1 YVONNE NIEKRENZ ZUSAMMENFASSUNG DER DISSERTATION ZUR ERLANGUNG DES AKADEMISCHEN GRADES DR. RER. POL. DER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTLICHEN FAKULTÄT DER UNIVERSITÄT ROSTOCK, EINGEREICHT AM 05. MAI 2010 „RAUSCHHAFTE VERGEMEINSCHAFTUNGEN IN DER GEGENWART. EINE ETHNOGRAFISCH-EXPLORATIVE STUDIE ZUM RHEINISCHEN STRAßENKARNEVAL“ Im Spannungsfeld von Singularisierung und Gemeinschaft, Beständigkeit und Verflüchtigung, Freiheit und Zwang, Verführung und repressiver Moral zu leben, ist eine zentrale Herausforderung für das Individuum in westlichen Gegenwartsgesellschaften. Es ist mit Formen von Vergemeinschaftung konfrontiert, die momenthaft, flüchtig und unverbindlich sind, vorübergehend Geselligkeit bieten, jedoch nicht über einen längeren Zeitraum hinweg stabilisiert werden können. Die vorliegende Arbeit zeigt am Beispiel des rheinischen Straßenkarnevals, welche Bedeutung episodische, rauschhafte Vergemeinschaftungsformen für die soziale Integration von Individuen und für das gesellschaftliche Gefüge haben. Rauschhafte Vergemeinschaftungen werden als Sozialbeziehungen in einer alternativen Wirklichkeit verstanden, die dadurch entstehen, dass Individuen sich kontingent dafür entscheiden, sich freiwillig mit anderen zusammengehörig zu fühlen, gemeinsam Alltagsregeln zu suspendieren und außeralltägliche Raum-, Zeit- und Körperwahrnehmungen zu erfahren. Im rheinischen Straßenkarneval als jährlich wiederkehrendem Volksfest konstituiert sich diese flüchtige, rauschhafte Vergemeinschaftung an kalendarisch festgelegten Tagen. Straßenkarneval ist die räumlich und zeitlich begrenzte Verkehrung alltäglicher Ordnung mit ritualisierter, kollektiver Exzessorientierung. Die vorliegende Studie betrachtet zunächst aus kultursoziologischer Perspektive rauschhafte Vergemeinschaftungen als eine Beziehungsform der Gegenwart und erarbeitet theoretische Zugänge zu diesem Phänomen. Eine ethnografisch-explorative Untersuchung im Feld schließt sich an und fundiert die Überlegungen empirisch durch die Triangulation von Daten aus teilnehmenden Beobachtungen im niederrheinischen Karneval, aus narrativen Interviews sowie Dokumentenanalysen. Folgende Fragen werden untersucht: Was sind rauschhafte Vergemeinschaftungen? Wie entstehen rauschhafte Vergemeinschaftungen? Wie werden sie kollektiv konstituiert und rituell, symbolisch und medial gestützt? Welche gesamtgesellschaftliche Funktion erfüllen rauschhafte Vergemeinschaftungen? Wie wird Straßenkarneval sozial konstruiert und welche Regelmäßigkeiten und Randbedingungen befördern rauschhafte Vergemeinschaftungen im Narrenfest? 2 Zwei Vermutungen Zwei zentrale Vermutungen leiten die Studie an und deuten auf das Ziel der Arbeit hin, nämlich rauschhafte Vergemeinschaftungen als eine Reaktion, möglicherweise sogar als eine Bewältigungsstrategie der vielfältigen Anforderungen und Transformationsprozessen unterworfenen Individuen zu betrachten. Die erste Vermutung fokussiert auf die gesellschaftliche Ebene: Rauschhafte Vergemeinschaftungen bilden einen Kitt für das soziale Gefüge. Diese flüchtigen Gesellungsformen sind eine Grundlage und Grundfigur des sozialen Zusammenlebens in der Gegenwart. Diese Annahme wird unter Rückgriff auf Victor Turners Unterscheidung zweier Hauptmodelle menschlicher Sozialbeziehungen fundiert (2005). Turner stellt der Gesellschaft als strukturiertem, differenziertem und oftmals hierarchisch gegliedertem System von Positionen das Modell der Communitas gegenüber, das als „unstrukturierte oder rudimentär strukturierte und relativ undifferenzierte Gemeinschaft“ (Turner 2005 [engl. 1969]: 96) beschreibbar ist. Ohne die Anti-Struktur der Communitas gäbe es demnach keine Struktur der Gesellschaft, weil durch die vor allem in rituell aufgeladenen Situationen vorkommenden „Gemeinschaften Gleicher“ (ebd.) die herrschenden gesellschaftlichen Strukturen bestätigt und wieder eingegangen werden können. Turner beruft sich vor allem auf die Analyse von Stammesritualen – insbesondere Übergangsriten – in traditionellen, vorindustriellen Gesellschaften. Dennoch „wird klar, daß die kollektiven Dimensionen – Communitas und Struktur – auf allen Stufen und Ebenen der Kultur und der Gesellschaft vorhanden sind“ (ebd.: 111). In seinem somit auch auf posttraditionale Gesellschaftsformen übertragbaren Modell sind rauschhafte Vergemeinschaftungen als eine Form der Communitas, genauer noch: als spontane Communitas, anzusehen. Die zweite Vermutung fokussiert auf die individuelle Ebene: Rauschhafte Vergemeinschaftungen stellen in zweifacher Hinsicht Bewältigungsstrategien dar: Zum einen sind sie als Möglichkeit zur Teilhabe an Gemeinschaft mit alternativen Regelmäßigkeiten eine Reaktion des Individuums auf die vielfältigen Anforderungen und Transformationsprozesse in der Gegenwart. Zum anderen bieten sie eine Möglichkeit zum Umgang mit der existenziellen Tragik – also der Endlichkeit – des menschlichen Lebens. In erster Linie ist es die Soziologie Michel Maffesolis, aus der sich diese Annahme ableitet. Der Franzose arbeitet an einer Soziologie postmoderner gesellschaftlicher Konfigurationen, die durch die Formation von flüchtigen Vergemeinschaftungsprozessen mit vergänglichen Gefühls- und Erlebensbeziehungen bestimmt sind. Auf ihn geht das Konzept des Neo-Tribalismus zurück (Maffesoli 1996 [frz. 1988]), auf das auch Scott Lash und Zygmunt Bauman (z.B. Bauman 1995: 211ff.) rekurrieren. In diesem Modell werden postmoderne Gesellschaften als fließendes Hin und Her zwischen „Massen“ und Netzwerken von „Stämmen“ gedacht. In den neuen Stämmen gibt es neben dem gemeinsamen Handeln keine Ziele. Im Vordergrund stehen vielmehr gemeinsame Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle ohne Verpflichtungen. Das Individuum kann als Nomade zwischen den StammesWelten hin und her wandern, wobei die Stämme als wiederkehrende Sozialbeziehungen das Weiterbestehen des sozialen Lebens sichern. Maffesoli macht in seiner Gegenwartsanalyse 3 einen neuen Hedonismus aus, den er mit der mythologischen Figur des Dionysos bebildert. In seiner Soziologie des Orgiasmus beschäftigt er sich mit der unproduktiven Verausgabung des Alltagslebens und mit der Orgie als Trägerin postmoderner Sozialität. Die Orgie ist der Ort des Rausches, der Ekstasen und Transzendenzen der Individuen und ein Mechanismus des kollektiven Berauschens. Michel Maffesoli findet in Alltagspraktiken Indizien für eine „Wiederverzauberung der Welt“ („Le Réenchantement du Monde“ 2007), die sich aus den Energien von Geselligkeitsformen speist, die als Formen unproduktiver Verausgabung den Herzschlag des Sozialen ausmachen. Er bezeichnet den Orgiasmus als den Träger des Gemeinschaftslebens (vgl. Maffesoli 1986: 106), und zugleich sieht er in ihm die Möglichkeit der Bewältigung der existenziellen Tragik des Lebens. Das orgiastische Lebensgefühl ziele darauf, den Tod zu besänftigen, was bedeutet, ihn anzuerkennen und dennoch den Lebenswillen exzessiv zu demonstrieren (vgl. Maffesoli 1986: 89ff.) Dieser Vitalismus, die verschwenderische und unproduktive Verausgabung ergibt sich aus dem Bewusstsein der Endlichkeit, der Prekarität des Lebens. Das Eingehen rauschhafter Vergemeinschaftung – so die oben genannte Vermutung der Arbeit – ist eine Möglichkeit, auf das Wissen um die eigene Vergänglichkeit mit kurzzeitiger, verschwenderischer Vitalität zu reagieren. Herangehensweise der Arbeit und Ergebnisse der theoretischen Herleitung Vergemeinschaftungen sind auf physische Ko-Präsenz angewiesen. Raum, Zeit und Körper sind daher die systematisierenden Dimensionen, auf die in der Analyse konsequent zurückgegriffen wird. Sowohl im theoretischen als auch im empirischen Teil ziehen sich diese drei Kategorien durch die Arbeit. Der Raum kontextualisiert aus soziologischer Perspektive die Interaktion zwischen Individuen als gemeinsamen Bezugs- und Orientierungshintergrund. Die materiell-räumliche Umwelt determiniert zudem über Lagerelationen die Dynamiken und Strukturen von Kommunikation. Durch seine Vorzeitigkeit ist der Raum für das Individuum immer schon mit der zeitlichen Dimension verknüpft. Die Orientierung an der Zeit ist eine zentrale Handlungsbedingung – sie ermöglicht, strukturiert und normiert. Der Körper als dritte Dimension ist stets gestaltbares und gestaltendes Medium in sozialen Interaktionen und ein entscheidendes Medium von Subjektwerdung und Distinktion. Raum, Zeit und Körper strukturieren Vergemeinschaftungen maßgeblich vor. Um ‚Vergemeinschaftung’ als Begriff näher zu bestimmen, werden die Termini Gemeinschaft, Vergemeinschaftung sowie Vergesellschaftung und deren Verwendung durch Ferdinand Tönnies (1887), Georg Simmel (1908), Émile Durkheim (1912) sowie Max Weber (1922) aufgearbeitet und auf ihre Eignung für die Fragestellung der Arbeit überprüft. Die klassischen Entwürfe ergänzen aktuelle Diagnosen v.a. von Zygmunt Bauman (1995), Michel Maffesoli (1996) und Ronald Hitzler (1998). Der Rausch als wesentliches Element rauschhafter Vergemeinschaftung wird aus psychologischer, kultursoziologischer, medizinischer, psychiatrischer und psychoanalytischer Perspektive betrachtet und schließlich als alternative Wirklichkeitskonstruktion begriffen, die wesentlich die drei Dimensionen sozialer Orientierung – Raum, Zeit und Körper – betrifft. Die Erarbeitung der Strukturelemente von 4 Vergemeinschaftung und der Charakteristika des Rauschhaften münden in eine Definition von ‚rauschhafter Vergemeinschaftung’: Rauschhafte Vergemeinschaftungen sind ritualisierte und auf Freiwilligkeit beruhende Gesellungsformen, die (1) körperliche Kopräsenz mit (thematisch) fokussierten Interaktionen, (2) ein Zusammengehörigkeitsgefühl bei den Gruppenmitgliedern im Sinne einer durch das Individuum bestimmten emotionalen Zugehörigkeit, (3) eine deutliche Veränderung des sozialen Handelns in Bezug auf Emotionskontrolle und Konventionen sowie (4) eine kurzzeitig veränderte Wahrnehmung hinsichtlich RaumZeit-Bezügen und/oder Körpererfahrungen voraussetzen. Als ritualisierte und auf Freiwilligkeit beruhende Gesellungsform der Gegenwart lässt sich die ‚rauschhafte Vergemeinschaftung’ durch die Betrachtung der Kategorien Raum, Zeit und Körper systematisch beschreiben, ist sie doch auf einen außeralltäglichen Umgang mit Raum, Zeit und Körper angewiesen. Der Raum wird außeralltäglich gestaltet und vorübergehend zu einem Bestandteil einer anderen Wirklichkeit, die auch durch eine veränderte Wahrnehmung konstituiert ist. Er verliert seine Bedeutung als verlässlicher Orientierungsrahmen und ist – bedingt durch die Menge an kopräsenten Akteuren – durch Enge gekennzeichnet. Dem Alltagsrhythmus enthoben, wird die Zeit linear und nicht mehr zyklisch wahrgenommen, das heißt, eine Erinnerung an den Ablauf der Lebenszeit, ein memento mori wird wachgerufen. Die Gegenwart des Moments, das Sein im Hier und Jetzt werden spürbar. Die Aufführung von Ritualen ist an der Gleichzeitigkeit orientiert, durch die eine massenhafte Erfahrung von Selbstwirksamkeit möglich ist, die sich ins Rauschhafte steigern kann. Als wesentlicher Kommunikator fungiert in der rauschhaften Vergemeinschaftung der Körper. Er wirkt gestaltend und wird gestaltet, trägt die Kennzeichen des Außeralltäglichen und des gemeinsamen thematischen Fokus. Außeralltägliche Körperpraktiken sowie eine eingeschränkte Körperkontrolle sind charakteristisch für die rauschhaften Situationen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wird durch gemeinsam aufgeführte, ordnende Rituale, Musik und Gesang, ansteckende, überschwängliche Gefühle und geteilte Symbole erzeugt. Rauschhafte Vergemeinschaftungen sind durchaus ambivalent zu sehen – sie tragen ein Potenzial von Kräften in sich, die missbräuchlich erzeugt und benutzt werden können. Ethnografisch-explorative Studie und empirische Ergebnisse Unter Rückgriff auf die theoretischen Überlegungen führte ich in den Jahren 2007 und 2008 eine theoriegeleitete Ethnografie im niederrheinischen Straßenkarneval durch. Mein Interesse am Karneval ergibt sich u.a. aus der Frage, wie ein historisches Fest mit heidnischchristlichen Wurzeln, wechselvoller Geschichte und organisierenden Traditionsvereinen, die für Stabilität in der Durchführung sorgen, einen Rahmen für flüchtige, rauschhafte Vergemeinschaftungen zur Verfügung stellen kann. In der ethnografisch-explorativen Studie werden drei Datensorten erhoben: zehn Protokolle aus teilnehmender Beobachtung, 18 Interviewtranskripte und zahlreiche Dokumente unterschiedlicher Form (Sessionshefte, Lokalzeitungen, Liedtexte, Archivmaterial). Während Protokolle und Transkripte mittels rekonstruktiver Hermeneutik und ethnografischer Semantikanalyse ausgewertet werden, ist die Bearbeitung der Dokumente aufgrund ihres Umfangs nur in einer kursorischen Inhalts- 5 analyse möglich. In der Analyse des Materials liegt der Schwerpunkt auf dem nicht-organisierten Karneval, der auf den Straßen, in den Kneipen und jenseits institutionell verplanter Ordnung stattfindet. Die Darstellung der Ergebnisse der Datenanalyse erfolgt entlang der drei leitenden Kategorien Raum (vor allem die Innenstadt Kölns), Zeit (vor allem die Tage zwischen Weiberfastnacht und Aschermittwoch) und Körper (der feiernden Narren als Medien). Hinsichtlich des Rauschhaften und des Gesellungsgebildes Vergemeinschaftung lässt sich für die soziale Welt Straßenkarneval zusammenfassend Folgendes feststellen: Das Rauschhafte hat seinen festen Ort – es ist lokalisierbar im öffentlichen Raum, auf öffentlichen Plätzen, in Kneipen und Festzelten. Diese Orte werden in der Zeit des Straßenkarnevals verändert (wahrgenommen) und (verändert) angeeignet. Die alternative Raumgestaltung und ordnung hat von vornherein den Status des Vorübergehenden, denn das Rauschhafte hat einen klar abgegrenzten zeitlichen Rahmen, der den kollektiven Rausch (am hellen Tag, mitten in der Woche) gestattet, ja zum Teil sogar fordert. Alkohol gehört ganz selbstverständlich in die Karnevalszeit und zur Ausrüstung des Straßenjecken. Der Konsum berauschender Substanzen ist Bestandteil gemeinschaftlicher Rituale. Rausch wird aber auch durch psychologische Techniken evoziert, z.B. durch die schrillen und bunten Kostüme sowie durch den Rollenwechsel, die veränderte Selbst- und Körperwahrnehmung, außeralltägliche Bewegungspraktiken, die zum Teil betont sexualisierten Handlungen und die Befreiung von Alltagsnormen. Die Erinnerung an die Endlichkeit des eigenen Lebens ist stark in den Karneval eingebunden und fördert gerade deshalb Hedonismus, Rauschhaftigkeit und Exzessivität, die räumlich, zeitlich und rituell gerahmt sind. Vergemeinschaftung und das dafür nötige Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Mitgliedern wird in den Karnevalsregionen gesteigert durch einen Verhaltensmodus der „gegenseitige[n] Offenheit“ (Goffman 1971: 128). Die Identifikation mit dem thematischen Fokus Karneval wird vor allem durch das Kostüm zum Ausdruck gebracht. Das Kostüm ist als wesentliches Element des Karnevalesken zu verstehen. Es markiert Zugehörigkeit, stabilisiert ein distinktives Wir-Bewusstsein, erleichtert u.a. durch Statusnivellierung die Kontaktaufnahme zu unbekannten Anderen und entlastet vom Scham- und Verantwortungsgefühl, weil das „Ich“ vorübergehend ein „anderes“ ist. Für die sozialen Interaktionen innerhalb der Vergemeinschaftung spielen Rituale eine zentrale Rolle. Die durch die Vereine und ein institutionell gepflegtes Brauchtum stabilisierten Traditionen lassen alljährlich Rituale zur Aufführung kommen, die durch ihre Körperbetonung, Gleichförmigkeit und ihren kollektiven Charakter Vergemeinschaftungen verstärken. Rituale konstituieren und verstärken WirGefühle und eine Gruppenidentität durch ihre Wiederholbarkeit und stellen zugleich einen ordnenden Rahmen dar, der Euphorie erzeugt und zugleich die Kraft des Chaos auffängt. Die Rituale evozieren gemeinschaftliche Handlungen der Akteure und stärken damit die Gruppe nach innen und außen. Nach innen stärken sie über das Wiedererleben gemeinsamer vergangener Momente und die Ausrichtung auf die Gemeinschaft, das Wir-Gefühl und die Gruppenidentität. Nach außen schaffen sie über die Autorität der Traditionen Differenz und Anerkennung dieser Differenz. Im Straßenkarneval zeigt sich, dass dieses Gesellungsgebilde 6 auch eine ambivalente Seite besitzt. Dafür steht zunächst das Streben nach einer Vielfalt in der Einheit, also die Distinktionsbemühungen einzelner Gruppen untereinander und die kreativen, die Individualität unterstreichenden Kostüme, die scheinbar einer Einheit und Vergemeinschaftung von Feiernden zuwiderlaufen. Dafür stehen aber auch das jeweils individuelle Streben nach Lustgewinn, die Freude an der Inszenierung des eigenen, alternativen Selbst und die für die (Selbst-)Stilisierung notwendige Suche nach (zumindest oberflächlicher) Aufmerksamkeit von Anderen. Zusammenfassung und Ausblick In Bezug auf die beiden Vermutungen kommt die Studie schließlich zu dem Ergebnis, dass rauschhafte Vergemeinschaftungen als eine Grundlage und Grundfigur des sozialen Zusammenlebens in posttraditionaler Zeit einen Kitt für das soziale Gefüge darstellen. Sie können auf Individualebene als Bewältigungsstrategie gesehen werden. Die episodenhafte Mitgliedschaft ist eine Reaktion des Individuums auf die Transformationsprozesse in der Gegenwart und auf die dauerhafte Konfrontation mit Ambivalenz. Dazu zählt auch die Möglichkeit, in rauschhaften Vergemeinschaftungen im Straßenkarneval einen Umgang mit der Tragik der Endlichkeit allen Seins zu finden. Im Verlauf der Studie erweisen sich einige Themenfelder zwar als relevant für das Beziehungsgebilde rauschhafter Vergemeinschaftungen im Straßenkarneval, können jedoch nicht weiter verfolgt werden. Eine Bearbeitung der Themen Geschlechterdifferenzen und Geschlechterordnungen im Karneval, Mediatisierung des Karnevals sowie Karneval als transnationales Ereignis könnte an anderer Stelle einen lohnenswerten Anschluss an diese Arbeit darstellen. Literatur: Bauman, Zygmunt (1995): Postmoderne Ethik. Hamburg: Hamburger Edition. Durkheim, Émile (1994 [1968]): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main: Suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Goffman, Erving (1971): Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum. Gütersloh: Bertelsmann Fachverlag. Hitzler, Ronald (1998): Posttraditionale Vergemeinschaftung. Über neue Formen der Sozialbindung. in: Berliner Debatte INITIAL. 9. Jahrgang. 1/1998. 81-89. Maffesoli, Michel (1986): Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus. Frankfurt am Main: Syndikat. Maffesoli, Michel (1996 [frz. 1988]): The Time of the Tribes. The Decline of Individualism in Mass Society. London: Sage. Maffesoli, Michel (2007): Le réenchantement du monde. Une éthique pour notre temps. Paris: Edition de La Table Ronde. Simmel, Georg (1968 [1908]): Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin: Duncker & Humblot Verlag. Tönnies, Ferdinand (1991 [1887]): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Neudruck der 8. Aufl. von 1935, 3., unveränderte Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Turner, Victor (2005 [engl. 1969]): Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt/New York: Campus Verlag. Weber, Max (1980 [1922]): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr.