Sinclair-Haus-Gespraech 13 - Herbert-Quandt

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Herbert Quandt-Stiftung
Die Stiftung der ALTANA AG
S
inclairHaus
Gespräche
Die Zukunft des
Gewesenen –
Erinnern und Vergessen
an der Schwelle
des neuen Millenniums
13. Gespräch
12.–13. November 1999
© Herbert Quandt-Stiftung
Bad Homburg v.d.H.
April 2000
ISSN 1438-7875
ISBN 3-00-005594-0
13. Sinclair-Haus Gespräch
Die Zukunft des
Gewesenen –
Erinnern und Vergessen
an der Schwelle
des neuen Millenniums
Dreizehntes Gespräch
Inhalt
Editorial
6
Wolfgang R. Assmann
Geschäftsführender Vorstand
Herbert Quandt-Stiftung
Auftakt
10
Hans Graf von der Goltz
Ehrenvorsitzender des Stiftungsrates
Herbert Quandt-Stiftung
Der Mensch und sein Gedächtnis:
Wissenschaftliche Grundlagen des
Erinnerns und Vergessens
14
Prof. Dr. John R. Hodges
Cambridge
Erinnern und kollektive Identität
20
Prof. Pierre Nora
Paris
Privates und öffentliches Vergessen
23
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Harald Weinrich
München
Historia magistra vitae –
Politiker und Geschichte
30
Prof. Dr. Wladyslaw Bartoszewski
Warschau
Kulturelle Überlieferung und das
kurze Gedächtnis der neuen Medien
42
Prof. Klaus-Dieter Lehmann
Berlin
Erinnern und Bearbeiten als
Bedingungen politischer Zukunft
48
Dr. h.c. Joachim Gauck
Berlin
Prof. Dr. Hermann Schäfer, Direktor
Stiftung Haus der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland
56
Dr. Thomas M. Gauly
Mitglied des Vorstandes
Herbert Quandt-Stiftung
Autoren
60
Kurzbiographien
Teilnehmer
64
Diskussionsrunde
Rückblick
66
Zwölf Sinclair-Haus Gespräche
Hintergrund
70
Herbert Quandt und Isaak von Sinclair
Beiträge
Interview
Impressum
Editorial
Wolfgang R. Assmann
Von der
Vielschichtigkeit
des Erinnerns
und Vergessens
Der Wechsel zur Jahreszahl 2000 ist kein Datum
historischer Periodisierung und doch geht von ihm
eine Faszination aus. Fast zwanghaft blickten wir zurück auf vergangene Jahrhunderte, insbesondere aber
auf das 20. Jahrhundert, das Historiker als „kurzes“
Jahrhundert bezeichnen, weil für sie die geschichtliche
Epoche erst 1914 mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges
beginnt und schon 1989/90 beim Fall des Eisernen
Vorhangs endet. Gerade dieses kurze letzte Jahrhundert hat uns Deutsche aber nachhaltig gezeichnet.
Abhängig vom Alter des Einzelnen gehen individuelle
und kollektive Erinnerungen eine enge Verbindung
ein. Wir erinnern uns zweier verlorener Weltkriege, der
grausamen Verbrechen, die der NS-Staat im deutschen
Namen begangen hat, der Vertreibung von Millionen
Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten und der
vierzigjährigen Teilung Restdeutschlands. Die Erinnerung erscheint insoweit als drückende, aber notwendige Last, bei deren historischer Einordnung und Kategorisierung man stets Gefahr läuft, den Verdacht der
Verdrängung zu wecken. Aber wir Deutschen dürfen uns auch daran erinnern,
dass es in den letzten 50 Jahren gelungen ist, einen freiheitlich-demokratischen
Rechtsstaat aufzubauen, der zum Motor für die europäische Einigung wurde.
Und dankbar stellen wir fest, dass vor zehn Jahren durch eine „friedliche Revolution“ in der ehemaligen DDR die Menschen gewaltlos das Ende einer totalitären
Diktatur herbeiführten.
Was hat dies mit dem Thema des 13. Sinclair-Haus Gespräches zu tun? Die
Beispiele zeigen, dass Erinnern wichtig ist für das Leben des Einzelnen, der
Familie, aber auch eines Volkes. Unser Selbstbild, unsere Identität und unser
Selbstvertrauen bauen auf Erinnerungen auf. Und wie wichtig gerade Identitäts-
6
Alexanderplatz, Berlin 1990
bewusstsein in einer zusammenwachsenden Welt ist, haben wir beim letzten
Sinclair-Haus Gespräch erfahren.
Die Frage des Erinnerns und Vergessens ist aber nicht ein nur die Deutschen
beschäftigendes Phänomen. Schon vor 2500 Jahren soll nach einer von Cicero
überlieferten Anekdote der athenische Staatsmann und Feldherr Themistokles dem
Dichter Simonides, der anbot, Themistokles die Gedächtniskunst zu lehren, geantwortet haben, er – Themistokles – brauche keine Gedächtniskunst, sondern allenfalls eine Kunst des Vergessens, er habe schon jetzt viel zu viele Dinge im Kopf.
Themistokles spricht damit die Erkenntnis aus, dass geordnetes Erinnern nur durch
Vergessen möglich ist. Von der Fülle des Erlebten und des Erfahrenen trennt das
Gedächtnis das Erinnerungswerte vom Erinnerungsunwerten. Die Kunst des Vergessens ist damit notwendige Voraussetzung für eine Kunst des Erinnerns.1
7
Editorial
Wolfgang R. Assmann
Die Fähigkeiten zum Erinnern und Vergessen sind in den Anlagen des Menschen
begründet, in den physiologischen und psychologischen Bedingungen seines Lebens.
Durch die Untersuchung von an Gedächtnisverlust leidenden Kranken haben die
Mediziner viel über das Erinnerungsvermögen des Menschen gelernt.2
Das Gedächtnis jedes Einzelnen von uns wird darüber hinaus ganz wesentlich
geprägt von der gesellschaftlichen Umgebung, von der Familie, vom Schulunterricht,
vom Beruf, von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, von der Zeitungslektüre,
vom Fernsehen, von vielen unser Denken beeinflussenden Faktoren, die wir bewusst
nicht mehr wahrnehmen. Das Ergebnis dieses feinmaschigen Netzwerkes gegenseitiger
Beeinflussung, Informationen und gelegentlich auch Manipulationen kann gemeinsames
Erinnern und kollektive Identität sein. Dies ist heute aber nicht mehr regelmäßig so, weil
durch die „Beschleunigung der Geschichte“ und die Demokratisierung der Gesellschaften an die Stelle eines allgemeinen kollektiven Gedächtnisses immer häufiger unterschiedliche Versionen von Erinnerungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen treten. 3
Durchaus kontrovers diskutiert wurde während des
13. Sinclair-Haus Gespräches die Frage, ob der demokra„W e r a l s P o l i t i k e r
tisch verfasste freiheitliche Rechtsstaat auch Vergessensverdie Zukunft
bote beziehungsweise Erinnerungsgebote erlassen kann
gestalten will,
und wer dazu gegebenenfalls legitimiert ist. Kann also Erinbraucht zur
nern und Vergessen staatlich geregelt werden? Was auf den
Zielbestimmung
ersten Blick abwegig erscheint, ist in Teilen unseres RechtsWertmaßstäbe und
lebens allgemein akzeptierte Praxis. Die Amnestie, die VerKontrollmarken.“
jährung und die Begnadigung sind traditionsreiche Formen
des öffentlichen Vergessens. Das Datenschutzrecht beispielsweise ist eine moderne Strategie des öffentlichen Vergessens zum Schutz der Privatheit und des informationellen Selbstbestimmungsrechtes
der Menschen. Ein Vergessensverbot, über das es in der Bundesrepublik Deutschland
einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, betrifft den an sechs Millionen europäischen Juden unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Völkermord,
den zu leugnen oder zu verharmlosen nicht nur gesellschaftlich geächtet, sondern
heute sogar unter Strafe gestellt ist.4
Da man nicht alles, was man erlebt und erfährt, im Kopf behalten kann, haben die
Menschen schon frühzeitig begonnen, ihr Gedächtnis generationsübergreifend in Bibliotheken, Archive und Museen „auszulagern“. Aber auch insoweit hat sich im 20. Jahrhundert die Situation tiefgreifend verändert. 5 Stichworte hierfür sind die vom Fortschritt
der Technik ermöglichte Globalisierung und die damit einhergehende Flüchtigkeit der
Medien. Das digitale Archiv ist beliebig erweiterbar und jederzeit von überall her zugänglich; mancher träumt von einer durch Computer garantierten freien Verfügbarkeit
allen existenten Wissens. Aber Speichern hat mit Erinnern ebenso viel gemein wie
Auswendiglernen mit Verstehen. Die Frage ist deshalb heute: Wie bewahren wir
uns Inseln des Wissens und Verstehens im Strom der Daten? Wie schützen wir uns
vor dem Ertrinken in diesem Strom? Und wie verhindern wir, dass durch das „kurze
Gedächtnis“ der neuen Medien ungewollt große Informationsmengen vergessen werden, weil wir schon nach einigen Jahrzehnten nicht mehr die Betriebssysteme zur
Entschlüsselung des Gespeicherten beherrschen?
8
Wolfgang R. Assmann
Aber nicht nur die technischen Bedingungen des Erinnerns haben sich gegenüber
dem 19. Jahrhundert verändert, auch die Gemeinsamkeit von kultureller und intellektueller Überlieferung, die einst beispielsweise das Bildungsbürgertum auszeichnete,
gibt es heute nicht mehr. Umso erstaunlicher ist es, dass in Deutschland die Zahl der
Museen wächst und diese Orte des Erinnerns von 90 bis 95 Millionen Menschen jährlich besucht werden.6 Das virtuelle Museum kann eben doch nicht den Schauer des
Authentischen vermitteln, der vom Original ausgeht.
Ging es bis hierher mehr um eine beschreibende Darstellung von Grundlagen und
Bedingungen des Erinnerns und Vergessens, müssen bei der Behandlung der Frage,
warum Erinnern eine Bedingung politischer Zukunft ist, inhaltliche Schwerpunkte
gesetzt und Wertentscheidungen getroffen werden. Wer als Politiker die Zukunft gestalten will, braucht zur Zielbestimmung Wertmaßstäbe und Kontrollmarken. Woher
nimmt er diese, wenn nicht aus der Geschichte und seiner persönlichen Erfahrung?
Das Diktum Hegels, man könne aus der Geschichte nur eines lernen: dass niemals
etwas aus ihr gelernt worden ist, scheint mir in den letzten 50 Jahren durch die Entwicklung der Bundesrepublik widerlegt. Die vom Grundgesetz ermöglichte demokratische Stabilität war eine Lehre aus den Schwächen der Weimarer Reichsverfassung.
Mit der bewussten Einbindung Deutschlands in ein zusammenwachsendes Europa zog
man Konsequenzen aus den kriegerischen Erfahrungen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Staatsmänner wie Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl ließen
keinen Zweifel daran, dass historisches Bewusstsein für sie Bedingung politischer
Zukunft war. Aber wird das zwangsläufig so bleiben? Wie würde es sich auf Inhalt
und Stil der Politik auswirken, wenn führende Politiker ohne unsere Geschichte zu
bedenken, die Zukunft gestalten wollten? Können Politiker durch Vergessen tatsächlich der Geschichte entkommen?
Diese Fragen beantworten auf sehr persönliche und dadurch besonders beeindruckende Weise zwei Männer, die Geschichte erlitten und mitgestaltet haben. Der ehemalige polnische Außenminister Professor Dr. Wladyslaw Bartoszewski verbindet die
Erfahrungen als Opfer sowohl der Nationalsozialisten als auch der Kommunisten mit
den Erfahrungen des Widerstandskämpfers, er ist Homme de lettres und zugleich
handelnder Politiker.7
Joachim Gauck, der im kirchlichen Dienst als Oppositioneller den Alltag der DDR
erlebte und erlitt, hilft heute als Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes den Ostdeutschen, ihre Erinnerungen zu bearbeiten statt sie zu verdrängen. Er weiß: „Die Wiederbegegnung mit den Traumata der Vergangenheit ist ein
befreiendes Element.“ 8 J
1 Vertiefend dazu Weinrich: „Privates und öffentliches Vergessen“.
2 Hierüber berichtet Hodges: „Der Mensch und sein Gedächtnis – Wissenschaftliche Grundlagen des Erinnerns
und Vergessens“.
3 Siehe hierzu im Einzelnen Nora: „Erinnern und kollektive Identität“.
4 Vertiefend zur Problematik öffentlicher Vergessensverbote Weinrich: „Privates und öffentliches Vergessen“.
5 Siehe dazu im Einzelnen Lehmann: „Kulturelle Überlieferung und das kurze Gedächtnis der neuen Medien“.
6 Siehe zu den Merkmalen moderner Museumsarbeit das Interview Gauly/Schäfer.
7 „Historia magistra vitae – Politiker und Geschichte“ löste beim Abendgespräch eine außerordentlich
engagierte Diskussion aus.
8 Siehe im Einzelnen Gauck: „Erinnern und Bearbeiten als Bedingungen politischer Zukunft“.
9
Auftakt
Hans Graf von der Goltz
Dreizehntes Sinclair-Haus Gespräch
Es ist mir eine große Freude, Sie im Namen der Herbert Quandt-Stiftung sehr
herzlich zum 13. Sinclair-Haus Gespräch begrüßen zu dürfen. Es steht unter dem
Thema „Die Zukunft des Gewesenen – Erinnern und Vergessen an der Schwelle des
neuen Millenniums“.
Der Titel lässt uns stutzen, begreifen wir doch die Vergangenheit als abgeschlossen,
dem gestaltenden Eingriff menschlichen Handelns entzogen. Wie also kann das Gewesene eine Zukunft haben? Und braucht diese Zukunft beides, das Erinnern wie das
Vergessen gleichermaßen? Und wenn das so ist, wie ordnen wir Gewesenes dem einen wie dem anderen zu? Dem Wort Vergessen haftet etwas Endgültiges an. Wie ein
Urteilsspruch ohne Revision. Trauen wir uns das zu? Wohl bleibt die Vergangenheit
der Einwirkung menschlichen Handelns verschlossen, in den Erinnerungsräumen von
Individuen und Gesellschaften lebt sie jedoch fort. Aber wie? Erinnerung verleiht der
menschlichen Existenz die Sicherheit einer Erfahrungswelt und ermöglicht es, Eindrücke und Erfahrungen der Gegenwart zu ordnen und in zukunftsgerichtetes Handeln
umzusetzen. Erinnerungen sind wesentlich für die Herausbildung unserer individuellen Identität. Und doch ist unsere Erinnerung immer wieder Veränderungen, Eintrübungen und Verzerrungen unterworfen. Sie bedarf des Vergessens. Die Bilder vom
Gewesenen leben in unseren Erinnerungswelten nicht einfach fort, sondern nehmen
immer wieder andere Gestalt an – nicht zuletzt durch Manipulation und Suggestion.
Auch sie können dem Gewesenen eine oft fragwürdige Zukunft geben.
Erinnerung bezieht sich aber nicht nur auf unsere individuellen Erfahrungsräume,
sondern auch auf jene Traditionen und historischen Zusammenhänge, die wir mit
anderen teilen. Diese gemeinsamen Erinnerungen an das Gewesene können zum
konstituierenden Element von Gruppenidentitäten werden. Folgerichtig hat der französische Soziologe Maurice Halbwachs dafür den Begriff der „kollektiven Erinnerung“
geprägt. Damit wird auch jene mythologische Geschichtssicht erfasst, der wir im romantischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts ebenso begegnen wie im aggressiven
serbischen Nationalismus dieser Tage. Die Erinnerung an eine Schlacht im 14. Jahrhundert wird, um beim Beispiel Serbiens zu bleiben, zum Legitimationsinstrument
politischer Gewaltherrschaft. Als gegenläufiges, aber ebenso willkürliches Phänomen
stellt sich das verordnete Vergessen dar, wie es etwa in der sogenannten Entstalini-
10
sierung offenbar wurde. Durch die Tilgung von Erinnerungsposten, also Denkmälern,
Büsten und anderen Symbolen, sollen historische Mythen aus dem kollektiven
Gedächtnis gelöscht werden. Dass dies nicht immer gelingt, hat nach 1989 auch die
„Rückkehr der Geschichte“ in den Ländern Mittel- und Osteuropas gezeigt, als längst
vergessen geglaubte Symbole und historische Bezüge – gleichsam über Nacht – wieder
entdeckt wurden. Wenn Erinnerung Völker dauerhaft zu trennen vermag, stellt sich
die Frage, ob politische Zukunftsgestaltung nicht auch des öffentlichen Vergessens
bedarf? Oder hat José Ortega y Gasset recht, wenn er schreibt, dass man die Vergangenheit nicht „mit einem runden Nein“ begraben könne. Sie sei, so heißt es weiter bei
ihm, „ihrem Wesen nach ein ‚revenant‘. Wenn man sie hinauswirft, kommt sie wieder.
Darum kann man sie nur wahrhaft abtun, wenn man mit ihr rechnet, sich mit dem
Blick auf sie bewegt.“
Aber auch andere Gründe sprechen für eine öffentliche Erinnerung. Schließlich
versuchen wir auf diese Weise jenes kulturelle und historische Erbe zu wahren, das
einer Gesellschaft die Sicherung und Fortentwicklung ihrer zivilisatorischen Standards
erlaubt. Erinnerung macht uns zukunftsfähig. Dieses historische Erbe allerdings können wir uns nicht aussuchen. Es umfasst auch die dunkelsten Momente der Vergangenheit, die sich nicht bewältigen, also zu einem Ende bringen lassen. Erinnerung wird
hier zur Mahnung. Vergessen hingegen muss dann, ganz im Sinne Ortega y Gassets, als
Akt der Barbarei erscheinen. Nicht nur in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage
nach dem Geschichtsbild der handelnden Politiker. Können Lehren aus einer Geschichte
gezogen werden, die man nicht kennt oder nicht verstanden hat? Am Ende dieses Jahrhunderts bleiben uns die Fragen nach dem Erinnernswerten. Was bleibt, ja, was muss
bleiben? Was kann, sollte oder muss vergessen werden? Trauen wir uns das Urteil zu?
Reichen unsere Einsicht, unsere moralische Kraft, unsere Integrität und intellektuelle
Redlichkeit? Am Ende dieses Jahrhunderts helfen uns vielleicht unsere Zweifel.
Schon in den Tagen Isaak von Sinclairs, einem Gelehrten und Diplomaten, der
Hölderlin, Hegel und Schelling zu seinen Freunden zählte und dem dieses Haus seinen Namen verdankt, dienten die Räume, in denen wir heute und morgen tagen, dem
offenen und freimütigen Gedankenaustausch. Auch beim 13. Sinclair-Haus Gespräch
wollen wir an diese Tradition anknüpfen und die anregende Ruhe des Sinclair-Hauses
zum intensiven und fruchtbaren Diskurs über die Fragen nutzen, die ich mir lediglich
anzureißen erlaubt habe.
Das 13. Sinclair-Haus Gespräch ist hiermit eröffnet.
J
11
Die Zukunft des Gewesenen: Der Pergamonaltar, Pergamon Museum Berlin
Der Zeus und Athena geweihte Altar,
errichtet zwischen 180 und 160 v. Chr.,
galt in der Antike als eines der
sieben Weltwunder.
Beiträge
John R. Hodges
Der Mensch und
sein Gedächtnis:
Wissenschaftliche
Grundlagen des
Erinnerns und
Vergessens
„Du musst anfangen, Dein Gedächtnis
zu verlieren, wenn auch nur teilweise,
um zu erkennen, dass es das Gedächtnis
ist, das unser Leben ausmacht. Leben
ohne Gedächtnis ist überhaupt kein
Leben. Unser Gedächtnis ist unser innerer Zusammenhalt, unser Verstand, unser Gefühl, ja, selbst unser Tun. Ohne
Gedächtnis sind wir nichts.“
Luis Buñuel „Mein letzter Seufzer“ 1984
Während der letzten zehn Jahre haben wir in
Cambridge Patienten mit Gedächtnisstörungen im
Hinblick auf zwei verschiedene Fragestellungen
untersucht: Zum einen, um auf diese Weise mehr
über die verschiedenen Erkrankungen zu lernen,
die das menschliche Gedächtnis befallen können,
insbesondere die Alzheimer’sche Krankheit. Der
vernichtende Einfluss, den diese Erkrankung auf
die menschlichen Erinnerungen hat, ist jüngst von
John Bayley in seinem Buch „Eine Elegie für Iris“,
in dem er den allmählichen Verfall seiner an der
Alzheimer’schen Erkrankung leidenden Ehefrau
Iris Murdoch beschreibt, eindrucksvoll dargestellt
worden. Ich durfte Iris Murdoch während ihrer
letzten beiden Lebensjahre, die der Diagnose folgten, beobachten und begleiten.
Zum anderen verfolgen wir mit unseren Studien
ein allgemeineres wissenschaftliches Ziel: Durch
die genaue Beobachtung, welche Gedächtnisleistungen infolge von Gehirnschädigungen verschie14
dener Art beeinträchtigt werden, können wir auch
sehr viel über die normale Gedächtnisfunktion lernen. Die Gehirnerkrankungen, die als eine Art
„Unfall der Natur“ bezeichnet werden können, bieten uns die einzigartige Möglichkeit zum Studium
des Gedächtnisses, da eine willkürliche Schädigung des menschlichen Gehirns aus ethischen
Gründen grundsätzlich nicht in Frage kommt. Tierexperimente dagegen, in denen künstliche Gehirnläsionen gesetzt werden, vermögen die uns interessierenden Fragen nicht zu beantworten, da nur
der Mensch über den einzigartigen, über sich
selbst reflektierenden Aspekt des Gedächtnisses
verfügt.
Der Begriff des „Gedächtnisses“ beschreibt nicht
eine einzige geistige Funktion, sondern bezieht
sich vielmehr auf eine Reihe interaktiver Subsysteme im menschlichen Gehirn. Dies kann anhand
der unterschiedlichen Formen von Gedächtnisproblemen, mit denen Patienten unsere Gedächtnissprechstunde aufsuchen, verdeutlicht werden.
Wenn ein Patient über Gedächtnisschwierigkeiten
klagt, kann dies auf eine Reihe verschiedener Probleme hinweisen. Manchmal bedeutet es: „Ich
gehe in mein Arbeitszimmer und vergesse sofort,
weshalb ich hineingegangen bin“ oder „ Jemand
ruft mich an und nennt mir seine Telefonnummer,
ich werde durch die Kinder kurz abgelenkt und –
schon habe ich die besagte Nummer vergessen“.
Diese wohlbekannten Beispiele aus dem Alltag gehen auf Störungen des Kurzzeitgedächtnisses (in
der Fachsprache meist „Arbeitsgedächtnis“ genannt) zurück. Dieses System hängt in erster Linie
von der Stirnlappenfunktion ab und wird durch Erkrankungen wie Morbus Parkinson, Depression
oder Schädel-Hirn Trauma, aber auch durch den
normalen Alterungsprozess beeinflusst.
Die meisten Patienten in unserer Sprechstunde
klagen allerdings über ein anderes Problem. Sie
berichten zum Beispiel: „Ich genieße es wohl,
fernzusehen oder Freunde zu treffen, doch in der
darauffolgenden Woche erinnere ich mich nicht
mehr, welches Programm ich gesehen oder worüber ich mit den Freunden beim Abendessen gesprochen habe.“ Diese Art des Gedächtnisses für
bestimmte, in Raum und Zeit verankerte Ereignisse
der Vergangenheit wird als „episodisches Gedächtnis“ bezeichnet.
Veteranen, Frankfurt am Main 1989
Eine andere, dritte Form der Gedächtnisstörung
zeigt sich bei Patienten, die Folgendes berichten:
„Ich kann mich gut an kurz zurückliegende Ereignisse erinnern und auch mein geparktes Auto wiederfinden, aber ich merke, dass mein Gedächtnis
für Worte allmählich nachlässt“. Diesen Aspekt des
Gedächtnisses beschreiben wir als das semantische Gedächtnis. Im Gegensatz zum episodischen
Gedächtnis, das individuell spezifisch ist, wird das
semantische Gedächtnis von verschiedenen Menschen gleicher Kultur geteilt. Es ist vergleichbar
mit einer gemeinsamen Datenbank, die unseren
Wahrnehmungen Sinn verleiht.
Der Unterschied zwischen dem episodischen
und dem semantischen Gedächtnis wird auf Abbildung 1 (S. 17 o.) veranschaulicht. Ich habe dieses
Foto bei einem Ausflug zum Erlebnispark „Sea
World“ in San Diego, Kalifornien, aufgenommen.
Ich habe ähnliche, nahezu identische Erlebnisparks in Florida und San Diego besucht. An dieses
besondere Bild kann ich mich allerdings sehr gut
erinnern, es entstand bei meinem dritten Besuch,
zusammen mit meinen Kindern. Sie waren völlig
begeistert, besonders als sie vom Wal Shamu mit
Wasser bespritzt wurden. Ich kann mich an diese
Episode sehr klar erinnern. Diese Erinnerung löst
bei mir eine „Reise in Raum und Zeit“ aus, eines
der Schlüsselmerkmale des episodischen Gedächtnisses. Das Beispiel veranschaulicht auch den multisensorischen Aspekt des episodischen Gedächtnisses, das typischerweise visuelle, akustische und
sprachliche Elemente, zuweilen sogar Geschmack
und Geruch miteinander verbindet. Unsere eigene
Autobiographie besteht aus einer Reihe solcher
Episoden. Sollte ich jedoch die Frage stellen „Wie
viele Wale sieht man auf diesem Foto?“, versteht
jeder sofort, was mit dem Wort „Wal“ gemeint ist
und kann sofort erkennen, dass es sich um zwei
Wale handelt. Zum Verständnis und zur Beantwortung solcher Fragen benutzen wir das semantische
Gedächtnis, das nicht von der Erinnerung an bestimmte, einzelne Lebensepisoden abhängt.
Nachdem ich den Unterschied zwischen dem
episodischen und dem semantischen Gedächtnis
definiert habe, will ich nun die anatomischen
Grundlagen für die beiden Gedächtnissysteme und
die Folgen ihrer Schädigung durch Gehirnerkrankungen und Verletzungen darstellen.
Die Fähigkeit zur Entwicklung neuer, episodischer Gedächtnisinhalte und ihrer Integration in
eine zusammenhängende Autobiographie, die für
unsere Selbstwahrnehmung von so entscheidender Bedeutung ist, hängt von einer paarigen, phylogenetisch sehr alten Struktur in der Tiefe des
15
Beiträge
John R. Hodges
Schläfenlappens, die Hippokampus genannt wird,
ab. Der Name geht auf die Ähnlichkeit zwischen
dem Querschnitt dieser Struktur (Abbildung 2)
und einem Seepferdchen (griechisch: „Hippokampus“) zurück. Der Hippokampus hat Verbindungen zu allen Teilen des Gehirns, insbesondere
aber zu solchen, die an der Verarbeitung der unmittelbaren Sinneseindrücke beteiligt sind. Er erhält Informationen sowohl über visuelle und akustische Sinneseindrücke als auch über Berührungs-,
Geruchs- und Geschmackssinn und ist somit ideal
geeignet, die Funktion einer „Telefonzentrale“, die
die verschiedenen Sinneseindrücke miteinander
verbindet, zu übernehmen.
Aber woher wissen wir, dass ausgerechnet der
Hippokampus für das episodische Gedächtnis so
wichtig ist? Den ersten Hinweis gab es 1950, als
kanadische Chirurgen begannen, die mittleren Anteile des Schläfenlappens (zu denen der Hippokampus auch gehört) zu entfernen, um damit therapieresistente Epilepsie-Fälle zu behandeln. Eine
einseitige Entfernung erwies sich zunächst als sehr
erfolgreich. Als aber die Chirurgen daraufhin begannen, in besonders schwierigen Fällen den Hippokampus auf beiden Seiten zu entfernen, führte
dies unerwarteterweise zu einem fast völligen Verlust des episodischen Gedächtnisses. Einer der
Patienten, der heute noch lebende H.M., wurde
seitdem von verschiedenen Forschergruppen kontinuierlich untersucht und ist wohl mittlerweile
zum berühmtesten Patienten in der Geschichte der
Neuropsychologie geworden. Seit seiner Operation in den späten fünfziger Jahren hat er keine
neuen episodischen Gedächtnisinhalte mehr entwickelt. Er weiß nicht, dass viele seiner Familienangehörigen inzwischen verstorben sind und
glaubt, noch immer 20 Jahre alt zu sein. Zeigt man
ihm Bilder von Menschen auf dem Mond, glaubt
er, dass dies eine Szene aus einem Spielfilm sei.
Ebenso wenig erkennt er auf Fotos bekannte Persönlichkeiten, wie den ehemaligen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Er kann sich
allerdings gut an die Erlebnisse seiner Kindheit
und Jugend bis zu etwa zwei Jahren vor seiner
Operation erinnern. Das Muster seines Gedächtnisverlustes wird als anterograde Amnesie bezeichnet, da er unfähig ist, neue Gedächtnisinhalte
anzulegen, sich aber an die alten, bereits vorhandenen, sehr wohl erinnern kann.
In den fünfziger Jahren mussten wir uns auf die
Berichte der Chirurgen verlassen, um zu erfahren,
16
welche Teile des Gehirns in solchen Fällen genau
entfernt wurden. Heutzutage ermöglichen nicht invasive bildgebende Verfahren, wie z.B. die Kernspintomographie, eine detaillierte Darstellung des
lebenden Gehirns. Die Kernspinaufnahme des Patienten H.M. zeigte, dass bei dem chirurgischen
Eingriff der Hippokampus auf beiden Seiten entfernt wurde, die übrigen Teile des Schläfenlappens
allerdings unversehrt waren.
Eine andere Ursache, die zu einer schweren
Amnesie dieser Art führen kann, wird bei Patienten mit Encephalitis (Gehirnentzündung) beobachtet. Jonathan Miller drehte einen Dokumentarfilm
über einen bekannten Musiker, Clive, der an einer
Herpes Encephalitis erkrankte und dessen Gedächtnisverlust in Folge der Krankheit sogar noch
stärker ausgeprägt war als der von H.M.. Clive ist
überzeugt, dass er „gerade aufgewacht“ ist und
kann keine neue Information länger als wenige Sekunden lang behalten. Wenn seine Ehefrau das
Zimmer kurzzeitig verlässt, um gleich darauf wiederzukommen, denkt er, dass er sie jahrelang
nicht gesehen hat. Allerdings hat er, im Gegensatz
zu H.M., auch die Erinnerungen an seine frühen
Jahre verloren. Bis auf einige wenige Fakten ist er
nicht imstande, sich an bestimmte Ereignisse aus
seinem früheren Leben zu erinnern. Seine Kernspintomographie zeigt neben einer Zerstörung der
beidseitigen Hippokampi auch eine weitergehende Schädigung anderer Teile des Schläfenlappens.
Der Vergleich dieser beiden Patienten verdeutlicht, dass unterschiedliche Gehirnstrukturen daran
beteiligt sind, wenn Gedächtnisinhalte neu angelegt und alte gespeichert werden. H.M. und Clive
haben zwar gemeinsam, dass ihr Hippokampus
nicht mehr funktionsfähig ist und dass sie deshalb
außerstande sind, neue Gedächtnisinhalte anzulegen. Clive hat aber darüber hinaus Läsionen in anderen Bereichen der Großhirnrinde (besonders
des Schläfenlappens), die für die Speicherung alter
Gedächtnisinhalte verantwortlich sind.
Mit unserer Forschungsarbeit haben wir in den
letzten Jahren versucht, die Ergebnisse der neuropsychologischen Studien (wie die von H.M. und
Clive) mit den modernen, auf einer Netzwerk-Theorie basierenden Modellen der menschlichen Gehirnfunktion zu verbinden. Das sogenannte „Spur
und Verbindung“-Verarbeitungsmodell („TraceLink“), mit dem Hippokampus als „Verbindung“
und der Großhirnrinde als „Spur“, wird in Abbildung 3 dargestellt. Wenn wir an das Beispiel des
John R. Hodges
Abb. 1: Erlebnispark „Sea World“, San Diego, Kalifornien
Hippokampus
Nucleus
Basalis
Bulbus
Olfactorius
Amygdala
Locus Coeruleus
Nuclei
Raphe
Abb. 2: Die wichtigsten Strukturen des Gehirns, die für die
Speicherung neuer episodischer Gedächtnisinhalte verantwortlich sind. Dabei gilt es besonders den Hippokampus
zu beachten.
Verbindungssystem
∅W
Modulatorisches
System
Spursystem
Sensorischer Input
Motorischer Output
Abb. 3: Schema des „Spur und Verbindung“-Verarbeitungsmodells vom menschlichen Gedächtnis.
Verbindungssytem = Hippokampus; Spursystem = Kortex
Besuches im Erlebnispark „Sea World“ in San Diego zurückdenken, können wir uns vorstellen, wie
die sensorischen Hirnareale jeweils die visuellen
und auditiven Reize verarbeiten und an den Hippokampus weiterleiten, der sie dann in kürzester
Zeit zu einer zusammenhängenden und mit einer
bestimmten Zeitangabe verbundenen Episode zusammenführt. Im Laufe der Zeit habe ich an genau
diese Episode häufiger gedacht, mir Bilder davon
angeschaut und sie mehrmals mit meiner Familie
besprochen. Diese wiederholten Erinnerungen haben allmählich dazu geführt, dass neue Verbindungen innerhalb der Großhirnrinde entstanden
sind, die schließlich vom Hippokampus unabhängig werden: ein Prozess, den wir als Konsolidierung bezeichnen. Daher werde ich mich an diesen
Besuch in San Diego selbst dann erinnern können,
wenn ich durch eine Schädigung des Hippokampus die Fähigkeit zum Anlegen neuer Gedächtnisinhalte dieser Art verlieren sollte.
Im Gegensatz zu dem erwähnten Besuch im Erlebnispark „Sea World“ in San Diego werden die
meisten Alltagsepisoden nicht bewusst wiedererlebt und somit nicht in der Großhirnrinde konsolidiert. So könnte ich beispielsweise nach einem normalen Arbeitstag den Inhalt der meisten Gespräche
und Sitzungen genau wiedergeben; nach einigen
Wochen oder gar Monaten wäre das meiste jedoch
aus der Erinnerung verschwunden. Einfache Intuition sagt uns, dass es einen aktiven Prozess des
Vergessens geben muss, der unser Gedächtnis vor
der Überflutung durch triviale Alltagsereignisse
schützt. Das gleiche Modell erklärt aber auch,
warum uns manchmal besonders wichtige oder
auch traumatische Erlebnisse dauerhaft in Erinnerung bleiben.
Störungen, wie ich sie bei den Patienten H.M.
und Clive beschrieben habe, kommen glücklicherweise nur äußerst selten vor – die Alzheimer’sche
Krankheit dagegen ist sehr häufig. Die pathologischen Veränderungen bei dieser Krankheit beginnen im Hippokampus und in den angrenzenden
anatomischen Strukturen. Die Ergebnisse unserer
Forschung zeigen, dass die Unfähigkeit, neue Gedächtnisinhalte anzulegen als ein frühes Merkmal
der Erkrankung anzusehen ist. Wir waren an der
Entwicklung neuer diagnostischer Verfahren zur
Früherkennung der Alzheimer’schen Krankheit beteiligt, die darauf beruhen festzustellen, inwieweit
neue Assoziationen, beispielsweise Verknüpfung
zwischen Namen und Gesichtern, hergestellt wer17
Beiträge
John R. Hodges
den können. Im Verlauf der Erkrankung kommt es
zu einer Ausdehnung der pathologischen Veränderungen auf andere Gehirnareale, die den Verlust
der älteren episodischen Erinnerungen als auch
den des semantischen Gedächtnisses zur Folge haben. Dies führt dazu, dass sich Alzheimer-Patienten zunehmend in Kindheitserinnerungen zurückziehen, die am Ende häufig als die einzigen
verschont gebliebenen Fragmente des Erinnerungsvermögens übrig bleiben. Dieses zeitliche Gefälle,
das nur die frühesten Gedächtnisinhalte verschont,
wurde bereits vor über 100 Jahren erkannt und
wird häufig das Ribot’sche Gesetz genannt.
Nun wollen wir uns dem anderen wichtigen System des Langzeitgedächtnisses, das sich mit Fakten- und Allgemeinwissen beschäftigt, dem semantischen Gedächtnis, zuwenden. Ein beträchtlicher
Teil unserer Forschung der letzten Jahre war darauf ausgerichtet, die Struktur des menschlichen
Wissens im Gehirn besser zu verstehen. Unser besonderes Interesse galt dabei einer seltenen Erkrankung, die als „semantische Demenz“ beschrieben wird. Bei dieser Erkrankung kommt es zu
einer graduellen „Erosion“ des allgemeinen Wissens. Die Patienten verlieren die Fähigkeit, Gegenstände zu benennen, oder sie vermögen die Bedeutung von Worten und Gegenständen nicht
mehr zu erfassen. Die Erkrankung äußert sich am
frühesten und am ausgeprägtesten in der Sprache,
was auf die Grundveranlagung des Menschen sich
über Sprache zu definieren schließen lässt. Sie
kann aber auch in rein visuellen Tests festgestellt
werden. Einer unserer Patienten, J.L., wurde mehrmals anhand der gleichen Testreihe, die 260 Zeichnungen enthält, untersucht. Die zeitliche Entwicklung seiner Versuche, 12 Vogelarten zu benennen
(in Abbildung 4 dargestellt) zeigt den allmählichen
Zerfall seines Wissens. Bei der ersten Testrunde
konnte er die am häufigsten vorkommenden Vögel („Huhn“ und „Ente“) richtig benennen, alle
anderen Vogelarten, wie „Pfau“ oder „Pinguin“ bezeichnete er ebenfalls als „Ente“. Ein Jahr später
konnte er nur noch das Huhn korrekt benennen,
die anderen Vögel wurden einfach als „Vogel“
beschrieben. Nach einem weiteren Jahr konnte er
sie nicht einmal mehr als „Vogel“ erkennen und
nannte sie „Tier“, „Katze“ oder „Hund“, als ob der
Begriff des Vogels an sich für ihn völlig verloren
gegangen sei. Dieses Muster beschreibt das Gegenteil der Entwicklung, die bei kleinen Kindern
beobachtet werden kann: Zuerst verwenden sie
Sammelbegriffe wie „Miezekatze“, die sich auf alle
Tiere beziehen, bis sie allmählich die spezifischen
Namen verschiedener Tierarten erlernen. Nach der
Definition eines Schwans gefragt, würde J.L. wohl
sagen: „Es ist ein Vogel, aber ich kann mich an
nichts Genaueres erinnern.“
Wir entwickelten ein Reihe von Tests, um auch
das non-verbale semantische Gedächtnis zu überprüfen (wie beispielsweise das farbige Ausmalen
von Schwarzweißzeichnungen oder die praktische
Verwendung von verschiedenen Gegenständen),
und zeigten, dass Patienten mit semantischer Demenz in diesen Tests schwerwiegende Defizite
Vögel
9/91
3/92
9/92
3/93
Vogel (Gattung)
Huhn
Ente
Schwan
Adler
Strauß
Pfau
Pinguin
Hahn
+
+
+
+
Ente
Schwan
Ente
Ente
Huhn
+
+
Vogel
Vogel
Vogel
Vogel
Vogel
Vogel
Huhn
+
Vogel
Vogel
Vogel
Vogel
Katze
Katze
Katze
Vogel
Tier
Tier
Hund
Tier
Pferd
Tier
Fahrzeug
Teil eines Tieres
Hund
Abb. 4: Antworten von Patienten mit semantischer Demenz ( J.L.) bei vier aufeinanderfolgenden Befragungen zwischen
September 1991 und März 1993 bei der Benennung von neun Vogelzeichnungen. Anmerkung: + = korrekt
18
John R. Hodges
L
a
b
c
h
Schläfenlappen
Abb. 5: Kernspintomographien: a) normales Gehirn mit dem Hippokampus (h) und Schläfenlappen (Pfeil);
b) geschrumpfter Hippokampus (Pfeile) eines im frühen Stadium an Alzheimer Erkrankten; c) fortgeschrittene Zerstörung
der seitlichen (lateralen) Anteile des linken Schläfenlappens (Pfeil) bei semantischer Demenz mit intaktem Hippokampus.
aufweisen. Bemerkenswert ist dabei die Übereinstimmung der Testergebnisse: Ein Patient, der einen Schraubenzieher nicht korrekt benennen
kann, hat auch Probleme, das Bild eines Schraubenziehers mit dem entsprechenden Wort in Verbindung zu setzen; mit einem richtigen Schraubenzieher konfrontiert, kann er ihn zwar korrekt
halten, weiß aber nicht, wie und wofür er ihn benutzen soll. Diese Befunde deuten darauf hin, dass
verschiedene Arten des Wissens über einen Gegenstand (oder auch ein Tier) im Gehirn zusammenhängend repräsentiert sind.
Patienten, die an semantischer Demenz leiden,
verlieren ihr Wissen über natürliche Lebewesen
und über die von Menschen hergestellten Objekte.
Die Kernspintomographie zeigt bei ihnen eine
ausgeprägte Atrophie (Gewebeschwund) der vorderen und der seitlichen Anteile des linken Schläfenlappens, wie auf Abbildung 5 zu erkennen ist.
Dieses Ergebnis, zusammen mit anderen, die aus
der funktionellen Bildgebung bei gesunden Probanden gewonnen wurden, weist dieser Gehirnregion eine entscheidende Rolle bei der Speicherung
von Wissen zu.
Eine der Schlüsselfiguren bei der Erforschung
des semantischen Gedächtnisses war Professor Elisabeth Warrington aus London. In den achtziger
Jahren beschrieb sie einige Patienten, bei denen
das Wissen über Lebewesen schwerst gestört, das
über die von Menschen hergestellten Objekte dagegen weitgehend erhalten war. Solche Patienten
waren weder imstande, Tiere wie Elefanten oder
Finken zu benennen, noch konnten sie sie näher
beschreiben. Sie benannten und beschrieben aber
Gegenstände wie Kerzen oder Hosen durchaus
richtig. Kurze Zeit darauf wurden Patienten mit einer spiegelbildlichen Störung entdeckt, so dass also
dieses Phänomen nicht auf die Tatsache zurückgeführt werden kann, dass der westliche Mensch nur
wenig über seine natürliche Umgebung weiß. Eine
wachsende Anzahl von verschiedenen Forschungsergebnissen hat seitdem die Hypothese von zwei,
in unterschiedlichen Gehirnarealen verarbeiteten,
Wissensbereichen unterstützt.
Unsere Forschung in Cambridge hat kürzlich
gezeigt, dass das Wissen über Menschen (das unter anderem Wissen über Namen und Gesichter
beinhaltet) eine andere Wissensdomäne darstellt,
die ebenfalls getrennt verarbeitet wird und dementsprechend selektiv gestört werden kann. Der
rechte Temporallappen scheint dabei eine entscheidende Rolle zu spielen.
Zusammenfassend habe ich in dieser Vorlesung
versucht, die Vielfalt des menschlichen Gedächtnisses zu skizzieren. Innerhalb des Langzeitgedächtnisses gibt es eine klare Unterscheidung zwischen dem Gedächtnis für die individuellen,
persönlichen Erlebnisse einerseits und dem Allgemeinwissen über Lebewesen, Gegenstände sowie
Worte und Gesichter andererseits; die drei letzteren Wissensbereiche werden ihrerseits im Gehirn
getrennt gespeichert und verarbeitet. Auch wenn
die Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten –
insbesondere durch das Studium gedächtnisgestörter Patienten – unser Wissen über das menschliche
Gedächtnis erheblich erweitert hat, sind wir doch
von einem umfassenden Verständnis seiner Komplexität noch weit entfernt. J
19
Beiträge
Pierre Nora
Erinnern
und kollektive
Identität
Wir wohnen derzeit der weltweiten Verbreitung des Erinnerns bei. Seit zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren sind alle Länder, alle ethnischen
oder sozialen Gruppen einer grundlegenden Veränderung des traditionellen Verhältnisses zu ihrer
Vergangenheit unterworfen. Diese Veränderung
nimmt vielfältige, fallgerechte Formen an: Kritik an
den offiziellen Geschichtsversionen; Anspruch auf
abgeschaffte oder konfiszierte Spuren der Vergangenheit; Kult der „Wurzeln“ (roots); kommemoratives Aufwallen; Konflikte um symbolische Orte
oder Monumente; Vermehrung der Museen; zunehmende Sensibilisierung im Hinblick auf die
Verschlusshaltung oder Ausbeutung von Archiven;
erneutes Anknüpfen an das, was die Angelsachsen
„heritage“ und die Franzosen „patrimoine“ nennen.
Wie auch immer diese
„W i r b e w o h n e n
Elemente kombiniert
die Welt der
werden, es ist wie eine
Vergangenheit
Woge des Gedenkens,
nicht mehr
die sich über die Welt
spontan; sie
ergießt und die überall
spricht nur
die Treue an die – reale
n o c h i n A n d e uoder imaginäre – Vertungen zu uns...“
gangenheit knüpft sowie das Gefühl der Zugehörigkeit an das kollektive Bewusstsein und an
das Selbstbewusstsein. Erinnerung und Identität.
Diese Bewegung ist so allgemein, grundlegend,
mächtig, dass es vielleicht der Mühe wert ist, ihre
Ursachen, wenn auch nur kurz, zu hinterfragen.
Ich sehe zwei prinzipielle Ursachen, die ich hier
zur Diskussion stellen möchte.
20
Die erste Ursache hängt mit dem zusammen,
was man neuerdings die „Beschleunigung der Geschichte“ zu nennen übereingekommen ist. Genau
betrachtet, besagt die Formulierung, dass das kontinuierlichste und andauerndste Phänomen nicht
mehr die Dauer und die Kontinuität sind, sondern
der Wandel, und zwar ein immer schnellerer, immer umfassenderer Wandel. Die Folgen dieser
Verkehrung für das Erinnern müssen erst noch ermessen werden. Sie sind grundlegend. Dieser
Wandel hat die Einheit der geschichtlichen Zeit
zerbrochen, die schöne Linearität, die die Gegenwart und die Zukunft mit der Vergangenheit vereinte.
Wie ein Bindeglied zog sich diese Vorstellung,
die festlegte, was in Vorbereitung auf die Zukunft
von der Vergangenheit erhalten werden musste
und auf diese Weise der Gegenwart einen Sinn
verlieh, durch eine Gesellschaft, Nation, Gruppe
oder Familie. Folglich drückt die absolute Unsicherheit fortan auf die Zukunft und legt der
Gegenwart, die in ihrem Verlustwahn über Konservierungstechniken ohnegleichen verfügt, eine
Erinnerungsverpflichtung auf. Sie fordert von der
Gegenwart, gewissenhaft alles undifferenziert zu
sammeln, alle sichtbaren Spuren und materiellen
Zeichen, die dokumentieren und bezeugen werden, was eine Nation, eine Gruppe oder eine Familie sind oder gewesen sein werden. Anders gesagt,
es ist das Ende einer Geschichtsteleologie – das
Ende einer Geschichte, deren Ausgang bekannt
ist – die der Gegenwart diese majestätische „Erinnerungspflicht“ auferlegt, von der man uns so viel
erzählt.
Doch zugleich hat diese Beschleunigung, dieser
Wandel den brutalen Effekt, die gesamte Vergangenheit in die Ferne zu rücken – wir sind von ihr
abgeschnitten: Sie ist, nach den berühmten Worten
eines englischen Historikers, „die Welt, die wir
verloren haben“. Wir bewohnen sie nicht mehr
spontan, sie spricht nur noch in Andeutungen zu
uns, in mysteriösen, zu erforschenden Andeutungen, die das Geheimnis dessen enthalten, was wir
sind, unsere „Identität“. Wir stehen nicht mehr mit
beiden Beinen in dieser Vergangenheit, wir können sie nicht mehr wiederfinden, es sei denn
durch dokumentierende, archivierende und monu-
Hutu-Flüchtlinge im Lager Magara, Burundi 1995
„Die Erinnerung
ist als die Rache
der Armen und
Unterdrückten
erschienen,
als die Geschichte
derjenigen, die
kein Recht auf
Geschichte hatten.“
mentale Rekonstruktion, aus der dann „das Erinnern“ entsteht, jene konstruierte Erinnerung, mit
der man sich heute auf das bezieht, was früher
„Geschichte“ hieß.
Auf diese Weise kreuzt sich auf der Ebene der
Gegenwart – einer Gegenwart, die sich im historischen Bewusstsein verdoppelt – ein doppelter Imperativ, der aus der Verdunkelung der Zukunft wie
aus der Verdunkelung der Vergangenheit herrührt
und der aus dem Gedenken das Zeichen unserer
Zeit macht. Wir erleben das „Augenblicks-Geden-
ken“ der Geschichte. Dies bedingt, jenseits der Vehemenz in der Identitätsbestätigung und des Willens zum Gedenken, eine tiefe Unsicherheit gegenüber der Natur dieser Identität und der Wahrheit
dieses Gedenkens.
Die zweite Ursache dieses Erinnerungsschubs
ist verknüpft mit dem, was man in Anlehnung an
die „Beschleunigung“ die „Demokratisierung der
Geschichte“ nennen könnte. Sie besteht in jener
kraftvollen Bewegung der Befreiung und Emanzipation von Völkern, ethnischen Gruppen und selbst
Individuen, die die heutige Zeit beeinflusst; kurz
gesagt handelt es sich dabei um ein zunehmendes
Zutagetreten der Erinnerungen von Minderheiten,
für die die Wiedergewinnung ihrer Vergangenheit
ein integraler Bestandteil der Bestätigung ihrer
Identität ist.
Diese Erinnerungen von Minderheiten gehen
hauptsächlich aus drei Entkolonisierungstypen
hervor: Aus der weltweiten Entkolonisierung, die
denjenigen Gesellschaften, die bisher im ethnologischen Tiefschlaf kolonialer Unterdrückung vegetierten, den Zugang zu historischem Bewusstsein und
21
Beiträge
Pierre Nora
zur Gedächtnis-Wiedergewinnung bzw. -Heranbildung ermöglichte; aus der inneren Entkolonisierung in den klassischen abendländischen Gesellschaften, durch die sexuelle, soziale, religiöse und
regionale Minderheiten auf dem Wege der Integration sich durch die Bestätigung ihres Gedächtnisses,
das heißt, ihrer eigenen Geschichte, die Anerkennung ihrer Besonderheit innerhalb der größeren
Gemeinschaft verschafften, die ihnen bislang dieses Recht verweigerte. Schließlich aus der Auslöschung der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, aus der ideologischen Entkolonisierung und
aus dem Zusammenfinden der Völker und ihren
umfangreichen überlieferten Erinnerungen, die
jene Regime konfisziert, zerstört oder manipuliert
hatten: Russland, der Balkan, Afrika.
Die Explosion der Erinnerungen dieser Minderheiten wirkte sich grundlegend auf den jeweiligen
Status und die Wechselbeziehung von Historie
und Gedenken aus. Um genauer zu sein: auf die
begriffliche Aufwertung des kollektiven Erinnerns.
Im Vergleich zur Geschichte, die schon immer
in den Händen der Mächtigen, der intellektuellen
oder professionellen Autoritäten lag, ist das Erinnern mit den Privilegien populärer Protestformen
gepaart. Es ist als die Rache der Armen, Unterdrückten und Unglücklichen erschienen, als die
Geschichte derjenigen, die kein Recht auf Geschichte hatten. Ihm allein gehörte bislang, wenn
nicht die Wahrheit, so doch die Treue. Neu daran
ist – und dies hat mit dem unsagbaren Unglück des
Jahrhunderts zu tun – der Anspruch auf eine Wahrheit, die wahrer ist als die historische Wahrheit.
Die gesamte Geschichte, inzwischen ei„Es gab eine
ne Disziplin mit wissenGeschichte, das
schaftlichem Anspruch,
Erinnern jedoch
hatte sich bislang tatbezieht sich
sächlich gegen das Erseinem Wesen
innern formiert, das imnach auf eine
mer als persönlich oder
Vielzahl von
psychologisch verfärbt
Individuen.“
angesehen wurde, da
es nur auf Überlieferung beruhte. Geschichte war der Bereich des Kollektiven, Erinnern der des Einzelnen. Es gab eine
Geschichte, das Erinnern jedoch bezieht sich seinem Wesen nach auf eine Vielzahl von Individuen.
Die Idee einer kollektiven Erinnerung, emanzipatorisch und unantastbar, impliziert eine vollstän-
22
dige Umkehrung. Die Individuen hatten ihre Erinnerung und die Kollektive ihre Geschichte. Die
Vorstellung, dass nun das Kollektiv Erinnerungen
haben könnte, unterstellt eine tiefe Umwälzung
der Stellung der Individuen in der Gesellschaft
und ihrer Beziehung zur Kollektivität: Dort liegt
das Geheimnis jenes anderen und mysteriösen
Aufkommens – der Identität.
Die Identität kennt in der Tat eine Metamorphose analog und parallel zu derjenigen der Erinnerung: Von einem individuellen wird sie zu einem kollektiven und von einem subjektiven zu
einem quasi formellen Begriff. Traditionellerweise
charakterisierte sie die Einzigartigkeit des Individuums bis zu dem Punkt, wo ihr Hauptverständnis
einen Polizei- und Verwaltungssinn annimmt: Akteneintrag, Karte, Ausweis. Sie ist zu einer Gruppenkategorie geworden, zu einer äußeren Bestimmung: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man
wird zur Frau gemacht“, schrieb Simone de Beauvoir in jener berühmt gewordenen Aussage, sie ist
diejenige aller in der Selbstbestätigung begriffenen
„Identitäten“ geworden. Die Identität, wie das Erinnern, ist eine Form der Pflicht. Der Befehl wird
mir erteilt, das zu werden was ich bin, Korse,
Jude, Arbeiter, Algerier, Türke. Auf dieser Ebene
der Verpflichtung knüpft sich das Gedenken auf
entscheidende Weise an die Identität – sie gehorchen fortan beide denselben Mechanismen. Beide
Worte sind nun praktisch synonym geworden und
charakterisieren eine neue Ökonomie der sozialen
Dynamik.
Die Identitätsbestätigung hat nun wie was Gedächtnis und aus denselben Gründen einen positiven und befreienden Wert angenommen. Die
Authentizität der Identität stärkt die Treue zur Erinnerung. Wann aber dreht sich das Emanzipationsprinzip soweit um, dass es wie das Erinnern eine
Form der Isolation, des sich Verschließens gegenüber dem Anderen, eine egoistische, zuweilen verheerende Anspruchshaltung annimmt, zu einem
Bruch mit dem gesamten Umfeld führt? Es ist unmöglich, diesen Moment theoretisch zu definieren,
aber es ist zweifellos derjenige, den wir in der Praxis weltweit sich durchsetzen sehen. Deshalb
zählen wir uns zu denen, die zwar einst zu den ersten gehörten, die vor fünfzehn oder zwanzig Jahren von einer „Erinnerungs-Pflicht“ sprachen, die
aber heute für ein Recht auf Erinnerung und für
eine „Geschichts-Pflicht“ plädieren. J
Harald Weinrich
Privates
und öffentliches
Vergessen
Wenn wir, das Jahr 2000 im Blick, mit Unruhe
und einiger Besorgnis dem neuen Jahrhundert und
Jahrtausend entgegensehen, können wir uns vielleicht etwas bei dem Gedanken beruhigen, daß
uns die Zukunft nicht ganz unvertraut ist. Einige
ihrer Boten sind schon im 20. Jahrhundert unter
uns gewesen: Der Futurist Marinetti mit seinem
Bekenntnis zum Reiz und Rausch der Geschwindigkeit (ich sehe davon ab, daß er sein Fiat-Sportcabriolet auf der Via Domodossola in Mailand zu
Schrott gefahren hat); der Futurologe Ossip K.
Flechtheim, der unter allgemeinem Beifall die Zukunft zum Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung erhoben hat (ich sehe davon ab, daß dieses
Jahrhundert in seinem Verlauf noch weniger zuverlässig vorhergesagt worden ist als andere Jahrhunderte), schließlich
unsere tüchtigen Com„Nur ein von
puter-Ingenieure mit
s t a r k e n M i tihren Simulationsmogedächtnissen
dellen (hier sehe ich
g e s t ü t z t e s I n d i v inur davon ab, daß sie
dual-Gedächtnis
beim Bau ihrer Anlagen
ist in der Lage,
den Jahrtausendwechdem Vergessen
sel vergessen haben).
zu widerstehen.“
Deshalb nun eine ziemlich enttäuschungsfeste
und insofern tröstliche Nachricht: Wir werden
auch sonst wohl noch manches vergessen haben,
was als Rüstzeug für das neue Jahrhundert und
Jahrtausend gut zu gebrauchen wäre. Denn es
steht nach meiner Prognose wohl zu erwarten, daß
der Mensch auch nach dem Jahr 2000 ein vergeßli-
ches Lebewesen (animal obliviscens) bleiben wird.
Mindestens in dieser Hinsicht werden wir uns auf
ein vergeßliches Jahrhundert einzustellen haben,
hoffentlich jedoch nicht auf ein Jahrhundert der
Vergesser. Zwischen diesen beiden Erwartungen
bewegen sich die nachfolgenden Überlegungen,
die nach den Bereichen des privaten und des öffentlichen Vergessens gegliedert sind.
Wenn das Vergessen nichts als eine Naturkraft
wäre, eine Art vis inertiae der menschlichen Seele,
bliebe mir nicht viel zu sagen übrig. Aber das Vergessen ist, ebenso wie sein positives Gegenbild,
das Erinnern, vielfältigen kulturellen Einflüssen
ausgesetzt, die darüber bestimmen oder jedenfalls
mitbestimmen, was wir vergessen oder nicht vergessen können, wollen, sollen, dürfen oder müssen. Für diese Zusammenhänge hat der französische Soziologe Maurice Halbwachs (ich will nicht
vergessen, an seinen gewaltsamen Tod in Buchenwald zu erinnern, 1945, wenige Wochen vor der
Befreiung des Konzentrationslagers) seit den 20er
Jahren ein vielbeachtetes Denkmodell ausgearbeitet. Es besagt, daß jedes Individual-Gedächtnis
(mémoire individuelle) immer schon durch das
Kollektiv-Gedächtnis (mémoire collective) seiner
gesellschaftlichen Umwelt geformt oder wenigstens mitgeformt ist. Nur ein von starken Mitgedächtnissen gestütztes Individual-Gedächtnis widersteht dem Sog des Vergessens. Insofern umfaßt
diese Gedächtnis-Theorie als Nebenprodukt auch
eine Theorie des individuellen und des kollektiven
Vergessens. Die Halbwachs’sche Theorie hat jedoch auch ihre Schwächen. Sie kann nicht erklären, inwiefern gegen die Macht der zahlreichen
Kollektiv-Gedächtnisse, die ihren Einfluß ausüben,
ein Individual-Gedächtnis überhaupt Bestand haben kann, so daß den Kollektiv-Gedächtnissen
eigentlich nur ein Individual-Vergessen gegenübersteht. Daher hat der ebenfalls französische Philosoph Paul Ricœur bereits vorgeschlagen, die
Halbwachs’sche Dichotomie durch die Einführung
eines vermittelnden „Nah-Gedächtnisses“ (genauer:
mémoire des proches) zu mildern und aufzulokkern. Das wird auch durch den Sprachgebrauch
nahegelegt, der dem Vergessen sowohl im Deutschen wie im Französischen auf der memoriellen
Seite zwei Begriffe gegenüber stellt: Gedächtnis
23
Beiträge
Harald Weinrich
Hessisches Landesmuseum Darmstadt
„Es steht [...]
wohl zu erwarten,
daß der Mensch
auch nach dem
Jahr 2000 ein
v e r g e ß l i c h e s L e b ewesen (animal
obliviscens)
bleiben wird.“
und Erinnerung (mémoire und réminiscence). Dieser Unterscheidung hat schon Aristoteles einen eigenen Traktat gewidmet. Nach heutigem Sprachgebrauch kann die Erinnerung ungefähr als die
private oder privatisierte Form des Gedächtnisses
aufgefaßt werden. Dem versuche ich im folgenden
dadurch Rechnung zu tragen, daß ich beim Vergessen – darin von Halbwachs abweichend – einen
Privatbereich (privacy) und einen Öffentlichkeitsbereich (etwa im Sinne des Habermas’schen Öffentlichkeitsbegriffs) unterscheide.
Für den Privatbereich ist seit der Zeit, von der
an überhaupt sinnvoll zwischen Privatheit und Öffentlichkeit zu unterscheiden ist, also seit dem
17./18. Jahrhundert, eine bemerkenswerte Vergessenstoleranz zu verzeichnen. Als einer der ersten
24
ist der französische Moralist La Rochefoucauld
(17. Jahrhundert) auf diesen Sachverhalt aufmerksam geworden, als er die Maxime formulierte:
„Alle Leute klagen über ihr schlechtes Gedächtnis,
niemand über seinen schlechten Verstand“. Es
scheint nunmehr anders als in früheren Zeiten
dem gesellschaftlichen Prestige nicht mehr abträglich zu sein, vieles zu vergessen oder vergessen zu
haben. Wer vergeßlich ist, braucht wenigstens
nicht zu fürchten, ein Pedant genannt zu werden.
Ein anderer Moralist, wenn ich noch einmal einen
französischen Gewährsmann, diesmal aus dem
20. Jahrhundert zitieren darf, Eduard Herriot, hat
das mit dem Satz bestätigt: „Kultur ist das, was
übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat“. Im
privaten Leben ein bißchen vergeßlich zu sein,
macht also eher einen angenehmen und sympathischen Eindruck. Man fürchtet mehr denjenigen,
der nichts vergißt. So können wir also in unserem
Privatleben auch weiterhin unsere Schlüssel, Schirme und pin numbers vergessen; damit geben wir
nur eine liebenswürdige Schwäche zu erkennen,
die von unserer Umwelt vorwiegend anekdotisch
zur Kenntnis genommen und freundlich belächelt
wird. Als Indikator für das nur leichte Manko des
Vergessens im privaten Leben kann weiterhin die
linguistische Tatsache genommen werden, daß
sich seit den 70er Jahren im deutschen Sprachge-
Harald Weinrich
brauch die Redensart „das kannst du vergessen“
(nach englisch-amerikanischem Muster: forget it,
forget about it) sehr rasch ausgebreitet und alltagssprachlich eine hohe Frequenz angenommen hat.
Sie drückt in der Regel einen im Ton der Erleichterung ausgesprochenen, meistens privatistischen
Ratschlag aus, wie man einen Gedächtnisinhalt,
dessen Bewahrung mit einer bestimmten Anstrengung verbunden ist, leicht aus dem Bewußtsein
abdrängen kann.
Freud kannte diese Redensart noch nicht. Aber
er, der sich nur mit Privatpatienten zu beschäftigen
hatte, wußte sehr wohl und bemerkte als erster,
wie eine streng erzogene Ich-Instanz, von Unlust
bedroht, unliebsame Gedächtnisinhalte ohne Umstände ins Unbewußte „verdrängen“, das heißt,
vergessen machen kann. Doch halt, nur für das
Bewußtsein sind diese Inhalte vergessen; im Unbewußten behalten und verstärken sie ihre Kraft
und setzen mit ihren pathogenen Folgen dem Leib
und der Seele aufs schlimmste zu. Es war Freuds
große Entdeckung, daß jenes Verdrängt-Vergessene
in seinen Krankheitsfolgen nicht durch bloße
Abschwächung zu heilen ist, sondern nur durch
eine bewußte Wiederaufnahme des psychi‚Alle Leute
schen Prozesses in
klagen über
zweiter Instanz befrieihr schlechtes
det werden kann. Da
Gedächtnis,
sich die Psychoanalyse,
niemand
die solche Vergessensüber seinen
schäden zu beheben
schlechten
verspricht, seit Freuds
Verstand.‘
Tagen eine geachtete
Stellung in der Welt
verschafft hat, ist nicht zu erwarten, daß die Menschen aufhören werden, Unliebsames, Peinliches
und Schuldhaftes aus ihren Seelen zu verdrängen,
was dann am Ende ein ungutes oder mit psychoanalytischer Hilfe doch noch ein gutes Ende
nimmt. Ganz privat, nebenbei gesagt, ist diese Sache nicht einzuschätzen. Gesellschaftliches wirkt
in allen Phasen auf die psychischen Prozesse des
Individuums ein. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß die Freud’schen Patienten
in der Regel Patientinnen waren. Für den Bereich
der Privatheit gilt nämlich, von der Forschung wenig beachtet, daß Frauen anders vergessen als
Männer, wenigstens insoweit noch die traditionelle
Rollenverteilung gilt, derzufolge Frauen sich durch
ihr häusliches Leben zu definieren haben, wäh-
rend Männer durch ihren Beruf an die Öffentlichkeit angeschlossen sind: In ihr gibt es Aufgaben
und Pflichten, die von den Männern nicht vergessen werden dürfen. Daheim dürfen sie dann wohl
vergessen, zum Beispiel – wiederum anekdotisch –
den Hochzeitstag, während Frauen hingegen zur
großen Überraschung ihrer Männer, „nie etwas
vergessen“. Sehr kurz streifen möchte ich an dieser
Stelle noch, bevor ich das private Vergessen verlasse, die an anderer Stelle dieses Colloquiums
zu besprechende Tatsache, daß die Diktaturen
des 20. Jahrhunderts die erheblichen Vergessenstoleranzen des privaten Lebens für ihre finsteren
Zwecke zu nutzen wußten. In ihren Geheimgedächtnissen (Gestapo, GPU, Stasi) ist das Privateste
zu erpresserischen Zwecken registriert und unvergessen gemacht, so daß es bei passender Gelegenheit nach dem Gutdünken dieser Nicht-Vergesser
an die Öffentlichkeit gebracht werden kann.
Für das öffentliche Vergessen, das nun betrachtet werden soll, wollen wir eine Reihe von historischen Zeugnissen aufrufen, als erstes die Ereignisse der Französischen Revolution. Diese große
Revolution war für die französische Nation unter
anderem deshalb ein Ereignis von größter Tragweite, weil sie in einem bis dahin unbekannten
Ausmaß mit einem Gedächtnisexperiment verbunden war. Ein radikaler Gedächtnissturz beseitigte
in kürzester Zeit alle Merkzeichen des Ancien
Régime: die traditionsreichen Gedächtnisorte und
Geschichtslandschaften, den julianisch-gregorianischen Kalender und die Rituale der zeremoniellen
Höflichkeit. Das Vergessen war nun die erste
Pflicht des citoyen und der citoyenne. Diese Vergessenspolitik ging weit über die seit der Antike
bekannte damnatio memoriae einzelner „Unpersonen“ hinaus und verordnete einer ganzen Nation
ein öffentliches Vergessen, das den Platz freimachen sollte für ein neues, republikanisches Gedächtnis. Es steht uns Heutigen nicht an, dieses
historische Experiment politisch oder moralisch zu
bewerten. Vieles offiziell Vergessene wurde ja
bald wiederbelebt, so der alte Kalender. Andere,
wie zum Beispiel die historisch gewachsenen
„Regionen“ gerieten durch die neu eingeführten
„départements“ für lange Zeit in politische Vergessenheit. Für unsere Überlegungen ist vor allen
Dingen relevant, daß die Akteure der Französischen Revolution in großem Stil den Versuch unternommen haben, mit dem öffentlichen Vergessen politische Geschichte zu machen.
25
Beiträge
Harald Weinrich
Ich erörtere nun noch einige weitere Formen
des historisch belegten öffentlichen Vergessens,
wobei jeweils außer der politischen Intention auch
die juristische Verfaßtheit zu beachten ist. Es handelt sich um Amnestie, Verjährung und Begnadigung. Von der Begnadigung soll hier nur kurz die
Rede sein. Sie hat heute eine wesentlich geringere
Bedeutung als in früheren Zeiten, in denen ihre
Verwirklichung der Milde (clementia) eines von
Gottes Gnaden herrschenden Souveräns anheim
Gottesdienst in Nairobi, Kenia
„Darf auch
das Vergessen,
sofern bestimmte
Bedingungen [...]
erfüllt sind,
christlich genannt
werden?“
gegeben war. Von ihm konnte eine gerechte oder
ungerechte Strafe mit oder ohne Begründung gemildert und „gnädig“ vergessen werden.
Aus diesen knappen Hinweisen ist jedoch
schon ersichtlich, daß mit den juristischen Formen
der Begnadigung im Grunde schon das ganze Problem des „gnädigen Vergessens“ (Saul Bellow:
merciful forgetting) angesprochen ist. Im deutschen und englischen Sprachraum hat es eine besondere, durch Alliteration markierte Rechtsformel
hervorgebracht: „Vergeben und Vergessen, forgiving and forgetting“. Für Christen ist dieses Begriffspaar mit der Person Jesu verbunden, der
ohne „christliches“ Vergeben nicht vorstellbar ist.
Darf auch das Vergessen, sofern bestimmte Bedin26
gungen (Reue, Beichte, Buße) entweder katholisch-öffentlich oder protestantisch-privat erfüllt
sind, christlich genannt werden? Das ist eine Frage,
die uns sehr beschäftigen müßte, wenn wir noch
Christen wären, wie Jesus von Nazareth sie sich erwünscht hat.
Eine weitere Form des öffentlichen und öffentlich geregelten (und in diesem Sinne „offiziellen“)
Vergessens ist die Verjährung (praescriptio). Bei
der Verjährung werden, unterschiedlich nach den
verschiedenen Rechtssystemen und jeweiligen strafrechtlichen Delikten, bestimmte Fristen gesetzt, nach deren
Ablauf die Strafverfolgung zu unterbleiben hat. Für die Justiz kann somit
ein strafbares Delikt, ohne dadurch
seinen Unrechtscharakter einzubüßen,
von heute auf morgen „in Vergessenheit gestellt“ werden, wie die alte
Rechtssprache zu sagen pflegte. Selbst
eine schwere Bluttat ist prinzipiell von
einer möglichen Verjährung nicht ausgeschlossen. Warum gibt es nun, gegen
alles Gefühl von Recht und Unrecht,
eine solche Vergessens-Verfügung? Es
gibt sie, weil auch die Justiz weiß, daß
der Mensch ein vergeßliches Lebewesen ist. Da
nun für jedes gerechte Urteil Beweismittel gebraucht werden, sind verläßliche Zeugenaussagen
kaum entbehrlich. Wenn aber das Gedächtnis der
Zeugen versagt, weil seit der Tat zuviel Zeit verstrichen ist (sagen wir: weil zuviel Wasser durch den
Lethestrom geflossen ist), dann ist es besser, daß
ein Schuldiger nicht bestraft, als daß ein Unschuldiger bestraft wird. Eine dritte und politisch besonders folgenreiche Form des öffentlich verfügten
Vergessens ist die Amnestie, bei der schon sprachlich zu beachten ist, daß das griechische Wort „amnestia“ nichts anderes bedeutet als Vergessen. Es
wird daher in der lateinischen Rechtssprache auch
oft in synonymischer Verbindung mit oblivio gebraucht. Die Amnestie ist dem Staats- und Strafrecht seit dem Jahr 403 v. Chr. bekannt, als der
athenische Staatsmann Thrasybulos nach seinem
Sieg über die Tyrannis der dreißig Oligarchen keine
Siegerjustiz übte und statt dessen für beide Parteien
des Bürgerkrieges ein Nicht-Erinnern des gegenseitig zugefügten Unrechts verordnete. Es wurde
sogar die Todesstrafe denjenigen Personen angedroht, die diesem öffentlichen Vergessensgebot
zuwider handelten. Seit frühgriechischer Zeit ist
Harald Weinrich
also der Gedanke in der Welt, daß es in einer gegebenen Situation „um des lieben Friedens willen“
politisch geboten sein kann, begangenes Unrecht
nicht fallweise zu bestrafen, sondern es kurzerhand zu vergessen. Die Geschichte lehrt, daß der
Gedanke einer politischen Amnestie besonders oft
nach Bürgerkriegen und Religionskriegen aufgekommen ist. So hat beispielsweise Cicero zwei
Tage nach der Ermordung Cäsars noch einen Gesetzesentwurf eingebracht, der eine „Zerstörung
jeglicher Erinnerung an die Zwietrachten durch
ewiges Vergessen“ (oblivio sempiterna) zum Inhalt
hatte. Auf diese Weise sollte dem drohenden Bürgerkrieg noch einmal Einhalt geboten werden –
vergeblich. Ebenso wurde nach dem Dreißigjährigen Krieg, der in mancher Hinsicht sowohl ein
Bürgerkrieg als auch ein Religionskrieg war, schon
im zweiten Artikel des Westfälischen Friedens
„ewige Vergessenheit und Amnestie“ (perpetua
oblivio et amnestia) verfügt – ob mit oder ohne Erfolg, will ich dahingestellt sein lassen. Jedenfalls
konnte noch Kant sich einen Friedensvertrag ohne
Amnestiebestimmungen nicht vorstellen. Auch in
neuerer und neuester Zeit hat es in verschiedenen
Staaten politische Generalamnestien als öffentlich
verordnetes Vergessen gegeben, in Frankreich beispielsweise nach den Wirren und Verwerfungen
der Pariser Kommune, des Dreyfus-Prozesses und
des Algerienkrieges. Ob allerdings die Wunden,
die bei Konflikten dieser Art geschlagen werden,
durch öffentlich verordnetes Vergessen schneller
und besser geheilt werden können, als es durch
die vergessensspendende Zeit ohnehin geschieht,
ist eine bei Politikern und Juristen heftig umstrittene Frage, die auch hier aufs neue dem öffentlichen Nachdenken anempfohlen wird.
Ausgeschlossen von jeder Begnadigung, Verjährung oder Amnestie sind im deutschen und internationalen Strafrecht alle Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, wie sie erstmalig in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und dann in der
sogenannten „Verjährungsdebatte“ des Deutschen
Bundestags vom 16.07.1979 als schwerste und
durch kein Vergessen abzuschwächende Verbrechen definiert worden sind. Gemeint sind in erster
Linie die Verbrechen, die mit den Schreckenswörtern Auschwitz, Holocaust oder Shoah bezeichnet
werden, die also bei der Verwirklichung des planmäßigen Völkermords an sechs Millionen europäischen Juden sowie anderen Kollektivopfern der
Nazidiktatur begangen worden sind. Keinerlei
Form des öffentlich verordneten Vergessens ist
hier je vorstellbar. Es kann vielmehr in der Bundesrepublik Deutschland als gesellschaftlicher
Konsens gelten, daß keine Anstrengung zu groß
ist, um die Verbrechen, Schrecken und Leiden dieses Völkermords dem öffentlichen Vergessen zu
entziehen. Im Gegensatz zu den vorher besprochenen Formen des öffentlich verordneten Vergessens gilt hier also, und zwar ohne jede erkennbare
Einschränkung, ein öffentliches Vergessensverbot.
Über dessen Charakter wird jedoch öffentlich und
privat zu wenig nachgedacht, was wohl nur als
Wirkung eines unausgesprochenen Tabus zu erklären ist. Mit der pauschalen Maxime „Wider das
Vergessen“ ist es nämlich nicht getan. Ist denn
überhaupt klar, ob das öffentliche oder das private
Vergessen gemeint ist, oder beide? Und wenn beide gemeint sein sollen, wie können dann in dem
einen und in dem anderen Bereich die Sanktionen
beschaffen sein, die für hartnäckige Vergesser vorgesehen sind? Sicher scheint mir zu sein, daß pri-
„Für die Justiz
k a n n e i n s t r a fbares Delikt,
von heute auf
m o r g e n ‚ i n V e r g e ssenheit gestellt‘
werden.“
Haftanstalt Preungesheim, Frankfurt am Main
27
Beiträge
Harald Weinrich
vates Vergessen nicht mit öffentlichen Sanktionen,
öffentliches Vergessen nicht mit privaten Sanktionen beantwortet werden kann. Viele Fragen sind
also noch offen bei der Maxime „Wider das Vergessen“, deren doppelte Negation ja auch nicht zu
erkennen gibt, für welches Gedächtnis oder welche Erinnerung sie sich genau ausspricht. Ich meinerseits halte es für sehr wichtig, daß hier außer
der dem Privaten nahestehenden Erinnerung immer auch das der Öffentlichkeit nahestehende Gedächtnis angesprochen wird. Diese und manche
anderen Unklarheiten hängen sicher damit zusammen, daß die Geschichte, anders als beim vorher
erörterten verordneten Vergessen für das verbotene (oder verwehrte? verfemte? verpönte?) Vergessen keine erprobten und bewährten Handlungsund Unterlassungsmuster zur Verfügung stellt –
außer vielleicht in Form jenes unbedingten Vergessensverbots, das die jüdisch-christliche Religionsgeschichte für den „ewigen“ Gedächtnisbund
mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs kennt
und geradezu obsessiv eingeprägt hat. Aber ist es
denn Religion, was uns das Vergessen der Shoah
verwehrt, oder doch Recht, Moral und Politik? So
läßt die fast allgemein anerkannte Maxime „Wider
das Vergessen“ auch gemeinhin die konkreten
Verhaltensregeln vermissen, wie sie in der nüchternen Sprache der Juristen „Ausführungsbestimmungen“ genannt werden. Diese müßten, wenn es
sie gäbe, vor allem der Freud’schen oder postfreudianischen Erkenntnis Rechnung tragen, daß ein
Vergessensverbot, das mit Empfindungen von
Schuld, Scham und Schande einhergeht, nicht
leicht einzuhalten ist, zumal über Generationsgrenzen hinweg, an denen sich das Vergessen besonders leicht einnistet. Ein öffentliches Vergessensverbot muß auch privat akzeptiert und von
vielen Individuen mitgetragen werden. Und das alles soll in einer Gesellschaft verwirklicht werden,
die sonst von fröhlichen Rufen „das kannst du vergessen – forget it“ widerhallt. Da muß nun sorgfältig und mit Verantwortung überlegt, gezeigt und
gesagt werden, wie die vielen sorglosen Vergesser
– Männer und Frauen können es heutzutage sein –
für einmal zum Nicht-Vergessen gebracht werden
können. Da muß man ihnen – also uns – doch Ratschläge geben, wie dies gegen alle permissive Vergeßlichkeit vollbracht werden kann. Ohne sanfte
Überredung geht das alles wohl nicht. Mit einem
Polizeigriff läßt sich das Vergessen jedenfalls nicht
in die Knie zwingen. Es ist nämlich selber listig,
28
hintersinnig, eigenwillig und bisweilen, wie wir
von Freud wissen, tückisch. Daraus folgt, wie mir
scheint, daß derjenige, der dem Vergessen dauerhaft widerstehen will, mit dem Gedächtnis verhandeln muß, zäh, wie bei einer Tarifverhandlung
und bisweilen nachgiebig, wie bei einem Friedensvertrag. Es ist dann bei solchen Verhandlungen gut zu wissen, daß die Nicht-Vergesser, wenn
sie mit dem Gedächtnis gute Konditionen aushandeln wollen, einige Verbündete an ihrer Seite haben. An erster Stelle ist als ihr Verbündeter die Geschichtswissenschaft zu nennen. Historia ist zwar
nicht das gleiche wie Memoria, und die Geschichtsschreibung ist nur – aber das ist viel – eine
Mnemotechnik unter mehreren anderen. Dem Vergessen ist folglich nicht mit den Anstrengungen
der Historiker allein zu widerstehen. Doch sind sie
verläßliche Partner des kulturellen Gedächtnisses,
unter der Voraussetzung allerdings, daß sie selber
eine gedächtnisfreundliche, in Klarschrift: eine
narrative Historiographie betreiben. Als zweiten
Verbündeten nenne ich die Kunst, vor allem in
Gestalt der Literatur. Sie schlägt die tragfähigste
Brücke zwischen Privatheit und Öffentlichkeit.
Zum Beispiel Primo Levi und sein Auschwitz-Bericht „Ist das ein Mensch?“. Zum Beispiel Jurek
Becker und sein Getto-Roman „Jakob der Lügner“.
Zum Beispiel Heine, Börne, Feuchtwanger. Deren
Bücher können wir dann auch bei uns tragen,
wenn wir in Zukunft das Berliner HolocaustMahnmal besuchen werden. Sie lesend, erfahren
wir am besten, wie dort und andernorts dem Vergessen am dauerhaftesten zu widerstehen ist. J
„Wer dem Vergessen
dauerhaft widerstehen will, muß
mit dem Gedächtnis
verhandeln, zäh,
wie bei einer
Tarifverhandlung
und bisweilen
nachgiebig,
wie bei einem
Friedensvertrag.“
Hessische Landesbibliothek Wiesbaden
Beiträge
Abendveranstaltung anlässlich des 13. Sinclair-Haus Gespräches
Wladyslaw Bartoszewski
Historia magistra vitae –
Politiker und Geschichte
Natürlich ist es für mich eine Ehre und eine Freude hier zu sein und mit
Ihnen sprechen zu können. Eigentlich war ich mir nicht ganz sicher, in welcher
Eigenschaft ich eingeladen bin: als Politiker, als Historiker, als Zeitzeuge, als ehemaliger Minister, als jetziger Senator oder als in Deutschland relativ bekannter
Publizist. So sind es verschiedene Gründe, dass ich hier bei Ihnen bin.
Als Politiker fühle ich mich nie sehr gut. Ich wurde spät in meinem Leben
Politiker, als ich schon fast siebzig war. Vorher habe ich mich aber theoretisch
sehr für Politik, für die Geschichte der Politik und besonders für Diplomatie und
Außenpolitik in unserem Jahrhundert interessiert und war ihr Zeitzeuge. Dabei war
30
ich Gegenstand oder Opfer der Politik. Und das war ich längere Zeit, ab meinem
17. Lebensjahr im Jahre 1939 bis 1989. Als ich 16 Jahre alt war, hat der sogenannte
Anschluss Österreichs stattgefunden. Als ich mich auf mein Abitur vorbereitete,
kam es im Dritten Reich zum Münchner Abkommen und der Pogromnacht vom
November 1938. Zwei Monate vor meinem Abitur hat man die Tschechoslowakei
liquidiert, einen faschistischen Staat Slowakei und das Protektorat Böhmen und
Mähren geschaffen. Hitlers Ankündigung der politischen Konfrontation gegenüber
Polen erfolgte am 28. April 1939 über den Rundfunk. Das erlebte ich genau zwei
Wochen vor meiner schriftlichen Abiturprüfung in deutscher Literatur zu Lessings
Minna von Barnhelm. Der Hitler’sche Lessing unterschied sich deutlich von meiner
Weltsicht, auch meiner Sicht Deutschlands...
Danach kam der Krieg mit allen Besonderheiten, mit der Erfahrung von
Auschwitz, des Widerstandes, menschlicher Solidarität und den Aktivitäten zu
Gunsten der betroffenen Menschen. Nach dem Krieg hat man mich dafür reichlich
„belohnt“. Die neue polnische Volksrepublik, quasi die DDR an der Weichsel, hat
31
Beiträge
Wladyslaw Bartoszewski
mich für sechseinhalb Jahre hinter Gitter gesperrt. Dann habe ich erfahren, dass ich
ein einfacher „Imperialist“ und „Spion“ bin und überhaupt kein polnischer Patriot.
Denn polnische Patrioten waren allein diejenigen, die aus Moskau mit dem Flugzeug gebracht wurden. Alle anderen waren natürlich keine Patrioten, sie waren
Imperialisten oder Werkzeuge des Imperialismus.
Jetzt komme ich in meiner Eigenschaft als Redner, der halbwegs Politiker,
halbwegs Zeitzeuge, aber auch Zeithistoriker ist, zum heutigen Problem. Im Herbst
1986 ist in München ein Sammelband meiner Aufsätze und Reden zur Kriegs- und
Nachkriegsgeschichte Polens unter dem Titel „Aus der Geschichte lernen?“ erschienen. Der Autor des Vorwortes, mein in Deutschland wohlbekannter Landsmann,
Stanislaw Lem, hat am Ende seiner im Grundton pessimistischen Ausführungen
bemerkt: „Der Autor des Buches, ein Pole, der Gefängnisse aller Art, alle Erscheinungsformen der Gewalt, die jede Äußerung der Freiheit oder nur das Streben nach
ihr im Keim erstickt, kennengelernt hat, hat zwar sowohl seinen Glauben als auch
seine Überzeugung von einer besseren zukünftigen Welt bewahrt, in der Polen und
Deutschland gleichberechtigte Plätze einnehmen. Doch der Schatten des Zweifels,
der ihn insgeheim quält, kam in dem Fragezeichen zum Ausdruck, das er hinter
den Titel des Buches gesetzt hat. ‚Aus der Geschichte lernen?‘.“
Zehn historisch für Europa schwerwiegende Jahre sind inzwischen vorüber.
Diese Jahre brachten uns neue, damals nicht vorhersehbare Ereignisse. Die Frage,
ob die Geschichte eine „Magistra vitae“ ist oder „non“ ist, beschäftigte und beschäftigt aber weiterhin nicht nur Historiker, sondern alle, die sich reflektierend
sowohl für die Zukunft der eigenen Familie als auch für die Zukunft ihres Volkes,
vielleicht sogar der Menschheit mitverantwortlich fühlen. Das betrifft oder sollte
auch die Politiker betreffen. Eine eindeutige und endgültige Antwort auf diese
Frage gibt es jedoch nicht, und kann es wohl auch nicht geben. Die Wiederholbarkeit oder Unwiederholbarkeit historischer Ereignisse ist ein ganz anderes Problem,
das dennoch eng mit der Bewertung der Geschichte als einer Lehrmeisterin oder
mit der Ablehnung dieser Funktion der Geschichte verknüpft ist. Dieses hängt davon ab, ob im Bewusstsein
„In keinem
einzelner Persönlichkeiten, aber auch von nationalen
Land gibt es
oder gesellschaftlichen Gruppen die Überzeugung
nichts zu
vorherrscht, dass die Geschichte einen Einfluss auf die
verdrängen
Entscheidung hat, welcher Weg für die Gegenwart und
und nichts
die Zukunft einzuschlagen sei oder nicht. Die Existenz
zu vergessen,
eines historischen Bewusstseins ist jedoch ein unbeund kein Volk
strittenes Phänomen. Wenngleich es nicht in jeder Zeit
besteht nur aus
und in jeder Gesellschaft in gleicher Weise gestaltet ist
den besten
und zum Ausdruck kommt, kann man dennoch das
Menschen.“
Interesse an den Traditionen der engeren Heimat, der
Nation und des Staates als ein dauerhaftes, allgemeines
und besonders in historisch schwierigen Zeiten häufig auftretendes Phänomen
beobachten. Vereinfachend könnte man hier die Behauptung wagen, dass die
Mächtigen, Einflussreichen und Wohlhabenden weit geringere Neigungen zu historischen Reflexionen haben als Schwache, Bedrohte, Unterdrückte oder moralisch
besonders Empfindliche, die sich über die Lage der eigenen Nation und Gesellschaft Gedanken machen. Diese Behauptung findet vielfache Bestätigung in der
neuen europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
32
Wladyslaw Bartoszewski
Eine sehr charakteristische Eigenschaft eines historischen Bewusstseins, das sich
auf die Vergangenheit beruft, ist die Neigung, eigene Erfolge und Errungenschaften
hervorzuheben und die Rolle hervorragender, im politischen, gesellschaftlichen,
wissenschaftlichen und kulturellen Leben besonders verdienter Persönlichkeiten zu
betonen. Diese Neigung ist übernational, tritt allerorts auf und ist psychologisch erklärbar. Eine der Gefahren besteht darin, dass zweifelhafte Kriterien bei der Beurteilung der Erfolge oder der Bedeutung herausragender
Persönlichkeiten angewandt werden. Eine andere,
ebenfalls übernationale und relativ weit verbreitete
Gefahr ist der Wunsch, niederträchtige oder auch
nur falsche oder moralisch bedenkliche Tendenzen,
Erscheinungen, Fakten und Handlungen im historischen Prozess zu übersehen, insbesondere, wenn
es um die Geschicke des eigenen Volkes und Staates
geht. Diese Neigung, die eigene Geschichte zu
schönen oder die Überlieferung falsch und tendenziös auszuwählen, ist ein Zeichen von nationalem
Egoismus, der dem Chauvinismus gleichzustellen ist.
Dahinter verbirgt sich aber auch ein Mangel an Mut,
negative Erscheinungen, Handlungsweisen und Tendenzen kritisch zu betrachten. Dabei gilt es, sich zu
vergegenwärtigen, dass erst die Anerkennung ihrer
Existenz und die Auseinandersetzung damit, die
Lichtblicke in der Geschichte besonders hervortreten lässt. Die Lichtblicke, in denen eine unbeugsame
Haltung und tatkräftige Handlungsweise von Menschen zum Tragen kommt, die mit einem besonders
sensiblen Gewissen den Mut haben, sich dem Unheil
sowohl aus moralischer Überzeugung als auch aus
einer wohlverstandenen Sorge um die Interessen des
eigenen Volkes zu widersetzen. Eine kritische Haltung,
die einer echten Verbundenheit mit der Gemeinschaft
entspricht, ist auch Ausdruck des Verantwortungsbewusstseins des einzelnen Menschen für das Wohlergehen der ihm besonders nahe stehenden Menschen
oder Gruppen. Sie ist somit die Haltung des Menschen, der freiwillig die Mitverantwortung für das
Überwinden des Unheils auf sich nimmt, das er zwar
nicht persönlich verschuldet hat, demgegenüber er
aber nicht gleichgültig bleiben kann. Das sind einige
allgemeine Überlegungen, die ebenso gut Polen, wie
Franzosen und Deutsche betreffen, denn in keinem
Lande tragen alle Menschen eine weiße Weste. Und
in keinem Land gibt es nichts zu verdrängen und nichts zu vergessen, und kein
Volk besteht nur aus den besten Menschen. In jedem Volk gibt es im Durchschnitt
einige Prozente Schurken und Banditen, einige Prozente Heilige und hohe Geister
und mehrere Prozente gleichgültige Menschen. Dies sind einfach Menschen, die
schwächer als die anderen sind. Und das ist auch normal und in Ordnung. In jeder
Epoche und in jedem Land war und ist das so. Wenn mich jemand zum Beispiel
fragt, wie es jetzt mit der Sicherheit in Polen aussieht, dann sage ich, so wie in
33
Beiträge
Wladyslaw Bartoszewski
Chicago Anfang des Jahrhunderts ist es noch nicht. Wir werden versuchen, diesen
Errungenschaften der hohen Zivilisation vorzubeugen. Es ist aber auch noch nicht
so, wie ich es möchte. Bei jedem Umbau, bei jeder Umwandlung kommen in einem Land oft die „Starken“ ganz nach oben, nicht unbedingt die Moralischen und
Guterzogenen, sondern eher die Halunken und Gauner.
Ich habe nicht die Absicht, heute über Politiker der Art von Metternich, Aristide
Briand oder Stresemann zu reden, die natürlich eine bedeutende Rolle in der europäischen Geschichte gespielt haben oder gewisse Visionen realisieren wollten, wie
z.B. Briand oder Stresemann. Visionen, die sich jetzt bei der europäischen Integration auf ihre Weise umgestaltet weiterentwickeln und vielleicht in Europa in absehbarer Zeit zu Stande kommen werden. Ich weiß natürlich nicht, inwieweit diese
Politiker historisch ausgebildet waren. Das könnte man sicher wissenschaftlich untersuchen, was ich aber nie getan habe. Das Verhalten der Herren Chamberlain
und Daladier dagegen im Jahre 1938 im Namen der zwei großen Demokratien, der
damals bedeutendsten Staaten Europas, spricht nicht für deren Empfindlichkeit, wenn
es um geschichtliche Erfahrungen Europas ging. Was Roosevelt und Churchill uns,
uns allen in Mittel- und Osteuropa, im Jahr 1945 angetan haben, überzeugt mich
auch nicht, obwohl Churchill sicher besser als Roosevelt historisch ausgebildet war.
Trotzdem bin ich nicht überzeugt, dass die beiden Herren sehr sensibel bezüglich
historischer Gegebenheiten waren. Wären sie sensibler gewesen, hätten sie diese
Welt nicht so eingerichtet. So blieb Joseph Stalin (als der bestens ausgebildete
Historiker) ganz oben, der zugleich am besten wusste, wo die Grenzen des Möglichen, die Schwächen der menschlichen Natur liegen und wie man den Menschen
am besten erpressen kann. Das ist ein Erbe der alten russischen Geschichte, nicht
nur der kommunistischen. Erfahrungen dieser Art gab es schon Anfang des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert.
Praktische Beispiele von Politikern, die in den letzten
Jahrzehnten über Außenpolitik und das Schicksal von
„Es ist doch
Millionen Entscheidungen getroffen haben, waren nicht
nicht möglich,
sehr ermunternd. Natürlich wissen wir alle, dass Diktatogleichgültig
ren und Henker wie Himmler und Berija Schandflecke
zu bleiben,
der Gesellschaft waren. Wir werden keine Zeit verlieren,
wenn ein
indem wir über diese Personen oder ähnliche in Asien,
kleines Volk
Afrika und überall in der Welt reden. Aber inwieweit haunter dem
ben Politiker, Außenpolitiker, Staatsoberhäupter, MinisterVorwand, man
präsidenten und Außenminister aus der neuesten Gebekämpfe nur
schichte Europas gelernt? Nach der Wende 1989/90, die
die Terroristen,
durch die extreme Schwäche der Sowjetunion, durch den
bombardiert
starken Freiheitswillen der Polen, der Ungarn, durch die
und ausgerottet
Aktivitäten der meist christlich gesinnten Opposition in
wird.“
der DDR möglich wurde, war ich sehr optimistisch. Weil
ich kein Berufspolitiker, sondern nur ein bescheidener
Gastprofessor in Bayern war, habe ich naiv gedacht, dass
es nun schneller besser gehen wird. 1991 musste ich als Botschafter meiner Republik in Wien den Ausbruch des Konfliktes in Jugoslawien und alles, was danach
folgte, miterleben. Die erste Flüchtlingswelle kam nach Österreich. Die ersten Folgen waren in den Grenzgebieten Österreichs und Italiens zu Jugoslawien spürbar.
Das war für mich sofort eine bittere Lehre. Meine Freunde in Österreich, meist
34
Wladyslaw Bartoszewski
Demonstration vor dem Präsidentenpalast in Grosny, Tschetschenien 1996
christliche Politiker, auch namhafte Bischöfe, Philosophen und Geschichtsprofessoren waren alle sehr betroffen und haben kaum Worte gefunden, um irgendwelche Rezepte für die weitere Entwicklung zu geben.
Ich fühle mich eng mit dem Staat Israel verbunden. Ich bin sogar Ehrenbürger
des Staates und Präsident der polnisch-israelischen Gesellschaft in Polen und besuche dieses Land ein paar Mal im Jahr. Ich mache mir Sorgen, wenn dort etwas
schief geht, fast genauso, wie ich mich um Polen sorge. Wenn ein israelischer
Politiker Fehler begeht, berührt mich das fast so, als wenn ein polnischer Politiker
Fehler begangen hätte. Natürlich gibt es im Nahen Osten Probleme, und lange
Zeit hat die Menschheit dort versagt, ehe Amerika einiges in Bewegung gesetzt hat.
Es gibt weiter Probleme in Asien, in mehreren asiatischen Ländern, in Afrika und
leider auch in Europa. Denn die Balkangeschichte ist noch nicht zu Ende. Und
niemand von uns weiß, wie sie zu Ende kommen wird. Ich habe vor kurzer Zeit
die Möglichkeit gehabt, in Berlin mit Hans Koschnick zu sprechen, der ein erfahrener, gescheiter, anständiger und empfindsamer Mensch ist und vor kurzem noch
EU-Beauftragter für diese Region war. Er machte sich große Sorgen, dass die Konflikte kein Ende nehmen werden. Es ist doch ein offenes Geheimnis, dass diese
Probleme nicht nur Politiker, sondern auch viele Intellektuelle beschäftigen. Inwieweit haben die Menschen auf dem Balkan aus der Geschichte des Raumes gelernt?
Aus der Geschichte 1914 und danach aus der Geschichte Jugoslawiens, aus der
Geschichte des Zerfalls seit 1991? Es gibt einige Staaten wie Slowenien, die sich
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Beiträge
Wladyslaw Bartoszewski
etabliert haben. Andere gibt es auf der Landkarte und in den Vereinten Nationen.
Mir scheint, die Fähigkeit oder die Unfähigkeit, Schlussfolgerungen aus den möglichen vorliegenden Erfahrungen der neuesten Geschichte zu ziehen, sind sehr
begrenzt, weil materielle Ansprüche, wirtschaftliche Elemente des Lebens, die
weltweite Konkurrenz innerhalb der Wirtschaft vor allen anderen Elementen
Vorrang haben.
Dem russischen Volk
wünsche ich z.B. das Allerbeste. Aber ich wünsche mir
nicht, dass die Politiker dort
weiter Unfug machen. Sie
arbeiten mit schlimmsten
Methoden gegen Menschen.
Es ist doch nicht möglich,
gleichgültig zu bleiben, wenn
ein kleines Volk unter dem
Vorwand, man bekämpfe
nur die Terroristen, bombardiert und ausgerottet wird.
Wir alle haben es doch
erlebt – die Deutschen, die
in der DDR gelebt haben,
die Polen in der polnischen
Volksrepublik, die Tschechoslowaken, die Ungarn,
Bulgaren, Rumänen, Litauer,
Letten und Esten. Alles, was
gegen das Imperium war,
war imperialistisch, menschenfeindlich und suspekt.
Diese Worte und diese
Kosovo-Flüchtlinge in Tetovo, Mazedonien 1999
Begriffe kennen wir sehr
gut. Sie wirken schon nicht
mehr auf diejenigen, die
fünfundvierzig Jahre lang unter dem Druck eines Imperiums gelebt haben. Natürlich wollen wir gesunde, stabile Demokratien in allen Ländern Europas und der
ganzen Welt. Aber die Stabilität dieser Demokratien ist unterschiedlich, wie z.B.
die Entwicklungen in Weißrussland zeigen. Ich glaube, wir können mit der Stabilität einiger dieser Staaten in absehbarer Zeit rechnen, wie z.B. der kleinen baltischen Republiken. Und können auf die Stabilität anderer, bedeutenderer Länder,
wie z.B. der Ukraine oder auch Weißrussland und Russland selbst hoffen. Denn
wie mein Freund Joseph Rovan einmal gesagt hat, ist der kranke Elefant nicht die
kranke Maus. Wir wünschen dem Elefanten keine Krankheit, sondern gute Gesundheit sowie demokratischen und wirtschaftlichen Erfolg und Stabilität. Das ist das
Interesse Europas, und daran liegt allen.
Aber ob Politiker dort in Russland, aus der Gorbatschow-Zeit, aus dem Putsch
1991 und den Erfahrungen anderer Staaten nichts gelernt haben? Ich weiß es nicht.
Aber wir sehen momentan nicht, dass sie sehr viel gelernt haben. Hierfür fehlen
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Wladyslaw Bartoszewski
Beweise. Die freie Marktwirtschaft für einige Tausende Familien und Neureiche
russischer Nationalität in Florida oder Monaco entscheidet doch nicht über ein
Volk oder die Stabilität eines Landes oder einer Gesellschaft. Aber wir wünschen
allen diese Stabilität.
Es scheint meiner Meinung nach keinen besseren Weg für diejenigen, die Politik
machen und besonders die Außenpolitik bestimmen, zu geben, als die Geschichte
zu kennen. Im polnischen Fall gab es seit 1990 bis heute schon zwei Außenminister, die Berufshistoriker waren, einmal ich selbst und seit 1997 der jetzige Außenminister Professor Geremek. Bronislaw Geremek ist ein auch in Frankreich, England und Deutschland bekannter Historiker. Für ihn persönlich ergeben sich aus
der historischen Dimension sowohl Pflichten als auch Perspektiven und Möglichkeiten. Denn die Geschichte besteht zwar aus Büchern, Dokumenten und geheimen Kanzleidokumenten, aber es gibt auch mündlich überlieferte Erfahrungen der
letzten Generation. Bei uns gibt es ein einmaliges Phänomen: Bronislaw Geremek
ist der einzige Außenminister in der Welt, der von Kinderjahren angefangen fast
bis zu seinem 60. Lebensjahr Totalitarismus, Menschenhass und Menschenverachtung am eigenen Leib erfahren hat. Wenn Menschen mit Einfühlungsvermögen
handeln, ist es unwichtig, welchen Glauben sie haben. Ob sie Katholiken, Protestanten, Methodisten, Orthodoxe oder Atheisten sind, ist zweitrangig, wenn sie
über eine gewisse Sensibilität, eine gewisse Empfindlichkeit, eine gewisse historische Erfahrung oder mindestens das Bewusstsein der Bedeutung historischer
Erfahrungen verfügen.
Ich will hier ein diplomatisches Geheimnis lüften. Als
Joschka Fischer zwei Tage nach seiner Vereidigung im
“Inwieweit
November 1998 nach Warschau kam – eine schöne
haben die
Geste des guten Willens – konnte er noch nichts sagen,
Menschen auf
da er erst seit 48 Stunden als Außenminister im Amt war.
dem Balkan aus
Er kam nach Warschau und sprach bei Außenminister
der Geschichte
Geremek vor. In dem Moment kam das Fernsehen zu
des Raumes
mir in den Senat und wollte von mir als Senator und
gelernt?”
Vorsitzenden des europäischen Ausschusses sofort einen
Kommentar zu dem Besuch. Was konnte ich sagen? Ich
wollte keinen Unfug machen und habe gesagt: „Meine
Herren, warten Sie 15 Minuten“. Ich habe Geremek angerufen, er war Gott sei
Dank noch in seinem Zimmer. Joschka Fischer war schon weg. Ich habe ihm
gesagt: „Die Journalisten warten, sie wollen von mir etwas über den Besuch von
Herrn Außenminister Fischer wissen, was soll ich sagen?“ In solchen Momenten
geht es um Prestige, um das Image eines Staates, um Politik, da eine falsche
Meldung, irgendeine unbedachte Äußerung sofort hochgespielt und pervertiert
werden kann. Dann sagte mir Geremek: „Du wirst lachen, ich habe gerade mit ihm
gesprochen, weißt du, und ich glaube ihm.“ Das genügte mir schon. Ich ging zu
den Journalisten und sagte: „Meiner Meinung nach ist der neue deutsche Außenminister ein glaubwürdiger Mensch, der sich auf überzeugende Weise äußert, er ist
guten Willens und will etwas bewegen, aber es ist natürlich noch zu früh, um nach
wenigen Stunden in Warschau mehr zu sagen.“ Inwieweit das geschichtliche Bewusstsein in diesem konkreten Fall eine Rolle spielt, ist nicht meine Sache, sondern
aktuelle Politik und kein Thema für mich. In der Nachkriegspolitik haben einige
Politiker Gespür bewiesen, wie z.B. bei der „Allgemeinen Erklärung der Menschen-
37
Beiträge
Wladyslaw Bartoszewski
Stelen an der Gedenkstätte Treblinka, Polen
rechte“ 1948 und auch bei der Vorbereitung der KSZE-Schlussakte in Helsinki im
Juli 1975. Obwohl viele Menschen in Polen und woanders weiterhin in Gefängnissen und Lagern blieben, gab es durch die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ Grundsätze und Werte, die somit festgeschrieben waren und so eine gewisse
Rolle spielten. Die Helsinki Schluss-Erklärung vom 1.8.1975 hat z.B. eine inspirierende Rolle für die Bürgerrechtsbewegung in Polen und
in der Tschechoslowakei gespielt. Eine aktive Bewegung
„Es scheint
von Bürgerrechtlern, die einige kluge Entscheidungen
mir keinen besvon Politikern beeinflusst haben, die ein wenig verstanseren Weg für
den, was man in Europa 1945 getan hatte.
diejenigen, die
Politik machen,
Ich bin der Meinung, dass die Erfahrungen des Totalizu geben, als
tarismus und der autoritären Systeme in den einzelnen
die Geschichte
Ländern sehr unterschiedlich waren. Man darf doch
zu kennen.“
Mussolini oder Salazar nicht mit Hitler vergleichen, obwohl jeweils genug Unglück passiert ist. Obwohl alles
autoritäre Systeme waren, waren sie doch unterschiedlich. Man kann auch nicht
irgendeinen verrückten Linkssozialisten mit Stalin vergleichen. In diesem Sinne gab
es ganz unterschiedliche Formen, in denen die Begrenzung der menschlichen Freiheit und die Unterdrückung der Menschenwürde im 20. Jahrhundert stattfanden.
Das jetzt ablaufende 20. Jahrhundert bleibt so in den Köpfen der Generation, die
38
Wladyslaw Bartoszewski
noch die zweifelhafte Ehre hat weiterzuleben, bestehen. Es bleibt das Jahrhundert
der Menschenunterdrückung, der Vernichtung ganzer Menschengruppen, des Totalitarismus und der autoritären Systeme. Denn es gab zwar Kriege in allen Jahrhunderten, aber nicht mit dem Ziel, ganze Völker zu vernichten. Es gab die Absicht,
Armeen zu vernichten, Territorien zu erobern und sich materielle Vorteile zu
verschaffen. Aber Säuglinge und Greise zu vernichten, wie bei der sogenannten
„Endlösung der Judenfrage“, war etwas noch nie Dagewesenes. In diesem Sinne
ist dieses Jahrhundert ohnegleichen. Diese Erfahrung ist unvergleichbar, wir sind
verpflichtet, die Lehre aus dieser Geschichte zu ziehen. Das ist keine beliebige
Entscheidung.
1986 war ich Gastprofessor in Deutschland, aber ein Bürger der Volksrepublik
Polen mit polnischem Pass in der Tasche. Ich habe in dem Jahr bei der Verleihung
des Friedenspreises in Frankfurt am Main am 5. Oktober gesagt, was ich dachte
und weiter denke: „Die Generation, der ich angehöre, hat mit eigenen Augen die
Mauer und den Stacheldraht gesehen, die die Menschen trennten. Die Mauern des
Gettos von Warschau und anderswo. Die Mauer, die jahrelang quer durch Jerusalem lief und die Mauer, die bis heute Berlin teilt. Es scheint das Wichtigste zu
sein, all das zu unterstützen, was die Menschen verbindet und sich all dem zu
widersetzen, was die Menschen gegen ihren Willen trennt.“ Mehr konnte ich nicht
tun, als in einem Atemzug Hitler und Honecker zu nennen, die Mauer des Gettos
und die Mauer von Berlin. Ich will nicht behaupten, Gorbatschow, der damals erst
ein Jahr an der Macht war, habe das verstanden, aber er hat doch relativ viel verstanden und getan...
Die Geschichte ist sehr lehrreich, sie bringt sehr bedeutende Beispiele auch
der ganz einfachen Menschen „von unten“, ganz normaler Leute. Arbeiter, Ärzte,
Beamte, Krankenschwestern, Professoren, wie ich damals auch einer war, können
etwas in der Öffentlichkeit und im Bewusstsein der Menschen bewegen. Ich will
glauben, dass „Historia magistra vitae“ sein kann, und ich will glauben, dass Politiker früher oder später hoffentlich mehr der Geschichte entnehmen werden, als
sie es bisher taten. J
Wolfgang R. Assmann, Wladyslaw Bartoszewski
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Die Zukunft des Gewesenen: Ruinen des Tempels von Avdat, Israel
Gegründet im 4. Jh. v. Chr., war die
Stadt der Nabatäer in der Wüste Negev
einst Handelszentrum und Stützpunkt
an der „Gewürzstraße“.
Beiträge
Klaus-Dieter Lehmann
Kulturelle
Überlieferung
und das kurze
Gedächtnis der
neuen Medien
Wir haben uns bisher im Wesentlichen damit
befasst, wie persönliches Erinnern, persönliches
Vergessen entsteht, welche Möglichkeiten es beinhaltet, wo die Grenzen sind. Wir haben über falsches Vergessen, falsches Erinnern und verordnetes Erinnern gesprochen. Das sind alles Bereiche
gewesen, die unmittelbar mit dem persönlichen
Gedächtnis zu tun gehabt haben. Und es ist auch
sehr deutlich geworden, dass das Erinnern, wenn
es beispielsweise mehrere Generationen übergreifen soll, schon ein sehr schwieriger Prozess ist,
weil die unmittelbare Erfahrung fehlt und weil die
Art des Transfers, der die nächste Generation dann
wirklich erreicht, sehr unterschiedlichen Konditionen unterliegt und zu ganz unterschiedlichen Bildern und Weitergaben von Informationen führt.
Die Menschen haben sich sehr frühzeitig Gedanken gemacht und Instrumente geschaffen, um
diesen Prozess der generationsübergreifenden Erinnerungen und auch
die Möglichkeit, diesen
„Wir haben große
Komplex in seiner VielSchwierigkeiten,
schichtigkeit zu erfasz e i t l i c h e E i n o r dsen, durch die Auslagenung wirklich
rung des Gedächtnisses
noch linear
quasi zu erhalten. Ausin einer Achse
lagerung des Gedächtzu leisten.“
nisses bedeutet, dass
man es auf materielle
Medien übertragen hat. Diese materiellen Medien
werden im Wesentlichen gehalten von den Museen, von den Bibliotheken und von den Archiven. Insofern verfügen wir über ein ganz komple-
42
xes Geflecht, das sich in seiner Verschiedenartigkeit und Vielfalt in den Sammlungen anreichert
und jeweils wieder von jeder Generation neu entdeckt und angeeignet werden muss. Es ist also
nicht so, dass die Objekte, die dort versammelt
sind, immer der gleichen Deutung unterliegen,
sondern sie werden immer neu gedeutet. Aby
Warburg spricht in diesem Zusammenhang von einem sozialen Erinnerungsorgan. Das bedeutet,
man sieht in diesen Sammlungen letztlich nur wieder die Themen, die auch eine Gesellschaft unmittelbar angehen und von Bedeutung sind.
Nun ist die Situation der Museen, Bibliotheken
und Archive in der heutigen Zeit durch tiefgreifende Änderungen gekennzeichnet. Ich will zunächst
einmal auf die Situation der Institutionen eingehen
und hier vier Aspekte, vier Kriterien nennen, die
sich beispielsweise gegenüber dem 19. Jahrhundert deutlich verändert haben.
Das ist zunächst einmal der Begriff der Globalisierung. Globalisierung kennzeichnet eine Welt,
die mit ihrer technischen Vernetzung und den
kommunikativen Möglichkeiten dazu geführt hat,
dass wir in einer Weise gleichzeitig Ereignisse in
der Welt erleben, die vorher in dieser Form überhaupt nicht präsent waren. Wir waren früher in einer lokalen, wir waren in einer regionalen Umgebung eingebunden und haben die Erfahrungen
deshalb auch sehr viel kollektiver gemacht, als es
jetzt der Fall ist, wo wir quasi von Ort und Zeit unabhängig die gesamte globale Bilderflut und Informationsflut auf uns projiziert sehen. Diese Gleichzeitigkeit ist sicher ein Phänomen, das auf die
Fragen Gedächtnis, Erinnern und Vergessen Auswirkung hat.
Verschärft wird diese Intensität durch eine ständige Beschleunigung. Die Globalisierung führt zu
einer Verstärkung der Wettbewerbssituation und
damit zu der Beschleunigung. Letztlich sind diese
Begriffe, die ich im Zusammenhang mit Globalisierung nenne, etwas, das uns als Zeitbegriff unmittelbar tangiert. Jeder von uns hat sicher seine Erinnerung aus der Kindheit oder Jugend, in der er
Jahren oder Jahreszeiten Ereignisse zuordnen
konnte, die in seinem unmittelbaren Umfeld passiert sind, und ich glaube, jedem von Ihnen geht
es ebenfalls so, dass dies immer schwerer fällt,
Zeugnisse der Maya-Hochkultur, Copán Ruínas, Honduras
„Wenn wir die
Dauerhaftigkeit
von in Stein
geschlagenen
Hieroglyphen mit
der Kurzlebigkeit
von E-Mails
vergleichen...“
weil die reale Umwelt, die virtuelle Umwelt und
auch der Umfang an Informationen, der verarbeitet wird, dieses Zeitgefühl gar nicht mehr manifest
machen. Wir haben große Schwierigkeiten, zeitliche Einordnung wirklich noch linear in einer
Achse zu leisten.
Das Zweite ist die Flüchtigkeit der Medien, die
wir früher nicht kannten. Wenn Sie sich vorstellen,
wie wir heutzutage die Information über Mesopotamien oder Ägypten verifizieren, indem wir die
Dauerhaftigkeit von Hieroglyphen, die in Steine
geschlagen sind, auswerten und vergleichen das
mit der Kurzlebigkeit von E-Mails, die wir heutzutage durch die Welt schicken, dann wissen Sie,
was ich mit medialer Flüchtigkeit meine. Das Fragile, das sehr schnell Verschwindende ist eine Entwicklung, die wir in dieser extremen Ausprägung
bislang nicht kannten.
Der dritte Bereich betrifft das Verschwinden der
im 19. Jahrhundert als Bildungsbürgertum bezeichneten Gemeinsamkeit von kultureller und intellektueller Überlieferung. Das bedeutet, es wurde die
Vermittlung von Information, die Erziehung, in
einem ganz bestimmten Umfang determiniert.
Mit diesem Erkennen und Wiedererkennen besaß
man eine Leitlinie, eine Orientierung, die wir im
20. Jahrhundert verloren haben. Was das 21. Jahrhundert bringt, ist schwer zu sagen. Wenn wir aus
dem 20. Jahrhundert lernen würden, würde ich
sagen, wir kehren wieder zur Bildung zurück. Es
ist nur eine andere Bildung, die sich alleine aus
den neuen Randbedingungen ergeben wird. Es ist
eine offene Bildung, die aus der unmittelbaren
lokalen und regionalen Einbindung entsteht, aber
auch mit den internationalen Entwicklungen gekoppelt ist. Insofern ist der Bildungsbegriff auch
kein Bildungsbürgertum-Begriff, sondern es ist ein
Begriff, der durch die offenen Gesellschaften definiert wird.
43
Beiträge
Klaus-Dieter Lehmann
Und der vierte Punkt, den ich nennen will, ist
die Tatsache, dass wir heute immer mehr bei der
Sicht auf gesellschaftliche Verhältnisse zunächst
die Ökonomie betrachten und viel weniger die
Kultur. Das ist ein Wandel, der sehr offensichtlich
ist. Alles, was im Wettbewerb nicht bestehen kann,
„ D i e L a n g z e i tverfügbarkeit ist
ein wesentliches
Kriterium für
das Entstehen
eines kulturellen
Gedächtnisses.“
nicht wirtschaftlich ist, gerät in eine sehr deutliche
Randlage. Letztlich ist dadurch auch die Weiterentwicklung der Einheit Deutschlands in eine vorübergehende Sackgasse geraten. Man konnte den
Eindruck gewinnen, dass diese deutsche Vereinigung nur eine Angelegenheit der D-Mark war. Ostdeutschland wollte die D-Mark, und deshalb ist alles so konsequent verlaufen. Anders herum wird
ein Schuh daraus. Im Grunde haben die Ostdeutschen in Bezug auf eine gemeinsame Kultur, auf
Grund der gemeinsamen Sprache, der Geschichte,
diesen Weg beschritten. Das drückte sich auch in
dem Satz „Wir sind das Volk, und wir sind ein
Volk“ aus. Die D-Mark hat das Ganze beschleunigt, aber nicht ausgelöst.
44
Es sind diese vier Aspekte, die man betrachten
muss, wenn man über das ausgelagerte Gedächtnis, also das kulturelle Gedächtnis redet. Gestatten
Sie mir, dass ich mich auf zwei Institutionstypen
beschränke, weil das natürlich auch in meiner jetzigen Position als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz nahe
liegt, in der Museen, Bibliotheken und Archive
in einer Organisation zusammengeführt sind, im
Grunde die Institutionen,
die das Gedächtnis ausmachen. Ich spreche zunächst einmal über die
Museen im Umfeld der
neuen Medien, deren zukünftige Entwicklung und
anschließend über Bibliotheken und Archive im
Zusammenhang.
Museen sind derzeit
die einzigen Einrichtungen, die den Zeitbegriff
sinnlich vorführen und
damit die Einprägungskraft des Gedächtnisses durch Bilder, Orte und
Denkmäler anregen. Beispielsweise reicht der Zeithorizont der Staatlichen Museen zu Berlin von den
Sumerern vor 6000 Jahren bis zur heutigen zeitgenössischen Kunst. Dies alles organisiert in sieben
Museen mit den Schätzen der Weltkulturen, so
dass ein Ausdruck menschlicher, künstlerischer,
aber auch wissenschaftlicher Tätigkeit in einer
Zusammenschau zu sehen ist. Es ist aber klar, dass
diese Zusammenschau heute ganz anders gesehen
wird als im 19. oder 18. Jahrhundert, weil uns diese Objekte die Möglichkeit geben, unsere eigene
Situation zu reflektieren, unsere heutigen Fragen
zu stellen. Es ist ja nicht so, dass alle neuen Erkenntnisse der Menschheit darauf beruhen, dass
wir neue Fakten entdecken. Die neuen Fakten
sind eigentlich weniger an den neuen Erkenntnissen beteiligt als eine neue Sicht auf schon Bekanntes. Und insofern liefern meines Erachtens Museen
einen ganz entscheidenden Ansatz, um diese Zusammenhänge in der Form auch wirklich darzustellen. Nun gibt es für Museen genau die gleiche
Situation wie für alle Einrichtungen, die Informationen und Wissen vermitteln, auch der Computer
und die Netze halten Einzug. Was bedeutet das für
Klaus-Dieter Lehmann
die Museen? Verschwinden die Museen? Haben sie
überhaupt noch eine Bedeutung? Oder steigert
sich vielleicht sogar die Bedeutung?
Es gibt inzwischen virtuelle Museen, die über
mehrere Millionen Objekte weltweit verfügen. Die
Nutzer können im Internet durch die Museen spazieren und können sich ihre eigenen Ausstellungen aus den Sammlungen zusammenstellen. Das
bedeutet, Sie haben letztlich alle Großmuseen der
Welt in Ihrem Zimmer auf dem Bildschirm verfügbar. Aber was heißt das? Was heißt das für das
Gedächtnis?
Es ist eine Dimension, die die Museen dazu gewinnen und sie nicht überflüssig macht, es ist Information über Kunst, aber es ist nicht Kunst. Insofern ergibt sich eine erstaunliche Entwicklung, die
dazu führt, dass Menschen immer häufiger in Museen gehen. Sie gehen deshalb in Museen, weil die
Information, die durch solche Informationskanäle
dem Einzelnen zur Verfügung steht, zunächst einmal breiter und gezielter anspricht. Aber ich glaube, das Entscheidendere ist, dass das Original eine
neue Stärke, eine größere Einzigartigkeit gewinnt.
Insofern ist die Entwicklung der neuen Medien
für die Museen eher ein Gewinn als ein Verlust
an Einfluss und Gestaltungsmöglichkeit. Die
„In einer Zeit
Museen müssen nur in
der organisierten
einer Richtung aufpasGleichzeitigkeit,
sen, dass sie wirklich
der medialen
ihre GedächtnisfunkFlüchtigkeit
tion erfüllen. Wenn sie
vermitteln die
das machen, was viele
Museen zeitliche
Museen machen müsZusammenhänge.“
sen, Geld verdienen,
sich nur auf große Namen beschränken und nur noch große Events planen, wird die Museumsfunktion sehr schnell verschwunden sein, dann entsteht auch hier reiner
Ökonomismus. Sie können natürlich mit einer
Ausstellung von Claude Monet, Gauguin oder Picasso mühelos in vier Wochen einen Zulauf von
fünfhunderttausend Menschen haben. Aber die
großen Namen sind sehr schnell abgearbeitet, und
dann passiert nichts mehr. Also müssen Museen,
wenn sie ihrem Gedächtnisauftrag entsprechen
wollen, den Bildungsauftrag wirklich ernst nehmen, d.h. die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, über die sie verfügen, in einer
Weise aufbereiten, die auch für die Gesellschaft
wieder eine neue Sicht auf alte Dinge erlaubt. Ge-
rade in einer Zeit der organisierten Gleichzeitigkeit, der medialen Flüchtigkeit vermitteln die Museen zeitliche Zusammenhänge. Ohne diese Zusammenhänge ist die Gefahr groß, dass die daraus
resultierende Oberflächlichkeit nicht nur zu einer
unspezifischen Anpassung und einer übermäßigen
Vermischung der Lebenswelten führt, sondern die
Beschäftigung mit dem kulturellen Gedächtnis nur
zu spektakulärer Unterhaltung führt. Verständnis
für geschichtliche Entwicklungen wird kaum erfahrbar. Pures Management zum Vermarkten und
Expandieren ist sicher der falsche Weg. Kultur
muss als eigenständige Kraft wirken können. Wie
kompetent und engagiert wir mit den Museumssammlungen von Weltgeltung umgehen, wird entscheidend dafür sein, welche Rolle ein Land künftig kulturell spielen wird. Museen zeigen sehr klar,
dass kulturelle und materielle Werte nicht das
Gleiche sind. Museen schaffen eine Verbindung
zwischen der Individualisierung unserer Gesellschaft und der kulturellen Tradition.
Den zweiten großen Komplex der Gedächtniseinrichtungen bilden Bibliotheken und Archive:
Hier sehe ich die Situation für die Zukunft des kulturellen Gedächtnisses durchaus schwieriger. Ein
Beispiel: Ich hatte vorhin von den Sumerern und
ihrer Form sich zu überliefern gesprochen. Wenn
Sie sich vorstellen, dass die Sumerer E-Mails benutzt hätten, stellt sich die Frage, ob wir überhaupt
etwas von den Sumerern wüssten. Hätten wir die
Chance, die E-Mails der Sumerer über die Jahrtausende zu bewahren, wäre fraglich, ob wir die richtigen Maschinen hätten, um sie zu lesen. Wenn wir
die richtigen Maschinen hätten, um die Informationen zu lesen, hätten wir wahrscheinlich zu viele
Informationen, und das wäre genauso schlimm, als
ob wir gar keine hätten. Dieses Bild demonstriert
in etwa die Problematik, in die wir derzeit kommen. Wir geraten in eine Situation, die sich nicht
zurückdrehen lässt. Die neuen Medien sind für die
Wissenschaft ein Instrument, dessen sich die Wissenschaft bedienen wird, weil sie ihr Vorteile bringen. Sie beschleunigen Erkenntnisse, sie haben
eine größere Flexibilität, sie schweißen Wissenschaftler zu Forschergruppen zusammen, die weltweit verstreut sind, so dass die Vorteile einer solchen Vernetzung mit der medialen Schnelligkeit
und Aktualität durchaus sichtbar sind. Aber was
handeln wir uns damit im Sinne eines kulturellen
Gedächtnisses ein? Die Langzeitverfügbarkeit ist
ein wesentliches Kriterium für das Entstehen eines
45
Beiträge
Klaus-Dieter Lehmann
kulturellen Gedächtnisses. Folgende Eigenschaften
der digitalen Medien gefährden es:
쐌
Physischer Verfall der digitalen Information
Bei der gegenwärtigen Unbeständigkeit digitaler Speichermedien ergibt sich für die Haltbarkeit
der Informationen ein Zeitraum von 5 bis 30 Jahren. Magnetische Speicher, von der Diskette bis
zum DAT oder den Magnetbändern, können Teile
ihrer Information schon innerhalb weniger Jahre
verlieren, CD-ROMs halten ein halbes Jahrhundert.
Noch sind keine Speichermedien in Sicht, die ein
Umkopieren überflüssig machen.
쐌 Änderung von Codierung und Formaten
Für die Rückgewinnung von Information bedarf
es der internen Struktur der Zeichencodierung und
des Datenformats, um den verschlüsselten Bedeutungsinhalt zu erkennen. Diese Struktur ändert sich
innerhalb eines Zeitraumes von 10 bis 20 Jahren.
Der jetzige Entwicklungsstand ist nicht geeignet,
die Festschreibung zeitlos gültiger Standards und
Regeln zu erwarten. Gerade in der raschen Veränderung der Informationstechnologie liegen auch
die Chancen für neue Entwicklungspotenziale.
쐌 Wechsel der Software- und Betriebssysteme
und der Hardware
Hard- und Software, die den Zugangsschlüssel
zur codierten Information darstellen, ändern sich
in schnellem Wechsel und können bestehende Informationssammlungen obsolet machen. Hinzu
kommen Marktstrategien, die Vor- und Rückwärtskompatibilität bewusst unterbinden – durch einen
unzugänglichen Kern im Betriebssystem, versteckte Objekte im Programm oder Schutzmechanismen
bei Prozessoren.
쐌 Systemimmanente Ursachen
Hypertextdokumente sind von Natur aus durch
ihre nur im Netz existierenden Verknüpfungen lokal nicht darzustellen und zu sichern. Erst die codierten Anweisungen liefern die Optionen zu den
Beziehungen der Dokumentteile untereinander
bzw. der Nutzer ist frei, neue Publikationen durch
Zusammenfügen zu erzeugen.
쐌 Ökonomische Einschränkungen
Informationen verlieren in der modernen Gesellschaft innerhalb kurzer Zeit an Wert; Publika-
46
tionen veralten auf einigen Gebieten in 2 bis 5 Jahren. Das fördert die Auffassung, es handle sich um
Wegwerfpublikationen.
쐌 Radikale Delokalisierung der Verarbeitung
und Dezentralisierung der Datenbestände
Daten werden in der Regel dort bereitgestellt,
wo sie entstehen, sind aber jederzeit von jedem
Ort abrufbar. Eine verbindliche Verantwortung zur
Langzeitverfügbarkeit ist dabei nicht zu erreichen.
Die Vernetzung führt zu einer Reduzierung in der
geographischen Verteilung von Information. Im
Extremfall ist die digitale Publikation einmal auf einem Server im globalen Netz gespeichert. Auf welchem Server sie wie lange verfügbar bleibt ist eine
Einzelentscheidung. Das führt zu Unsicherheiten
bezüglich Verfügbarkeit auf Dauer, aber auch zu
mangelnder Referenzierbarkeit bezüglich der Authentizität digitaler Publikationen.
Das sind einige markante Eigenschaften digitaler
Publikationen, die die Kurzlebigkeit des gespeicherten Wissens bei dieser Art der Aufzeichnung
und des Mediums belegen und die Schwierigkeit
der dauerhaften Archivierung verdeutlichen.
Dies sind also zunächst die technischen Einschränkungen. Die anderen Einschränkungen, die
mindestens ebenso tragisch sind, ergeben sich aus
folgenden Problemen: wie stelle ich eine Authentizität fest, woher weiß ich, dass dieser Text der Originaltext ist? Ist er manipuliert, sind entsprechende
Veränderungen gemacht worden? Das wird man
sicher technisch lösen können, aber es ist eine
Problematik, der man sich frühzeitig bewusst sein
muss. Auch die Frage, wie digitale wissenschaftliche Publikationen quasi einen Gütestempel bekommen, so dass man weiß, die Erkenntnisse, die
dort gewonnen worden sind, entsprechen auch einer wissenschaftlichen Tradition und Seriosität,
auch diese ist schwierig zu lösen. Bislang gab es
dafür eine verlegerische Verantwortung. Jetzt kann
jeder sein eigener Produzent und Publizist im Internet sein. All diese Fragen der Sicherheit von Zitierfähigkeit, Referenzfähigkeit, Authentizität und
Manipulation sind Dinge, die eine große Rolle
spielen. Die wissenschaftliche Information ist in einer Situation, in der sie nach wie vor neue Prozeduren zum Erhalt der Qualität suchen muss, auch
Prozeduren, um wieder die Sicherheit zu erlangen,
wie wir sie faktisch bisher bei den Erkenntnissen
Klaus-Dieter Lehmann
der Forschung über die Verbreitung durch die Publikation bis hin zur Speicherung in den Bibliotheken und Archiven gewonnen haben.
Es gibt meines Erachtens einen Punkt, der für
die künftige Erkenntnis und die künftige Möglichkeit, aus einem vorhandenen kulturellen Gedächtnis auch neue Sichten erzeugen zu lassen, eine
wichtige Rolle spielt, nämlich die Tatsache, dass
künftig Bibliotheken, Museen und Archive, die alle
immer institutionell isoliert gedacht haben, über
eine institutionsübergreifende Vernetzung die
Möglichkeit haben, solche unterschiedlichen Informations- und Gedächtnisspeicher so zu verbinden,
dass man künftig nicht mehr institutionell, sondern
funktional fragen kann.
Das Verknüpfen von Museen, Bibliotheken und
Archiven zu einem kulturellen Ensemble ist eine
zukunftsfähige Konstellation. Damit gewinnen die
Kulturwissenschaften neue Erkenntnisse. So wie
unser Jahr aus vier Jahreszeiten besteht, wird unser Wissen, unsere Erkenntnis aus vier Quellen gespeist:
1. Die Weiterentwicklung von Wissen durch Forschung
2. Die Vermittlung von Wissen durch die Lehre
3. Die Verteilung von Wissen durch das Publizieren
4. Die Erhaltung von Wissen in den Sammlungen
der Archive, Museen und Bibliotheken.
Dieses Bild verdeutlicht, wie gleichrangig die
kulturelle Überlieferung Wissen und Erkenntnis
trägt. Museen, Archive und Bibliotheken als komplexe Arbeitsstätten des kulturellen Gedächtnisses
aufeinander zu beziehen, ist nicht nur öffentlichkeitswirksam, sondern auch innovativ. Dafür sind
die heutigen Informationstechniken geeignet, das
Zusammenspiel wirksam werden zu lassen. Das ist
kein oberflächlicher Technikeinsatz und kein kultureller Medienjahrmarkt. Es geht hier um parallel
bestehende und abrufbare Informationsbereiche,
um neue Assoziationen, um Verknüpfungen und
Wahlmöglichkeiten.
In Kenntnis der Vormachtstellung des Rationalismus hat die Schriftkultur bei uns eine hervorgehobene Bedeutung. Leopold von Ranke setzte beispielsweise den Beginn der Geschichte gleich mit
der Überlieferung glaubwürdiger schriftlicher Zeugnisse – nicht mit der Überlieferung von Denkmälern, Orten oder Bildern. Das hat sich inzwischen
gewandelt. Bilder stehen der Einprägungskraft des
Gedächtnisses näher und der Integrationskraft des
Verstandes ferner. Als komplementäre Elemente
des Gedächtnisprozesses sind sie sehr entscheidend für unsere kulturelle Prägung. Wir sollten
die Chancen nutzen, die uns eine solche neue Infrastruktur zur Vernetzung gibt, das kulturelle Gedächtnis nicht als institutionellen, sondern als funktionalen Speicher zu begreifen. Das wäre ein neuer
kulturpolitischer Ansatz für das 21. Jahrhundert. J
„Informationen
verlieren in
der modernen
Gesellschaft
innerhalb
kurzer Zeit
an Wert.“
47
Beiträge
Joachim Gauck
Erinnern und
Bearbeiten als
Bedingungen
politischer
Zukunft
Ich muss gestehen, dass ich mit dem Thema
der Tagung ein Problem hatte. Folglich habe ich
mir auserbeten, für meine Überlegungen statt des
ursprünglich vorgesehenen Wortes „Vergessen“
den Begriff „Bearbeitung“ in den Titel aufzunehmen. Als Bedingung für Zukunft erschien mir
Vergessen nicht geeignet. Aber ich bin ganz gespannt, wie ich denken werde, wenn ich erst
Harald Weinrichs Buch „Lethe – Kunst und Kritik
des Vergessens“ gelesen habe, denn möglicherweise erschließt sich mir etwas, wonach ich eine
verborgene Sehnsucht empfinde. Denn vergessen
zu können, kann allem Anschein nach auch ein
gesegneter Zustand sein und muss nicht zwangsläufig mit der problematischen Haltung des Wegsehens und des Weglaufens verbunden sein.
„Schuld und
Wir erleben manchmal
p o l i t i s c h e V e r a n tin unseren Archiven,
wortung, die
dass Menschen, die
nicht bearbeitet
ihre Akten gelesen haw e r d e n , v e r u n s iben, ein Lächeln aufsetchern eine Gesellzen. So erzählen es die
schaft, entziehen
sensiblen Frauen, die
ihr die Stabilität.“
den Nutzern gegenüber
sitzen. „So, nun weiß
ich Bescheid, nun schlage ich die Akte zu, das
kann ich jetzt vergessen.“ Diese Form des Vergessens erscheint mir als etwas Wunderbares.
Obwohl ich eine positive Konnotation des Begriffs „Vergessen“ erahne, verbietet es mein Selbstverständnis als politischer Aufklärer, den Begriff
des „Vergessens“ mit dem der Zukunft zu verbinden. Etwas anderes wäre es, wenn es sich um das
48
Wort Verlernen handeln würde. Das Lernen von
etwas Neuem, was mir erlaubt, mich einzumischen, zu handeln und etwas zu erkennen, was
ich bislang nicht erkannt habe, ist nämlich eng an
das Verlernen von untauglichem Informationsgut
gekoppelt.
Nun will ich zur Einleitung noch auf eine Unsicherheit hinweisen. Manchmal erscheint mir ein
politisch moralisches Tabu zunächst einmal nützlich. Um ein Beispiel zu nennen: Es darf einfach
nicht mehr sein, dass in Deutschland der Holocaust geleugnet wird. Dem wird sich jeder anständige und halbwegs gebildete Mensch anschließen.
Verbunden ist das Tabu mit einem Vergessensverbot. Im Falle des Holocausts ist der Deutsche
Bundestag sogar soweit gegangen, die Ignoranz
gegenüber dem nachweislich Geschehenen strafrechtlich zu sanktionieren.
Für eine Kultur des Erinnerns, so möchte man
annehmen, ist dieser Schritt wichtig gewesen. Und
doch steht dem Menschen, der aus moralischen
Gründen nie vergessen möchte, möglicherweise
ein anderer gegenüber, der die einschneidende
Entscheidung des Bundestages für anmaßend hält.
Kann der Gesetzgeber, so fragt er sich, eigentlich
etwas zu regeln versuchen, was der Verfügung des
Gesetzgebers letztlich entzogen ist, hier also die
kollektive Moral der Menschen und das Erinnern.
Ich neige in dieser Frage einer eher für die Vereinigten Staaten typischen Auffassung zu. Ich will
dies an einem Beispiel erläutern. Als ich vor einiger Zeit mit amerikanischen Freunden das Holocaust-Museum in Washington besuchte, habe ich
voller Abscheu erleben müssen, dass einige
Rechtsradikale vor dem Museum ihr Propagandamaterial verteilten. Ich fragte mich selbst und meine Freunde, ob man dieses Auftreten nicht verbieten könne. Meine Freunde haben mir jedoch sehr
plausibel dargelegt, dass ein solches Verbot nicht
der in Amerika praktizierten Kultur der freedom of
speech entspräche. An diesen Äußerungen wird
deutlich, dass ich mich auf unsicherem Gelände
bewege. Vielleicht verbirgt sich hinter meiner Unsicherheit sogar eine tiefere Angst vor dem Verlust
meines Wertekanons, wenn ich mich nicht wie
geboten erinnere. Wenn eine Angst vor Orientierungslosigkeit mir das Vergessensverbot nahe legte, wäre dies nicht ein Element der von Erich
Erstürmung der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße, Ost-Berlin 1990
„Nur Ermächtigte
werden Zukunft
und Gegenwart
gestalten
können, nicht
Ohnmächtige.“
Fromm beschriebenen Furcht vor der Freiheit? Wir
geraten also offenkundig auf ziemlich dünnes Eis,
wenn wir danach fragen, wie Vergessen und Erinnern staatlich oder durch Instanzen anderer Art geordnet werden können.
Ich wende mich nun der Aufarbeitung der
DDR-Vergangenheit nach 1989 zu. Ich bin selber
seinerzeit als Abgeordneter für Bündnis 90 in der
Volkskammer Teil eines politischen Gestaltungswillens gewesen, der mit einem Gesetz über die
Öffnung der Geheimdienstakten die Interessen der
einst Unterdrückten sicherte. Wie ist es zu der speziellen Form der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit gekommen? Ich möchte das zunächst als
Folge eines historisch-politischen Irrtums eines
ganz anderen Lebensraumes deuten, nämlich des
Westens. Wir im Osten haben, wenn wir uns für
Politik interessierten, teilgehabt an den Debatten
im Westen. Und wir haben die Veränderung des
Konsenses in Bezug auf unsere deutsche Vergangenheit miterlebt. So verrückt wir die 68er auch
fanden, steht für uns im Ostblock das Jahr 1968
doch viel eher als Metapher für Panzersozialismus
und Prag. Im Westen wurde das Jahr 1968 als jugendliches Aufbegehren gegen verkrustete Strukturen und als Wiederentdeckung der politischen
Moral in der Auseinandersetzung mit der Vätergeneration erlebt. Wir haben dies z.T. kritisch und
distanziert beobachtet. Und gleichwohl haben die
68er mit all ihren Irrtümern einen kulturellen und
politischen Umbruch in der alten Bundesrepublik
herbeigeführt. Die Deutschen wissen seit diesen
Jahren, was vorher nur kleine Kreise interessiert
hat. Schuld und politische Verantwortung, die
nicht bearbeitet werden, verunsichern eine Gesellschaft, entziehen ihr die Stabilität. Das wusste Karl
Jaspers ganz früh, als er in seinem Büchlein „Die
Schuldfrage“ beschrieb, dass eine gesellschaftliche
Reinigung nicht gelingen könne, wenn es nicht
auch gleichzeitig eine individuelle Reinigung gäbe.
49
Beiträge
Joachim Gauck
Das war das Wissen der Informierten. Die Informierten allerdings waren nicht hinreichend vernetzt mit der Massenkultur. Diese in der Folge von
1989 eingetretene Veränderung der Massenkultur
mit einer Hinwendung zum Gedenken hat uns
1990 in der DDR in der Auffassung bestärkt, dass
das Öffnen der Akten und das Öffnen der Augen
als Erfolgsmodell anzusehen und dieses auch politisch umzusetzen sei. Mangelhafte Aufarbeitung,
so schien es, hat eine mangelhafte Änderung des
kollektiven Gedächtnisses oder der kollektiven
Identität zur Folge. Dabei gehe ich nicht auf die
Frage ein, ob es tatsächlich, wie es Ralph Giordano sagt, eine zweite Schuld gab, nämlich die der
Nichtbearbeitung. Andere Wissenschaftler bestreiten dies. Tatsächlich hat es den kathartischen Prozess als Massenphänomen in der unmittelbaren
Nachkriegsära nicht gegeben. Das meinten wir
nach 1989 anders machen zu können. 1990 bestand so in der Volkskammer schon vor der Einheit
Deutschlands ein breiter Konsens, der sogar einige
Mitglieder der PDS umfasste, dass die geistige Befreiung der politischen Befreiung folgen müsse.
Dabei begegnete uns das Phänomen, dass die
Aufarbeitung als mehrdimensionaler Prozess zu
verstehen ist. Ich habe damals an der Gestaltung
des Gesetzes mitgewirkt und dabei vermutlich
auch auf die kleine
Schrift von Jaspers zu„Der Verlust an
rückgegriffen. Im GeRealität wird
setzestext der Volkskompensiert
kammer vom August
durch eine
1990 findet sich nämÜberfülle des
lich die Wendung, dass
‚Ja‘ zu den
die Akten verwendet
Meinungen der
werden sollen „für die
Herrschenden.“
politische, historische
und juristische Aufarbeitung der Vergangenheit“. Diese Formulierung
legt nahe anzunehmen, dass die Abgeordneten,
die dies so formuliert haben, den Rat von Karl Jaspers kannten, demzufolge moralische, metaphysische sowie strafrechtliche Schuld und politische
Verantwortung einer je eigenen Instanz der Aufarbeitung bedürften. Aufarbeitung bedeutet also
zum einen: Bearbeitung von Schuld. Nicht weniger bedeutsam aber ist eine andere Dimension, die
der Faktensicherung, oftmals als Wiedergewinnung einer verlorenen oder verborgenen Wahrheit. Das zeigt sich am Beispiel Katyns, einem der
großen politischen Verbrechen dieses Jahrhun50
derts, das unter kommunistischer Herrschaft systematisch verborgen wurde und nur Eingeweihten
bekannt war, die wiederum auf Grund dieses Wissens verfolgt wurden. Ein bestimmtes Wissen war
also sanktioniert, so dass es zum Geheimwissen
wurde und dann in der Gesellschaft nur noch sehr
begrenzt wirksam wurde.
Der Prozess des Verbergens der Fakten bedarf
einer erneuten Betrachtung. Es ist eben nicht immer nur ein Diktator, der uns durch seine Maßnahmen hindert, Fakten wahrzunehmen, sondern es
sind oft eigene Erkenntnishemmnisse, die uns
daran hindern, die Realität zu sehen. Dabei handelt es sich nicht nur um moralische, sondern auch
um kognitive Defizite. Durch Mode und Zeitgeist
werden Selbstbindungen oder Wahrnehmungseinschränkungen sichtbar, die stärkerer Aufmerksamkeit bedürfen. Ich möchte nicht, dass wir in
diesem Zusammenhang immer nur die irrenden
Kommunisten auf den Lehrstühlen des ehemaligen
Ostblocks, sondern auch die freien, liberalen und
linken Geister des Westens mit ihrer Irrtumsfähigkeit vor das Forum öffentlicher Kritik holen.
Mit Blick auf die eigenen Erfahrungen komme
ich zu einer solchen Forderung. Ich hatte nämlich
Zeit meines Lebens die Neigung, das, was ich früh
über den Herrschaftskommunismus wusste, zu
vernachlässigen, weil ich Gesprächspartner aus
dem Westen hatte, die mir die Nützlichkeit des Sozialismus erklärten. Darüber hinaus fand ich in
Wissenschaft und Kultur eine Stütze für mein Verhalten. Ich habe z.B. meine politische Sehnsucht
zeitweise genährt mit einem mich bewegenden
philosophischen Text von Ernst Bloch, „Das Prinzip Hoffnung“. Die Betrachtung eines imponierenden Gedankengebäudes führte einem die Vorzüge
einer besseren (sozialistischen) Gesellschaft vor
Augen. Für so manchen aber war die Beschäftigung mit einer ideellen und idealen Welt ein Wegsehen von den Brüchen der Realität, die einen aktuell umgab. Manch ein Bewohner der DDR – und
zum Teil sogar Oppositionelle – saßen dann in einem Boot gemeinsam mit „wohlmeinenden Intellektuellen des Westens“, die das östliche System
nicht mehr als Diktatur bezeichnen mochten und
so, ohne es zu wollen, den Interessen der Diktatoren dienten. Getrennt erlitten Ost- und Westlinke
einen gemeinsamen „Verlust von Wirklichkeit“.
Dieses von Hannah Arendt 1950 beschriebene
Phänomen ist aber nur ein Element. Erinnern bedeutet, wenn wir Hannah Arendt folgen, auch, ei-
Joachim Gauck
nen weiteren Verlust wahrzunehmen. Nicht nur
Verlust von Realität ist in posttotalitären Gesellschaften zu bemerken, sondern auch der Verlust
von Gefühl oder Gefühlsmöglichkeiten. Hannah
Arendt fällt damals in Deutschland auf, wie gering
die Sympathie oder Empathie mit den Opfern des
Naziregimes ist. Sie stellt fest, dass die Fähigkeit,
derartiges zu empfinden ein Grundzug des Menschlichen ist. Wir können Mitleid und Sympathie für
die Opfer empfinden. Aber unter totalitärer Herrschaft verformt sich der Mensch. Seine Analyse
wird deshalb verformt, weil er, bevor er die Ergebnisse der Analyse vorträgt, prüft, ob die Regierenden mit diesen Ergebnissen einverstanden sind,
denn sonst schädigen sie seine Karriere. Das Prinzip gilt im übrigen auch in der Schule: „Schreib’
das, was der Lehrer sagt, und Du erhältst eine gute
Zensur.“ Und das weiß auch der junge Assistent an
der Universität. Seine Analysefähigkeit leidet in
dem Maße, wie er seine Karriere verfolgt. Der Verlust an Realität wird kompensiert durch eine Überfülle des „Ja“ zu den Meinungen der Herrschenden. Die Meinungen werden bedeutender und die
Realität unbedeutender. Bei dem Verlust von Mitleid, Solidarität und Empathie für Opfer gibt es
auch eine Kompensation, das ist das Selbstmitleid.
Deutschland war damals voller Entsetzen über die
Schrecken, die es selber erfahren hat. Und wenn
Arendt die Deutschen in dieser Verfassung fragt:
„Wisst ihr denn nicht, dass ihr den Krieg angefangen habt?“, dann antworten sie mit einer allgemeinen Erwägung: „Im Allgemeinen führen Völker
Kriege...“, „Gerade die Briten haben es nötig...“
oder, „Der Mensch ist nun einmal ein Sünder...“.
So gibt es eine weitere Flucht vor der Realität: das
Abheben in das Allgemeine. Oder wir müssten
richtiger sagen, in das Allgemeine, das in diesem
Moment von einem Interesse geleitet wird. Und
das Interesse der Deutschen war es, damals der eigenen Schuld und der eigenen Verantwortung
nicht zu begegnen, sondern sie zu relativieren.
Da ich aber weniger allgemein als vielmehr
konkret werden will, darf ich an dieser Stelle einen
ganz persönlichen Gefühlsverlust schildern. Ich
habe vier Kinder, und der Älteste meiner Söhne
stellte 1983 einen Ausreiseantrag. Das war ganz
gegen meine Natur. Ich war ein evangelischer Pastor, und wir waren der Ansicht, wo wir sind, wird
gelebt; das hat seinen Sinn, und wir brauchen Helfer. Und die, die weggingen, verließen uns. Das
war eine Kränkung, sie sollten gefälligst mit uns
kämpfen. Wir wollten nicht mit Honecker alleine
bleiben. Und so hatte ich auch gegenüber meinen
Kindern ein ungutes Gefühl. Auf der anderen Seite
wollte ich ihrem Glück natürlich nicht im Wege
stehen. Meine Söhne durften weder das Abitur machen noch studieren. Mein Ältester wollte unbedingt Arzt werden. Er hat dann viereinhalb Jahre
auf seine Ausreise gewartet und konnte mit 27 Jahren als Familienvater von zwei Kindern in Hamburg ein Medizinstudium beginnen. Eine Woche
vor Weihnachten 1987
auf dem Bahnsteig des
„Der Blick auf
Rostocker Hauptbahndie Ohnmacht
hofes verabschiede ich
und die Ketten
diese Familie. Weihder Angst,
nachten würden sieben
kurzum auf die
Familienmitglieder unEntmündigung,
ter dem Tannenbaum
ist der Anfang
fehlen. Meine Ehefrau
der Befreiung.“
und ich stehen auf dem
Bahnhof. Ich bin fröhlich und verabschiede sie, sie gehen einen Weg,
den ich nicht gehe, aber sie gehen in die Freiheit.
Also ist es gut. Meine Ehefrau steht auf dem Bahnhof und weint und fragt mich, wo meine Gefühle
seien. Ich spreche nunmehr als männlicher Aufklärer zu meiner Frau und sage: „Seit Anbeginn der
Zeit ist es so, dass erwachsene Kinder das Haus
der Väter verlassen und in die Ferne ziehen. So,
nun sieh das ein, und weine nicht mehr, es ist alles vernünftig.“ Darauf sieht sie mich an, als sei ich
von einer anderen Welt und sagt: „Seit Anbeginn
der Welt empfinden Menschen Schmerz, wenn sie
von geliebten Menschen getrennt werden. Was
bist Du, bist Du ein Mensch oder hast Du ein Herz
aus Stein?“ Nun, ich hatte sehr viel Kopf. Als ich
mit meiner Ehefrau nach Hause ging und auch die
ganzen folgenden Wochen war ich ihr gram. Warum verstand sie die Welt nicht? Ich musste erst älter werden, und eine neue Epoche musste anbrechen, bis ein Gefühl, das mir in diesem Moment
fremd war, zu mir zurückkehrte. Und es kam ganz
unerwartet nach der ersten Demonstration in meiner Heimatstadt Rostock Mitte Oktober 1989. Wir
hatten wochenlang dafür gearbeitet, dass unsere
Landsleute endlich den Sklavengestus ablegen und
auch Mecklenburger sagen „Wir sind das Volk“.
Als es soweit war, waren wir für einen Moment so
glücklich, wie kein 9. November und nichts anderes es je wieder bringen wird. „Wir sind das Volk.
Und sie haben es endlich begriffen“, dachte ich.
51
Beiträge
Joachim Gauck
Delitzsch in Sachsen, 1990
„Jetzt haben
wir zu lernen,
dass die Wiederbegegnung mit
den Traumata
der Vergangenheit
ein befreiendes
Element ist.“
„Jetzt fliegst du nach Hause, du gehst nicht, du
fliegst nach Hause, du schwebst.“ Plötzlich passiert
Folgendes: Ich gehe in diesem Zustand des großen
Glückes nach Hause, und plötzlich laufen mir Tränen über die Wangen. Der Mensch, der neben mir
geht, fragt mich: „Warum weinst Du?“ Ich sage:
„Ich denke gerade an meinen ältesten Sohn.“ „Ja,
warum?“ „Der sitzt jetzt in Hamburg und kann
nicht dabei sein, wenn wir dieses Glück empfinden.“ Später werden mir diese Tränen bewusst, die
kamen, als die Trauer nicht mehr gefährlich war.
Die Trauer wäre für mich gefährlich gewesen in einem politischen Stadium, in dem ich kämpfen
wollte. Ich dachte, sie sei gefährlich, ich dachte,
sie macht mich schwach und erkennbar. Sie
52
kommt jetzt, als sie durchbrechen kann und mir
nicht mehr gesellschaftlich schadet. Und deshalb
beobachten wir bei sehr vielen Menschen, die aus
der Diktatur kommen, ein gehemmtes Gefühlsleben. Wenn man den Typus der Niederländer und
der US-Amerikaner mit dem Typus der Ostdeutschen vergleicht, wenn man die Physiognomien
vergleicht, die Lebensäußerungen, die Art der Debatten, lässt sich nachvollziehen, was ich meine.
Es gibt einen Drang in der Diktatur, sich unerkennbar zu machen. Und dazu gehört, dass man
gerade seine Emotionen erzieht, wie Wut, Hass,
Zorn und Trauer, denn sie sind die extreme Ablehnung dessen, was einem gegenüber steht. Wenn
wir der Verlustauffassung von Hannah Arendt folgen, erleben wir sowohl einen intellektuellen Verlust, als auch einen emotionalen Verlust, und es ist
zweifellos sofort einsichtig, dass die emotionalen
Verluste eine sehr viel größere Problematik darstellen als die Erkenntnisrückstände, mit denen wir
konfrontiert sind.
Ein Problem muss ich noch ansprechen. Es gibt
nämlich noch eine dritte Form des Verlustes. Es
ist neben dem Gefühls- und Erkenntnisdefizit ein
Verlust des Kulturgutes „Haltung“. Zum Beispiel
die Einsicht, keine Zivilcourage besessen zu ha-
Joachim Gauck
ben, obwohl man dazu fähig gewesen wäre. Diese
Einsicht schmerzt ebenso wie der Verlust von Gefühlen. Die Deutschen etwa in Berlin hätten sich
nach dem Krieg erinnern können, dass rund vierbis fünftausend Juden in der Reichshauptstadt
überlebt haben. Dies geschieht auch, wenn es um
berühmte Menschen geht. Aber die Tatsache, dass
fünftausend Juden im Zentrum des Grauens überlebt haben, würde die Mitmenschen gleichzeitig
daran erinnern, dass es damals mindestens zwanzigtausend Helfer gegeben haben muss. Das ist
knapp gerechnet. Ein Berliner, der nach dem Krieg
in seiner Familie Helfergeschichten erzählt, müsste
die Zahl Zwanzigtausend und seine eigene Haltung aufeinander beziehen. Dabei schneidet er
schlecht ab. Er erinnert sich vielleicht daran, dass
er, als die Kriegsgefangenen vorbeigezogen sind,
ihnen nicht mal ein Stück Brot zugeworfen hat,
wie die törichte Frau von nebenan. Denn er war
klug genug, es nicht zu tun, um nicht für einen
Staatsfeind gehalten zu werden. Das überließ er
der Nachbarin von nebenan. Aber irgendwann
war alles zu Ende. Woran erinnert sich die Masse
wohl leichter? An die
Täter oder an die Hel„Es ist zweifellos
fer? Es ist natürlich
einsichtig, dass
viel leichter, sich an
die emotionalen
die Täter zu erinnern,
Verluste eine
denn ihnen gegenüsehr viel größere
ber heben wir, die
Problematik daruntätige Masse, uns
stellen als Erkenntüberaus positiv ab.
nisrückstände.“
Wir haben niemanden ermordet.
Raoul Hilberg beschreibt in seinen Arbeiten die Haltung vieler Helfer. „Wir haben gar nichts Heldenhaftes getan, sondern waren ganz normal.“ Es gibt in Osnabrück
einen Mann, der Tausende von Juden in den Niederlanden gerettet hat, der aber, solange er lebte,
verhinderte, dass darüber gesprochen wurde. Indem wir die Normalität von Zivilcourage ausblenden, indem wir uns auf die negative Erinnerung
konzentrieren, entmächtigt Erinnerung die Zukunftsfähigkeit der Bevölkerung. Deshalb plädiere
ich dafür, die Öffnung der Akten und die Öffnung
der Archive und die Öffnung der Augen nicht mit
dieser übertriebenen Sorge vorzunehmen. Wir
würden sonst die Momente der Ermächtigung verlieren, für die wir aber Zeugen haben. Christopher
Browning nennt zwölf von fünfhundert Angehöri-
gen des Polizeibataillons 101, die gesagt haben:
„Wir schießen nicht!“ Das heißt, sogar an der Front
im „Dritten Reich“ und nicht nur unter den Umständen der DDR hat es eine größere Bandbreite
von Entscheidungsmöglichkeiten gegeben. Die Erinnerung selektiert nun je nach Interesse: mal werden die Helden, mal die Mörder betont. Dazwischen bleibt ein großes Feld, in dem der normale
Mensch zivile und ängstliche Regungen erfährt
und entsprechend handelt. Deshalb ist für mich
die geeignete Form des Erinnerns noch zu entdecken. Ich verfüge offen gestanden auch nicht darüber. Was meine Behörde macht, halte ich für
richtig. Trotzdem verändern wir damit nicht automatisch die kollektive Identität. Ich unterhalte
mich mit mir selber: „Will ich eigentlich immer
noch so sein wie früher, als ich meiner Frau die
Welt erklärt habe? Will ich vielleicht nicht einmal
Schmerzen zulassen?“ Das heißt für mich, dass ich
jetzt nicht nur sage, „Das war schlecht, als die Regierung der DDR eine Wahlfarce inszenierte“, sondern mich auch frage, „Was hast du eigentlich gefühlt, als du als Akademiker vor eine Wahlurne
geführt wurdest, ohne eine Wahl zu haben“. Ich
habe nichts gefühlt außer Trotz. „Ich bin Oppositioneller und mache es anders.“ Aber Trauer, Wut,
Zorn gab es nicht.
Jetzt haben wir zu lernen, dass die Wiederbegegnung mit den Traumata der Vergangenheit ein
befreiendes Element ist. Dies versuche ich, mir
und den Ostdeutschen zu vermitteln. Wenn es
Deutsche gab und gibt, die sagen, „Beim Führer
war auch nicht alles schlecht“ oder „Im Sozialismus war auch nicht alles schlecht“, dann setzen
wir solch selektivem Erinnern ein Gegenmodell
des Erinnerns entgegen, das therapeutische Erinnern. Bei Psychotherapeuten soll im politischen
Erinnern der Blick in Abgründe und Traumata erlaubt sein, ja befördert werden. Damit beginnt die
Befreiung übrigens gerade, wenn der Blick zurück
Schmerzen auslöst. Der Blick auf die Ohnmacht
und die Ketten der Angst, kurzum auf die Entmündigung, ist der Anfang der Befreiung. Deshalb ist
die Wiederbegegnung mit diesen Schmerzen des
Verlustes ein Element von Ermächtigung. Und nur
Ermächtigte werden Zukunft und Gegenwart gestalten können, nicht Ohnmächtige. Aber diese
Ermächtigung ist für mich in erster Linie eine Haltungsermächtigung und weniger eine Ermächtigung durch Inhalte und Zielvorgaben, die ich oft
noch gar nicht habe. J
53
Die Zukunft des Gewesenen: Chersones/Sewastopol, Krim, Ukraine
Auf dem Gebiet des heutigen
Sewastopol wurde im 6. Jh. v. Chr.
die ionische Kolonie Chersones
gegründet.
Interview
Interview
Dr. Thomas M. Gauly sprach mit Prof. Dr. Hermann Schäfer,
anlässlich des dreizehnten Sinclair-Haus Gespräches.
Gauly: Sie sind Direktor des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland. Das Bonner Haus zählt zu den erfolgreichsten Museen in Deutschland. Warum?
Schäfer: Unser Konzept „Erlebnis Geschichte“, das eng verknüpft ist mit den
Begriffen Besucherorientierung, „Alltagsmenschen“, Interaktivität und multimedialer
Zugang – auch, dass wir uns nicht scheuen, Emotionen zu wecken – hat sich
bewährt. Zahlreiche Auszeichnungen, darunter der Museumspreis des Europarates
1995 und dessen Empfehlung an alle Staaten des Europarates, „Museen nach dem
Beispiel des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn zu
errichten“, belegen das breite internationale Interesse. Auch die vielen Besucher
bestätigen uns täglich in unserem Konzept. Darüber hinaus: Tatsächlich stößt die
Zeitgeschichte, die Epoche der Mitlebenden, auf breites Interesse, nicht zuletzt weil
wir hier alle persönlich berührt sind.
56
Gauly: Wieviele Menschen drängt es jährlich in Museen?
Schäfer: Die Zahl der Museumsbesuche liegt in Deutschland seit Jahren bei
jährlich etwa 90 bis 95 Millionen. Ein Drittel der Deutschen geht regelmäßig und
häufig, ein Drittel selten und ein Drittel nie in Ausstellungen und Museen. Generell
ist es besonders schwierig, jüngere Menschen zum Museumsbesuch zu motivieren.
Das Konzept des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und unseres Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig wendet sich jedoch explizit auch an jüngere Besucher.
Gauly: Warum gibt es immer mehr Museen in Deutschland?
Schäfer: Die Zunahme der Zahl von Museen in den letzten Jahrzehnten hat
auch viel damit zu tun, dass die Menschen – wie Hermann Lübbe herausgearbeitet
hat – in einer Zeit, in der das Veränderungstempo immer mehr zunimmt, Halt und
Orientierung in der Vergangenheit suchen und sich dabei gerne vor allem an den
Originalen früherer Epochen vergewissern.
Gauly: Gewinnt das Original angesichts der Ausbreitung des Virtuellen an
Bedeutung?
Schäfer: Je medialer unsere Umgebung wird und je reproduzierbarer wirkliche
und unwirkliche Bildwelten werden, desto mehr gewinnt das Original an Besonderheit. Es erhält eine Aura, macht neugierig. Sicherlich werden Originale stetig an
Anziehungskraft gewinnen.
Gauly: Was ist Ihre Prognose für die „Erinnerungsbegeisterung“ zu Beginn des
neuen Jahrhunderts?
Schäfer: Wer sich für Geschichte interessiert, sieht es positiv, wenn die Beschäftigung mit der Geschichte über oberflächliche Erinnerungen hinausgeht. Wir
müssen mithelfen, „Erinnerungsbegeisterung“ in wahrhaftige Auseinandersetzung
mit der Geschichte überzuleiten. Gewiss hat die Fixierung auf die Magie der runden Zahl mit den vielen Nullen zur explosionsartigen Zunahme des Interesses an
Rückblicken beigetragen.
Gauly: Sie sprechen von „wahrhaftiger Auseinandersetzung“, dies klingt nach
Kritik an der Trivialisierung von Geschichte, wie sie in manchen Medien vorexerziert wird.
Schäfer: Tatsächlich ist das Niveau der Auseinandersetzung mit Themen der
Geschichte in den Medien sehr unterschiedlich; es erstreckt sich in einer sehr großen Bandbreite von Lokalzeitungen über überregionale Tageszeitungen, Wochenzeitungen, Magazine etc. Auf einer lediglich banalen Ebene – als Effekthascherei
oder verbunden mit simplifizierenden Betrachtungsweisen – ist Geschichte kaum
nachhaltig lehrbar, lernens- oder erinnerungswürdig. Andererseits sollte man auch
vergleichsweise eher einfache Ereignisse, beispielsweise die Entdeckung eines mittelalterlichen Kellers und dessen Erforschung in einer kleinen Stadt, nicht gering
schätzen. Auch diese können wesentliche Erkenntnisse zur Alltags- und Stadtge-
57
Interview
schichte zeitigen. Die Berichterstattung sollte dafür sorgen, dass Ereignisse dieser Art
nicht trivialisiert werden. Die Medien haben allerdings, dies würde ich positiv bemerken, in diesen Jahren eine Fülle von neuen Darstellungsformen gefunden, die zum
Teil unsere Erinnerungskultur bereichern. Ich halte es persönlich auch für legitim,
wenn über reine Dokumentarfilme hinaus Geschichte in der Form von Spielfilmen
dargestellt wird. Selbst die Mischung von Spielfilm und dokumentarischen Elementen
kann – wenn beides methodisch voneinander abgegrenzt wird – sehr wirkungsvoll
sein, muss jedenfalls nicht von vorneherein verteufelt werden.
Gauly: Bei den Debatten über das 20. Jahrhundert fällt auf, dass insbesondere die
Zeit zwischen 1933 und 1945 in den Mittelpunkt gerückt wird. Es scheint, als habe
sich das Jahrhundert innerhalb von nur 12 Jahren abgespielt.
Schäfer: Eine Fixierung auf bestimmte Epochen, Themen oder Strukturen kann
nie gut sein. Allerdings: Niemand sollte verhindern wollen, dass wir – vor allem wir
Deutsche – uns immer wieder mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 auseinandersetzen. Wir müssen dies nicht ständig tun, sollten uns aber unserer Verantwortung
vor der Geschichte bewusst sein und dementsprechend in der Gegenwart handeln.
Das 20. Jahrhundert wird als ein „kurzes“ Jahrhundert in die Geschichtsschreibung
eingehen. Vor allem wir Deutsche sehen es mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges
beginnen und mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Vereinigung Deutschlands
enden. Das Deutsche Reich war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Ausbruch
eines Weltkrieges maßgeblich beteiligt und hat den Zweiten begonnen. Insoweit ist
diese Zeit für uns und für viele andere Völker mit sehr viel negativen Erinnerungen
verbunden. Die zweite Hälfte des Jahrhunderts endet jedoch außerordentlich positiv,
denn wer hätte beispielsweise erstens vor wenig mehr als einem Jahrzehnt zu hoffen
gewagt, dass wir 1989/90 den Fall des Eisernen Vorhangs und die Vereinigung
Deutschlands erleben würden und zweitens die erfolgreiche demokratische Entwicklung der Bundesrepublik von den Menschen in der DDR übernommen und – weit
überwiegend – bejaht würde.
Gauly: Wie ist die unterschiedliche Aufarbeitung und das unterschiedliche
Verständnis von Geschichte in West und Ost zu interpretieren?
Schäfer: Selbst wenn unterschiedliche Quellen- und Fragestellungen die Geschichtswissenschaft prägen, so hoffe ich doch zuversichtlich, dass wir auf dem Weg
zur Beantwortung der Frage „wie es eigentlich gewesen“ ist (Leopold von Ranke)
nicht zu allzu unterschiedlichen Interpretationen kommen. Allerdings ist sehr wohl
festzustellen, dass wir in der Bewertung deutsch-deutscher Geschichte vor einer
Verharmlosung der DDR-Diktatur warnen und uns immer wieder die Frage stellen
müssen, ob es denn in der DDR beispielsweise eine sogenannte Nischengesellschaft
gegeben habe. Die Allmacht der Staatssicherheit diente doch eben dazu, dass diese
„Nischen“ nur als kontrollierte Ausnahmen akzeptiert wurden. Ein weiterer Unterschied ist auch, dass wir uns im Westen daran gewöhnt haben, eine kollektive bzw.
nationale Interpretation der Geschichte zu akzeptieren, während in den neuen Ländern eine solche ganzheitliche Interpretation noch nicht möglich ist, weil – dafür habe
ich großes Verständnis – die Menschen mehr ihre persönliche, ihre familiäre oder die
Geschichte ihrer Gruppen im Vordergrund sehen.
58
Gauly: Welche Konsequenzen hat die geschichtliche Zäsur von 1989 für die
Beschäftigung mit Historie?
Schäfer: Die Revolution der Staatenwelt 1989/90 und die Vereinigung Deutschlands hat den Historikern einen Schub an Ansehen und einen Impuls für neue Fragestellungen gegeben, wie er kaum in einer anderen Wissenschaft unserer Zeit vorkam.
Wenn vor wenigen Jahren noch „das Ende der Geschichte“ beschworen wurde, so
können wir heute feststellen, dass die Geschichte mit großer Macht ihr Recht fordert.
Nachdem der Kalte Krieg die Zeit seit 1946 gleichsam eingefroren hatte, regen sich
heute wieder Kräfte, die wir längst bezwungen glaubten.
Gauly: Das Wiederaufleben solcher überwunden geglaubter Symptome führt zu
der klassischen Frage: Kann man aus der Geschichte lernen?
Schäfer: Das Wort „Lernen“ würde ich in diesem Kontext in Anführungszeichen
setzen. Denn aus der Geschichte lässt sich nicht lernen wie aus der Mathematik oder
Geographie. Es kommt darauf an, dass wir aus der Geschichte lernen, indem wir die
Erfahrungen der Geschichte sammeln und deuten, um uns ihrer bewusst zu sein.
Denn nur der handelt verantwortungsbewusst, der auch die „Lehren“ der Geschichte
berücksichtigt. Für uns Deutsche gilt nun in besonderer Weise, dafür Sorge zu tragen,
dass nie wieder Kriege in deutschem Namen geführt werden. Die internationale Achtung der Menschenrechte sollte ein unumstößliches Ziel unserer Politik sein. Selbst
wenn dies unerreichbar scheint, sollten wir dennoch danach streben, denn nur so
werden wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bestehen können. J
Fett- und Filz-Objekte von Joseph Beuys im Hessischen Landesmuseum Darmstadt
59
Autoren
Kurzbiographien
Wolfgang R. Assmann
Geboren 1944. Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Göttingen, Berlin und Bonn. Referendarzeit in NRW und Studium an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Nach Zweiter Juristischer
Staatsprüfung 1972–1980 Beamter im Bundesministerium
der Finanzen, Bonn; zunächst zuständig für die Durchführung des Londoner Schuldenabkommens; später Grundsatzreferent für Bankenfragen. 1980–Juni 1998 Oberbürgermeister und Verwaltungschef der Stadt Bad Homburg v.d.
Höhe. Auf Landes- und Bundesebene Mitglied, z.T. Vorsitzender von Führungs- und
Aufsichtsgremien verschiedener Unternehmen, Verbände und Stiftungen. Seit Oktober 1998 geschäftsführendes Mitglied im Vorstand der Herbert Quandt-Stiftung.
Wladyslaw Bartoszewski
Geboren 1922 in Warschau, Polen. Von September 1940 bis
April 1941 politischer Häftling Nr. 4427 im KZ Auschwitz I.
1942 –1944 Mitbegründer einer geheimen Hilfsorganisation
für verfolgte Juden und Teilnahme am polnischen Widerstand sowie am Warschauer Aufstand 1944. Zwischen 1946
und 1954 wurde er zweimal für insgesamt sechseinhalb
Jahre durch die Kommunisten inhaftiert. Tätigkeit als freier
Journalist, Schriftsteller, Gastprofessor für Neueste Geschichte an der Katholischen Universität Lublin von 1955 –1982.
Während seiner Mitgliedschaft in der Freien Gewerkschaft „Solidarnosc“ von 1980–
1982 wurde er fünf Monate inhaftiert. Von 1983 –1990 Gastprofessor für Politische
Wissenschaften an den Universitäten München, Eichstätt und Augsburg. Anschließend
bis 1995 Botschafter der Republik Polen in Österreich. Von März bis Dezember 1995
Außenminister der Republik Polen. Seit September 1997 ist er Senator der Republik
Polen und Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten und Europäische Integration. Vielfach ausgezeichnet, u.a. als „Gerechter unter den Völkern
der Welt“ 1963 durch Yad Vashem, Jerusalem, mit dem Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels 1986 und mit dem Bundesverdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik
Deutschland 1997. Autor zahlreicher Buchpublikationen.
60
Joachim Gauck
Geboren 1940 in Rostock als Sohn eines Kapitäns. Nach
dem Abitur studierte er Theologie. Zunächst Pfarrer in Lüssow bei Güstrow und später in Rostock-Evershagen. 1989
gehörte er zu den Mitbegründern des „Neuen Forums“ in
seiner Heimatstadt und war Mitinitiator des kirchlichen und
öffentlichen Widerstandes gegen die SED-Diktatur. März
1990 Abgeordneter der Bürgerbewegung in der Volkskammer; Vorsitzender des Parlamentarischen Sonderausschusses
zur Kontrolle der Auflösung des MfS. Oktober 1990 Berufung zum „Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes“. Seit Verabschiedung des StasiUnterlagen-Gesetzes des Deutschen Bundestages Ende 1991 „Bundesbeauftragter für
die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ in Berlin. 1995 wurde er mit deutlicher Mehrheit wiedergewählt und
für eine zweite Amtsperiode berufen. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit
dem Bundesverdienstkreuz in Würdigung seiner Verdienste für die friedliche Revolution 1989. 1999 erhielt er die Ehrendoktorwürde von der Universität Rostock.
Thomas Maximilian Gauly
Geboren 1960 in Bad Neustadt /Saale. 1980 –1986 Studium
der Politischen Wissenschaften, der Katholischen Theologie,
der Mittleren und Neueren Geschichte an den Universitäten
Mainz und Bonn; Abschluss als M.A.; anschließende Promotion bei Karl-Dietrich Bracher zum Dr. phil. in Politischen
Wissenschaften. Tätigkeit als freier Journalist bei Tageszeitungen und Fernsehen. 1986 –1987 Referent Katholische
Akademie, Wiesbaden. 1989 –1991 Referent Studienförderung Cusanuswerk in Bonn. 1991–1994 Geschäftsführer
Grundsatzprogramm-Kommission der CDU, danach Leiter der Stabsstelle „Politische
Beratung und Sonderaufgaben“, Konrad-Adenauer-Haus, Bonn. 1994–1998 Visiting
Lecturer für Politische Wissenschaften an Trinity Hall, Cambridge. 1996 –1998 Geschäftsführer der Herbert Quandt-Stiftung. Leiter Unternehmenskommunikation der
ALTANA AG. Seit 1998 Vorstandsmitglied der Herbert Quandt-Stiftung und Sprecher
der Familie Quandt. Diverse Buchpublikationen.
Hans Graf von der Goltz
Geboren 1926 in Stettin (Szczecin). 1946–1948 Studium der
Rechte an der Universität München; 1948 Erste Juristische
Staatsprüfung in München; 1949–1952 Referendariat in München und Düsseldorf; 1952 Große Juristische Staatsprüfung.
1952 –1956 Deutsche Kreditsicherung KG, Düsseldorf; 1956–
1959 International Finance Corporation, Washington, D.C.;
1959 –1971 Tätigkeit bei Klöckner & Co. Duisburg,
zuletzt als Vorsitzender der Gesamtleitung mit Generalvollmacht. 1971 Eintritt in den Interessenbereich Dr. Herbert
Quandt, Bad Homburg v.d. Höhe. 1982–1992 Testamentsvollstrecker nach Dr. Herbert
Quandt zusammen mit Frau Johanna Quandt. Ehrenvorsitzender des Stiftungsrates
der Herbert Quandt-Stiftung. Autor von Romanen und Essays.
61
Autoren
John R. Hodges
Geboren 1952. Studium der Medizin am London Hospital
Medical College. 1975 M.B. und B.S. mit Auszeichnung; 1977
Member of the Royal College of Physicians (UK); 1988 Promotion (London University); 1993 Fellow of the Royal College of Physicians. Neben verschiedenen medizinischen
Preisen erhielt er Forschungsstipendien am Wolfson College
in Oxford, für Neuropsychologie an der University of California, San Diego, und in der Abteilung Psychologie an der
MacQuarie University in Sydney. Als Gastprofessor lehrte er
am Institute of Cognitive Science Research an der University of Pennsylvania. Stationen
seiner medizinischen Laufbahn waren Lehraufträge an unterschiedlichen Universitäten verbunden mit Tätigkeiten in psychiatrischen und neurologischen Abteilungen
der jeweiligen Kliniken. Seit April 1997 ist er Professor für Verhaltensneurologie an
der Universität Cambridge. In der Abteilung für angewandte Psychologie des MRC
(Medical Research Council) in Cambridge leitet er die „Memory Group“. Über die
Neuropsychologie von Gedächtnisstörungen hinaus beschäftigt er sich heute mit der
Neuropsychologie der Alzheimer’schen-Krankheit und damit verbundenen Krankheiten. Er ist Gründer und Mitherausgeber der Publikation Neurocase und Mitglied
in redaktionellen Gremien verschiedener medizinischer Fachzeitschriften.
Klaus-Dieter Lehmann
Geboren 1940 in Breslau. 1967 Diplom in Physik und Mathematik. Nach dem Staatsexamen in Bibliothekswissenschaft
begann er 1970 als Fachreferent an der Hochschulbibliothek
Darmstadt. 1973 wurde er stellvertretender Direktor und
1978 leitender Bibliotheksdirektor der Universitätsbibliothek
Frankfurt a.M. Gleichzeitig war er Direktor der Fachhochschule für Bibliothekswesen. 1986 erhielt er eine Honorarprofessur für Wirtschaftsinformatik an der Universität Frankfurt a.M.; 1988 Generaldirektor der Deutschen Bibliothek
Frankfurt a.M.; 1990 auch der Deutschen Bücherei Leipzig. Seit 1999 ist er Präsident
der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Ausgezeichnet u.a. mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Er ist Vorsitzender bzw. Mitglied in zahlreichen nationalen
und internationalen Gremien und Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften.
Pierre Nora
Geboren 1931 in Paris. Magister in Literaturwissenschaften
und Philosophie, 1958 Lehrbefugnis in Geschichte. Von
1958 –1960 Gymnasiallehrer; anschließend bis 1963 Tätigkeit
bei der Thiers-Stiftung. Von 1965 –1977 lehrte und forschte
er in verschiedenen Funktionen am Institut d’études politiques (Sciences Po) in Paris. Seit 1977 ist er Direktor und Professor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales.
Neben seiner universitären Laufbahn begann er 1964 die
verlegerische Karriere beim Verlag Julliard, wo er die Buch-
62
reihe „Archives“ gründete. Seit 1966 leitet er die historische und geisteswissenschaftliche Abteilung beim Gallimard-Verlag in Paris. Verschiedene Buchreihen, wie z.B:
die „Bibliothèque des Sciences humaines“, die „Bibliothèque des histoires“ und „Témoins“ (ca. 500 Titel) wurden von ihm veröffentlicht. Seit 1980 ist er Chefredakteur
der von ihm veröffentlichten Zeitschrift „Le débat“. Offizier der Ehrenlegion. Als Autor zahlreicher Publikationen und Buchreihen wurde er in Frankreich mehrfach ausgezeichnet, u.a. 1993 mit dem Grand prix national de l’Histoire.
Hermann Schäfer
Geboren 1942. Er studierte u.a. Geschichte und Englisch
in Frankfurt a.M., Bonn und Freiburg. Ab 1971 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Freiburg. 1977 Promotion in
Freiburg. 1986 Habilitation und Venia Legendi für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Freiburg. 1986 Leiter des
Amtes für Kultur und Öffentlichkeitsarbeit im Landkreis
Waldshut; Abteilungsleiter „Sammlungen“ am Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim. Seit 1987
Direktor der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Museumspreis 1995 des Europarates und weitere Auszeichnungen, darunter 1997
Medienpreis der Johanna Quandt-Stiftung für die Ausstellung „Markt oder Plan. Wirtschaftsordnungen in Deutschland“. Mitglied zahlreicher Beiräte, darunter des Leitungskomitees des European Museum Forums, zugleich der Jury für den European
Museum of the Year Award und Vorstandsmitglied der Visitor Studies Association in
den USA als erstes und einziges nicht-amerikanisches Mitglied. Seit Februar 1999 ist
er Mitglied des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung. Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu Themen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. und 20.
Jahrhunderts sowie zu Museumsfragen.
Harald Weinrich
Geboren 1927 in Wismar. Studium der Romanistik, Germanistik, Latinistik und Philosophie in Münster, Freiburg, Toulouse und Madrid. Promotion 1954 und Habilitation 1958 in
Münster. Es folgten Professuren für Romanistik in Kiel, Köln,
am Collège de France in Paris und für Deutsch als Fremdsprache in München. Mitbegründer der Universität Bielefeld
und erster Direktor des dortigen Zentrums für interdisziplinäre Forschung; Gastprofessuren an den Universitäten von
Michigan, Princeton und der Scuola Normale Superiore von
Pisa. Dekan an der Philosophischen Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft II
in München. Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien des In- und Auslands.
Unter seinem Namen erschienen zahlreiche Bücher, Aufsätze und Essays zur Sprachund Literaturwissenschaft. Für seine Verdienste um die deutsche Sprache wurde er
mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hansischen Goethe-Preis (1997) und der
Carl-Zuckmayer-Medaille (1998).
63
Teilnehmer
Teilnehmer
Wolfgang R. Assmann
Geschäftsführender Vorstand
Herbert Quandt-Stiftung
Bad Homburg v.d.H.
Prof. Dr. Wladyslaw Bartoszewski
Senator der Republik Polen
ehemaliger Außenminister
der Republik Polen
Warschau
Dr. h.c. Joachim Gauck
Bundesbeauftragter
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen
Deutschen Demokratischen Republik
Berlin
Dr. Thomas M. Gauly
Leiter Unternehmenskommunikation
ALTANA AG
Mitglied des Vorstandes
Herbert Quandt-Stiftung
Bad Homburg v.d.H.
Hans Graf von der Goltz
Ehrenvorsitzender des Stiftungsrates
Herbert Quandt-Stiftung
Bad Homburg v.d.H.
64
Prof. Dr. John R. Hodges
Professor der Verhaltensneurologie
MRC Cognition and Brain Sciences Unit
Neurologische Abteilung
der Universität Cambridge
Cambridge
Dr. h.c. Michael Klett
Vorstandsvorsitzender, Ernst Klett AG
Stuttgart
Dr. Renate Köcher
Geschäftsführerin
Institut für Demoskopie
Allensbach
Prof. Klaus-Dieter Lehmann
Präsident, Stiftung Preußischer Kulturbesitz
Berlin
Dr. h.c. André Leysen
Vorsitzender des Verwaltungsrates
Gevaert N.V.
Mortsel
Prof. Pierre Nora
Directeur littéraire, Éditions Gallimard
Directeur de recherche
École des Hautes Études en Sciences Sociales
Paris
Prof. Dr. phil. Manfred Pohl
Leiter Historisches Institut
Deutsche Bank AG
Frankfurt am Main
Dr. Ulrich Raulff
Ressortleiter Feuilleton
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Frankfurt am Main
Janusz Reiter
Präsident, Zentrum für
Internationale Beziehungen
Botschafter a.D.
Warschau
Prof. Dr. Hermann Schäfer
Direktor, Stiftung Haus der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland
Bonn
Dr. Kai M. Schellhorn
Mitglied des Vorstandes
Herbert Quandt-Stiftung der BMW AG
München
Dr. Frank Schirrmacher
Mitherausgeber
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Frankfurt am Main
Prof. Dr. Erika Schuchardt
MdB, Universität Hannover
Hannover
Nikolaus Schweickart
Vorsitzender des Vorstandes
ALTANA AG und
Herbert Quandt-Siftung
Bad Homburg v.d.H.
Mark Speich
Wissenschaftlicher Referent
Herbert Quandt-Stiftung
Bad Homburg v.d.H.
Lord Weidenfeld of Chelsea
Verleger
London
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Harald Weinrich
Professor emeritus
Universität München
und Collège de France
München
Stef Wertheimer
Vorsitzender des Vorstandes
Iscar Ltd.
Tefen
65
Rückblick
Sinclair-Haus Gespräche
Welt im Umbruch:
Können Demokratie und
Marktwirtschaft überleben?
Quo vadis?
Deutschland nach einem
besonderen Wahljahr
Erstes Sinclair-Haus Gespräch, November 1993
Drittes Sinclair-Haus Gespräch, Dezember 1994
Werner Adam, Frankfurt; Jitzhak Ben-Ari, Tel
Aviv; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.;
Marion Gräfin Dönhoff, Hamburg; Freimut Duve,
Bonn; Henri Froment-Meurice, Paris; Hans Graf
von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Roman
Herzog, Karlsruhe; Josef Joffe, München;
Eberhard von Kuenheim, München; André
Leysen, Antwerpen; Hubert Markl, Berlin; Jürgen
Mittelstraß, Konstanz; Pauline Neville-Jones,
London; Heinz Riesenhuber, Frankfurt; Nikolaus
Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Anatolij
Sobtschak, St. Petersburg; Norman Stone, Oxford;
Michael Stürmer, Ebenhausen; Hanna Suchocka,
Warschau; Kurt Werner, Darmstadt.
Michel Albert, Paris; Peter Badura, München;
Erhard Busek, Wien; Gert Dahlmanns, Bad
Homburg v.d.H.; Warnfried Dettling, München;
Curt Gasteyger, Genf; Wolfgang Gerhardt,
Wiesbaden; Günther Gillessen, Frankfurt; Hans
Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Jiri
Grusa, Bonn; Renate Köcher, Allensbach;
Johannes Ludewig, Bonn; David Marsh, London;
Hubert Markl, Berlin; Klaus Naumann, Bonn;
István Pataki, Budapest; Janusz Reiter, Köln;
Nikolaus Schweickart, Bad Homburg v.d.H.;
Michael Stürmer, Ebenhausen; Horst Teltschik,
München; Antje Vollmer, Bonn; Grigory A.
Yavlinsky, Moskau.
Verwildert der Mensch?
Voraussetzungen
gesellschaftlicher Ordnung
Kulturen im Konflikt
Die Bestimmung Europas
Zweites Sinclair-Haus Gespräch, April 1994
Viertes Sinclair-Haus Gespräch, März/April 1995
Konrad Adam, Frankfurt; Shlomo Avineri,
Jerusalem; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.;
Marion Gräfin Dönhoff, Hamburg; Luigi Vittorio
Conte Ferraris, Rom; Hans Graf von der Goltz,
Bad Homburg v.d.H.; Franz Kamphaus, Limburg;
Dorit Kney-Tal, Jerusalem; Carmen Lakaschus,
Rödermark; Paul Lendvai, Wien; Martin Lohmann,
Bonn; Eckart Lohse, Frankfurt; Hermann Lübbe,
Zürich; Hubert Markl, Berlin; Monika Maron,
Berlin; Christian Pfeiffer, Hannover; Wolfgang
Röller, Frankfurt; Konrad Schily, Witten; Rupert
Scholz, Bonn; Karl Fürst von Schwarzenberg,
Wien/Prag; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg
v.d.H.; Rainer K. Silbereisen, Henderson, USA;
Michael Stürmer, Ebenhausen, Tomás Vrba, Prag.
Konrad Adam, Frankfurt; Alexej Arbatov,
Moskau; Luigi Caligaris, Rom; Dieter ChenauxRepond, Bonn; Amnon Cohen, Jerusalem; Gert
Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.; Alton Frye,
New York; Hans Graf von der Goltz, Bad
Homburg v.d.H.; Bacharuddin Jusuf Habibie,
Jakarta; Yair Hirschfeld, Ramat Yishai/Israel;
Hubert Markl, Berlin; William Rees-Mogg, London;
Yezid Sayigh, Cambridge; Peter Scholl-Latour,
Paris; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg v.d.H.;
Dieter Senghaas, Bremen; Udo Steinbach,
Hamburg; Michael Stürmer, Ebenhausen; Horst
Teltschik, München; Bassam Tibi, Göttingen;
Thanos Veremis, Athen; Kurt F. Viermetz,
New York.
66
Kleine Gesprächsrunden: Stephanie Kappel, Mark Speich, Stef Wertheimer, Lord Weidenfeld of Chelsea, Hans Graf von der
Goltz, Frank Schirrmacher.
Kultur als
Machtinstrument
Globale Wirtschaft –
nationale Sozialpolitik:
Wie lange geht das noch gut?
Fünftes Sinclair-Haus Gespräch, Dezember 1995
Sechstes Sinclair-Haus Gespräch, April 1996
Shlomo Avineri, Jerusalem; Wolfgang
Bergsdorf, Bonn; Dieter Chenaux-Repond, Bonn;
Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.; Yehuda
Elkana, Zürich; Thomas M. Gauly, Bonn; Hans
Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.;
Heinrich Klotz, Karlsruhe; Martin Lohmann, Bonn;
Abbas Maleki, Teheran; Hubert Markl, Konstanz
u. München; Adam Michnik, Warschau; Adolf
Muschg, Zürich; Manfred Osten, Bonn; Moshe
Safdie, Boston/Jerusalem/Toronto; Edward W. Said,
New York; Peter Scholl-Latour, Paris; Nikolaus
Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Michael
Stürmer, Ebenhausen; Horst Teltschik, München;
Jürgen Trabant, Berlin; Werner Welzig, Wien.
Hermann Barth, Hannover; Gert Dahlmanns,
Bad Homburg v.d.H.; Johann Eekhoff, Bonn;
Frank Field, London; Thomas M. Gauly, Bad
Homburg v.d.H.; Hans Graf von der Goltz, Bad
Homburg v.d.H.; Joost in’t Groen, Zoetermeer/NL;
Paul Kennedy, New Haven/USA; Roland Koch,
Wiesbaden; Eberhard von Koerber, Brüssel;
Berthold Leibinger, Stuttgart; Henri Lepage, Paris;
André Leysen, Antwerpen; Bernd Rüthers,
Konstanz; Egon Schäfer, Hannover; Bernd Schips,
Zürich; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg
v.d.H.; Michael Stürmer, Ebenhausen; Horst
Teltschik, München; Hans Tietmeyer, Frankfurt;
Arnold Wallraff, Bonn; Christian Wulff, Hannover.
67
Rückblick
Löst sich die
Industriegesellschaft auf ?
Russland –
wohin?
Siebtes Sinclair-Haus Gespräch, November 1996
Neuntes Sinclair-Haus Gespräch, Dezember 1997
Kenneth Angst, Zürich; James Buchanan,
Fairfax; Gert Dahlmanns, Bad Homburg v.d.H.;
Lord Ralf Dahrendorf, Oxford; Daniel Deckers,
Frankfurt; Thomas M. Gauly, Bad Homburg v.d.H.;
Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.;
Herbert Henzler, München; Peter von der Heydt,
Köln; Paul Kirchhof, Karlsruhe; Guy Kirsch,
Fribourg; Hubert Markl, München; Meinhard
Miegel, Bonn; Robert Nef, Zürich; Elena
Nemirovskaya, Moskau; Emma Rothschild,
Cambridge; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg
v.d.H.; Jonathan Steinberg, Cambridge; Horst
Teltschik, München; Vilim Vasata, Düsseldorf;
Michael Walker, Vancouver.
Werner Adam, Frankfurt; Hannes Adomeit,
Ebenhausen; Joachim Bitterlich, Bonn; Sergei
Bourkov, Moskau; Evgueni Bovkoun, Bonn;
Georg Brunner, Köln; Gert Dahlmanns, Bad
Homburg v.d.H.; Wladimir Dshanibekow, Moskau;
Thomas M.Gauly, Bad Homburg v.d.H.; Hans Graf
von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Josef Joffe,
München; Hansrudolf Kamer, Zürich; Tadeusz
Kondrusiewicz, Moskau; Norbert Kuchinke, Unkel;
Hubert Markl, Konstanz u. München; Elena
Nemirovskaya, Moskau; Alexei Salmin, Moskau;
Nikolaus Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Yuri
Senokossov, Moskau; Ernst-Jörg v. Studnitz,
Moskau; Michael Stürmer, Ebenhausen; Alexander
Suchanov, Moskau; Horst Teltschik, München;
Arnold Wallraff, Düsseldorf; Fareed Zakaria, New
York; Franziska Zeitler, Bad Homburg v.d.H.
Europa nach der
Wirtschafts- und Währungsunion
Leben –
um welchen Preis?
Achtes Sinclair-Haus Gespräch, April 1997
Zehntes Sinclair-Haus Gespräch, April 1998
Lord Alexander of Weedon, London; Hans J.
Bär, Zürich; Elmar Brok, Brüssel; Dieter ChenauxRepond, Bonn; Gert Dahlmanns, Bad Homburg
v.d.H.; Jean François-Poncet, Paris; Thomas
M.Gauly, Bad Homburg v.d.H.; Hans Graf von
der Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Lord Gowrie,
London; Klaus Hänsch, Düsseldorf; Helmut Kohl,
Bonn; Hubert Markl, München/Konstanz;
Krzysztof Michalski, Wien; Dominique Moïsi,
Paris; Quentin Peel, London; Janusz Reiter,
Warschau; Nikolaus Schweickart, Bad Homburg
v.d.H.; Michael Stürmer, Ebenhausen; Horst
Teltschik, München; Christa Thoben, Bonn.
Bernhard Badura, Bielefeld; Gert Dahlmanns,
Bad Homburg v.d.H.; Johannes Dichgans,
Tübingen; Thomas M. Gauly, Bad Homburg
v.d.H.; Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg
v.d.H.; Axel Haverich, Hannover; Hanfried
Helmchen, Berlin; Hermann Hepp, München;
Christiane Herzog, Berlin; Ernst Hirsch Ballin,
Tilburg; Ludger Honnefelder, Bonn; Wolfgang
Huber, Berlin; Karl Lehmann, Mainz; Hubert
Markl, München/Konstanz; Gerald Möller,
Mannheim; Gabriele Müller-Stutzer, Bonn; Heinz
W. Radtke, Konstanz; Jeanne Rubner, München;
Konrad Schily, Witten; Gernot Schlösser, Köln;
Hans-Ludwig Schreiber, Göttingen; Nikolaus
Schweickart, Bad Homburg v.d.H.; Günter Stock,
Berlin; Michael Stürmer, Erlangen; Franziska
Zeitler, Bad Homburg v.d.H.
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Trialog der Kulturen
im Zeitalter der Globalisierung
Vom christlichen Abendland zum
multikulturellen Einwanderungsland?
Elftes Sinclair-Haus Gespräch, Dezember 1998
Zwölftes Sinclair-Haus Gespräch, April 1999
Mahmoud Abassi, Shfar’am; Mahdi Abdul Hadi,
Jerusalem; Aryeh Arnon, Beer Sheva; Wolfgang R.
Assmann, Bad Homburg v.d.H.; Hisham Awartani,
Nablus; Claudio Mario Betti, Rom; Avishay
Braverman, Beer Sheva; Jörg Bremer, Jerusalem;
Dan Catarivas, Jerusalem; Gert Dahlmanns, Bad
Homburg v.d.H.; Saad Eddin Ibrahim, Kairo; Shaul
Friedlander, Genf und Tel Aviv; Peter Galliner,
London; Thomas M. Gauly, Bad Homburg v.d.H.;
Johannes Gerster, Jerusalem; Hans Graf von der
Goltz, Bad Homburg v.d.H.; Ehoud Graff, Tel Aviv;
Heike Grunewald, Jerusalem; Xavier GuerrandHermès, Paris; Shmuel Hadas, Jerusalem; Thomas
Jansen, Brüssel; Eberhard von Koerber, Zürich;
Jacob Lassner, Evanston Illinois; Ron Lauder, New
York; Dov Lautmann, Tel Aviv; Robert Liberles,
Jerusalem; Said Baha Al-Masri, Amman; Richard
Mathes, Jerusalem; Amos Oz, Arad; Elie Rekhess,
Tel Aviv; Danny Rubinstein, Beer Sheva; Uriel Savir,
Tel Aviv; Beatrice Schalch, Zürich; Zvi Shtauber,
Beer Sheva; Mohammad Shtayyeh, Jerusalem;
Hanna Siniora, Jerusalem; Frank Stern, Beer Sheva;
Ofra Strauss-Lahat, Israel; Michael Stürmer, Erlangen; S. Ilan Troen, Beer Sheva; Lord Weidenfeld
of Chelsea, London; Stef Wertheimer, Tefen.
Wolfgang R. Assmann, Bad Homburg v.d.H.;
Günther Beckstein, München; Frank Böckelmann,
München; Johannes Dyba, Fulda; Nadeem A. Elyas,
Köln; Thomas M. Gauly, Bad Homburg v.d.H.;
Hans Graf von der Goltz, Bad Homburg v.d.H.;
Friedrich Wilhelm Graf, Augsburg; Ludger Honnefelder, Bonn; Barbara John, Berlin; Susanne Klatten,
Bad Homburg v.d.H.; Sebastian Kleinschmidt,
Berlin; Michael Klett, Stuttgart; Wolfgang Kluxen,
Bonn; Renate Köcher, Allensbach; Christoph Link,
Erlangen; Hartmut Löwe, Bonn; Dieter Oberndörfer,
Freiburg; Cem Özdemir, Berlin; Hermann Schäfer,
Bonn; Otto Schily, Berlin; Frank Schirrmacher,
Frankfurt a.M.; Nikolaus Schweickart, Bad
¸
Homburg v.d.H.; Faruk Sen,
Essen; Mark Speich,
Bad Homburg v.d.H.; Eberhard Tiefensee, Erfurt;
Ulrich Ivo von Trotha, Hamburg.
Referat John R. Hodges
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Hintergrund
Herbert Quandt
Dr. Herbert Quandt (1910 –1982), einer märkischen Unternehmerfamilie entstammend, gehörte zu den markantesten Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegswirtschaft. Seinen dezentral organisierten Unternehmen überließ er große Entscheidungsräume, um Eigeninitiative und Innovationsgeist zu stärken. Die Verantwortung des
Unternehmers ging für ihn über das rein Ökonomische hinaus.
Herbert Quandt war der erste Vorstandsvorsitzende der ALTANA AG, die im Jahre
1977 im Wege der Realteilung aus dem VartaKonzern hervorgegangen ist. Die ALTANA AG
ist eine strategische Managementholding.
Die Unternehmensgruppe beschäftigt über
8000 Mitarbeiter und ist weltweit auf den
Geschäftsfeldern Pharmazeutik und Spezialchemie tätig.
Herbert Quandt-Stiftung
Aus Anlass des 70. Geburtstages von
Herbert Quandt hat die ALTANA AG im November 1980 zum Dank für die langjährige
Führung der in ihr zusammengeschlossenen
Unternehmen die Herbert Quandt-Stiftung
errichtet. Diese fördert in Projekten und
durch finanzielle Zuwendungen den nationalen und internationalen Dialog sowie
Wissenschaft, Forschung und Bildung in
Deutschland. Neben den Sinclair-Haus Gesprächen führt die Herbert Quandt-Stiftung
das international angelegte Projekt „Trialog
der Kulturen“ durch. In Kooperation mit der
Universität Konstanz wird jährlich der Byk-Preis für drei herausragende Forschungsarbeiten in den Naturwissenschaften vergeben. Neben der Einrichtung von Herbert
Quandt-Förderprogrammen an den Universitäten Konstanz und Dresden für den internationalen Austausch junger Wissenschaftler aus Mittel- und Osteuropa leistet die
Stiftung Unterstützung bei der Umsetzung von Forschungsprojekten an der Technischen Universität Dresden. Mit der „Initiative Bürgersinn“ fördert die Herbert QuandtStiftung beispielhafte Vorhaben bürgerschaftlichen Engagements und leistet auch mit
eigenen Projekten einen Beitrag zur Stärkung von Eigeninitiative und selbstverantworteter Solidarität in unserer Gesellschaft.
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Der Vorstand der Herbert Quandt-Stiftung setzt sich wie folgt zusammen: Nikolaus
Schweickart (Vorstandsvorsitzender), Wolfgang R. Assmann (Geschäftsführender Vorstand), Dr. Thomas M. Gauly.
Dem Stiftungsrat gehören an: Hans Graf von der Goltz (Ehrenvorsitzender), Susanne
Klatten (Vorsitzende), Dr. h.c. Michael Klett, Janusz Reiter, Prof. Dr. Hermann Schäfer,
Dr. Frank Schirrmacher, Lord Weidenfeld of Chelsea, Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker.
Isaak von Sinclair
Isaak von Sinclair (1775 –1815) war Berater und enger Vertrauter des Landgrafen
von Hessen-Homburg, dessen Interessen
Sinclair u.a. auf dem Wiener Kongress vertrat. Sinclair war aber nicht nur Beamter und
Diplomat, sondern auch Intellektueller und
Poet. Seine idealistische Philosophie und
die seines Freundeskreises, dem Hegel,
Schelling und Hölderlin angehörten, waren
von der geistigen und politischen Auseinandersetzung im Gefolge der Aufklärung und
der Französischen Revolution geprägt.
Sinclair war Hölderlin insbesondere während dessen schwierigen Lebensphasen ein
hilfreicher Freund. Als „edler Freund des
Freundes“ gewährte Sinclair dem Dichter
Zuflucht, finanzierte seinen Lebensunterhalt
und kümmerte sich um den Kranken.
Sinclair-Haus Gespräche
1978 erwarb die ALTANA AG das Haus, das den Namen Isaak von Sinclairs trägt.
Das dem Bad Homburger Schloss gegenüber gelegene Haus wurde in der Schönheit
seiner ursprünglichen Barockform restauriert. Das Sinclair-Haus beherbergt heute
nicht allein die Konferenz- und Geschäftsräume der Herbert Quandt-Stiftung, sondern
dient auch als Ausstellungsräumlichkeit für die Kunstausstellungen der ALTANA AG.
Seit 1993 finden hier zweimal im Jahr die Sinclair-Haus Gespräche statt.
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Impressum
Herausgeber
Herbert Quandt-Stiftung
Löwengasse 15
61348 Bad Homburg v. d. Höhe
Tel. +49 (0)61 72 66 55-15
Fax +49 (0)61 72 66 55-23
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.h-quandt-stiftung.de
Gestaltung
Gesa Emde
Mirko Krizanovic
Darmstadt
Litho und Druck
Jan van der Most
Düsseldorf
Fotografie
Mirko Krizanovic
S. 6/ 7, 15, 24, 26, 27, 49, 52, 54/55:
Mirko Krizanovic/
Frankfurter Allgemeine Zeitung
S. 17: John R. Hodges
S. 38: Barbara Klemm/
Frankfurter Allgemeine Zeitung
S. 70, 71: Herbert Quandt-Stiftung
© Herbert Quandt-Stiftung
April 2000
ISSN 1438-7875
ISBN 3-00-005594-0
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