WIM-Radio Days – Perspektiven improvisierter Musik Von Hermann Bühler Die WIM-Radio Days boten an fünf Festivalwochenenden, die im ersten Halbjahr 1998 stattfanden, rund 100 Musikerinnen und Musikern eine Plattfom für ihre Improvisationen. Die Konzerte wurden durch Video und Tonbandaufnahmen in bester Studioqualität ausführlich dokumentiert. Gleichzeitig führten die Veranstalter der WIM-Radio Days1 Interviews, in denen die Musiker über ihren kulturpolitischen Hintergrund, ihr unterschiedliches Verständnis von Improvisation und über ihre Spielmethoden Auskunft gaben. Aus diesen Konzertaufnahmen und Interviews wurde eine Serie von zwölf Radiosendungen zusammengestellt, die Radio LoRa Zürich zwischen April 1998 und März 1999 ausstrahlte. Auch erschien im Frühjahr 1999 die CD WIM-Radio Days2, auf der Ausschnitte aus den Festivalkonzerten zu hören sind, die exemplarisch die Vielfalt an Möglichkeiten aufzeigen, wie sich heute improvisieren lässt. Wie der nachfolgende Beitrag zeigt, wurde an den WIM-Radio Days ein immenses Material zusammengetragen. Dieses ermöglicht es, nicht nur musikalisch, sondern auch analytisch und kulturpolitisch dem Phänomen der improvisierten Musik und den unterschiedlichen Haltungen improvisierender Musiker näher zu kommen. Die spezielle Situation improvisierter Musik, die weder eingeübte Musikprodukte, noch Interpretationen komponierter Werke vermitteln möchte, verwickelt die werkartige Vorführung und Wiedergabe auf CD bzw. am Radio natürlich in Widersprüche. Diese sind aber auch Ausdruck einer Entwicklung innerhalb der improvisierten Musik, welche im folgenden einleitend kurz skizziert werden soll. I. WIM-Radio Days: Werkschau der Improvisation Die Werkstattkonzerte in der WIM orientierten sich in den siebziger Jahren an den ästhetischen Vorgaben der frei improvisierten Musik, wie sie neben anderen Vinko Globokar und Derek Bailey formuliert haben. Die Vorstellungen und Ansatzpunkte haben sich seither allmählich gewandelt. Anfangs wollten sich die Musiker in erster Linie von einer Musiktradition befreien, die in der seriellen Kompositionweise an die Grenzen des musikalisch Beschreibbaren gekommen war. Unter dem Einfluss des Jazz Ende der sechziger Jahre begannen die Musiker, sich auf ihre eigene künstlerische Identität zu besinnen. In der Folge lehnten sie die Vorgaben und Aufführungsbedingungen von komponierten Werken radikal ab und begannen, frei über ihre Instrumente zu verfügen und den Verlauf der Musik spontan selbst zu bestimmen. Diese sogenannte ›non-ideomatische‹ Spielweise erhielt mit der Zeit ein Gesicht und könnte heute sogar als eigener Stil bezeichnet werden. Mit dem Begriff der non-ideomatischen Improvisation war aber ursprünglich nicht ein Stil, sondern eine Spiel-Methode gemeint, die den Äusserungen der Mitspieler Rechnung trägt und den Verlauf der Musik jederzeit offen lässt. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Wie kann das Spiel offen bleiben, wenn ein Musiker etwa einen Rhythmus einbringt? Für die Mitmusiker wird es schwierig, diesen Rhythmus zu ignorieren, ohne die Integrität der Musik zu gefährden. Sie müssen dem Rhythmus also folgen. Das kann gut gehen, bis sich mit der Zeit eine gewisse Ermüdung einstellt. Bei einem konventionell vorbereiteten Stück Musik würde in diesem Moment ein Thema folgen. In der improvisierten Musik bleibt es der momentanen Interaktion der Musiker überlassen, der Musik eine neue Richtung zu geben. Dies setzt voraus, dass die Musiker mit ihrem Material umsichtig verfahren und fähig sind, es in permanentem Austausch mit den Mitmusikern einzusetzen. Der Verlauf der Musik ist dabei nicht nur vom persönlichen Wollen des einzelnen Musikers abhängig, sondern folgt dem gemeinsamen Tun der Gruppe. Wie es auch Bailey und Globokar beschrieben haben ist improvisierte Musik somit nicht einer vorgegebenen, kreativen Idee verpflichtet, sondern dem flüchtigen Moment der kollektiven Interaktion der Musiker. Ein wichtiges Element in der improvisierenden Szene ist es auch, das Publikum im Konzert unmittelbar an der Erfindung der Musik teilhaben zu lassen. Sie soll nicht im stillen Kämmerlein 1 Veranstalter der WIM-Radio Days: Hermann Bühler, Jean-Pierre Reinle, Omri Ziegele. Die CD WIM-Radio Days liegt diesem Buch bei oder ist direkt bei der WIM erhältlich (WIM-Radio Days, CD stv/asm 001). 2 stattfinden und als fertige Komposition oder Produkt dem Publikum präsentiert werden. Die Entstehung der Musik selbst ist das Thema. Sie erreicht ihre Gültigkeit in einem Augenblick, den die Musiker zusammen mit den Zuhörenden erleben. Aus diesem Ansatz heraus entwickelten sich Konzertreihen, wie sie zum Beispiel in der WIM Zürich seit 1978 kontinuierlich stattfinden. An diesen Konzerten entsteht die Musik durch die Interaktion der Musiker untereinander und – fast ebenso wichtig – durch den Kontakt mit dem Publikum, dessen Aufmerksamkeit und Reaktion den Verlauf der Musik massgeblich beeinflussen. Deshalb spielen die Musiker auch häufig ohne Bühne, um das Publikum stärker am musikalischen Prozess beteiligen zu können. Und die Reaktionen der Zuhörer, die sich mit den Musikern oft im Gespräch austauschen, verändern auch die Musik. So ermöglichten der Einbezug von Stilzitaten, szenischen Einlagen und die Lockerung der kollektiven Leistung zugunsten von Solisten dem Publikum den Zugang zu improvisierter Musik zusehends. Doch verlor improvisierte Musik damit nicht auch den Charakter, ›Kunst ohne Werk‹3 zu sein? Indem sich die Musiker die Kompetenz angeeignet haben, spontan eine gültige und verständliche musikalische Form zu kreieren, erhält improvisierte Musik auch einen besonderen Werkcharakter. Hier setzte die Idee der WIM-Radio Days an. Die Festival-Konzerte bildeten für die improvisierenden Musiker eine Plattform, der das Gewicht einer Werkschau zukam. Dies im Gegensatz zu den traditionellen Werkstattkonzerten, die durch das Interesse der Musiker getragen werden, sich unbefangen zu treffen und auszuprobieren, wie eine bestimmte Konstellation wohl klingen könnte. Die Aufnahmen dieser Werkstattskonzerte haben dabei dokumentarischen Charakter und werden nicht als fertiges ›Werk‹ oder gar verkäufliches ›Produkt‹ angesehen. Die Aufnahmesessions der WIM-Radio Days vereinten dagegen verschiedene Ausprägungen von Improvisationsmusik, die nicht nur dokumentiert werden sollten. In exzellenten Aufnahmen wurde eine kohärente Klangästhetik verfolgt, die improvisierte Musik in Radiosendungen und auf CD optimal repräsentieren konnte. An den fünf Festivalwochenenden spielten 22 Bands und 6 Solisten4 in den für einen professionellen Studiobetrieb ausgebauten WIM-Räumen. An den 37 Konzerten folgte zumeist nach einem für das Publikum zugänglichen Sound- und Hörcheck ein Set mit improvisierter Musik. Einzelne Gruppen nahmen verschiedene Versionen von Stücken auf, die teilweise sogar abgesprochen oder arrangiert waren. Am dritten Radio Days-Wochenende waren die Konzerte in eine sechsstündige Live-Sendung am Radio LoRa integriert. Neben Diskussionsrunden zu kulturpolitischen Themen wurde die am Vormittag aufgenommene Musik gesendet. Dadurch war es möglich, die Konzerte erst live in der WIM und gleich darauf am Radio anzuhören. So wurde deutlich, wie stark sich ein Konzerterlebnis von der Musikaufnahme unterscheidet. Klänge, die dem Hörer am Konzert noch rauh und unfertig vorkamen, sind in den Aufnahmen als Nuancen überraschender Klangfarben hörbar. Dafür ist die physische Präsenz der Musiker und Zuhörer, die den Verlauf der Musik beeinflussen, nicht nachvollziehbar. II. WIM Radio Days: Radiosendungen zu improvisierter Musik II.1 Streifzug in die Begriffswelt In den zwölf Sendungen am Radio Lora wurden die Aufnahmen und die Musikerinterviews aus den WIM-Radio Days mit Trouvaillen aus der Tradition des Jazz, der Neuen Musik und der ethnischen Musik5 kombiniert. Die Sendungen, umrahmt von einer Konzeptsendung6 und einer Best of Radio Days-Sendung7, waren den Themen ›Tradition‹8, ›Stil‹9 und ›Kulturpolitik‹10 zugeordnet. 3 Buchtitel Bailey (1987). Siehe Programm WIM Radio Days in diesem Buch, S. ...????. 5 Dieser konnte im Laufe der Sendungen leider nur wenig Beachtung geschenkt werden. 6 Sendung vom 4.4.98, Mitwirkende: Voerkel/Lovens, Afro Garage, Jacques Widmer. 7 Sendung vom 3.4.99. 8 Dem Thema ‹Tradition› waren die Sendungen ‹Musikalische Arbeitsmodelle: Geschichte, Kulturpolitik, Kritik› (Sendung vom 7.11.98, Mitwirkende: Die Firma, Nyanda, Lilith, Duo Frappant, Cieletterra, Wandeler4 Zu Beginn der Reihe wurde versucht, die Traditionen und Stile improvisierter Musik durch die drei Schlagworte ›Free Jazz‹, ›Freie Improvisation‹ und ›Instant Composing‹ grob einzugrenzen. Ornette Coleman gebrauchte den Begriff ›Free Jazz‹ 1960 als programmatischen Titel einer seiner Schallplatten. Damit war jedoch nicht nur die freie Verfügbarkeit über das rhythmische, melodische und harmonische Material des Jazz gemeint. Weitere wichtige Faktoren des ›Free Jazz‹ waren auch, dass die Musiker ihrer persönlichen Intuition vertrauten, und mit den Möglichkeiten freier Interaktion in der Gruppe experimentierten. Die Betonung eigener Resourcen und neuer Kommunikationswerte war stark mit der Idenditätsfindung afroamerikanischer Kultur nach der Aufhebung der Rassentrennung in den USA verbunden. Auch die Musik von Cecil Taylor, Sam River, Sun Ra, Bill Dixon oder Antony Braxton sind in unterschiedlichen Ausrichtungen wichtige Pfeiler dieser Tradition. Die ›Freie Improvisation‹ ist das Resultat des Zusammentreffens europäisch klassischer Musik mit dem Jazz der sechziger Jahre. Herkömmliche Musikparameter wie Rhythmus oder Harmonie werden hinterfragt und abgelehnt, um eine Freiheit des persönlichen Ausdrucks zu erreichen. Mit herkömmlichen Denkmustern betrachtet wird ›Freie Improvisation‹ nicht verständlich. Sie verlangt, wie Alexander von Schlippenbach bemerkte, mit ihren eigenen Kriterien gehört zu werden.11 Exponenten der frei improvisierten Musik sind Derek Bailey, Cornelius Cardew, Vinko Globokar, Peter Kowald oder Evan Parker. Der Begriff ›Instant Composing‹ wurde in der niederländischen Szene um Mischa Mengelberg geprägt und beeinflusste Musiker wie Irène Schweizer, Joëlle Léandre oder Pierre Favre. Hier wird mehr auf die Komposition des Augenblicks als auf den Entstehungsprozess der Musik Wert gelegt. Die Musiker nehmen eine ästhetische Haltung bezüglich des Moments ein und gestalten eine formal stimmige Musik. Alle drei Begriffe entstanden während der sechziger Jahre, als die Musiker sich von den hierarchischen Strukturen der Komponisten und Orchester emanzipierten. Die Musiker betrachteten ihre Tätigkeit nicht in erster Linie als Kunst oder Kunstproduktion, sondern als existentielles Bedürfnis, ihre Musik direkt mit den eigenen Lebensumständen zu verbinden. Im Laufe der Sendungen konnten wir die vorangestellten Begriffe noch etwas verfeinern: ›Free Jazz‹ bezieht sich sowohl auf die Jazztradition wie auch auf europäische Kompositionsformen neuerer Zeit. Mit teilweise revolutionären Mitteln werden die individuellen Äusserungen der Musiker und die kommunikativen Möglichkeiten in der Gruppe einbezogen. In der ›Freien Improvisation‹ ist der Ablauf der Ereignisse nicht etwa zufällig, sondern von den Vorstellungen der Musiker und des Publikums bestimmt. Es können sinnfällige Momente einfliessen, wie etwa Humor oder Zitate. Ereignisse können von Mitspielern aufgegriffen, gestützt oder wieder verlassen werden, ohne dass die Musiker formalen oder inhaltlichen Gegebenheiten folgen müssten. ›Instant Composing‹ nähert sich einer musikalischen Aussage an, die von Formvorstellungen der Musiker geleitet ist. Der erste Ton gibt eine Aussage vor, die durch Kommunikation und Reaktion der Musiker im Prozess erfunden wird. So wird ein musikalisches Zeitkontinuum geschaffen, das als schlüssige Form erkennbar wird. Deck/Rüdisüli/Kaehr/Geissberger), ‹Jazz und Rock’n’Roll› ( Sendung vom 9.1.98, Mitwirkende: Brom, Co StreiffSextett, Day & Taxi, Cieleterra, Noisy Minority, Billiger Bauer, Bühler/Kramis/Wolfarth, Agasul, Illustrio), ‹Solo I+II› (Sendungen vom 3.10.98 und 6.2.99, Mitwirkende: Markus Eichenberger, Jacques Widmer, Walti Bucheli, Hans Koch, Christian Wolfarth, Werner Lüdi, Hermann Bühler, Peter K Frey, Mathias Ziegler, Jürgen Krusche), ‹Piano Improvisationen› (Sendung vom 4.7.98, Mitwirkende: Voerkel/Lovens, Illustrio, Schweizer/Favre) und ‹Visionen› (8 Sendung vom 6.3.98, Mitwirkende: Dick/Zimmerlin/Müller/Bohnes, Christian Wolfarth, Nadelöhr) gewidmet. 9 Dem Thema ‹Stil› waren die Sendungen ‹Stil und Analysemethoden› (Sendung vom 2.5.98, Mitwirkende: Agasul, Afro Garage, Dick/Zimmerlin/Müller/Bohnes), ‹Dynamik der musikalischen Gestalt› (Sendung vom 5.9.98, Mitwirkende: Polyphonie Zürich, Erbslein, Lift, Roellin/Pedretti/Portner, 4Venti Quattro) und ‹Text & Ton› (Sendung vom 5.12.98, Mitwirkende: Wandeler/Deck/Rüdisüli/Kaehr/Geissberger, Die Firma, Illustrio, Billiger Bauer, Noisy Minority, Peter K Frey, Nadelöhr) gewidmet. 10 Das Thema ‹Kulturpolitik› kam ausführlich in der sechstündigen Spezialsendung ‹Live-Radio Days› (Sendung vom 6.6.98, Mitwirkende: Jürg Gasser, Fredi Lüscher, Michel Baeretswyl, Gabriela Friedli, Priska Walss, Susann Wehrli, Duo Frappant, Cieletterra) zur Sprache. 11 Vgl. Noglik (1982), S. 115. II.2. Auf der Suche nach Klangwelten – zwei unterschiedliche Konzepte Neben den Radio Days-Aufnahmen kamen in den Sendungen Komponisten und Musiker unterschiedlicher Herkunft zu Wort, die als Teil einer Tradition improvisierter Musik angesehen werden können. Dazu gehört Cecil Taylor, ein grosser Pianovirtuose und wichtiger Exponenten improvisierter Musik unserer Zeit. Für ihn ist Improvisation ein Werkzeug der Sensibilität und eine Möglichkeit, die eigene Natur im Austausch mit der Gruppe zu erfahren. ›Verborgene‹ Instinkte können dabei eingefangen und das ›Unkultivierte‹ kultiviert werden. Improvisation ist die magische Erhebung in den Zustand der Trance, die es ermöglicht, das innere Selbst des Menschen als lebendigen Organismus, verbunden mit Pflanzen, Tieren oder Menschen, geschärft wahrzunehmen.12 Harry Partch – seine Musik beeinflusste improvisierende Musiker wie Fred Frith – nimmt gegenüber den Improvisatoren eine kritische Haltung ein. Er begrüsste zwar deren Versuch, durch die Ablehnung klassischer Formbegriffe die ›monolithische‹ Auffassung von Kultur zu brechen. Partch war jedoch enttäuscht, dass sie dies mit denselben Instrumenten, Tonleitern und Harmonien tun, wie sie die westliche Kultur schon seit Jahrhunderten verwendet.13 Partch arbeitete als Komponist an der Weiterführung der traditionellen westlichen Tonalität und erforschte unorthodoxe Tonleitern, die neue Möglichkeiten von Obertonverhältnissen zulassen. Dazu erfand er neue Instrumente und orientierte sich an archaischen, vielfach klassisch griechischen und asiatischen Formen. Der Big Band Leader Sun Ra forderte für seine Musik die uneingeschränkte Disziplin seiner Musiker: «Was ich erreichen will, erfordert sehr, sehr harte Arbeit und ich brauche dafür die besten Musiker. Keine zwei Stücke sollen den gleichen Rhythmus haben, manchmal ändere ich den Rhythmus vom Klavier aus. Die Musiker müssen fähig sein, das zu spüren, sie müssen Intuition haben und reagieren. So kann sich eine Musik entwickeln, von der sie nie geträumt haben, dass sie entstehen könnte. In den Schulen lernt man alles zu kennen, bei mir lernt man, dass man nicht alles schon kennt.»14 Die Musik des Sun Ra Arkestra nimmt das Publikum auf eine Reise durch Raum und Zeit mit, die zu Klängen ausserhalb unserer Welt hinführen soll.15 Edgar Varèse – ein bedeutender Komponist der klassischen Moderne – begann unter dem Eindruck Busonis, Geräusche in seine Musik zu integrieren, da er die klanglichen Ausdrucksmittel erweitern wollte: «Unser musikalisches Alphabet muss bereichert werden. Wir benötigen [dazu] dringend neue Instrumente. (...) [Diese] müssen fähig sein, unterschiedliche Verbindungen zu ermöglichen. [Sie sollen uns] nicht einfach an Dinge erinnern, die wir immer und immer wieder gehört haben. (...) In meinem eigenen Schaffen fühlte ich stets die Notwendigkeit [nach] neuen Ausdrucksmitteln. Ich lehne es ab, mich auf Klänge zu beschränken, welche bereits gehört worden sind.»16 Dieser kleine Exkurs zu möglichen Traditionen improvisierter Musik zeigt zwei unterschiedliche Konzepte auf: Cecil Taylor und Sun Ra verstehen sich gestützt auf die afro-amerikanische Tradition als Vermittler eines kulturellen Erbes durch Musik. Wo Cecil Taylor den spirituellen Ort im Innern des Menschen sieht, findet Sun Ra diesen im Universum. Mit Edgar Varèse und Harry Partch werden die Standpunkte zweier Komponisten wiedergegeben, die durch ihre Radikalität, mit der sie die Formen und Klänge von Musik erneuern, die Vorstellungen improvisierender Musiker weitgehend geprägt haben, obwohl der Gestaltungswille für ihr Werk keine Improvisation zugelassen hätte. III. Die Interviews III.1 Kulturpolitischer Diskurs Anschliessend an die jeweiligen Konzerte der WIM-Radio Days führten die Veranstalter ausführliche Gespräche mit den Musikern. Wiederholt kam dabei die spezielle Situation der 12 Vgl. Buholzer (1984). Vgl. Partch (1991), S. 194. 14 Aldinger (1985). 15 Vgl. Gerken (19, S. 116. 16 Varèse (1983), S.22. 13 improvisierten Musik in einem zunehmend produkteorientierten Markt zur Sprache. Damit verbunden wurden Fragen aufgeworfen wie zum Beispiel: ›Soll improvisierte Musik von der staatlichen Kulturförderung ‹geschützt› werden?‹ ›Fällt improvisierte Musik den Bedingungen des freien Markts zum Opfer?‹ ›Sind die Musiker in einer Art freiem Kulturraum dazu verurteilt, zu tun oder zu lassen, was sie wollen, ohne weiter beachtet zu werden?‹ Wenn von Kulturpolitik gesprochen wird, muss vorangestellt werden, dass ›Kultur‹ nicht allein vom Publikum getragen werden kann. Erst das Engagement von staatlichen und privaten Institutionen ermöglicht qualitativ hochstehende Aufführungen in künstlerischen Bereichen. So lange dabei die Auswahl der Ausdrucksmittel den Künstlern überlassen bleibt, muss sich die Kunst nicht den Interessen der Geldgeber anpassen. Wie sich die neueren Unterstützungsformen, die sich immer ausschliesslicher auf Zuschauerquoten und Sponsoreninteressen berufen, auf die Erneuerung und Frische des Kulturbetriebs auswirken, zeichnet sich nun allmählich ab. Die Einflussnahme der Gremien und Firmen auf die Kultur ist subtil und bewirkt, dass den Künstlern scheinbar eine grössere Aufmerksamkeit von Seiten des Publikums entgegengebracht wird. Die Tendenzen in der Kulturarbeit gehen dahin, das Publikum unter allen Umständen anzusprechen, Trends zu folgen und Hallen zu füllen. Die Möglichkeiten künstlerischen Ausdrucks sprengen jedoch den Rahmen, der die verkaufbaren Kulturprodukte umfasst. Eine Priorität der Kulturförderung sollte deshalb die Pflege der Ausdrucksvielfalt sein, unabhängig davon, wieviel Publikumszuspruch ein bestimmtes Projekt auf sich lenken kann. Zu Kulturpolitik äusserten sich unter anderem Christoph Baumann und Dieter Ulrich17 an den Radio Days vom 11.Januar 1998: Dieter Ulrich: «Die Szene in London ist ein Beispiel dafür, wie schnell eine gute Musikszene entstehen und wie schnell sie wieder verschwinden kann. Ende der sechziger Jahre war die Londoner Musikszene vergleichbar mit jener in New York oder Chicago. Das hatte damit zu tun, dass die Musiker Auftrittsmöglichkeiten hatten. Es gab eine gewerkschaftliche Organisation, welche die Jobs paritätisch verteilte. Im Thatcherismus wurde die Kultur dann dem freien Markt unterworfen. Die Folge davon war, dass die ganze Szene wegrationalisiert wurde. Früher konnte ein Musiker rund ums Jahr in der Umgebung einer einzigen Stadt leben und spielen. Dementsprechend hatte die Londoner Szene auch ihren ganz eigenen ›Sound‹.» 18 Christoph Baumann: «Die Musiker in der Schweiz müssen sich heute darum kümmern, dass sich der Staat nicht zusehends aus der Affäre zieht. Es muss verstanden werden, dass die Szene einer Stadt durch die kleinen Kulturräume, die mit vergleichsweise sehr wenig Geld auskommen, lebendig bleibt. Heute liegt es im Trend, grosse Institutionen optimal auszurüsten und gleichzeitig die zahlreichen kleinen Aktivitäten verkommen zu lassen. Damit geht zuerst die Vielfalt der Möglichkeiten verloren und schliesslich wird der ganze Betrieb langsam und schwerfällig. Ohne Unterstützung können sich die kleinen Orte aber nicht erhalten. Deshalb sollten wir den vereinzelten Aktivitäten ein grösseres politisches Gewicht verleihen.»19 Die beiden Musiker kommentierten auch das Verhältnis zwischen einer ›unabhängigen‹, staatlichen Unterstützung und einem an die Interessen des Markts gebundenen Sponsoring. Christoph Baumann: «Die demokratische Staatsform beruht auf der Gemeinschaft von Wirtschaft und Gesellschaft. Das Geld, das der Staat erwirtschaftet, muss innerhalb der Gemeinschaft wieder verteilt werden. Wichtige Bereiche sind dabei die Bildung und die Forschung, wozu ich auch die Musik und allgemein die Kultur zähle. Der Markt hingegen orientiert sich an den Verkaufstrends, und deshalb wird er Bildung und Forschung nur im Hinblick auf mögliche Gewinne fördern. Es ist deshalb wichtig, dass der Staat seine Verpflichtung innerhalb der Musikkultur wahrnimmt, und die Entwicklung jener Musik, die vom Markt nur wenig aufgenommen wird, durch angemessene Unterstützung ermöglicht.»20 Dieter Ulrich: «Es hat zu keiner Zeit eine Hochkultur gegeben, die erfolgreich oder selbsttragend gewesen wäre. Ich sehe hier ›Hochkultur‹ im Gegensatz zur ›Tageskultur‹ bzw. zur ›Unterhaltungskultur‹, die ich damit nicht abwerten möchte. Das Problem ist so alt wie die 17 Vgl. Afro Garage, WIM-CD (1998), Track 7. WIM (1998), 11.1.98. 19 WIM (1998), 11.1.98. 20 WIM (1998), 11.1.98. 18 Kunst selbst. Aber wir dürfen heute nicht beginnen, uns Illusionen zu machen. Die Kultur hat nie nach freien Marktprinzipien funktioniert. Auch Mozart schrieb seine Opern mit Unterstützung von Auftraggebern, er wurde nicht durch den Verkauf von Billetten zum Millionär. Die Gesellschaft vergisst diese Werte. Man findet es heute schick, zu glauben, der freie Markt sei die heiligste aller möglichen Kühe. Welcher Jazzer, den wir heute noch anhören, war zu seiner Zeit gross im Business? Heute hören wir uns Fletcher Henderson, Duke Ellington oder Count Basie an und glauben, diese hätten die erfolgreichsten Big Bands der dreissiger und vierziger Jahre geleitet. Dies stimmt aber nicht. Die erfolgreichste Big Band jener Zeit war jene von Paul Withman. Von dieser Band hört man sich heute jedoch kaum mehr ein Stück an. Die Erklärung für dieses Phänomen ist einfach: Die Big Bands von Basie und Ellington spielten aus späterer Sicht viel interessantere Musik.»21 Christoph Baumann und Dieter Ulrich berühren einige problematische Punkte innerhalb der Kulturpolitik. Der Londoner Musikszene blieb im freien Markt keine Überlebenschance. Kleinere Clubs mussten lukrativeren Etablissements weichen und den Musikern blieb grösstenteils ein Leben als eine Art Tagelöhner übrig. In der Schweiz sind erst Ansätze einer solchen Entwicklung zu spüren. Auch treten verstärkt Sponsoren auf, die ihre Interessen in der Kultur durchsetzen wollen. Die Entwicklungen innerhalb der Expo 0222 sind ein Beispiel dafür. Im Gespräch der Musiker wurde deutlich, dass Musik als Teil von Kultur nicht immer marktkonform sein kann. Es ist deshalb wichtig, dass kleinere Institutionen, die experimentelle Formen von Musik präsentieren wollen, auch nachhaltig unterstützt werden. Erst aus der Vielfalt von Kunstmusik und Tagesmusik kristallisieren sich bleibende Kulturwerte. III.2. Widerstand als Element der Erneuerung Zwei spezifische Qualitäten improvisierter Musik finden sich darin, dass die Musiker spontan ein Zeitgeschehen umsetzen und dies im Konzert unmittelbar einem Publikum mitteilen können. Deshalb verstehen improvisierende Musiker ihr Tun meist auch als politisches Handeln. Dies äusserte sich anfangs darin, dass bestehende Werte radikal abgeleht wurden. An der Radiodiskussion vom Juni 1998 gingen der Musiker Fredi Lüscher23, der Ökonom und WIMPräsident Jürg Gasser und der Veranstalter und Kulturphilosoph Michel Baeryswil unter anderem der Frage nach, was aus dieser Verweigerungshaltung bis Ende der neunziger Jahre geworden ist. Fredi Lüscher: «In den Anfängen der improvisierten Musik hat man wohlklingende Melodien und Harmonien bewusst vermieden. Dies deshalb, weil man die Instrumente klanglich ausloten und eine persönliche, authentische Sprache — eine eigene Musizierhaltung als Solist oder Band — finden wollte. Die Musiker sahen ihre Tätigkeit auch in Verbindung zur Widerstandskultur, riskierten etwas und fanden so neue Inhalte. Die Früchte von damals können heute in allen Bereichen der Kultur geerntet werden. Beim Publikum stiess unsere Musik damals jedoch eher auf Ablehnung. Wenn ich ehrlich bin, habe ich auch auf diese Art musiziert. Dies hat sich unterdessen stark gewandelt. Ich konnte nicht während fünfzehn Jahren mit dem Gefühl spielen, immer gegen etwas anzutreten. Auf diese Weise entwickelte sich meine Musik mit der Zeit von einer ›Nein-Musik‹ zu einer ›Ja-Musik‹. Für diese Entwicklung war die Werkstatt ein wichtiger Ort.»24 Jürg Gasser: «Die ›Nein-Musik‹, die du erwähnt hast, hat man früher auch ›Kaputtspielen‹ genannt. Durch diese Spielweise konnte es einer Gruppe gelingen, zu einer Identität zu finden. Ich denke, die jetzigen Ausdrucksformen improvisierter Musik, die heute noch von vielen Leuten aus Gewohnheit als ›Nein‹ verstanden werden, sind aus der Intention der Musiker heraus absolut bejahend gemeint.»25 Michel Baeryswil: «Diese Unterscheidung von ›Ja-Musik‹ und ›Nein-Musik‹ ist interessant. Die Formen der Politik haben ihre Ausprägung immer schon auch in der Musik gefunden, nicht erst seit den sechziger Jahren, der Zeit der Widerstandskultur. Ich denke, Musik und Politik haben 21 WIM (1998), 11.1.98. Schweizerisches Ausstellungsprojekt 23 Vgl. Cieletterra, WIM-CD (1998), Track 12. 24 WIM (1998), 6.6.98. 25 WIM (1998), 6.6.98. 22 sich seither auch parallel entwickelt. Wir leben heute in einer Zeit, in der alle ›Ja sagen‹, möglichst schnell dabei sein wollen, schnell Geld verdienen oder berühmt sein wollen. Die Bereitschaft, sich draussen zu halten und im Hintergrund oder in der Opposition zu arbeiten wie in der Widerstandskultur, ist heute nicht mehr so aktuell. Diese Entwicklung hat auch bewirkt, dass mögliche Inhalte der Musik weniger ins Gewicht fallen als deren Unterhaltungscharakter. Die Musik soll nicht politische Inhalte vermitteln, sondern unterhalten. Aber auch das ist natürlich Politik.»26 Während anfangs die traditionellen Werte und die bestehenden musikalischen Normen ungeachtet der Wirkung auf das Publikum gleichsam ›kaputtgespielt‹ wurden, haben sich die Verhältnisse unterdessen geändert. Auch in der WIM ist der Inhalt der Musik nicht mehr so wichtig wie zur Zeit der Widerstandskultur, obwohl allein die Tatsache, dass sich dort die Musiker ohne Konkurrenzdruck austauschen können, kulturpolitisch von Bedeutung ist. Heute wird in der WIM eher eine ästhetische Haltung verfolgt, indem Musik mittels Improvisation neu entdeckt und entwickelt wird. In gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen wird auf die methodischen Kompetenzen, die sich die Musiker dabei aneigneten, bereits zurückgegriffen. Es ist mittlerweilen bekannt, dass eine bis ins Detail ausgearbeitete Planung die Entwicklung eines Produktes eher einengt als fördert. Hier werden Vorgänge erkannt, welche Improvisatoren seit langem für ihre Musik verwenden. III.3 Unterschiedliche Verfahren zu improvisieren In den Interviews sprachen die Musiker auch darüber, in welcher Weise sie improvisierte Musik ›hervorbringen‹. Es zeigte sich, dass die Musiker eine ausgeprägte Haltung zu ihrer Musik einnehmen und sich dabei auf ihre Erfahrung und Individualität stützen. Dabei steht selten Virtuosität im Vordergrund, sondern Ausdruck, Kommunikation und Authentizität. Der Posaunist Hans Anliker, die Bassistin Marianne Anliker, der Gitarrist Christoph Zimmermann und der Schlagzeuger Franz Aeschbacher von der Gruppe ›Lift‹ besuchen zum Beispiel unterschiedliche Konzerte und schaffen sich damit gemeinsame Erinnerungen. Nach ihren Angaben führen diese Erlebnisse und die Diskussion darüber zu einem kollektiven Strukturbewusstsein, das sich auf die Musik der Gruppe auswirkt. Darauf aufbauend ist die Musik des Quartetts durch Präsenz und Absichtslosigkeit im Spiel bestimmt.27 Hans Koch28 äusserte sich, nach seiner Solo-Musik befragt, zur Form improvisierter Musik: «Ich versuche, Alltagsgeräusche oder auch Tierlaute in mein Saxophonspiel zu integrieren. Während des Spiels möchte ich Neues finden können, nicht Eingeübtes wiederholen. Wenn ich solo spiele, baue ich einen gewissen Sound auf und versuche, daraus einen Bogen zu ziehen, der immer spannend bleiben soll. In der Improvisation gibt es einen Punkt, an dem die Musik beliebig wird. Wenn ich diesen Punkt überschreite, ist auch die Spannung weg. Da unterbreche ich lieber den Bogen. Die Kunst besteht dann darin, die Spannung über die damit entstehenden Pausen hinweg zu erhalten. Früher habe ich mir Vorgaben gegeben. Doch wenn man Improvisationsmusik plant, passiert nicht mehr viel, sie wird dann langweilig. Ich selber höre gerne Bands, bei denen die Musik bis zu einem gewissen Grad unsicher bleibt. Es ist nicht leicht, diese Unsicherheit immer aufrechtzuerhalten. Doch darin liegt die Chance, dass wieder etwas beginnen kann.»29 Der Gitarrist Urs Roellin, der Posaunist Jean-Jacques Pedretti und der Schlagzeuger Pascal Portner improvisieren stilistisch in der Jazztradition, indem sie sich an Melodie und Puls orientieren. Auch ihre Besetzung - zwar ohne Bass - erinnert an eine Jazzcombo. Urs Roellin: «Wir arbeiten mit Themen, die gewisse Stimmungen fixieren. Die Musiker können dann in die Stücke rein- und wieder raussurfen. Mit Surfen meine ich nicht solistisches Agieren. Ich meine vielmehr die Art und Weise, wie wir die jeweilige Stimmung aufnehmen und weiterspinnen. Thematisch benutzen wir komponierte Stücke und Fragmente. Diese können 26 WIM (1998), 6.6.98. Vgl. WIM (1998), 17.5.98. 28 Vgl. Hans Koch solo, WIM-CD (1998), Track 11. 29 WIM (1998), 1.2.98. 27 von den Musikern während eines Stücks angezogen werden. Die Musik folgt aber keinem strikten Muster, sie kann in jedem Moment beeinflusst werden.»30 Auch der Saxophonist Jürg Solothurnmann pflegt mit seiner Gruppe Agasul einen freien, jazzbezogenen Stil. Da sich die Musiker in der seit zehn Jahren bestehenden Gruppe gut kennen, erlauben sie sich, mit vollem Risiko zu spielen. Thematisches Material dient bloss noch als gemeinsam bekannter Sammelpunkt oder als Zitat. Die Musiker können darauf einsteigen, sie können das Material aber auch ›verweigern‹. Daraus resultiert eine Kommunikationsform, die, wie der Bassist Thomas Hirt ironisch anmerkt, «...den vorläufigen Stand des momentanen Irrtums [innerhalb der Band] angibt...».31 Der Sound der frei improvisierten Musik könnte selber auch stilistisches Material sein, das man — wie der Gitarrist Stephan Wittwer32 bemerkt — ›zitieren‹ kann: «Ich könnte auch sagen, ich hätte während des Konzerts sieben Mal Derek Bailey zitiert...(lacht)...das wäre wie ein Witz. Niemand würde sagen, das waren sieben Zitate, weil man aus gewissen Konventionen heraus annimmt, dass eben frei improvisierte Musik so klingt. Wenn Du aber plötzlich Dreiklänge brauchst – was ja auch nichts Neues ist – fällt das aus dem Rahmen, weil sie vordergründig nicht im ›Stil‹ der freien Improvisation vorkommen. Die Dreiklänge selber werden deshalb als Zitate wahrgenommen, die freie Improvisation nicht.»33 Viele Musiker verwenden heute für ihre Improvisationen elektronische Mittel. Dabei wird auf unterschiedliche Weise gearbeitet. Die akustisch oder elektronisch erzeugten Klänge werden, am Instrument selber oder am virtuellen Mischpult analog oder digital manipuliert. Bei analogen Geräten ergeben sich dabei attraktive Unreinheitseffekte wie Rauschen oder Feed Backs, die digital nur schwerlich zu erreichen sind. Digitale Technologie ermöglicht es, durch virtuelle Mischpulte und Effektgeräte akustische Klangquellen zu verändern und die Resultate real time in ein musikalisches Geschehen ›zurückzufüttern‹. Dabei kann nicht nur auf ein einzelnes Instrument, sondern auf den Sound einer ganzen Gruppe zugegriffen werden. Diese Vorgänge erzeugen flächenartige, minimalistische Strukturen, die improvisierenden Musikern offenbar ein ruhigeres Zeitgefühl für ihre Interaktionen gibt. Die Musik verläuft weniger hektisch, da sich der musikalische Raum durch die elektronischen Klangerzeuger zu weiten scheint. Wie Tom Nunn in seinem Buch ›Wisdom of the Impuls‹ beobachtet, erweitern elektronische Mittel nicht nur das Klangspektrum der Musiker, sondern werden auch als scheinbar eigenständige Systeme in die Interaktion der improvisierenden Musiker integriert.34 Jochen Bohnes35 beschreibt seine Erfahrung mit dieser Art Musik nicht von ungefähr in folgender Weise: «Musik machen heisst, in Klänge einzutauchen, den Fluss der Gedanken, den Logos abzustellen und Einflüssen auf einem emotionalen Level zu folgen. Wenn das Hirn sich in diesem Zustand befindet, taucht man in den Moment der Musik ein, und die Zeit wird aufgehoben. Jetzt spielt Ästhetik keine Rolle mehr; Erfahrungen werden sozusagen durch eine Art ›gruppendynamisches Surfen‹ auf einem ›Ozean der Lust‹ gemacht.»36 Günter Müller37 verbindet in seinem Schlagzeug-Set akustische und elektronische Elemente: «Die Bestandteile meines Instrumentariums verändern sich dauernd, so wie ich mich selber auch verändere. Ich arbeite nicht mit Presets, die ich per Knopfdruck abrufen könnte. Ich benutze mein Schlagzeug, um akustische Signale zu erzeugen, die ich dann im Konzert direkt elektronisch verändern kann. Die Geräte füttere ich dabei immer wieder von neuem. Doch lasse ich Patterns selten über längere Zeit stehen. So bleibt die Musik dauernd im Fluss. Ich denke, ich kann die Geräte mit ihren Schaltern und Reglern etwa zu neunzig Prozent kontrollieren. Was die Geräte mit den verbleibenden zehn Prozent tun, kann ich nicht abschätzen. Dies macht die Improvisation spannend. Mit diesem Instrumentarium zu improvisieren ist eine 30 WIM (1998), 7.6.98. Vgl. WIM (1998), 11.1.98. 32 Vgl. Polyphonie Zürich, WIM-CD (1998), Track 16. 33 WIM (1998), 6.5.98. 34 Vgl. Nunn (1998), S. 144. 35 Vgl. Dick/Zimmerlin/Bohnes/Müller, WIM-CD (1998), Track 19. 36 Vgl. WIM (1998), 12.1.98. 37 Vgl. Müller/Seigner, WIM-CD (1998), Track 8; vgl. Dick/Zimmerlin/Bohnes/Müller, WIM-CD (1998), Track 19. 31 konzentrierte Form, vielleicht gar ein Modell von Leben, indem ich auf mich selbst, auf die Mitspieler und das Publikum spontan reagiere, so wie das im Alltag ja auch stattfindet.»38 Andere Improvisationsmusiker wiederum orientieren sich an einer klassischen Klangästhetik. Der Cellist Bernhard Göttert und der Flötist Andreas Stahel39 verwenden tonale Motive und eine klassische Anordnung von Melodie- und Begleitmustern. Sie beziehen dabei Brüche, Harmoniegerüste, Tonleiten und Rhythmen, aber auch Einflüsse aus ethnischer Musik in ihre Improvisationen mit ein. Die Musik folgt in ihren Worten voraussehbaren ›Leitzeichen‹.40 Die Flötistin Susann Wehrli41 erzählt, wie in der Gruppe mögliche Konzepte besprochen werden. Zum Beispiel werden Rollen definiert, welche die Musiker während des Konzerts einnehmen können. Gleichzeitig beachten die Musiker musikalische Gegebenheiten wie das Verhältnis von Solist und Ensemble, die Wahl der Register, mögliche Einwürfe, sowie Zäsuren und Schlussbildungen. Die Musiker erzeugen zusätzlich einen räumlichen Effekt, indem sie sich mit den Instrumenten im Raum bewegen.42 Helen Geissberger und Agathe Kaehr43 berichten im Gespräch von Eigenschaften improvisierter Musik, die sie nach wie vor von der komponierten Musik abheben. Helen Geissberger: «Christian Wolff ging in seinen Kompositionen so weit, dass die Musiker den Notentext unterschiedlich lesen, ihn sogar abändern durften. Dies entstand aber bestimmt unter dem Eindruck des Klangs und der Vorgehensweise von improvisierter Musik.»44 Agathe Kaehr: «Der Gebrauch der Instrumente folgt in der komponierten Musik anderen Gesetzen als in der Improvisationsmusik. In der Improvisation bleibt es den Musikern überlassen, wie sie sich entscheiden, mit Zeit und Raum umzugehen. Wenn die Musiker innerhalb eines komponierten Stücks ein Fenster erhalten, in dem sie improvisieren dürfen, bleiben sie trotzdem vom komponierten Kontext abhängig. Sie werden nicht im gleichen Masse ihre eigenen Entscheidungen treffen können. Neben der kontinuierlichen Erneuerung und Individualisierung des Instrumentenklangs ist diese Entscheidungsmacht für die Improvisationsmusik typisch geblieben.»45 Die Arbeitsweise innerhalb improvisierter Musik lässt sich natürlich schwerlich auf einen Nenner bringen. Trotzdem können die Aussagen durchaus ein Gesamtbild ergeben. Während bei Musikern, die eher dem Jazz verbunden sind, Einwurftshemen und Grooves wichtig sind, stehen bei Musikern klassischer Herkunft eher Überlegungen zu Spielrollen und zum Verhältnis der Instrumentenregister im Vordergrund. Elektronisch besetzte Gruppen erweitern das Verfahren dadurch, dass in ihrer Musik die Interaktion der Musiker durch die Präsenz der elektronisch erzeugten Effekte deutlich verlangsamt ist. Als Gemeinsamkeit bleibt das Interesse daran, untereinander ein Zusammenspiel aufzubauen, das spannend und immer bis zu einem gewissen Grad unvorhersehbar bleibt. Dies ist wahrscheinlich die Grundmotivation, überhaupt zusammen zu improvisieren. IV. Vielfalt an Ausdrucksformen Man könnte Improvisation als Fluss von Gedanken beschreiben, der einerseits durch die Kommunikation der Musiker bedingt ist, andererseits durch die stilistische Rückbindung und musikalische Herkunft derselben gespeist wird. Improvisierte Musik hört sich vielfach gesprächsartig an, getragen durch den stilistisch geprägten Spielwitz der Musiker. Jacques Siron46 sagte im Interview, das Material improvisierter Musik liege in den Erfahrungen, welche die Musiker mitbringen. Die Form sei dann wie ein ausgedehntes Gespräch, dessen Spannung 38 WIM (1998), 7.6.98. Vgl. Nyanda, WIM-CD (1998), Track 2. 40 Vgl. WIM (1998), 17.5.98. 41 Vgl. 4 Venti Quattro, WIM-CD (1998), Track 9. 42 Vgl. WIM (1998), 11.7.98. 43 Vgl. Geissberger/Kaehr/Rüdisühli/Wandeler-Deck, WIM-CD (1998), Track 17. 44 WIM (1998), 6.6.98. 45 WIM (1998), 6.6.98. 46 Vgl. Afro Garage, WIM-CD (1998), Track 7. 39 sich auf die Zuhörer übertragen könne.47 Die musikalischen Eigenheiten der Musiker wären dann die Motoren eines Geschehens, das in der Erwartung des nächsten Moments lebt. Anders ausgedrückt, wie dies Paul Lovens48 mehrfach beschrieben hat, befinden sich die improvisierenden Musiker dauernd in der Situation des ›freien Falls‹. Improvisationsmusik findet in der sogenannt modernen News-Gesellschaft zu Unrecht nur selten Gehör. Vielleicht liegt es daran, dass improvisierte Musik nicht wirklich begreifbar wird, wenn man sie nur in kurzen Ausschnitten anhört. Sie erzeugt ihre Wirkung erst durch die ihr eigenen Spielbögen. Es ist eine Besonderheit der WIM-Radio Days, dass sich für einmal jene Musiker äusserten, für die Musik mehr existentielle Notwendigkeit bedeutet statt Vehikel, gesellschaftlichen Rang zu erreichen. Die Methoden der Improvisation im aussermusikalischen Bereich sind für Wirtschaft und Gesellschaft aber auch im indviduellen Bereich längst unabdingbar geworden. Es hat sich deshalb theoretisch auch der Stellenwert der improvisierten Musik gewandelt. Nachdem sich improvisierende Musiker lange verweigert haben, finden sie sich heute in einer avantgardistisch-experimentellen Situation wieder, die zu ihren ursprünglich politischen Intentionen nicht unbedingt passt – der improvisierten Musik ist der Widerstandskult abhanden gekommen. Damit ist sie aber auch wieder zu dem geworden, was Musik seit jeher auszeichnete; improvisierte Musik ist wertfrei geworden, auf dem Weg der Ablehnung jedoch um manche Ausdrucksform reicher. 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