihrer Existenz und die Auseinandersetzung damit, die Lichtblicke in der Geschichte besonders hervortreten lässt. Die Lichtblicke, in denen eine unbeugsame Haltung und tatkräftige Handlungsweise von Menschen zum Tragen kommt, die mit einem besonders sensiblen Gewissen den Mut haben, sich dem Unheil sowohl aus moralischer Überzeugung als auch aus einer wohlverstandenen Sorge um die Interessen des eigenen Volkes zu widersetzen. Eine kritische Haltung, die einer echten Verbundenheit mit der Gemeinschaft entspricht, ist auch Ausdruck des Verantwortungsbewusstseins des einzelnen Menschen für das Wohlergehen der ihm besonders nahe stehenden Menschen oder Gruppen. Sie ist somit die Haltung des Menschen, der freiwillig die Mitverantwortung für das Überwinden des Unheils auf sich nimmt, das er zwar nicht persönlich verschuldet hat, demgegenüber er aber nicht gleichgültig bleiben kann. Das sind einige allgemeine Überlegungen, die ebenso gut Polen, wie Franzosen und Deutsche betreffen, denn in keinem Lande tragen alle Menschen eine weiße Weste. Und in keinem Land gibt es nichts zu verdrängen und nichts zu vergessen, und kein Volk besteht nur aus den besten Menschen. In jedem Volk gibt es im Durchschnitt einige Prozente Schurken und Banditen, einige Prozente Heilige und hohe Geister und mehrere Prozente gleichgültige Menschen. Dies sind einfach Menschen, die schwächer als die anderen sind. Und das ist auch normal und in Ordnung. In jeder Epoche und in jedem Land war und ist das so. Wenn mich jemand zum Beispiel fragt, wie es jetzt mit der Sicherheit in Polen aussieht, dann sage ich, so wie in 33 Beiträge Wladyslaw Bartoszewski Chicago Anfang des Jahrhunderts ist es noch nicht. Wir werden versuchen, diesen Errungenschaften der hohen Zivilisation vorzubeugen. Es ist aber auch noch nicht so, wie ich es möchte. Bei jedem Umbau, bei jeder Umwandlung kommen in einem Land oft die „Starken“ ganz nach oben, nicht unbedingt die Moralischen und Guterzogenen, sondern eher die Halunken und Gauner. Ich habe nicht die Absicht, heute über Politiker der Art von Metternich, Aristide Briand oder Stresemann zu reden, die natürlich eine bedeutende Rolle in der europäischen Geschichte gespielt haben oder gewisse Visionen realisieren wollten, wie z.B. Briand oder Stresemann. Visionen, die sich jetzt bei der europäischen Integration auf ihre Weise umgestaltet weiterentwickeln und vielleicht in Europa in absehbarer Zeit zu Stande kommen werden. Ich weiß natürlich nicht, inwieweit diese Politiker historisch ausgebildet waren. Das könnte man sicher wissenschaftlich untersuchen, was ich aber nie getan habe. Das Verhalten der Herren Chamberlain und Daladier dagegen im Jahre 1938 im Namen der zwei großen Demokratien, der damals bedeutendsten Staaten Europas, spricht nicht für deren Empfindlichkeit, wenn es um geschichtliche Erfahrungen Europas ging. Was Roosevelt und Churchill uns, uns allen in Mittel- und Osteuropa, im Jahr 1945 angetan haben, überzeugt mich auch nicht, obwohl Churchill sicher besser als Roosevelt historisch ausgebildet war. Trotzdem bin ich nicht überzeugt, dass die beiden Herren sehr sensibel bezüglich historischer Gegebenheiten waren. Wären sie sensibler gewesen, hätten sie diese Welt nicht so eingerichtet. So blieb Joseph Stalin (als der bestens ausgebildete Historiker) ganz oben, der zugleich am besten wusste, wo die Grenzen des Möglichen, die Schwächen der menschlichen Natur liegen und wie man den Menschen am besten erpressen kann. Das ist ein Erbe der alten russischen Geschichte, nicht nur der kommunistischen. Erfahrungen dieser Art gab es schon Anfang des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert. Praktische Beispiele von Politikern, die in den letzten Jahrzehnten über Außenpolitik und das Schicksal von „Es ist doch Millionen Entscheidungen getroffen haben, waren nicht nicht möglich, sehr ermunternd. Natürlich wissen wir alle, dass Diktatogleichgültig ren und Henker wie Himmler und Berija Schandflecke zu bleiben, der Gesellschaft waren. Wir werden keine Zeit verlieren, wenn ein indem wir über diese Personen oder ähnliche in Asien, kleines Volk Afrika und überall in der Welt reden. Aber inwieweit haunter dem ben Politiker, Außenpolitiker, Staatsoberhäupter, MinisterVorwand, man präsidenten und Außenminister aus der neuesten Gebekämpfe nur schichte Europas gelernt? Nach der Wende 1989/90, die die Terroristen, durch die extreme Schwäche der Sowjetunion, durch den bombardiert starken Freiheitswillen der Polen, der Ungarn, durch die und ausgerottet Aktivitäten der meist christlich gesinnten Opposition in wird.“ der DDR möglich wurde, war ich sehr optimistisch. Weil ich kein Berufspolitiker, sondern nur ein bescheidener Gastprofessor in Bayern war, habe ich naiv gedacht, dass es nun schneller besser gehen wird. 1991 musste ich als Botschafter meiner Republik in Wien den Ausbruch des Konfliktes in Jugoslawien und alles, was danach folgte, miterleben. Die erste Flüchtlingswelle kam nach Österreich. Die ersten Folgen waren in den Grenzgebieten Österreichs und Italiens zu Jugoslawien spürbar. Das war für mich sofort eine bittere Lehre. Meine Freunde in Österreich, meist 34 Wladyslaw Bartoszewski Demonstration vor dem Präsidentenpalast in Grosny, Tschetschenien 1996 christliche Politiker, auch namhafte Bischöfe, Philosophen und Geschichtsprofessoren waren alle sehr betroffen und haben kaum Worte gefunden, um irgendwelche Rezepte für die weitere Entwicklung zu geben. Ich fühle mich eng mit dem Staat Israel verbunden. Ich bin sogar Ehrenbürger des Staates und Präsident der polnisch-israelischen Gesellschaft in Polen und besuche dieses Land ein paar Mal im Jahr. Ich mache mir Sorgen, wenn dort etwas schief geht, fast genauso, wie ich mich um Polen sorge. Wenn ein israelischer Politiker Fehler begeht, berührt mich das fast so, als wenn ein polnischer Politiker Fehler begangen hätte. Natürlich gibt es im Nahen Osten Probleme, und lange Zeit hat die Menschheit dort versagt, ehe Amerika einiges in Bewegung gesetzt hat. Es gibt weiter Probleme in Asien, in mehreren asiatischen Ländern, in Afrika und leider auch in Europa. Denn die Balkangeschichte ist noch nicht zu Ende. Und niemand von uns weiß, wie sie zu Ende kommen wird. Ich habe vor kurzer Zeit die Möglichkeit gehabt, in Berlin mit Hans Koschnick zu sprechen, der ein erfahrener, gescheiter, anständiger und empfindsamer Mensch ist und vor kurzem noch EU-Beauftragter für diese Region war. Er machte sich große Sorgen, dass die Konflikte kein Ende nehmen werden. Es ist doch ein offenes Geheimnis, dass diese Probleme nicht nur Politiker, sondern auch viele Intellektuelle beschäftigen. Inwieweit haben die Menschen auf dem Balkan aus der Geschichte des Raumes gelernt? Aus der Geschichte 1914 und danach aus der Geschichte Jugoslawiens, aus der Geschichte des Zerfalls seit 1991? Es gibt einige Staaten wie Slowenien, die sich 35 Beiträge Wladyslaw Bartoszewski etabliert haben. Andere gibt es auf der Landkarte und in den Vereinten Nationen. Mir scheint, die Fähigkeit oder die Unfähigkeit, Schlussfolgerungen aus den möglichen vorliegenden Erfahrungen der neuesten Geschichte zu ziehen, sind sehr begrenzt, weil materielle Ansprüche, wirtschaftliche Elemente des Lebens, die weltweite Konkurrenz innerhalb der Wirtschaft vor allen anderen Elementen Vorrang haben. Dem russischen Volk wünsche ich z.B. das Allerbeste. Aber ich wünsche mir nicht, dass die Politiker dort weiter Unfug machen. Sie arbeiten mit schlimmsten Methoden gegen Menschen. Es ist doch nicht möglich, gleichgültig zu bleiben, wenn ein kleines Volk unter dem Vorwand, man bekämpfe nur die Terroristen, bombardiert und ausgerottet wird. Wir alle haben es doch erlebt – die Deutschen, die in der DDR gelebt haben, die Polen in der polnischen Volksrepublik, die Tschechoslowaken, die Ungarn, Bulgaren, Rumänen, Litauer, Letten und Esten. Alles, was gegen das Imperium war, war imperialistisch, menschenfeindlich und suspekt. Diese Worte und diese Kosovo-Flüchtlinge in Tetovo, Mazedonien 1999 Begriffe kennen wir sehr gut. Sie wirken schon nicht mehr auf diejenigen, die fünfundvierzig Jahre lang unter dem Druck eines Imperiums gelebt haben. Natürlich wollen wir gesunde, stabile Demokratien in allen Ländern Europas und der ganzen Welt. Aber die Stabilität dieser Demokratien ist unterschiedlich, wie z.B. die Entwicklungen in Weißrussland zeigen. Ich glaube, wir können mit der Stabilität einiger dieser Staaten in absehbarer Zeit rechnen, wie z.B. der kleinen baltischen Republiken. Und können auf die Stabilität anderer, bedeutenderer Länder, wie z.B. der Ukraine oder auch Weißrussland und Russland selbst hoffen. Denn wie mein Freund Joseph Rovan einmal gesagt hat, ist der kranke Elefant nicht die kranke Maus. Wir wünschen dem Elefanten keine Krankheit, sondern gute Gesundheit sowie demokratischen und wirtschaftlichen Erfolg und Stabilität. Das ist das Interesse Europas, und daran liegt allen. Aber ob Politiker dort in Russland, aus der Gorbatschow-Zeit, aus dem Putsch 1991 und den Erfahrungen anderer Staaten nichts gelernt haben? Ich weiß es nicht. Aber wir sehen momentan nicht, dass sie sehr viel gelernt haben. Hierfür fehlen 36 Wladyslaw Bartoszewski Beweise. Die freie Marktwirtschaft für einige Tausende Familien und Neureiche russischer Nationalität in Florida oder Monaco entscheidet doch nicht über ein Volk oder die Stabilität eines Landes oder einer Gesellschaft. Aber wir wünschen allen diese Stabilität. Es scheint meiner Meinung nach keinen besseren Weg für diejenigen, die Politik machen und besonders die Außenpolitik bestimmen, zu geben, als die Geschichte zu kennen. Im polnischen Fall gab es seit 1990 bis heute schon zwei Außenminister, die Berufshistoriker waren, einmal ich selbst und seit 1997 der jetzige Außenminister Professor Geremek. Bronislaw Geremek ist ein auch in Frankreich, England und Deutschland bekannter Historiker. Für ihn persönlich ergeben sich aus der historischen Dimension sowohl Pflichten als auch Perspektiven und Möglichkeiten. Denn die Geschichte besteht zwar aus Büchern, Dokumenten und geheimen Kanzleidokumenten, aber es gibt auch mündlich überlieferte Erfahrungen der letzten Generation. Bei uns gibt es ein einmaliges Phänomen: Bronislaw Geremek ist der einzige Außenminister in der Welt, der von Kinderjahren angefangen fast bis zu seinem 60. Lebensjahr Totalitarismus, Menschenhass und Menschenverachtung am eigenen Leib erfahren hat. Wenn Menschen mit Einfühlungsvermögen handeln, ist es unwichtig, welchen Glauben sie haben. Ob sie Katholiken, Protestanten, Methodisten, Orthodoxe oder Atheisten sind, ist zweitrangig, wenn sie über eine gewisse Sensibilität, eine gewisse Empfindlichkeit, eine gewisse historische Erfahrung oder mindestens das Bewusstsein der Bedeutung historischer Erfahrungen verfügen. Ich will hier ein diplomatisches Geheimnis lüften. Als Joschka Fischer zwei Tage nach seiner Vereidigung im “Inwieweit November 1998 nach Warschau kam – eine schöne haben die Geste des guten Willens – konnte er noch nichts sagen, Menschen auf da er erst seit 48 Stunden als Außenminister im Amt war. dem Balkan aus Er kam nach Warschau und sprach bei Außenminister der Geschichte Geremek vor. In dem Moment kam das Fernsehen zu des Raumes mir in den Senat und wollte von mir als Senator und gelernt?” Vorsitzenden des europäischen Ausschusses sofort einen Kommentar zu dem Besuch. Was konnte ich sagen? Ich wollte keinen Unfug machen und habe gesagt: „Meine Herren, warten Sie 15 Minuten“. Ich habe Geremek angerufen, er war Gott sei Dank noch in seinem Zimmer. Joschka Fischer war schon weg. Ich habe ihm gesagt: „Die Journalisten warten, sie wollen von mir etwas über den Besuch von Herrn Außenminister Fischer wissen, was soll ich sagen?“ In solchen Momenten geht es um Prestige, um das Image eines Staates, um Politik, da eine falsche Meldung, irgendeine unbedachte Äußerung sofort hochgespielt und pervertiert werden kann. Dann sagte mir Geremek: „Du wirst lachen, ich habe gerade mit ihm gesprochen, weißt du, und ich glaube ihm.“ Das genügte mir schon. Ich ging zu den Journalisten und sagte: „Meiner Meinung nach ist der neue deutsche Außenminister ein glaubwürdiger Mensch, der sich auf überzeugende Weise äußert, er ist guten Willens und will etwas bewegen, aber es ist natürlich noch zu früh, um nach wenigen Stunden in Warschau mehr zu sagen.“ Inwieweit das geschichtliche Bewusstsein in diesem konkreten Fall eine Rolle spielt, ist nicht meine Sache, sondern aktuelle Politik und kein Thema für mich. In der Nachkriegspolitik haben einige Politiker Gespür bewiesen, wie z.B. bei der „Allgemeinen Erklärung der Menschen- 37 Beiträge Wladyslaw Bartoszewski Stelen an der Gedenkstätte Treblinka, Polen rechte“ 1948 und auch bei der Vorbereitung der KSZE-Schlussakte in Helsinki im Juli 1975. Obwohl viele Menschen in Polen und woanders weiterhin in Gefängnissen und Lagern blieben, gab es durch die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ Grundsätze und Werte, die somit festgeschrieben waren und so eine gewisse Rolle spielten. Die Helsinki Schluss-Erklärung vom 1.8.1975 hat z.B. eine inspirierende Rolle für die Bürgerrechtsbewegung in Polen und in der Tschechoslowakei gespielt. Eine aktive Bewegung „Es scheint von Bürgerrechtlern, die einige kluge Entscheidungen mir keinen besvon Politikern beeinflusst haben, die ein wenig verstanseren Weg für den, was man in Europa 1945 getan hatte. diejenigen, die Politik machen, Ich bin der Meinung, dass die Erfahrungen des Totalizu geben, als tarismus und der autoritären Systeme in den einzelnen die Geschichte Ländern sehr unterschiedlich waren. Man darf doch zu kennen.“ Mussolini oder Salazar nicht mit Hitler vergleichen, obwohl jeweils genug Unglück passiert ist. Obwohl alles autoritäre Systeme waren, waren sie doch unterschiedlich. Man kann auch nicht irgendeinen verrückten Linkssozialisten mit Stalin vergleichen. In diesem Sinne gab es ganz unterschiedliche Formen, in denen die Begrenzung der menschlichen Freiheit und die Unterdrückung der Menschenwürde im 20. Jahrhundert stattfanden. Das jetzt ablaufende 20. Jahrhundert bleibt so in den Köpfen der Generation, die 38 Wladyslaw Bartoszewski noch die zweifelhafte Ehre hat weiterzuleben, bestehen. Es bleibt das Jahrhundert der Menschenunterdrückung, der Vernichtung ganzer Menschengruppen, des Totalitarismus und der autoritären Systeme. Denn es gab zwar Kriege in allen Jahrhunderten, aber nicht mit dem Ziel, ganze Völker zu vernichten. Es gab die Absicht, Armeen zu vernichten, Territorien zu erobern und sich materielle Vorteile zu verschaffen. Aber Säuglinge und Greise zu vernichten, wie bei der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“, war etwas noch nie Dagewesenes. In diesem Sinne ist dieses Jahrhundert ohnegleichen. Diese Erfahrung ist unvergleichbar, wir sind verpflichtet, die Lehre aus dieser Geschichte zu ziehen. Das ist keine beliebige Entscheidung. 1986 war ich Gastprofessor in Deutschland, aber ein Bürger der Volksrepublik Polen mit polnischem Pass in der Tasche. Ich habe in dem Jahr bei der Verleihung des Friedenspreises in Frankfurt am Main am 5. Oktober gesagt, was ich dachte und weiter denke: „Die Generation, der ich angehöre, hat mit eigenen Augen die Mauer und den Stacheldraht gesehen, die die Menschen trennten. Die Mauern des Gettos von Warschau und anderswo. Die Mauer, die jahrelang quer durch Jerusalem lief und die Mauer, die bis heute Berlin teilt. Es scheint das Wichtigste zu sein, all das zu unterstützen, was die Menschen verbindet und sich all dem zu widersetzen, was die Menschen gegen ihren Willen trennt.“ Mehr konnte ich nicht tun, als in einem Atemzug Hitler und Honecker zu nennen, die Mauer des Gettos und die Mauer von Berlin. Ich will nicht behaupten, Gorbatschow, der damals erst ein Jahr an der Macht war, habe das verstanden, aber er hat doch relativ viel verstanden und getan... Die Geschichte ist sehr lehrreich, sie bringt sehr bedeutende Beispiele auch der ganz einfachen Menschen „von unten“, ganz normaler Leute. Arbeiter, Ärzte, Beamte, Krankenschwestern, Professoren, wie ich damals auch einer war, können etwas in der Öffentlichkeit und im Bewusstsein der Menschen bewegen. Ich will glauben, dass „Historia magistra vitae“ sein kann, und ich will glauben, dass Politiker früher oder später hoffentlich mehr der Geschichte entnehmen werden, als sie es bisher taten. J Wolfgang R. Assmann, Wladyslaw Bartoszewski 39 Die Zukunft des Gewesenen: Ruinen des Tempels von Avdat, Israel Gegründet im 4. Jh. v. Chr., war die Stadt der Nabatäer in der Wüste Negev einst Handelszentrum und Stützpunkt an der „Gewürzstraße“. Beiträge Klaus-Dieter Lehmann Kulturelle Überlieferung und das kurze Gedächtnis der neuen Medien Wir haben uns bisher im Wesentlichen damit befasst, wie persönliches Erinnern, persönliches Vergessen entsteht, welche Möglichkeiten es beinhaltet, wo die Grenzen sind. Wir haben über falsches Vergessen, falsches Erinnern und verordnetes Erinnern gesprochen. Das sind alles Bereiche gewesen, die unmittelbar mit dem persönlichen Gedächtnis zu tun gehabt haben. Und es ist auch sehr deutlich geworden, dass das Erinnern, wenn es beispielsweise mehrere Generationen übergreifen soll, schon ein sehr schwieriger Prozess ist, weil die unmittelbare Erfahrung fehlt und weil die Art des Transfers, der die nächste Generation dann wirklich erreicht, sehr unterschiedlichen Konditionen unterliegt und zu ganz unterschiedlichen Bildern und Weitergaben von Informationen führt. Die Menschen haben sich sehr frühzeitig Gedanken gemacht und Instrumente geschaffen, um diesen Prozess der generationsübergreifenden Erinnerungen und auch die Möglichkeit, diesen „Wir haben große Komplex in seiner VielSchwierigkeiten, schichtigkeit zu erfasz e i t l i c h e E i n o r dsen, durch die Auslagenung wirklich rung des Gedächtnisses noch linear quasi zu erhalten. Ausin einer Achse lagerung des Gedächtzu leisten.“ nisses bedeutet, dass man es auf materielle Medien übertragen hat. Diese materiellen Medien werden im Wesentlichen gehalten von den Museen, von den Bibliotheken und von den Archiven. Insofern verfügen wir über ein ganz komple- 42 xes Geflecht, das sich in seiner Verschiedenartigkeit und Vielfalt in den Sammlungen anreichert und jeweils wieder von jeder Generation neu entdeckt und angeeignet werden muss. Es ist also nicht so, dass die Objekte, die dort versammelt sind, immer der gleichen Deutung unterliegen, sondern sie werden immer neu gedeutet. Aby Warburg spricht in diesem Zusammenhang von einem sozialen Erinnerungsorgan. Das bedeutet, man sieht in diesen Sammlungen letztlich nur wieder die Themen, die auch eine Gesellschaft unmittelbar angehen und von Bedeutung sind. Nun ist die Situation der Museen, Bibliotheken und Archive in der heutigen Zeit durch tiefgreifende Änderungen gekennzeichnet. Ich will zunächst einmal auf die Situation der Institutionen eingehen und hier vier Aspekte, vier Kriterien nennen, die sich beispielsweise gegenüber dem 19. Jahrhundert deutlich verändert haben. Das ist zunächst einmal der Begriff der Globalisierung. Globalisierung kennzeichnet eine Welt, die mit ihrer technischen Vernetzung und den kommunikativen Möglichkeiten dazu geführt hat, dass wir in einer Weise gleichzeitig Ereignisse in der Welt erleben, die vorher in dieser Form überhaupt nicht präsent waren. Wir waren früher in einer lokalen, wir waren in einer regionalen Umgebung eingebunden und haben die Erfahrungen deshalb auch sehr viel kollektiver gemacht, als es jetzt der Fall ist, wo wir quasi von Ort und Zeit unabhängig die gesamte globale Bilderflut und Informationsflut auf uns projiziert sehen. Diese Gleichzeitigkeit ist sicher ein Phänomen, das auf die Fragen Gedächtnis, Erinnern und Vergessen Auswirkung hat. Verschärft wird diese Intensität durch eine ständige Beschleunigung. Die Globalisierung führt zu einer Verstärkung der Wettbewerbssituation und damit zu der Beschleunigung. Letztlich sind diese Begriffe, die ich im Zusammenhang mit Globalisierung nenne, etwas, das uns als Zeitbegriff unmittelbar tangiert. Jeder von uns hat sicher seine Erinnerung aus der Kindheit oder Jugend, in der er Jahren oder Jahreszeiten Ereignisse zuordnen konnte, die in seinem unmittelbaren Umfeld passiert sind, und ich glaube, jedem von Ihnen geht es ebenfalls so, dass dies immer schwerer fällt, Zeugnisse der Maya-Hochkultur, Copán Ruínas, Honduras „Wenn wir die Dauerhaftigkeit von in Stein geschlagenen Hieroglyphen mit der Kurzlebigkeit von E-Mails vergleichen...“ weil die reale Umwelt, die virtuelle Umwelt und auch der Umfang an Informationen, der verarbeitet wird, dieses Zeitgefühl gar nicht mehr manifest machen. Wir haben große Schwierigkeiten, zeitliche Einordnung wirklich noch linear in einer Achse zu leisten. Das Zweite ist die Flüchtigkeit der Medien, die wir früher nicht kannten. Wenn Sie sich vorstellen, wie wir heutzutage die Information über Mesopotamien oder Ägypten verifizieren, indem wir die Dauerhaftigkeit von Hieroglyphen, die in Steine geschlagen sind, auswerten und vergleichen das mit der Kurzlebigkeit von E-Mails, die wir heutzutage durch die Welt schicken, dann wissen Sie, was ich mit medialer Flüchtigkeit meine. Das Fragile, das sehr schnell Verschwindende ist eine Entwicklung, die wir in dieser extremen Ausprägung bislang nicht kannten. Der dritte Bereich betrifft das Verschwinden der im 19. Jahrhundert als Bildungsbürgertum bezeichneten Gemeinsamkeit von kultureller und intellektueller Überlieferung. Das bedeutet, es wurde die Vermittlung von Information, die Erziehung, in einem ganz bestimmten Umfang determiniert. Mit diesem Erkennen und Wiedererkennen besaß man eine Leitlinie, eine Orientierung, die wir im 20. Jahrhundert verloren haben. Was das 21. Jahrhundert bringt, ist schwer zu sagen. Wenn wir aus dem 20. Jahrhundert lernen würden, würde ich sagen, wir kehren wieder zur Bildung zurück. Es ist nur eine andere Bildung, die sich alleine aus den neuen Randbedingungen ergeben wird. Es ist eine offene Bildung, die aus der unmittelbaren lokalen und regionalen Einbindung entsteht, aber auch mit den internationalen Entwicklungen gekoppelt ist. Insofern ist der Bildungsbegriff auch kein Bildungsbürgertum-Begriff, sondern es ist ein Begriff, der durch die offenen Gesellschaften definiert wird. 43 Beiträge Klaus-Dieter Lehmann Und der vierte Punkt, den ich nennen will, ist die Tatsache, dass wir heute immer mehr bei der Sicht auf gesellschaftliche Verhältnisse zunächst die Ökonomie betrachten und viel weniger die Kultur. Das ist ein Wandel, der sehr offensichtlich ist. Alles, was im Wettbewerb nicht bestehen kann, „ D i e L a n g z e i tverfügbarkeit ist ein wesentliches Kriterium für das Entstehen eines kulturellen Gedächtnisses.“ nicht wirtschaftlich ist, gerät in eine sehr deutliche Randlage. Letztlich ist dadurch auch die Weiterentwicklung der Einheit Deutschlands in eine vorübergehende Sackgasse geraten. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass diese deutsche Vereinigung nur eine Angelegenheit der D-Mark war. Ostdeutschland wollte die D-Mark, und deshalb ist alles so konsequent verlaufen. Anders herum wird ein Schuh daraus. Im Grunde haben die Ostdeutschen in Bezug auf eine gemeinsame Kultur, auf Grund der gemeinsamen Sprache, der Geschichte, diesen Weg beschritten. Das drückte sich auch in dem Satz „Wir sind das Volk, und wir sind ein Volk“ aus. Die D-Mark hat das Ganze beschleunigt, aber nicht ausgelöst. 44 Es sind diese vier Aspekte, die man betrachten muss, wenn man über das ausgelagerte Gedächtnis, also das kulturelle Gedächtnis redet. Gestatten Sie mir, dass ich mich auf zwei Institutionstypen beschränke, weil das natürlich auch in meiner jetzigen Position als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz nahe liegt, in der Museen, Bibliotheken und Archive in einer Organisation zusammengeführt sind, im Grunde die Institutionen, die das Gedächtnis ausmachen. Ich spreche zunächst einmal über die Museen im Umfeld der neuen Medien, deren zukünftige Entwicklung und anschließend über Bibliotheken und Archive im Zusammenhang. Museen sind derzeit die einzigen Einrichtungen, die den Zeitbegriff sinnlich vorführen und damit die Einprägungskraft des Gedächtnisses durch Bilder, Orte und Denkmäler anregen. Beispielsweise reicht der Zeithorizont der Staatlichen Museen zu Berlin von den Sumerern vor 6000 Jahren bis zur heutigen zeitgenössischen Kunst. Dies alles organisiert in sieben Museen mit den Schätzen der Weltkulturen, so dass ein Ausdruck menschlicher, künstlerischer, aber auch wissenschaftlicher Tätigkeit in einer Zusammenschau zu sehen ist. Es ist aber klar, dass diese Zusammenschau heute ganz anders gesehen wird als im 19. oder 18. Jahrhundert, weil uns diese Objekte die Möglichkeit geben, unsere eigene Situation zu reflektieren, unsere heutigen Fragen zu stellen. Es ist ja nicht so, dass alle neuen Erkenntnisse der Menschheit darauf beruhen, dass wir neue Fakten entdecken. Die neuen Fakten sind eigentlich weniger an den neuen Erkenntnissen beteiligt als eine neue Sicht auf schon Bekanntes. Und insofern liefern meines Erachtens Museen einen ganz entscheidenden Ansatz, um diese Zusammenhänge in der Form auch wirklich darzustellen. Nun gibt es für Museen genau die gleiche Situation wie für alle Einrichtungen, die Informationen und Wissen vermitteln, auch der Computer und die Netze halten Einzug. Was bedeutet das für Klaus-Dieter Lehmann die Museen? Verschwinden die Museen? Haben sie überhaupt noch eine Bedeutung? Oder steigert sich vielleicht sogar die Bedeutung? Es gibt inzwischen virtuelle Museen, die über mehrere Millionen Objekte weltweit verfügen. Die Nutzer können im Internet durch die Museen spazieren und können sich ihre eigenen Ausstellungen aus den Sammlungen zusammenstellen. Das bedeutet, Sie haben letztlich alle Großmuseen der Welt in Ihrem Zimmer auf dem Bildschirm verfügbar. Aber was heißt das? Was heißt das für das Gedächtnis? Es ist eine Dimension, die die Museen dazu gewinnen und sie nicht überflüssig macht, es ist Information über Kunst, aber es ist nicht Kunst. Insofern ergibt sich eine erstaunliche Entwicklung, die dazu führt, dass Menschen immer häufiger in Museen gehen. Sie gehen deshalb in Museen, weil die Information, die durch solche Informationskanäle dem Einzelnen zur Verfügung steht, zunächst einmal breiter und gezielter anspricht. Aber ich glaube, das Entscheidendere ist, dass das Original eine neue Stärke, eine größere Einzigartigkeit gewinnt. Insofern ist die Entwicklung der neuen Medien für die Museen eher ein Gewinn als ein Verlust an Einfluss und Gestaltungsmöglichkeit. Die „In einer Zeit Museen müssen nur in der organisierten einer Richtung aufpasGleichzeitigkeit, sen, dass sie wirklich der medialen ihre GedächtnisfunkFlüchtigkeit tion erfüllen. Wenn sie vermitteln die das machen, was viele Museen zeitliche Museen machen müsZusammenhänge.“ sen, Geld verdienen, sich nur auf große Namen beschränken und nur noch große Events planen, wird die Museumsfunktion sehr schnell verschwunden sein, dann entsteht auch hier reiner Ökonomismus. Sie können natürlich mit einer Ausstellung von Claude Monet, Gauguin oder Picasso mühelos in vier Wochen einen Zulauf von fünfhunderttausend Menschen haben. Aber die großen Namen sind sehr schnell abgearbeitet, und dann passiert nichts mehr. Also müssen Museen, wenn sie ihrem Gedächtnisauftrag entsprechen wollen, den Bildungsauftrag wirklich ernst nehmen, d.h. die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, über die sie verfügen, in einer Weise aufbereiten, die auch für die Gesellschaft wieder eine neue Sicht auf alte Dinge erlaubt. Ge- rade in einer Zeit der organisierten Gleichzeitigkeit, der medialen Flüchtigkeit vermitteln die Museen zeitliche Zusammenhänge. Ohne diese Zusammenhänge ist die Gefahr groß, dass die daraus resultierende Oberflächlichkeit nicht nur zu einer unspezifischen Anpassung und einer übermäßigen Vermischung der Lebenswelten führt, sondern die Beschäftigung mit dem kulturellen Gedächtnis nur zu spektakulärer Unterhaltung führt. Verständnis für geschichtliche Entwicklungen wird kaum erfahrbar. Pures Management zum Vermarkten und Expandieren ist sicher der falsche Weg. Kultur muss als eigenständige Kraft wirken können. Wie kompetent und engagiert wir mit den Museumssammlungen von Weltgeltung umgehen, wird entscheidend dafür sein, welche Rolle ein Land künftig kulturell spielen wird. Museen zeigen sehr klar, dass kulturelle und materielle Werte nicht das Gleiche sind. Museen schaffen eine Verbindung zwischen der Individualisierung unserer Gesellschaft und der kulturellen Tradition. Den zweiten großen Komplex der Gedächtniseinrichtungen bilden Bibliotheken und Archive: Hier sehe ich die Situation für die Zukunft des kulturellen Gedächtnisses durchaus schwieriger. Ein Beispiel: Ich hatte vorhin von den Sumerern und ihrer Form sich zu überliefern gesprochen. Wenn Sie sich vorstellen, dass die Sumerer E-Mails benutzt hätten, stellt sich die Frage, ob wir überhaupt etwas von den Sumerern wüssten. Hätten wir die Chance, die E-Mails der Sumerer über die Jahrtausende zu bewahren, wäre fraglich, ob wir die richtigen Maschinen hätten, um sie zu lesen. Wenn wir die richtigen Maschinen hätten, um die Informationen zu lesen, hätten wir wahrscheinlich zu viele Informationen, und das wäre genauso schlimm, als ob wir gar keine hätten. Dieses Bild demonstriert in etwa die Problematik, in die wir derzeit kommen. Wir geraten in eine Situation, die sich nicht zurückdrehen lässt. Die neuen Medien sind für die Wissenschaft ein Instrument, dessen sich die Wissenschaft bedienen wird, weil sie ihr Vorteile bringen. Sie beschleunigen Erkenntnisse, sie haben eine größere Flexibilität, sie schweißen Wissenschaftler zu Forschergruppen zusammen, die weltweit verstreut sind, so dass die Vorteile einer solchen Vernetzung mit der medialen Schnelligkeit und Aktualität durchaus sichtbar sind. Aber was handeln wir uns damit im Sinne eines kulturellen Gedächtnisses ein? Die Langzeitverfügbarkeit ist ein wesentliches Kriterium für das Entstehen eines 45 Beiträge Klaus-Dieter Lehmann kulturellen Gedächtnisses. Folgende Eigenschaften der digitalen Medien gefährden es: 쐌 Physischer Verfall der digitalen Information Bei der gegenwärtigen Unbeständigkeit digitaler Speichermedien ergibt sich für die Haltbarkeit der Informationen ein Zeitraum von 5 bis 30 Jahren. Magnetische Speicher, von der Diskette bis zum DAT oder den Magnetbändern, können Teile ihrer Information schon innerhalb weniger Jahre verlieren, CD-ROMs halten ein halbes Jahrhundert. Noch sind keine Speichermedien in Sicht, die ein Umkopieren überflüssig machen. 쐌 Änderung von Codierung und Formaten Für die Rückgewinnung von Information bedarf es der internen Struktur der Zeichencodierung und des Datenformats, um den verschlüsselten Bedeutungsinhalt zu erkennen. Diese Struktur ändert sich innerhalb eines Zeitraumes von 10 bis 20 Jahren. Der jetzige Entwicklungsstand ist nicht geeignet, die Festschreibung zeitlos gültiger Standards und Regeln zu erwarten. Gerade in der raschen Veränderung der Informationstechnologie liegen auch die Chancen für neue Entwicklungspotenziale. 쐌 Wechsel der Software- und Betriebssysteme und der Hardware Hard- und Software, die den Zugangsschlüssel zur codierten Information darstellen, ändern sich in schnellem Wechsel und können bestehende Informationssammlungen obsolet machen. Hinzu kommen Marktstrategien, die Vor- und Rückwärtskompatibilität bewusst unterbinden – durch einen unzugänglichen Kern im Betriebssystem, versteckte Objekte im Programm oder Schutzmechanismen bei Prozessoren. 쐌 Systemimmanente Ursachen Hypertextdokumente sind von Natur aus durch ihre nur im Netz existierenden Verknüpfungen lokal nicht darzustellen und zu sichern. Erst die codierten Anweisungen liefern die Optionen zu den Beziehungen der Dokumentteile untereinander bzw. der Nutzer ist frei, neue Publikationen durch Zusammenfügen zu erzeugen. 쐌 Ökonomische Einschränkungen Informationen verlieren in der modernen Gesellschaft innerhalb kurzer Zeit an Wert; Publika- 46 tionen veralten auf einigen Gebieten in 2 bis 5 Jahren. Das fördert die Auffassung, es handle sich um Wegwerfpublikationen. 쐌 Radikale Delokalisierung der Verarbeitung und Dezentralisierung der Datenbestände Daten werden in der Regel dort bereitgestellt, wo sie entstehen, sind aber jederzeit von jedem Ort abrufbar. Eine verbindliche Verantwortung zur Langzeitverfügbarkeit ist dabei nicht zu erreichen. Die Vernetzung führt zu einer Reduzierung in der geographischen Verteilung von Information. Im Extremfall ist die digitale Publikation einmal auf einem Server im globalen Netz gespeichert. Auf welchem Server sie wie lange verfügbar bleibt ist eine Einzelentscheidung. Das führt zu Unsicherheiten bezüglich Verfügbarkeit auf Dauer, aber auch zu mangelnder Referenzierbarkeit bezüglich der Authentizität digitaler Publikationen. Das sind einige markante Eigenschaften digitaler Publikationen, die die Kurzlebigkeit des gespeicherten Wissens bei dieser Art der Aufzeichnung und des Mediums belegen und die Schwierigkeit der dauerhaften Archivierung verdeutlichen. Dies sind also zunächst die technischen Einschränkungen. Die anderen Einschränkungen, die mindestens ebenso tragisch sind, ergeben sich aus folgenden Problemen: wie stelle ich eine Authentizität fest, woher weiß ich, dass dieser Text der Originaltext ist? Ist er manipuliert, sind entsprechende Veränderungen gemacht worden? Das wird man sicher technisch lösen können, aber es ist eine Problematik, der man sich frühzeitig bewusst sein muss. Auch die Frage, wie digitale wissenschaftliche Publikationen quasi einen Gütestempel bekommen, so dass man weiß, die Erkenntnisse, die dort gewonnen worden sind, entsprechen auch einer wissenschaftlichen Tradition und Seriosität, auch diese ist schwierig zu lösen. Bislang gab es dafür eine verlegerische Verantwortung. Jetzt kann jeder sein eigener Produzent und Publizist im Internet sein. All diese Fragen der Sicherheit von Zitierfähigkeit, Referenzfähigkeit, Authentizität und Manipulation sind Dinge, die eine große Rolle spielen. Die wissenschaftliche Information ist in einer Situation, in der sie nach wie vor neue Prozeduren zum Erhalt der Qualität suchen muss, auch Prozeduren, um wieder die Sicherheit zu erlangen, wie wir sie faktisch bisher bei den Erkenntnissen Klaus-Dieter Lehmann der Forschung über die Verbreitung durch die Publikation bis hin zur Speicherung in den Bibliotheken und Archiven gewonnen haben. Es gibt meines Erachtens einen Punkt, der für die künftige Erkenntnis und die künftige Möglichkeit, aus einem vorhandenen kulturellen Gedächtnis auch neue Sichten erzeugen zu lassen, eine wichtige Rolle spielt, nämlich die Tatsache, dass künftig Bibliotheken, Museen und Archive, die alle immer institutionell isoliert gedacht haben, über eine institutionsübergreifende Vernetzung die Möglichkeit haben, solche unterschiedlichen Informations- und Gedächtnisspeicher so zu verbinden, dass man künftig nicht mehr institutionell, sondern funktional fragen kann. Das Verknüpfen von Museen, Bibliotheken und Archiven zu einem kulturellen Ensemble ist eine zukunftsfähige Konstellation. Damit gewinnen die Kulturwissenschaften neue Erkenntnisse. So wie unser Jahr aus vier Jahreszeiten besteht, wird unser Wissen, unsere Erkenntnis aus vier Quellen gespeist: 1. Die Weiterentwicklung von Wissen durch Forschung 2. Die Vermittlung von Wissen durch die Lehre 3. Die Verteilung von Wissen durch das Publizieren 4. Die Erhaltung von Wissen in den Sammlungen der Archive, Museen und Bibliotheken. Dieses Bild verdeutlicht, wie gleichrangig die kulturelle Überlieferung Wissen und Erkenntnis trägt. Museen, Archive und Bibliotheken als komplexe Arbeitsstätten des kulturellen Gedächtnisses aufeinander zu beziehen, ist nicht nur öffentlichkeitswirksam, sondern auch innovativ. Dafür sind die heutigen Informationstechniken geeignet, das Zusammenspiel wirksam werden zu lassen. Das ist kein oberflächlicher Technikeinsatz und kein kultureller Medienjahrmarkt. Es geht hier um parallel bestehende und abrufbare Informationsbereiche, um neue Assoziationen, um Verknüpfungen und Wahlmöglichkeiten. In Kenntnis der Vormachtstellung des Rationalismus hat die Schriftkultur bei uns eine hervorgehobene Bedeutung. Leopold von Ranke setzte beispielsweise den Beginn der Geschichte gleich mit der Überlieferung glaubwürdiger schriftlicher Zeugnisse – nicht mit der Überlieferung von Denkmälern, Orten oder Bildern. Das hat sich inzwischen gewandelt. Bilder stehen der Einprägungskraft des Gedächtnisses näher und der Integrationskraft des Verstandes ferner. Als komplementäre Elemente des Gedächtnisprozesses sind sie sehr entscheidend für unsere kulturelle Prägung. Wir sollten die Chancen nutzen, die uns eine solche neue Infrastruktur zur Vernetzung gibt, das kulturelle Gedächtnis nicht als institutionellen, sondern als funktionalen Speicher zu begreifen. Das wäre ein neuer kulturpolitischer Ansatz für das 21. Jahrhundert. J „Informationen verlieren in der modernen Gesellschaft innerhalb kurzer Zeit an Wert.“ 47 Beiträge Joachim Gauck Erinnern und Bearbeiten als Bedingungen politischer Zukunft Ich muss gestehen, dass ich mit dem Thema der Tagung ein Problem hatte. Folglich habe ich mir auserbeten, für meine Überlegungen statt des ursprünglich vorgesehenen Wortes „Vergessen“ den Begriff „Bearbeitung“ in den Titel aufzunehmen. Als Bedingung für Zukunft erschien mir Vergessen nicht geeignet. Aber ich bin ganz gespannt, wie ich denken werde, wenn ich erst Harald Weinrichs Buch „Lethe – Kunst und Kritik des Vergessens“ gelesen habe, denn möglicherweise erschließt sich mir etwas, wonach ich eine verborgene Sehnsucht empfinde. Denn vergessen zu können, kann allem Anschein nach auch ein gesegneter Zustand sein und muss nicht zwangsläufig mit der problematischen Haltung des Wegsehens und des Weglaufens verbunden sein. „Schuld und Wir erleben manchmal p o l i t i s c h e V e r a n tin unseren Archiven, wortung, die dass Menschen, die nicht bearbeitet ihre Akten gelesen haw e r d e n , v e r u n s iben, ein Lächeln aufsetchern eine Gesellzen. So erzählen es die schaft, entziehen sensiblen Frauen, die ihr die Stabilität.“ den Nutzern gegenüber sitzen. „So, nun weiß ich Bescheid, nun schlage ich die Akte zu, das kann ich jetzt vergessen.“ Diese Form des Vergessens erscheint mir als etwas Wunderbares. Obwohl ich eine positive Konnotation des Begriffs „Vergessen“ erahne, verbietet es mein Selbstverständnis als politischer Aufklärer, den Begriff des „Vergessens“ mit dem der Zukunft zu verbinden. Etwas anderes wäre es, wenn es sich um das 48 Wort Verlernen handeln würde. Das Lernen von etwas Neuem, was mir erlaubt, mich einzumischen, zu handeln und etwas zu erkennen, was ich bislang nicht erkannt habe, ist nämlich eng an das Verlernen von untauglichem Informationsgut gekoppelt. Nun will ich zur Einleitung noch auf eine Unsicherheit hinweisen. Manchmal erscheint mir ein politisch moralisches Tabu zunächst einmal nützlich. Um ein Beispiel zu nennen: Es darf einfach nicht mehr sein, dass in Deutschland der Holocaust geleugnet wird. Dem wird sich jeder anständige und halbwegs gebildete Mensch anschließen. Verbunden ist das Tabu mit einem Vergessensverbot. Im Falle des Holocausts ist der Deutsche Bundestag sogar soweit gegangen, die Ignoranz gegenüber dem nachweislich Geschehenen strafrechtlich zu sanktionieren. Für eine Kultur des Erinnerns, so möchte man annehmen, ist dieser Schritt wichtig gewesen. Und doch steht dem Menschen, der aus moralischen Gründen nie vergessen möchte, möglicherweise ein anderer gegenüber, der die einschneidende Entscheidung des Bundestages für anmaßend hält. Kann der Gesetzgeber, so fragt er sich, eigentlich etwas zu regeln versuchen, was der Verfügung des Gesetzgebers letztlich entzogen ist, hier also die kollektive Moral der Menschen und das Erinnern. Ich neige in dieser Frage einer eher für die Vereinigten Staaten typischen Auffassung zu. Ich will dies an einem Beispiel erläutern. Als ich vor einiger Zeit mit amerikanischen Freunden das Holocaust-Museum in Washington besuchte, habe ich voller Abscheu erleben müssen, dass einige Rechtsradikale vor dem Museum ihr Propagandamaterial verteilten. Ich fragte mich selbst und meine Freunde, ob man dieses Auftreten nicht verbieten könne. Meine Freunde haben mir jedoch sehr plausibel dargelegt, dass ein solches Verbot nicht der in Amerika praktizierten Kultur der freedom of speech entspräche. An diesen Äußerungen wird deutlich, dass ich mich auf unsicherem Gelände bewege. Vielleicht verbirgt sich hinter meiner Unsicherheit sogar eine tiefere Angst vor dem Verlust meines Wertekanons, wenn ich mich nicht wie geboten erinnere. Wenn eine Angst vor Orientierungslosigkeit mir das Vergessensverbot nahe legte, wäre dies nicht ein Element der von Erich Erstürmung der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße, Ost-Berlin 1990 „Nur Ermächtigte werden Zukunft und Gegenwart gestalten können, nicht Ohnmächtige.“ Fromm beschriebenen Furcht vor der Freiheit? Wir geraten also offenkundig auf ziemlich dünnes Eis, wenn wir danach fragen, wie Vergessen und Erinnern staatlich oder durch Instanzen anderer Art geordnet werden können. Ich wende mich nun der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nach 1989 zu. Ich bin selber seinerzeit als Abgeordneter für Bündnis 90 in der Volkskammer Teil eines politischen Gestaltungswillens gewesen, der mit einem Gesetz über die Öffnung der Geheimdienstakten die Interessen der einst Unterdrückten sicherte. Wie ist es zu der speziellen Form der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit gekommen? Ich möchte das zunächst als Folge eines historisch-politischen Irrtums eines ganz anderen Lebensraumes deuten, nämlich des Westens. Wir im Osten haben, wenn wir uns für Politik interessierten, teilgehabt an den Debatten im Westen. Und wir haben die Veränderung des Konsenses in Bezug auf unsere deutsche Vergangenheit miterlebt. So verrückt wir die 68er auch fanden, steht für uns im Ostblock das Jahr 1968 doch viel eher als Metapher für Panzersozialismus und Prag. Im Westen wurde das Jahr 1968 als jugendliches Aufbegehren gegen verkrustete Strukturen und als Wiederentdeckung der politischen Moral in der Auseinandersetzung mit der Vätergeneration erlebt. Wir haben dies z.T. kritisch und distanziert beobachtet. Und gleichwohl haben die 68er mit all ihren Irrtümern einen kulturellen und politischen Umbruch in der alten Bundesrepublik herbeigeführt. Die Deutschen wissen seit diesen Jahren, was vorher nur kleine Kreise interessiert hat. Schuld und politische Verantwortung, die nicht bearbeitet werden, verunsichern eine Gesellschaft, entziehen ihr die Stabilität. Das wusste Karl Jaspers ganz früh, als er in seinem Büchlein „Die Schuldfrage“ beschrieb, dass eine gesellschaftliche Reinigung nicht gelingen könne, wenn es nicht auch gleichzeitig eine individuelle Reinigung gäbe. 49 Beiträge Joachim Gauck Das war das Wissen der Informierten. Die Informierten allerdings waren nicht hinreichend vernetzt mit der Massenkultur. Diese in der Folge von 1989 eingetretene Veränderung der Massenkultur mit einer Hinwendung zum Gedenken hat uns 1990 in der DDR in der Auffassung bestärkt, dass das Öffnen der Akten und das Öffnen der Augen als Erfolgsmodell anzusehen und dieses auch politisch umzusetzen sei. Mangelhafte Aufarbeitung, so schien es, hat eine mangelhafte Änderung des kollektiven Gedächtnisses oder der kollektiven Identität zur Folge. Dabei gehe ich nicht auf die Frage ein, ob es tatsächlich, wie es Ralph Giordano sagt, eine zweite Schuld gab, nämlich die der Nichtbearbeitung. Andere Wissenschaftler bestreiten dies. Tatsächlich hat es den kathartischen Prozess als Massenphänomen in der unmittelbaren Nachkriegsära nicht gegeben. Das meinten wir nach 1989 anders machen zu können. 1990 bestand so in der Volkskammer schon vor der Einheit Deutschlands ein breiter Konsens, der sogar einige Mitglieder der PDS umfasste, dass die geistige Befreiung der politischen Befreiung folgen müsse. Dabei begegnete uns das Phänomen, dass die Aufarbeitung als mehrdimensionaler Prozess zu verstehen ist. Ich habe damals an der Gestaltung des Gesetzes mitgewirkt und dabei vermutlich auch auf die kleine Schrift von Jaspers zu„Der Verlust an rückgegriffen. Im GeRealität wird setzestext der Volkskompensiert kammer vom August durch eine 1990 findet sich nämÜberfülle des lich die Wendung, dass ‚Ja‘ zu den die Akten verwendet Meinungen der werden sollen „für die Herrschenden.“ politische, historische und juristische Aufarbeitung der Vergangenheit“. Diese Formulierung legt nahe anzunehmen, dass die Abgeordneten, die dies so formuliert haben, den Rat von Karl Jaspers kannten, demzufolge moralische, metaphysische sowie strafrechtliche Schuld und politische Verantwortung einer je eigenen Instanz der Aufarbeitung bedürften. Aufarbeitung bedeutet also zum einen: Bearbeitung von Schuld. Nicht weniger bedeutsam aber ist eine andere Dimension, die der Faktensicherung, oftmals als Wiedergewinnung einer verlorenen oder verborgenen Wahrheit. Das zeigt sich am Beispiel Katyns, einem der großen politischen Verbrechen dieses Jahrhun50 derts, das unter kommunistischer Herrschaft systematisch verborgen wurde und nur Eingeweihten bekannt war, die wiederum auf Grund dieses Wissens verfolgt wurden. Ein bestimmtes Wissen war also sanktioniert, so dass es zum Geheimwissen wurde und dann in der Gesellschaft nur noch sehr begrenzt wirksam wurde. Der Prozess des Verbergens der Fakten bedarf einer erneuten Betrachtung. Es ist eben nicht immer nur ein Diktator, der uns durch seine Maßnahmen hindert, Fakten wahrzunehmen, sondern es sind oft eigene Erkenntnishemmnisse, die uns daran hindern, die Realität zu sehen. Dabei handelt es sich nicht nur um moralische, sondern auch um kognitive Defizite. Durch Mode und Zeitgeist werden Selbstbindungen oder Wahrnehmungseinschränkungen sichtbar, die stärkerer Aufmerksamkeit bedürfen. Ich möchte nicht, dass wir in diesem Zusammenhang immer nur die irrenden Kommunisten auf den Lehrstühlen des ehemaligen Ostblocks, sondern auch die freien, liberalen und linken Geister des Westens mit ihrer Irrtumsfähigkeit vor das Forum öffentlicher Kritik holen. Mit Blick auf die eigenen Erfahrungen komme ich zu einer solchen Forderung. Ich hatte nämlich Zeit meines Lebens die Neigung, das, was ich früh über den Herrschaftskommunismus wusste, zu vernachlässigen, weil ich Gesprächspartner aus dem Westen hatte, die mir die Nützlichkeit des Sozialismus erklärten. Darüber hinaus fand ich in Wissenschaft und Kultur eine Stütze für mein Verhalten. Ich habe z.B. meine politische Sehnsucht zeitweise genährt mit einem mich bewegenden philosophischen Text von Ernst Bloch, „Das Prinzip Hoffnung“. Die Betrachtung eines imponierenden Gedankengebäudes führte einem die Vorzüge einer besseren (sozialistischen) Gesellschaft vor Augen. Für so manchen aber war die Beschäftigung mit einer ideellen und idealen Welt ein Wegsehen von den Brüchen der Realität, die einen aktuell umgab. Manch ein Bewohner der DDR – und zum Teil sogar Oppositionelle – saßen dann in einem Boot gemeinsam mit „wohlmeinenden Intellektuellen des Westens“, die das östliche System nicht mehr als Diktatur bezeichnen mochten und so, ohne es zu wollen, den Interessen der Diktatoren dienten. Getrennt erlitten Ost- und Westlinke einen gemeinsamen „Verlust von Wirklichkeit“. Dieses von Hannah Arendt 1950 beschriebene Phänomen ist aber nur ein Element. Erinnern bedeutet, wenn wir Hannah Arendt folgen, auch, ei- Joachim Gauck nen weiteren Verlust wahrzunehmen. Nicht nur Verlust von Realität ist in posttotalitären Gesellschaften zu bemerken, sondern auch der Verlust von Gefühl oder Gefühlsmöglichkeiten. Hannah Arendt fällt damals in Deutschland auf, wie gering die Sympathie oder Empathie mit den Opfern des Naziregimes ist. Sie stellt fest, dass die Fähigkeit, derartiges zu empfinden ein Grundzug des Menschlichen ist. Wir können Mitleid und Sympathie für die Opfer empfinden. Aber unter totalitärer Herrschaft verformt sich der Mensch. Seine Analyse wird deshalb verformt, weil er, bevor er die Ergebnisse der Analyse vorträgt, prüft, ob die Regierenden mit diesen Ergebnissen einverstanden sind, denn sonst schädigen sie seine Karriere. Das Prinzip gilt im übrigen auch in der Schule: „Schreib’ das, was der Lehrer sagt, und Du erhältst eine gute Zensur.“ Und das weiß auch der junge Assistent an der Universität. Seine Analysefähigkeit leidet in dem Maße, wie er seine Karriere verfolgt. Der Verlust an Realität wird kompensiert durch eine Überfülle des „Ja“ zu den Meinungen der Herrschenden. Die Meinungen werden bedeutender und die Realität unbedeutender. Bei dem Verlust von Mitleid, Solidarität und Empathie für Opfer gibt es auch eine Kompensation, das ist das Selbstmitleid. Deutschland war damals voller Entsetzen über die Schrecken, die es selber erfahren hat. Und wenn Arendt die Deutschen in dieser Verfassung fragt: „Wisst ihr denn nicht, dass ihr den Krieg angefangen habt?“, dann antworten sie mit einer allgemeinen Erwägung: „Im Allgemeinen führen Völker Kriege...“, „Gerade die Briten haben es nötig...“ oder, „Der Mensch ist nun einmal ein Sünder...“. So gibt es eine weitere Flucht vor der Realität: das Abheben in das Allgemeine. Oder wir müssten richtiger sagen, in das Allgemeine, das in diesem Moment von einem Interesse geleitet wird. Und das Interesse der Deutschen war es, damals der eigenen Schuld und der eigenen Verantwortung nicht zu begegnen, sondern sie zu relativieren. Da ich aber weniger allgemein als vielmehr konkret werden will, darf ich an dieser Stelle einen ganz persönlichen Gefühlsverlust schildern. Ich habe vier Kinder, und der Älteste meiner Söhne stellte 1983 einen Ausreiseantrag. Das war ganz gegen meine Natur. Ich war ein evangelischer Pastor, und wir waren der Ansicht, wo wir sind, wird gelebt; das hat seinen Sinn, und wir brauchen Helfer. Und die, die weggingen, verließen uns. Das war eine Kränkung, sie sollten gefälligst mit uns kämpfen. Wir wollten nicht mit Honecker alleine bleiben. Und so hatte ich auch gegenüber meinen Kindern ein ungutes Gefühl. Auf der anderen Seite wollte ich ihrem Glück natürlich nicht im Wege stehen. Meine Söhne durften weder das Abitur machen noch studieren. Mein Ältester wollte unbedingt Arzt werden. Er hat dann viereinhalb Jahre auf seine Ausreise gewartet und konnte mit 27 Jahren als Familienvater von zwei Kindern in Hamburg ein Medizinstudium beginnen. Eine Woche vor Weihnachten 1987 auf dem Bahnsteig des „Der Blick auf Rostocker Hauptbahndie Ohnmacht hofes verabschiede ich und die Ketten diese Familie. Weihder Angst, nachten würden sieben kurzum auf die Familienmitglieder unEntmündigung, ter dem Tannenbaum ist der Anfang fehlen. Meine Ehefrau der Befreiung.“ und ich stehen auf dem Bahnhof. Ich bin fröhlich und verabschiede sie, sie gehen einen Weg, den ich nicht gehe, aber sie gehen in die Freiheit. Also ist es gut. Meine Ehefrau steht auf dem Bahnhof und weint und fragt mich, wo meine Gefühle seien. Ich spreche nunmehr als männlicher Aufklärer zu meiner Frau und sage: „Seit Anbeginn der Zeit ist es so, dass erwachsene Kinder das Haus der Väter verlassen und in die Ferne ziehen. So, nun sieh das ein, und weine nicht mehr, es ist alles vernünftig.“ Darauf sieht sie mich an, als sei ich von einer anderen Welt und sagt: „Seit Anbeginn der Welt empfinden Menschen Schmerz, wenn sie von geliebten Menschen getrennt werden. Was bist Du, bist Du ein Mensch oder hast Du ein Herz aus Stein?“ Nun, ich hatte sehr viel Kopf. Als ich mit meiner Ehefrau nach Hause ging und auch die ganzen folgenden Wochen war ich ihr gram. Warum verstand sie die Welt nicht? Ich musste erst älter werden, und eine neue Epoche musste anbrechen, bis ein Gefühl, das mir in diesem Moment fremd war, zu mir zurückkehrte. Und es kam ganz unerwartet nach der ersten Demonstration in meiner Heimatstadt Rostock Mitte Oktober 1989. Wir hatten wochenlang dafür gearbeitet, dass unsere Landsleute endlich den Sklavengestus ablegen und auch Mecklenburger sagen „Wir sind das Volk“. Als es soweit war, waren wir für einen Moment so glücklich, wie kein 9. November und nichts anderes es je wieder bringen wird. „Wir sind das Volk. Und sie haben es endlich begriffen“, dachte ich. 51 Beiträge Joachim Gauck Delitzsch in Sachsen, 1990 „Jetzt haben wir zu lernen, dass die Wiederbegegnung mit den Traumata der Vergangenheit ein befreiendes Element ist.“ „Jetzt fliegst du nach Hause, du gehst nicht, du fliegst nach Hause, du schwebst.“ Plötzlich passiert Folgendes: Ich gehe in diesem Zustand des großen Glückes nach Hause, und plötzlich laufen mir Tränen über die Wangen. Der Mensch, der neben mir geht, fragt mich: „Warum weinst Du?“ Ich sage: „Ich denke gerade an meinen ältesten Sohn.“ „Ja, warum?“ „Der sitzt jetzt in Hamburg und kann nicht dabei sein, wenn wir dieses Glück empfinden.“ Später werden mir diese Tränen bewusst, die kamen, als die Trauer nicht mehr gefährlich war. Die Trauer wäre für mich gefährlich gewesen in einem politischen Stadium, in dem ich kämpfen wollte. Ich dachte, sie sei gefährlich, ich dachte, sie macht mich schwach und erkennbar. Sie 52 kommt jetzt, als sie durchbrechen kann und mir nicht mehr gesellschaftlich schadet. Und deshalb beobachten wir bei sehr vielen Menschen, die aus der Diktatur kommen, ein gehemmtes Gefühlsleben. Wenn man den Typus der Niederländer und der US-Amerikaner mit dem Typus der Ostdeutschen vergleicht, wenn man die Physiognomien vergleicht, die Lebensäußerungen, die Art der Debatten, lässt sich nachvollziehen, was ich meine. Es gibt einen Drang in der Diktatur, sich unerkennbar zu machen. Und dazu gehört, dass man gerade seine Emotionen erzieht, wie Wut, Hass, Zorn und Trauer, denn sie sind die extreme Ablehnung dessen, was einem gegenüber steht. Wenn wir der Verlustauffassung von Hannah Arendt folgen, erleben wir sowohl einen intellektuellen Verlust, als auch einen emotionalen Verlust, und es ist zweifellos sofort einsichtig, dass die emotionalen Verluste eine sehr viel größere Problematik darstellen als die Erkenntnisrückstände, mit denen wir konfrontiert sind. Ein Problem muss ich noch ansprechen. Es gibt nämlich noch eine dritte Form des Verlustes. Es ist neben dem Gefühls- und Erkenntnisdefizit ein Verlust des Kulturgutes „Haltung“. Zum Beispiel die Einsicht, keine Zivilcourage besessen zu ha- Joachim Gauck ben, obwohl man dazu fähig gewesen wäre. Diese Einsicht schmerzt ebenso wie der Verlust von Gefühlen. Die Deutschen etwa in Berlin hätten sich nach dem Krieg erinnern können, dass rund vierbis fünftausend Juden in der Reichshauptstadt überlebt haben. Dies geschieht auch, wenn es um berühmte Menschen geht. Aber die Tatsache, dass fünftausend Juden im Zentrum des Grauens überlebt haben, würde die Mitmenschen gleichzeitig daran erinnern, dass es damals mindestens zwanzigtausend Helfer gegeben haben muss. Das ist knapp gerechnet. Ein Berliner, der nach dem Krieg in seiner Familie Helfergeschichten erzählt, müsste die Zahl Zwanzigtausend und seine eigene Haltung aufeinander beziehen. Dabei schneidet er schlecht ab. Er erinnert sich vielleicht daran, dass er, als die Kriegsgefangenen vorbeigezogen sind, ihnen nicht mal ein Stück Brot zugeworfen hat, wie die törichte Frau von nebenan. Denn er war klug genug, es nicht zu tun, um nicht für einen Staatsfeind gehalten zu werden. Das überließ er der Nachbarin von nebenan. Aber irgendwann war alles zu Ende. Woran erinnert sich die Masse wohl leichter? An die Täter oder an die Hel„Es ist zweifellos fer? Es ist natürlich einsichtig, dass viel leichter, sich an die emotionalen die Täter zu erinnern, Verluste eine denn ihnen gegenüsehr viel größere ber heben wir, die Problematik daruntätige Masse, uns stellen als Erkenntüberaus positiv ab. nisrückstände.“ Wir haben niemanden ermordet. Raoul Hilberg beschreibt in seinen Arbeiten die Haltung vieler Helfer. „Wir haben gar nichts Heldenhaftes getan, sondern waren ganz normal.“ Es gibt in Osnabrück einen Mann, der Tausende von Juden in den Niederlanden gerettet hat, der aber, solange er lebte, verhinderte, dass darüber gesprochen wurde. Indem wir die Normalität von Zivilcourage ausblenden, indem wir uns auf die negative Erinnerung konzentrieren, entmächtigt Erinnerung die Zukunftsfähigkeit der Bevölkerung. Deshalb plädiere ich dafür, die Öffnung der Akten und die Öffnung der Archive und die Öffnung der Augen nicht mit dieser übertriebenen Sorge vorzunehmen. Wir würden sonst die Momente der Ermächtigung verlieren, für die wir aber Zeugen haben. Christopher Browning nennt zwölf von fünfhundert Angehöri- gen des Polizeibataillons 101, die gesagt haben: „Wir schießen nicht!“ Das heißt, sogar an der Front im „Dritten Reich“ und nicht nur unter den Umständen der DDR hat es eine größere Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten gegeben. Die Erinnerung selektiert nun je nach Interesse: mal werden die Helden, mal die Mörder betont. Dazwischen bleibt ein großes Feld, in dem der normale Mensch zivile und ängstliche Regungen erfährt und entsprechend handelt. Deshalb ist für mich die geeignete Form des Erinnerns noch zu entdecken. Ich verfüge offen gestanden auch nicht darüber. Was meine Behörde macht, halte ich für richtig. Trotzdem verändern wir damit nicht automatisch die kollektive Identität. Ich unterhalte mich mit mir selber: „Will ich eigentlich immer noch so sein wie früher, als ich meiner Frau die Welt erklärt habe? Will ich vielleicht nicht einmal Schmerzen zulassen?“ Das heißt für mich, dass ich jetzt nicht nur sage, „Das war schlecht, als die Regierung der DDR eine Wahlfarce inszenierte“, sondern mich auch frage, „Was hast du eigentlich gefühlt, als du als Akademiker vor eine Wahlurne geführt wurdest, ohne eine Wahl zu haben“. Ich habe nichts gefühlt außer Trotz. „Ich bin Oppositioneller und mache es anders.“ Aber Trauer, Wut, Zorn gab es nicht. Jetzt haben wir zu lernen, dass die Wiederbegegnung mit den Traumata der Vergangenheit ein befreiendes Element ist. Dies versuche ich, mir und den Ostdeutschen zu vermitteln. Wenn es Deutsche gab und gibt, die sagen, „Beim Führer war auch nicht alles schlecht“ oder „Im Sozialismus war auch nicht alles schlecht“, dann setzen wir solch selektivem Erinnern ein Gegenmodell des Erinnerns entgegen, das therapeutische Erinnern. Bei Psychotherapeuten soll im politischen Erinnern der Blick in Abgründe und Traumata erlaubt sein, ja befördert werden. Damit beginnt die Befreiung übrigens gerade, wenn der Blick zurück Schmerzen auslöst. Der Blick auf die Ohnmacht und die Ketten der Angst, kurzum auf die Entmündigung, ist der Anfang der Befreiung. Deshalb ist die Wiederbegegnung mit diesen Schmerzen des Verlustes ein Element von Ermächtigung. Und nur Ermächtigte werden Zukunft und Gegenwart gestalten können, nicht Ohnmächtige. Aber diese Ermächtigung ist für mich in erster Linie eine Haltungsermächtigung und weniger eine Ermächtigung durch Inhalte und Zielvorgaben, die ich oft noch gar nicht habe. J 53 Die Zukunft des Gewesenen: Chersones/Sewastopol, Krim, Ukraine Auf dem Gebiet des heutigen Sewastopol wurde im 6. Jh. v. Chr. die ionische Kolonie Chersones gegründet. Interview Interview Dr. Thomas M. Gauly sprach mit Prof. Dr. Hermann Schäfer, anlässlich des dreizehnten Sinclair-Haus Gespräches. Gauly: Sie sind Direktor des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das Bonner Haus zählt zu den erfolgreichsten Museen in Deutschland. Warum? Schäfer: Unser Konzept „Erlebnis Geschichte“, das eng verknüpft ist mit den Begriffen Besucherorientierung, „Alltagsmenschen“, Interaktivität und multimedialer Zugang – auch, dass wir uns nicht scheuen, Emotionen zu wecken – hat sich bewährt. Zahlreiche Auszeichnungen, darunter der Museumspreis des Europarates 1995 und dessen Empfehlung an alle Staaten des Europarates, „Museen nach dem Beispiel des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn zu errichten“, belegen das breite internationale Interesse. Auch die vielen Besucher bestätigen uns täglich in unserem Konzept. Darüber hinaus: Tatsächlich stößt die Zeitgeschichte, die Epoche der Mitlebenden, auf breites Interesse, nicht zuletzt weil wir hier alle persönlich berührt sind. 56 Gauly: Wieviele Menschen drängt es jährlich in Museen? Schäfer: Die Zahl der Museumsbesuche liegt in Deutschland seit Jahren bei jährlich etwa 90 bis 95 Millionen. Ein Drittel der Deutschen geht regelmäßig und häufig, ein Drittel selten und ein Drittel nie in Ausstellungen und Museen. Generell ist es besonders schwierig, jüngere Menschen zum Museumsbesuch zu motivieren. Das Konzept des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und unseres Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig wendet sich jedoch explizit auch an jüngere Besucher. Gauly: Warum gibt es immer mehr Museen in Deutschland? Schäfer: Die Zunahme der Zahl von Museen in den letzten Jahrzehnten hat auch viel damit zu tun, dass die Menschen – wie Hermann Lübbe herausgearbeitet hat – in einer Zeit, in der das Veränderungstempo immer mehr zunimmt, Halt und Orientierung in der Vergangenheit suchen und sich dabei gerne vor allem an den Originalen früherer Epochen vergewissern. Gauly: Gewinnt das Original angesichts der Ausbreitung des Virtuellen an Bedeutung? Schäfer: Je medialer unsere Umgebung wird und je reproduzierbarer wirkliche und unwirkliche Bildwelten werden, desto mehr gewinnt das Original an Besonderheit. Es erhält eine Aura, macht neugierig. Sicherlich werden Originale stetig an Anziehungskraft gewinnen. Gauly: Was ist Ihre Prognose für die „Erinnerungsbegeisterung“ zu Beginn des neuen Jahrhunderts? Schäfer: Wer sich für Geschichte interessiert, sieht es positiv, wenn die Beschäftigung mit der Geschichte über oberflächliche Erinnerungen hinausgeht. Wir müssen mithelfen, „Erinnerungsbegeisterung“ in wahrhaftige Auseinandersetzung mit der Geschichte überzuleiten. Gewiss hat die Fixierung auf die Magie der runden Zahl mit den vielen Nullen zur explosionsartigen Zunahme des Interesses an Rückblicken beigetragen. Gauly: Sie sprechen von „wahrhaftiger Auseinandersetzung“, dies klingt nach Kritik an der Trivialisierung von Geschichte, wie sie in manchen Medien vorexerziert wird. Schäfer: Tatsächlich ist das Niveau der Auseinandersetzung mit Themen der Geschichte in den Medien sehr unterschiedlich; es erstreckt sich in einer sehr großen Bandbreite von Lokalzeitungen über überregionale Tageszeitungen, Wochenzeitungen, Magazine etc. Auf einer lediglich banalen Ebene – als Effekthascherei oder verbunden mit simplifizierenden Betrachtungsweisen – ist Geschichte kaum nachhaltig lehrbar, lernens- oder erinnerungswürdig. Andererseits sollte man auch vergleichsweise eher einfache Ereignisse, beispielsweise die Entdeckung eines mittelalterlichen Kellers und dessen Erforschung in einer kleinen Stadt, nicht gering schätzen. Auch diese können wesentliche Erkenntnisse zur Alltags- und Stadtge- 57 Interview schichte zeitigen. Die Berichterstattung sollte dafür sorgen, dass Ereignisse dieser Art nicht trivialisiert werden. Die Medien haben allerdings, dies würde ich positiv bemerken, in diesen Jahren eine Fülle von neuen Darstellungsformen gefunden, die zum Teil unsere Erinnerungskultur bereichern. Ich halte es persönlich auch für legitim, wenn über reine Dokumentarfilme hinaus Geschichte in der Form von Spielfilmen dargestellt wird. Selbst die Mischung von Spielfilm und dokumentarischen Elementen kann – wenn beides methodisch voneinander abgegrenzt wird – sehr wirkungsvoll sein, muss jedenfalls nicht von vorneherein verteufelt werden. Gauly: Bei den Debatten über das 20. Jahrhundert fällt auf, dass insbesondere die Zeit zwischen 1933 und 1945 in den Mittelpunkt gerückt wird. Es scheint, als habe sich das Jahrhundert innerhalb von nur 12 Jahren abgespielt. Schäfer: Eine Fixierung auf bestimmte Epochen, Themen oder Strukturen kann nie gut sein. Allerdings: Niemand sollte verhindern wollen, dass wir – vor allem wir Deutsche – uns immer wieder mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 auseinandersetzen. Wir müssen dies nicht ständig tun, sollten uns aber unserer Verantwortung vor der Geschichte bewusst sein und dementsprechend in der Gegenwart handeln. Das 20. Jahrhundert wird als ein „kurzes“ Jahrhundert in die Geschichtsschreibung eingehen. Vor allem wir Deutsche sehen es mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges beginnen und mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Vereinigung Deutschlands enden. Das Deutsche Reich war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Ausbruch eines Weltkrieges maßgeblich beteiligt und hat den Zweiten begonnen. Insoweit ist diese Zeit für uns und für viele andere Völker mit sehr viel negativen Erinnerungen verbunden. Die zweite Hälfte des Jahrhunderts endet jedoch außerordentlich positiv, denn wer hätte beispielsweise erstens vor wenig mehr als einem Jahrzehnt zu hoffen gewagt, dass wir 1989/90 den Fall des Eisernen Vorhangs und die Vereinigung Deutschlands erleben würden und zweitens die erfolgreiche demokratische Entwicklung der Bundesrepublik von den Menschen in der DDR übernommen und – weit überwiegend – bejaht würde. Gauly: Wie ist die unterschiedliche Aufarbeitung und das unterschiedliche Verständnis von Geschichte in West und Ost zu interpretieren? Schäfer: Selbst wenn unterschiedliche Quellen- und Fragestellungen die Geschichtswissenschaft prägen, so hoffe ich doch zuversichtlich, dass wir auf dem Weg zur Beantwortung der Frage „wie es eigentlich gewesen“ ist (Leopold von Ranke) nicht zu allzu unterschiedlichen Interpretationen kommen. Allerdings ist sehr wohl festzustellen, dass wir in der Bewertung deutsch-deutscher Geschichte vor einer Verharmlosung der DDR-Diktatur warnen und uns immer wieder die Frage stellen müssen, ob es denn in der DDR beispielsweise eine sogenannte Nischengesellschaft gegeben habe. Die Allmacht der Staatssicherheit diente doch eben dazu, dass diese „Nischen“ nur als kontrollierte Ausnahmen akzeptiert wurden. Ein weiterer Unterschied ist auch, dass wir uns im Westen daran gewöhnt haben, eine kollektive bzw. nationale Interpretation der Geschichte zu akzeptieren, während in den neuen Ländern eine solche ganzheitliche Interpretation noch nicht möglich ist, weil – dafür habe ich großes Verständnis – die Menschen mehr ihre persönliche, ihre familiäre oder die Geschichte ihrer Gruppen im Vordergrund sehen. 58 Gauly: Welche Konsequenzen hat die geschichtliche Zäsur von 1989 für die Beschäftigung mit Historie? Schäfer: Die Revolution der Staatenwelt 1989/90 und die Vereinigung Deutschlands hat den Historikern einen Schub an Ansehen und einen Impuls für neue Fragestellungen gegeben, wie er kaum in einer anderen Wissenschaft unserer Zeit vorkam. Wenn vor wenigen Jahren noch „das Ende der Geschichte“ beschworen wurde, so können wir heute feststellen, dass die Geschichte mit großer Macht ihr Recht fordert. Nachdem der Kalte Krieg die Zeit seit 1946 gleichsam eingefroren hatte, regen sich heute wieder Kräfte, die wir längst bezwungen glaubten. Gauly: Das Wiederaufleben solcher überwunden geglaubter Symptome führt zu der klassischen Frage: Kann man aus der Geschichte lernen? Schäfer: Das Wort „Lernen“ würde ich in diesem Kontext in Anführungszeichen setzen. Denn aus der Geschichte lässt sich nicht lernen wie aus der Mathematik oder Geographie. Es kommt darauf an, dass wir aus der Geschichte lernen, indem wir die Erfahrungen der Geschichte sammeln und deuten, um uns ihrer bewusst zu sein. Denn nur der handelt verantwortungsbewusst, der auch die „Lehren“ der Geschichte berücksichtigt. Für uns Deutsche gilt nun in besonderer Weise, dafür Sorge zu tragen, dass nie wieder Kriege in deutschem Namen geführt werden. Die internationale Achtung der Menschenrechte sollte ein unumstößliches Ziel unserer Politik sein. Selbst wenn dies unerreichbar scheint, sollten wir dennoch danach streben, denn nur so werden wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bestehen können. J Fett- und Filz-Objekte von Joseph Beuys im Hessischen Landesmuseum Darmstadt 59 Autoren Kurzbiographien Wolfgang R. Assmann Geboren 1944. Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Göttingen, Berlin und Bonn. Referendarzeit in NRW und Studium an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Nach Zweiter Juristischer Staatsprüfung 1972–1980 Beamter im Bundesministerium der Finanzen, Bonn; zunächst zuständig für die Durchführung des Londoner Schuldenabkommens; später Grundsatzreferent für Bankenfragen. 1980–Juni 1998 Oberbürgermeister und Verwaltungschef der Stadt Bad Homburg v.d. Höhe. Auf Landes- und Bundesebene Mitglied, z.T. Vorsitzender von Führungs- und Aufsichtsgremien verschiedener Unternehmen, Verbände und Stiftungen. Seit Oktober 1998 geschäftsführendes Mitglied im Vorstand der Herbert Quandt-Stiftung. Wladyslaw Bartoszewski Geboren 1922 in Warschau, Polen. Von September 1940 bis April 1941 politischer Häftling Nr. 4427 im KZ Auschwitz I. 1942 –1944 Mitbegründer einer geheimen Hilfsorganisation für verfolgte Juden und Teilnahme am polnischen Widerstand sowie am Warschauer Aufstand 1944. Zwischen 1946 und 1954 wurde er zweimal für insgesamt sechseinhalb Jahre durch die Kommunisten inhaftiert. Tätigkeit als freier Journalist, Schriftsteller, Gastprofessor für Neueste Geschichte an der Katholischen Universität Lublin von 1955 –1982. Während seiner Mitgliedschaft in der Freien Gewerkschaft „Solidarnosc“ von 1980– 1982 wurde er fünf Monate inhaftiert. Von 1983 –1990 Gastprofessor für Politische Wissenschaften an den Universitäten München, Eichstätt und Augsburg. Anschließend bis 1995 Botschafter der Republik Polen in Österreich. Von März bis Dezember 1995 Außenminister der Republik Polen. Seit September 1997 ist er Senator der Republik Polen und Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten und Europäische Integration. Vielfach ausgezeichnet, u.a. als „Gerechter unter den Völkern der Welt“ 1963 durch Yad Vashem, Jerusalem, mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1986 und mit dem Bundesverdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland 1997. Autor zahlreicher Buchpublikationen. 60 Joachim Gauck Geboren 1940 in Rostock als Sohn eines Kapitäns. Nach dem Abitur studierte er Theologie. Zunächst Pfarrer in Lüssow bei Güstrow und später in Rostock-Evershagen. 1989 gehörte er zu den Mitbegründern des „Neuen Forums“ in seiner Heimatstadt und war Mitinitiator des kirchlichen und öffentlichen Widerstandes gegen die SED-Diktatur. März 1990 Abgeordneter der Bürgerbewegung in der Volkskammer; Vorsitzender des Parlamentarischen Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS. Oktober 1990 Berufung zum „Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes“. Seit Verabschiedung des StasiUnterlagen-Gesetzes des Deutschen Bundestages Ende 1991 „Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ in Berlin. 1995 wurde er mit deutlicher Mehrheit wiedergewählt und für eine zweite Amtsperiode berufen. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Bundesverdienstkreuz in Würdigung seiner Verdienste für die friedliche Revolution 1989. 1999 erhielt er die Ehrendoktorwürde von der Universität Rostock. Thomas Maximilian Gauly Geboren 1960 in Bad Neustadt /Saale. 1980 –1986 Studium der Politischen Wissenschaften, der Katholischen Theologie, der Mittleren und Neueren Geschichte an den Universitäten Mainz und Bonn; Abschluss als M.A.; anschließende Promotion bei Karl-Dietrich Bracher zum Dr. phil. in Politischen Wissenschaften. Tätigkeit als freier Journalist bei Tageszeitungen und Fernsehen. 1986 –1987 Referent Katholische Akademie, Wiesbaden. 1989 –1991 Referent Studienförderung Cusanuswerk in Bonn. 1991–1994 Geschäftsführer Grundsatzprogramm-Kommission der CDU, danach Leiter der Stabsstelle „Politische Beratung und Sonderaufgaben“, Konrad-Adenauer-Haus, Bonn. 1994–1998 Visiting Lecturer für Politische Wissenschaften an Trinity Hall, Cambridge. 1996 –1998 Geschäftsführer der Herbert Quandt-Stiftung. Leiter Unternehmenskommunikation der ALTANA AG. Seit 1998 Vorstandsmitglied der Herbert Quandt-Stiftung und Sprecher der Familie Quandt. Diverse Buchpublikationen. Hans Graf von der Goltz Geboren 1926 in Stettin (Szczecin). 1946–1948 Studium der Rechte an der Universität München; 1948 Erste Juristische Staatsprüfung in München; 1949–1952 Referendariat in München und Düsseldorf; 1952 Große Juristische Staatsprüfung. 1952 –1956 Deutsche Kreditsicherung KG, Düsseldorf; 1956– 1959 International Finance Corporation, Washington, D.C.; 1959 –1971 Tätigkeit bei Klöckner & Co. Duisburg, zuletzt als Vorsitzender der Gesamtleitung mit Generalvollmacht. 1971 Eintritt in den Interessenbereich Dr. Herbert Quandt, Bad Homburg v.d. Höhe. 1982–1992 Testamentsvollstrecker nach Dr. Herbert Quandt zusammen mit Frau Johanna Quandt. Ehrenvorsitzender des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung. Autor von Romanen und Essays. 61 Autoren John R. Hodges Geboren 1952. Studium der Medizin am London Hospital Medical College. 1975 M.B. und B.S. mit Auszeichnung; 1977 Member of the Royal College of Physicians (UK); 1988 Promotion (London University); 1993 Fellow of the Royal College of Physicians. Neben verschiedenen medizinischen Preisen erhielt er Forschungsstipendien am Wolfson College in Oxford, für Neuropsychologie an der University of California, San Diego, und in der Abteilung Psychologie an der MacQuarie University in Sydney. Als Gastprofessor lehrte er am Institute of Cognitive Science Research an der University of Pennsylvania. Stationen seiner medizinischen Laufbahn waren Lehraufträge an unterschiedlichen Universitäten verbunden mit Tätigkeiten in psychiatrischen und neurologischen Abteilungen der jeweiligen Kliniken. Seit April 1997 ist er Professor für Verhaltensneurologie an der Universität Cambridge. In der Abteilung für angewandte Psychologie des MRC (Medical Research Council) in Cambridge leitet er die „Memory Group“. Über die Neuropsychologie von Gedächtnisstörungen hinaus beschäftigt er sich heute mit der Neuropsychologie der Alzheimer’schen-Krankheit und damit verbundenen Krankheiten. Er ist Gründer und Mitherausgeber der Publikation Neurocase und Mitglied in redaktionellen Gremien verschiedener medizinischer Fachzeitschriften. Klaus-Dieter Lehmann Geboren 1940 in Breslau. 1967 Diplom in Physik und Mathematik. Nach dem Staatsexamen in Bibliothekswissenschaft begann er 1970 als Fachreferent an der Hochschulbibliothek Darmstadt. 1973 wurde er stellvertretender Direktor und 1978 leitender Bibliotheksdirektor der Universitätsbibliothek Frankfurt a.M. Gleichzeitig war er Direktor der Fachhochschule für Bibliothekswesen. 1986 erhielt er eine Honorarprofessur für Wirtschaftsinformatik an der Universität Frankfurt a.M.; 1988 Generaldirektor der Deutschen Bibliothek Frankfurt a.M.; 1990 auch der Deutschen Bücherei Leipzig. Seit 1999 ist er Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Ausgezeichnet u.a. mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Er ist Vorsitzender bzw. Mitglied in zahlreichen nationalen und internationalen Gremien und Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften. Pierre Nora Geboren 1931 in Paris. Magister in Literaturwissenschaften und Philosophie, 1958 Lehrbefugnis in Geschichte. Von 1958 –1960 Gymnasiallehrer; anschließend bis 1963 Tätigkeit bei der Thiers-Stiftung. Von 1965 –1977 lehrte und forschte er in verschiedenen Funktionen am Institut d’études politiques (Sciences Po) in Paris. Seit 1977 ist er Direktor und Professor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales. Neben seiner universitären Laufbahn begann er 1964 die verlegerische Karriere beim Verlag Julliard, wo er die Buch- 62 reihe „Archives“ gründete. Seit 1966 leitet er die historische und geisteswissenschaftliche Abteilung beim Gallimard-Verlag in Paris. Verschiedene Buchreihen, wie z.B: die „Bibliothèque des Sciences humaines“, die „Bibliothèque des histoires“ und „Témoins“ (ca. 500 Titel) wurden von ihm veröffentlicht. Seit 1980 ist er Chefredakteur der von ihm veröffentlichten Zeitschrift „Le débat“. Offizier der Ehrenlegion. Als Autor zahlreicher Publikationen und Buchreihen wurde er in Frankreich mehrfach ausgezeichnet, u.a. 1993 mit dem Grand prix national de l’Histoire. Hermann Schäfer Geboren 1942. Er studierte u.a. Geschichte und Englisch in Frankfurt a.M., Bonn und Freiburg. Ab 1971 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Freiburg. 1977 Promotion in Freiburg. 1986 Habilitation und Venia Legendi für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Freiburg. 1986 Leiter des Amtes für Kultur und Öffentlichkeitsarbeit im Landkreis Waldshut; Abteilungsleiter „Sammlungen“ am Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim. Seit 1987 Direktor der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Museumspreis 1995 des Europarates und weitere Auszeichnungen, darunter 1997 Medienpreis der Johanna Quandt-Stiftung für die Ausstellung „Markt oder Plan. Wirtschaftsordnungen in Deutschland“. Mitglied zahlreicher Beiräte, darunter des Leitungskomitees des European Museum Forums, zugleich der Jury für den European Museum of the Year Award und Vorstandsmitglied der Visitor Studies Association in den USA als erstes und einziges nicht-amerikanisches Mitglied. Seit Februar 1999 ist er Mitglied des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung. Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu Themen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie zu Museumsfragen. Harald Weinrich Geboren 1927 in Wismar. Studium der Romanistik, Germanistik, Latinistik und Philosophie in Münster, Freiburg, Toulouse und Madrid. Promotion 1954 und Habilitation 1958 in Münster. Es folgten Professuren für Romanistik in Kiel, Köln, am Collège de France in Paris und für Deutsch als Fremdsprache in München. Mitbegründer der Universität Bielefeld und erster Direktor des dortigen Zentrums für interdisziplinäre Forschung; Gastprofessuren an den Universitäten von Michigan, Princeton und der Scuola Normale Superiore von Pisa. Dekan an der Philosophischen Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft II in München. Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien des In- und Auslands. Unter seinem Namen erschienen zahlreiche Bücher, Aufsätze und Essays zur Sprachund Literaturwissenschaft. Für seine Verdienste um die deutsche Sprache wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hansischen Goethe-Preis (1997) und der Carl-Zuckmayer-Medaille (1998). 63 Teilnehmer Teilnehmer Wolfgang R. Assmann Geschäftsführender Vorstand Herbert Quandt-Stiftung Bad Homburg v.d.H. Prof. Dr. Wladyslaw Bartoszewski Senator der Republik Polen ehemaliger Außenminister der Republik Polen Warschau Dr. h.c. Joachim Gauck Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Berlin Dr. Thomas M. Gauly Leiter Unternehmenskommunikation ALTANA AG Mitglied des Vorstandes Herbert Quandt-Stiftung Bad Homburg v.d.H. Hans Graf von der Goltz Ehrenvorsitzender des Stiftungsrates Herbert Quandt-Stiftung Bad Homburg v.d.H. 64 Prof. Dr. John R. Hodges Professor der Verhaltensneurologie MRC Cognition and Brain Sciences Unit Neurologische Abteilung der Universität Cambridge Cambridge Dr. h.c. Michael Klett Vorstandsvorsitzender, Ernst Klett AG Stuttgart Dr. Renate Köcher Geschäftsführerin Institut für Demoskopie Allensbach Prof. Klaus-Dieter Lehmann Präsident, Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin Dr. h.c. André Leysen Vorsitzender des Verwaltungsrates Gevaert N.V. Mortsel Prof. Pierre Nora Directeur littéraire, Éditions Gallimard Directeur de recherche École des Hautes Études en Sciences Sociales Paris Prof. Dr. phil. Manfred Pohl Leiter Historisches Institut Deutsche Bank AG Frankfurt am Main Dr. Ulrich Raulff Ressortleiter Feuilleton Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurt am Main Janusz Reiter Präsident, Zentrum für Internationale Beziehungen Botschafter a.D. Warschau Prof. Dr. Hermann Schäfer Direktor, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Bonn Dr. Kai M. Schellhorn Mitglied des Vorstandes Herbert Quandt-Stiftung der BMW AG München Dr. Frank Schirrmacher Mitherausgeber Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurt am Main Prof. Dr. Erika Schuchardt MdB, Universität Hannover Hannover Nikolaus Schweickart Vorsitzender des Vorstandes ALTANA AG und Herbert Quandt-Siftung Bad Homburg v.d.H. Mark Speich Wissenschaftlicher Referent Herbert Quandt-Stiftung Bad Homburg v.d.H. Lord Weidenfeld of Chelsea Verleger London Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Harald Weinrich Professor emeritus Universität München und Collège de France München Stef Wertheimer Vorsitzender des Vorstandes Iscar Ltd. Tefen 65 Rückblick Sinclair-Haus Gespräche Welt im Umbruch: Können Demokratie und Marktwirtschaft überleben? Quo vadis? Deutschland nach einem besonderen Wahljahr Erstes Sinclair-Haus Gespräch, November 1993 Drittes Sinclair-Haus Gespräch, Dezember 1994 Werner Adam, Frankfurt; Jitzhak Ben-Ari, Tel Aviv; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.; Marion Gräfin Dönhoff, Hamburg; Freimut Duve, Bonn; Henri Froment-Meurice, Paris; Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Roman Herzog, Karlsruhe; Josef Joffe, München; Eberhard von Kuenheim, München; André Leysen, Antwerpen; Hubert Markl, Berlin; Jürgen Mittelstraß, Konstanz; Pauline Neville-Jones, London; Heinz Riesenhuber, Frankfurt; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Anatolij Sobtschak, St. Petersburg; Norman Stone, Oxford; Michael Stürmer, Ebenhausen; Hanna Suchocka, Warschau; Kurt Werner, Darmstadt. Michel Albert, Paris; Peter Badura, München; Erhard Busek, Wien; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.; Warnfried Dettling, München; Curt Gasteyger, Genf; Wolfgang Gerhardt, Wiesbaden; Günther Gillessen, Frankfurt; Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Jiri Grusa, Bonn; Renate Köcher, Allensbach; Johannes Ludewig, Bonn; David Marsh, London; Hubert Markl, Berlin; Klaus Naumann, Bonn; István Pataki, Budapest; Janusz Reiter, Köln; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Michael Stürmer, Ebenhausen; Horst Teltschik, München; Antje Vollmer, Bonn; Grigory A. Yavlinsky, Moskau. Verwildert der Mensch? Voraussetzungen gesellschaftlicher Ordnung Kulturen im Konflikt Die Bestimmung Europas Zweites Sinclair-Haus Gespräch, April 1994 Viertes Sinclair-Haus Gespräch, März/April 1995 Konrad Adam, Frankfurt; Shlomo Avineri, Jerusalem; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.; Marion Gräfin Dönhoff, Hamburg; Luigi Vittorio Conte Ferraris, Rom; Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Franz Kamphaus, Limburg; Dorit Kney-Tal, Jerusalem; Carmen Lakaschus, Rödermark; Paul Lendvai, Wien; Martin Lohmann, Bonn; Eckart Lohse, Frankfurt; Hermann Lübbe, Zürich; Hubert Markl, Berlin; Monika Maron, Berlin; Christian Pfeiffer, Hannover; Wolfgang Röller, Frankfurt; Konrad Schily, Witten; Rupert Scholz, Bonn; Karl Fürst von Schwarzenberg, Wien/Prag; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Rainer K. Silbereisen, Henderson, USA; Michael Stürmer, Ebenhausen, Tomás Vrba, Prag. Konrad Adam, Frankfurt; Alexej Arbatov, Moskau; Luigi Caligaris, Rom; Dieter ChenauxRepond, Bonn; Amnon Cohen, Jerusalem; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.; Alton Frye, New York; Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Bacharuddin Jusuf Habibie, Jakarta; Yair Hirschfeld, Ramat Yishai/Israel; Hubert Markl, Berlin; William Rees-Mogg, London; Yezid Sayigh, Cambridge; Peter Scholl-Latour, Paris; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Dieter Senghaas, Bremen; Udo Steinbach, Hamburg; Michael Stürmer, Ebenhausen; Horst Teltschik, München; Bassam Tibi, Göttingen; Thanos Veremis, Athen; Kurt F. Viermetz, New York. 66 Kleine Gesprächsrunden: Stephanie Kappel, Mark Speich, Stef Wertheimer, Lord Weidenfeld of Chelsea, Hans Graf von der Goltz, Frank Schirrmacher. Kultur als Machtinstrument Globale Wirtschaft – nationale Sozialpolitik: Wie lange geht das noch gut? Fünftes Sinclair-Haus Gespräch, Dezember 1995 Sechstes Sinclair-Haus Gespräch, April 1996 Shlomo Avineri, Jerusalem; Wolfgang Bergsdorf, Bonn; Dieter Chenaux-Repond, Bonn; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.; Yehuda Elkana, Zürich; Thomas M. Gauly, Bonn; Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Heinrich Klotz, Karlsruhe; Martin Lohmann, Bonn; Abbas Maleki, Teheran; Hubert Markl, Konstanz u. München; Adam Michnik, Warschau; Adolf Muschg, Zürich; Manfred Osten, Bonn; Moshe Safdie, Boston/Jerusalem/Toronto; Edward W. Said, New York; Peter Scholl-Latour, Paris; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Michael Stürmer, Ebenhausen; Horst Teltschik, München; Jürgen Trabant, Berlin; Werner Welzig, Wien. Hermann Barth, Hannover; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.; Johann Eekhoff, Bonn; Frank Field, London; Thomas M. Gauly, Bad Homburg v.d.H.; Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Joost in’t Groen, Zoetermeer/NL; Paul Kennedy, New Haven/USA; Roland Koch, Wiesbaden; Eberhard von Koerber, Brüssel; Berthold Leibinger, Stuttgart; Henri Lepage, Paris; André Leysen, Antwerpen; Bernd Rüthers, Konstanz; Egon Schäfer, Hannover; Bernd Schips, Zürich; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Michael Stürmer, Ebenhausen; Horst Teltschik, München; Hans Tietmeyer, Frankfurt; Arnold Wallraff, Bonn; Christian Wulff, Hannover. 67 Rückblick Löst sich die Industriegesellschaft auf ? Russland – wohin? Siebtes Sinclair-Haus Gespräch, November 1996 Neuntes Sinclair-Haus Gespräch, Dezember 1997 Kenneth Angst, Zürich; James Buchanan, Fairfax; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.; Lord Ralf Dahrendorf, Oxford; Daniel Deckers, Frankfurt; Thomas M. Gauly, Bad Homburg v.d.H.; Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Herbert Henzler, München; Peter von der Heydt, Köln; Paul Kirchhof, Karlsruhe; Guy Kirsch, Fribourg; Hubert Markl, München; Meinhard Miegel, Bonn; Robert Nef, Zürich; Elena Nemirovskaya, Moskau; Emma Rothschild, Cambridge; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Jonathan Steinberg, Cambridge; Horst Teltschik, München; Vilim Vasata, Düsseldorf; Michael Walker, Vancouver. Werner Adam, Frankfurt; Hannes Adomeit, Ebenhausen; Joachim Bitterlich, Bonn; Sergei Bourkov, Moskau; Evgueni Bovkoun, Bonn; Georg Brunner, Köln; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.; Wladimir Dshanibekow, Moskau; Thomas M.Gauly, Bad Homburg v.d.H.; Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Josef Joffe, München; Hansrudolf Kamer, Zürich; Tadeusz Kondrusiewicz, Moskau; Norbert Kuchinke, Unkel; Hubert Markl, Konstanz u. München; Elena Nemirovskaya, Moskau; Alexei Salmin, Moskau; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Yuri Senokossov, Moskau; Ernst-Jörg v. Studnitz, Moskau; Michael Stürmer, Ebenhausen; Alexander Suchanov, Moskau; Horst Teltschik, München; Arnold Wallraff, Düsseldorf; Fareed Zakaria, New York; Franziska Zeitler, Bad Homburg v.d.H. Europa nach der Wirtschafts- und Währungsunion Leben – um welchen Preis? Achtes Sinclair-Haus Gespräch, April 1997 Zehntes Sinclair-Haus Gespräch, April 1998 Lord Alexander of Weedon, London; Hans J. Bär, Zürich; Elmar Brok, Brüssel; Dieter ChenauxRepond, Bonn; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.; Jean François-Poncet, Paris; Thomas M.Gauly, Bad Homburg v.d.H.; Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Lord Gowrie, London; Klaus Hänsch, Düsseldorf; Helmut Kohl, Bonn; Hubert Markl, München/Konstanz; Krzysztof Michalski, Wien; Dominique Moïsi, Paris; Quentin Peel, London; Janusz Reiter, Warschau; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Michael Stürmer, Ebenhausen; Horst Teltschik, München; Christa Thoben, Bonn. Bernhard Badura, Bielefeld; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.; Johannes Dichgans, Tübingen; Thomas M. Gauly, Bad Homburg v.d.H.; Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Axel Haverich, Hannover; Hanfried Helmchen, Berlin; Hermann Hepp, München; Christiane Herzog, Berlin; Ernst Hirsch Ballin, Tilburg; Ludger Honnefelder, Bonn; Wolfgang Huber, Berlin; Karl Lehmann, Mainz; Hubert Markl, München/Konstanz; Gerald Möller, Mannheim; Gabriele Müller-Stutzer, Bonn; Heinz W. Radtke, Konstanz; Jeanne Rubner, München; Konrad Schily, Witten; Gernot Schlösser, Köln; Hans-Ludwig Schreiber, Göttingen; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Günter Stock, Berlin; Michael Stürmer, Erlangen; Franziska Zeitler, Bad Homburg v.d.H. 68 Trialog der Kulturen im Zeitalter der Globalisierung Vom christlichen Abendland zum multikulturellen Einwanderungsland? Elftes Sinclair-Haus Gespräch, Dezember 1998 Zwölftes Sinclair-Haus Gespräch, April 1999 Mahmoud Abassi, Shfar’am; Mahdi Abdul Hadi, Jerusalem; Aryeh Arnon, Beer Sheva; Wolfgang R. Assmann, Bad Homburg v.d.H.; Hisham Awartani, Nablus; Claudio Mario Betti, Rom; Avishay Braverman, Beer Sheva; Jörg Bremer, Jerusalem; Dan Catarivas, Jerusalem; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.; Saad Eddin Ibrahim, Kairo; Shaul Friedlander, Genf und Tel Aviv; Peter Galliner, London; Thomas M. Gauly, Bad Homburg v.d.H.; Johannes Gerster, Jerusalem; Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Ehoud Graff, Tel Aviv; Heike Grunewald, Jerusalem; Xavier GuerrandHermès, Paris; Shmuel Hadas, Jerusalem; Thomas Jansen, Brüssel; Eberhard von Koerber, Zürich; Jacob Lassner, Evanston Illinois; Ron Lauder, New York; Dov Lautmann, Tel Aviv; Robert Liberles, Jerusalem; Said Baha Al-Masri, Amman; Richard Mathes, Jerusalem; Amos Oz, Arad; Elie Rekhess, Tel Aviv; Danny Rubinstein, Beer Sheva; Uriel Savir, Tel Aviv; Beatrice Schalch, Zürich; Zvi Shtauber, Beer Sheva; Mohammad Shtayyeh, Jerusalem; Hanna Siniora, Jerusalem; Frank Stern, Beer Sheva; Ofra Strauss-Lahat, Israel; Michael Stürmer, Erlangen; S. Ilan Troen, Beer Sheva; Lord Weidenfeld of Chelsea, London; Stef Wertheimer, Tefen. Wolfgang R. Assmann, Bad Homburg v.d.H.; Günther Beckstein, München; Frank Böckelmann, München; Johannes Dyba, Fulda; Nadeem A. Elyas, Köln; Thomas M. Gauly, Bad Homburg v.d.H.; Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Friedrich Wilhelm Graf, Augsburg; Ludger Honnefelder, Bonn; Barbara John, Berlin; Susanne Klatten, Bad Homburg v.d.H.; Sebastian Kleinschmidt, Berlin; Michael Klett, Stuttgart; Wolfgang Kluxen, Bonn; Renate Köcher, Allensbach; Christoph Link, Erlangen; Hartmut Löwe, Bonn; Dieter Oberndörfer, Freiburg; Cem Özdemir, Berlin; Hermann Schäfer, Bonn; Otto Schily, Berlin; Frank Schirrmacher, Frankfurt a.M.; Nikolaus Schweickart, Bad ¸ Homburg v.d.H.; Faruk Sen, Essen; Mark Speich, Bad Homburg v.d.H.; Eberhard Tiefensee, Erfurt; Ulrich Ivo von Trotha, Hamburg. Referat John R. Hodges 69 Hintergrund Herbert Quandt Dr. Herbert Quandt (1910 –1982), einer märkischen Unternehmerfamilie entstammend, gehörte zu den markantesten Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegswirtschaft. Seinen dezentral organisierten Unternehmen überließ er große Entscheidungsräume, um Eigeninitiative und Innovationsgeist zu stärken. Die Verantwortung des Unternehmers ging für ihn über das rein Ökonomische hinaus. Herbert Quandt war der erste Vorstandsvorsitzende der ALTANA AG, die im Jahre 1977 im Wege der Realteilung aus dem VartaKonzern hervorgegangen ist. Die ALTANA AG ist eine strategische Managementholding. Die Unternehmensgruppe beschäftigt über 8000 Mitarbeiter und ist weltweit auf den Geschäftsfeldern Pharmazeutik und Spezialchemie tätig. Herbert Quandt-Stiftung Aus Anlass des 70. Geburtstages von Herbert Quandt hat die ALTANA AG im November 1980 zum Dank für die langjährige Führung der in ihr zusammengeschlossenen Unternehmen die Herbert Quandt-Stiftung errichtet. Diese fördert in Projekten und durch finanzielle Zuwendungen den nationalen und internationalen Dialog sowie Wissenschaft, Forschung und Bildung in Deutschland. Neben den Sinclair-Haus Gesprächen führt die Herbert Quandt-Stiftung das international angelegte Projekt „Trialog der Kulturen“ durch. In Kooperation mit der Universität Konstanz wird jährlich der Byk-Preis für drei herausragende Forschungsarbeiten in den Naturwissenschaften vergeben. Neben der Einrichtung von Herbert Quandt-Förderprogrammen an den Universitäten Konstanz und Dresden für den internationalen Austausch junger Wissenschaftler aus Mittel- und Osteuropa leistet die Stiftung Unterstützung bei der Umsetzung von Forschungsprojekten an der Technischen Universität Dresden. Mit der „Initiative Bürgersinn“ fördert die Herbert QuandtStiftung beispielhafte Vorhaben bürgerschaftlichen Engagements und leistet auch mit eigenen Projekten einen Beitrag zur Stärkung von Eigeninitiative und selbstverantworteter Solidarität in unserer Gesellschaft. 70 Der Vorstand der Herbert Quandt-Stiftung setzt sich wie folgt zusammen: Nikolaus Schweickart (Vorstandsvorsitzender), Wolfgang R. Assmann (Geschäftsführender Vorstand), Dr. Thomas M. Gauly. Dem Stiftungsrat gehören an: Hans Graf von der Goltz (Ehrenvorsitzender), Susanne Klatten (Vorsitzende), Dr. h.c. Michael Klett, Janusz Reiter, Prof. Dr. Hermann Schäfer, Dr. Frank Schirrmacher, Lord Weidenfeld of Chelsea, Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker. Isaak von Sinclair Isaak von Sinclair (1775 –1815) war Berater und enger Vertrauter des Landgrafen von Hessen-Homburg, dessen Interessen Sinclair u.a. auf dem Wiener Kongress vertrat. Sinclair war aber nicht nur Beamter und Diplomat, sondern auch Intellektueller und Poet. Seine idealistische Philosophie und die seines Freundeskreises, dem Hegel, Schelling und Hölderlin angehörten, waren von der geistigen und politischen Auseinandersetzung im Gefolge der Aufklärung und der Französischen Revolution geprägt. Sinclair war Hölderlin insbesondere während dessen schwierigen Lebensphasen ein hilfreicher Freund. Als „edler Freund des Freundes“ gewährte Sinclair dem Dichter Zuflucht, finanzierte seinen Lebensunterhalt und kümmerte sich um den Kranken. Sinclair-Haus Gespräche 1978 erwarb die ALTANA AG das Haus, das den Namen Isaak von Sinclairs trägt. Das dem Bad Homburger Schloss gegenüber gelegene Haus wurde in der Schönheit seiner ursprünglichen Barockform restauriert. Das Sinclair-Haus beherbergt heute nicht allein die Konferenz- und Geschäftsräume der Herbert Quandt-Stiftung, sondern dient auch als Ausstellungsräumlichkeit für die Kunstausstellungen der ALTANA AG. Seit 1993 finden hier zweimal im Jahr die Sinclair-Haus Gespräche statt. 71 Impressum Herausgeber Herbert Quandt-Stiftung Löwengasse 15 61348 Bad Homburg v. d. Höhe Tel. +49 (0)61 72 66 55-15 Fax +49 (0)61 72 66 55-23 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.h-quandt-stiftung.de Gestaltung Gesa Emde Mirko Krizanovic Darmstadt Litho und Druck Jan van der Most Düsseldorf Fotografie Mirko Krizanovic S. 6/ 7, 15, 24, 26, 27, 49, 52, 54/55: Mirko Krizanovic/ Frankfurter Allgemeine Zeitung S. 17: John R. Hodges S. 38: Barbara Klemm/ Frankfurter Allgemeine Zeitung S. 70, 71: Herbert Quandt-Stiftung © Herbert Quandt-Stiftung April 2000 ISSN 1438-7875 ISBN 3-00-005594-0