Andreas Reckwitz Kreativität und soziale Praxis Sozialtheorie Andreas Reckwitz (Prof. Dr.), geb. 1970, ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher zur Sozialtheorie und zur Kulturtheorie der Moderne. Bei transcript ist u.a. der Einführungsband »Subjekt« in der Reihe »Einsichten. Themen der Soziologie« (2008) erschienen. Andreas Reckwitz Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Victoria Scholz, Herford Satz: Francisco Braganca, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3345-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3345-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Inhalt Vorwort Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie jenseits des Rationalismus | 7 1.A uf dem W eg zu einer T heorie sozialer P rak tiken Die »neue Kultursoziologie« und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse | 23 Praktiken und Diskurse Zur Logik von Praxis-/Diskursformationen | 49 Doing subjects Die praxeologische Analyse von Subjektivierungsformen | 67 Kultur und Materialität | 83 Praktiken und ihre Affekte Zur Affektivität des Sozialen | 97 Zukunftspraktiken Die Zeitlichkeit des Sozialen und die Krise der modernen Rationalisierung der Zukunft | 115 2.A uf dem W eg zu einer T heorie des K reativitätsdispositivs Die Moderne jenseits der Modernisierungstheorien | 139 Die Selbstkulturalisierung der Stadt Zur Transformation moderner Urbanität in der »creative city« | 155 Der Kreative als Sozialfigur der Spätmoderne | 185 Vom Künstlermythos zur Normalisierung kreativer Prozesse Der Beitrag des Kunstfeldes zur Genese des Kreativitätsdispositivs | 195 Ästhetik und Gesellschaft Ein analytischer Bezugsrahmen | 215 Jenseits der Innovationsgesellschaft Das Kreativitätsdispositiv und die Transformation der sozialen Regime des Neuen | 249 Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen Vom disziplinären Blick zu den kompetitiven Singularitäten | 271 Literatur | 285 Nachweise | 309 Vorwort Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie jenseits des Rationalismus Die Aufsätze, die dieser Band versammelt, sind zwei Fragestellungen gewidmet, die mich in den letzten Jahren schwerpunktmäßig beschäftigt haben: Die eine Frage lautet, welche Form die spätmoderne Gesellschaft dadurch annimmt, dass sie sich mehr und mehr von einem kreativen Imperativ prägen lässt und in ihrem institutionellen Zentrum das ausbildet, was ich als Kreativitätsdispositiv bezeichne. Die andere Frage lautet, welches analytische Instrumentarium eine Theorie sozialer Praktiken bieten kann, um eine erneuerte, interessantere Perspektive auf das Soziale zu eröffnen. Die Texte des Bandes behandeln also auf der einen Seite eine gesellschaftstheoretische, auf der anderen eine sozialtheoretische Problemstellung. Diese lassen sich nicht aufeinander zurückführen, sind aber miteinander verschränkt.1 S ozialtheorie und G esellschaf tstheorie Was macht den Unterschied zwischen Sozial- und Gesellschaftstheorie aus? Für die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin, die am Ende des 19. Jahrhunderts mit Autoren wie Marx, Weber, Durkheim und Simmel ihre bis zur Gegenwart einflussreichen Fragestellungen festlegt, ist von Anfang an die Parallelität und Verknüpfung von Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie grundlegend, zwei Bemühungen, die gleichwohl voneinander unterschieden werden können. Die Soziologie bildet sich gewissermaßen vor dem Hintergrund eines doppelten Fragehorizontes aus. Zum einen muss und will sie ganz grundsätz1 | Ich danke Wiebke Forbrig und Moritz Plewa von meinem Lehrstuhl für die Hilfe bei der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge des Bandes. Michael Volkmer vom transcript Verlag danke ich für die Initiative zu diesem Band. Im Verhältnis zu den Erstveröffentlichungen habe ich die Texte gelegentlich leicht modifiziert. 8 Kreativität und soziale Praxis lich klären, was das Soziale ausmacht, jener »socius« der Verknüpfung und Vernetzung von Elementen, die über die menschlichen Individuen hinausreicht und diese zugleich umfasst. Eine solche sozialtheoretische Problemstellung erhebt einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit: Es geht ihr um ein Grundvokabular zur Beschreibung des Sozialen, das im Prinzip für Sozialitäten aller Zeiten und Räume anwendbar ist. Durkheims Regeln der soziologischen Methode, Webers Soziologische Grundbegriffe oder Simmels Soziologie sind klassische Beispiele für diesen sozialtheoretischen Fragehorizont. In ihrer Reflexion des Sozialen ist die Sozialtheorie eng mit der Philosophie verwoben und nimmt in neuer Weise alte philosophische Problemstellungen auf – wie die nach der Form des menschlichen Handelns und der Sprache, nach Subjekten und Objekten, nach Normen, Moralität und Traditionen. Zugleich transzendiert sie den »alteuropäischen« Horizont der Philosophie, indem sie resolut Begrifflichkeiten neu erfindet, um überindividuelle Prozesse und Strukturen beschreibbar zu machen. Die gesellschaftstheoretische Problemstellung ist anders ausgerichtet, sie ist für das soziologische Denken von Anfang an jedoch ebenso fundamental. Gesellschaft kann zunächst als das strukturierte Insgesamt miteinander vernetzter Sozialitäten verstanden werden. Die gesellschaftstheoretische Frage lautet entsprechend, welche Form bzw. welche Formen menschliche Gesellschaften bisher angenommen haben, vor allem jedoch, welche besondere Form die Gesellschaft der Moderne hervorbringt und inwiefern sich diese von historisch älteren, traditionalen und archaischen Gesellschaften unterscheidet. Soziologische Gesellschaftstheorie ist damit immer auch Theorie der Moderne. Es ist eine Grundirritation der Soziologie, dass die moderne Gesellschaft, die sich bereits das gesamte 19. Jahrhundert hindurch in Prozessen der Industrialisierung und Kapitalisierung, der Urbanisierung und Demokratisierung herauskristallisiert, neuartige Strukturprinzipien aus sich hervortreibt, die über jene Strukturprinzipien der archaischen und traditionalen, vorindustriell-agrarisch und religiös geprägten Gemeinschaften hinausgehen, wie sie die Menschheitsgeschichte seit dem Beginn des Homo sapiens über einhunderttausend Jahre geprägt haben. Durkheims Über soziale Arbeitsteilung, Marx’ Das Kapital oder Simmels Philosophie des Geldes lassen sich als frühe, bis zur Gegenwart einflussreiche Versuche verstehen, diese gesellschaftstheoretische Frage zu beantworten. Während die Sozialtheorie als Reflexion der erkenntnisleitenden Grundbegrifflichkeit universalistisch ausgerichtet ist, sind die Aussagen der Gesellschaftstheorie damit unweigerlich auf bestimmte historische Phasen und räumliche Kontexte bezogen: Die »Moderne« bildet einen zeitlich und räumlich hochspezifischen Komplex des Sozialen, ebenso wie die anderen, historisch früheren Gesellschaftstypen. Damit ist die Gesellschaftstheorie unweigerlich auf die Forschungen der empirischen Soziologie zu einzelnen Aspekten Vor wor t der Gegenwartsgesellschaft – der Wirtschaft und des Staats, der Klassen und der Medientechnologien etc. – angewiesen, aber auch auf die Forschungen anderer Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, Kulturanthropologie, Altertumswissenschaft oder Kunstwissenschaften. Generell bewegt sich die Gesellschaftstheorie dabei in einem Spagat zwischen Zeitdiagnose und Historischer Soziologie: In dem Moment, in dem sie die unmittelbare Gegenwart erreicht und versucht, diese in ihrer Totalität in den Blick zu nehmen, geht sie in »Zeitdiagnose« über (die in meinem Verständnis über bloße Essayistik hinaus eine Form der Theorie bezeichnet). Zugleich kann sie erst über den historischen Vergleich die Besonderheit der Moderne – die mittlerweile ebenfalls bereits eine Geschichte hat – ausloten und wird darin zur Historischen Soziologie. Wenn Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie sich damit voneinander unterscheiden lassen, so sind sie doch aufeinander verwiesen. In meinem Verständnis liefert die Sozialtheorie einen unverzichtbaren Hintergrund für die Gesellschaftstheorie, so dass sich zugleich die Gesellschaftstheorie, insbesondere die Theorie der Moderne, im Vordergrund des soziologischen Interesses befindet. Es kann keine Gesellschaftstheorie ohne Sozialtheorie geben: Erst die Sozialtheorie liefert das Vokabular, vor dessen Hintergrund man weiß, wonach man suchen muss, wenn es um Gesellschaften und ihre heterogenen Formen des Sozialen geht. Sozialtheorien liefern basale Beschreibungsformen, aber auch Erklärungsmuster, das heißt Annahmen bezüglich von Zusammenhängen, die (mit-)bestimmen, was in der gesellschaftstheoretischen Analyse überhaupt sichtbar wird. Eine Gesellschaftstheorie ohne eine sozialtheoretische Reflexion ihrer Grundbegrifflichkeit ist also eigentlich unmöglich – oder aber sie bliebe auf dem Niveau von naiven Vorannahmen, die sich aus dem Common-Sense-Wissen speisen. Zugleich jedoch würde eine Sozialtheorie ohne Gesellschaftstheorie dem Trockenschwimmen ähneln: Denn das eigentliche Ziel der Soziologie besteht darin, informativ die Gesellschaft der Moderne – in ihren einzelnen Phasen und im Verhältnis zur Vormoderne – zu begreifen. Damit ist die Sozialtheorie weder mehr noch weniger als ein unverzichtbares »Mittel zum Zweck« – freilich ein Mittel, das den Zweck nicht unverändert lässt. Sozialtheorien sind keine selbstgenügsamen Ontologien, sondern bewähren sich in ihrer heuristischen Kraft der materialen Analyse.2 Es ist deshalb nur konsequent, dass nicht nur die soziologischen Klassiker der ersten Generation, sondern auch die späteren wichtigsten Theoretiker – Parsons und Elias, Habermas und Luhmann, Bourdieu und Foucault – immer auf beiden theoretischen Klaviaturen gespielt 2 | Hierin sehe ich einen wichtigen Unterschied zur Philosophie, deren Philosophien des Sozialen stärker eine normative Funktion übernehmen, die für die Illusionslosigkeit der empirisch-materialen Analyse der Humanwissenschaften häufig eher blickverengend erscheint. 9 10 Kreativität und soziale Praxis haben. Zwischen Sozial- und Gesellschaftstheorie existiert somit kein Verhältnis der Determinierung, sondern eher eines der Ermöglichung (und zugleich der Limitierung): Die sozialtheoretische Grundbegrifflichkeit determiniert nicht kurzerhand die Aussagen der Gesellschaftstheorie, aber die steckt einen Spielraum dessen ab, was in ihr sichtbar wird. Mein Anliegen in den Texten dieses Bandes, aber letztlich in allen meinen Arbeiten in den letzten fünfzehn Jahren, besteht darin, sowohl der sozialtheoretischen als auch der gesellschaftstheoretischen Diskussion einen Impuls zu geben. Sozialtheoretisch ging und geht es mir darum, an einer Theorie sozialer Praxis oder sozialer Praktiken zu arbeiten, die sich nicht nur jenseits des Dualismus von Individualismus und Holismus, sondern auch jenseits von Kulturalismus und Materialismus bewegt. Gesellschaftstheoretisch ging und geht es mir darum, die Moderne und insbesondere die Spätmoderne als eine Gesellschaft zu begreifen, die nicht nur durch einen Prozess der formalen Rationalisierung und funktionalen Differenzierung geprägt ist, sondern zunehmend eine Kulturalisierung und Ästhetisierung des Sozialen forciert.3 Beides bleibt für mich gegenwärtig ein work in progress. Wie häufig lässt sich auch hier die Stoßrichtung eines theoretischen Ansatzes am besten vor dem Hintergrund dessen begreifen, wovon er sich absetzt und was er hinter sich lassen will. Meine Arbeit speiste sich in dieser Hinsicht von Anfang an aus einem Ungenügen: einem Ungenügen bezüglich der Formen und Möglichkeiten der Sozialtheorie wie auch der Gesellschaftstheorie, wie sie sich in den 1990er Jahren in Deutschland darboten. 3 | Mit dem Begriff der Kulturalisierung meine ich eine Expansion kultureller Praktiken und kultureller Objekte, die in einem spezifischen Sinne insofern »kulturell« sind, als sie für die Teilnehmer über eine instrumentelle Relevanz hinaus einen Eigenwert haben, sie also gewissermaßen intrinsisch motiviert sind. Ästhetische Praktiken und Objekte sind eine besonders in der Spätmoderne wichtige Untermenge dieser kulturellen Praktiken und Objekte, aber nicht alle kulturellen Praktiken sind ausschließlich ästhetisch. Sie können auch primär eine hermeneutische, narrative oder expressive Ausrichtung haben. Zu nennen wären hier etwa religiöse oder politische Praktiken, in denen es um die Konstitution von Nationen oder Gemeinschaften geht. Auch diese Dimension von Kulturalisierung jenseits der Ästhetisierung ist für die Moderne zentral, so etwa der Aufstieg von neuen Religionsgemeinschaften oder von identity politics in der Spätmoderne. Vor wor t A uf dem W eg zu einer Theorie sozialer P r ak tiken Zunächst zur Sozialtheorie: In meiner Wahrnehmung war die Sozialtheorie in der deutschen Soziologie in den 1990er Jahren in eine Sackgasse geraten, in der zwar mit der Rational-Choice-Theorie, der Theorie des kommunikativen Handelns und der Systemtheorie mehrere Ansätze zur Auswahl standen, die aber alle auf ihre Weise unbefriedigend blieben.4 Aus meiner Sicht leiden diese Theorievokabulare trotz ihrer Unterschiede auf jeweils ihre Weise daran, das Soziale und das menschliche Handeln in ein rationalistisches Korsett zu pressen: der Zweckrationalität des Homo oeconomicus, der normativen Rationalität des kommunikativen Handelns oder der künstlichen Separierung zwischen Kommunikation, Psyche und Körper. Wenn ich das Anliegen meiner sozialtheoretischen Arbeiten zusammenzufassen versuche, dann besteht es darin, dieses rationalistische Korsett aufzusprengen. Es geht darum, den Blick zu weiten und eine neue Sensibilität zu entwickeln, um die Heterogenität und Widersprüchlichkeit des Sozialen zu begreifen. Es ist vor diesem Hintergrund, dass ich mich für die Vorschläge der französischen Sozial- und Kulturtheorie, vor allem von Bourdieu und Foucault (die in der deutschen Soziologie der 1990er Jahre noch wenig präsent waren), später auch von Latour und Boltanski, für die angloamerikanische Kulturanthropologie und für den theoretischen Diskussionskontext zwischen Soziologie und Kulturwissenschaften um Medialität, Räumlichkeit, Subjektivität etc. interessierte. Meine Arbeit an einer »Theorie sozialer Praktiken« ist vor diesem Hintergrund zu verstehen und zielt auf eine nicht-rationalistische Analytik des Sozialen und des Handelns. Die Praxistheorie ist eine materialistische Kulturtheorie bzw. ein kulturtheoretischer Materialismus. Sie transportiert das ins Zentrum des Verständnisses des Sozialen, was zuvor an die Peripherie gedrängt wurde: die impliziten, aber gleichwohl komplexen und machtvollen Wissensordnungen im Handeln und in den Diskursen, die Körperlichkeit des Handelns und die Relevanz von Affektivität und sinnlicher Wahrnehmung, den nur scheinbar geistlosen Automatismus der Routinen und zugleich die Elemente des Experiments und des Scheiterns im Handeln, die Widersprüchlichkeit und Hybridität kultureller Ordnungen, nicht zuletzt die konstitutive Bedeutung der Dinge und Artefakte für die soziale Praxis, einschließlich der Medientechnologien und Konstellationen des Raums. Die Praxistheorie entwickelt dabei nicht nur ein alternatives Bild des Sozialen, sie stellt sich auch als ein anderer, zeitgemäßerer Theorietypus dar. An die Stelle eines teutonischen Verständnisses von »Theorie als System« – in 4 | Vgl. James Samuel Coleman: Foundations of Social Theory, Cambridge 1990; Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981; Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984. 11 12 Kreativität und soziale Praxis das man sich in toto einschreibt oder es verwirft – tritt ein Verständnis von Theorie als ein deutlich loser gekoppeltes Vokabular, ein Netzwerk von Begriffen, eine Heuristik im besten Sinne, an der sich an verschiedenen Enden und durch unterschiedliche Forscher weiterarbeiten lässt. Diese Theorie ist nicht in Stein gemeißelt, sondern hat gleichsam ein textiles Format. Obwohl die Praxistheorie in ihren Grundannahmen tief in den philosophischen Diskurs von Heidegger und Dewey bis Deleuze eintaucht, lebt sie primär durch die empirisch-materiale, sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungspraxis. Damit ist die Theorie auch nicht mehr der Empirie vorgelagert, sondern wird Teil der Forschungspraxis. Nachdem ich in Die Transformation der Kulturtheorien (2000) den theoriehistorischen Parcours in Richtung Praxistheorie abgeschritten hatte, habe ich danach in einer Reihe von Aufsätzen einen Grundriss der Praxistheorie präsentiert. Einige dieser Aufsätze wurden in der Anthologie Unscharfe Grenzen (2008) gesammelt.5 Seitdem hat sich in Deutschland wie auch international das Arbeiten an und mit der Theorie sozialer Praktiken in kaum absehbarer Weise intensiviert und deutlich verbreitet.6 Mein Interesse in den letzten Jahren hat sich darauf gerichtet, das praxistheoretische Vokabular in verschiede- 5 | Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerwist 2000; ders.: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008; vgl. darin vor allem »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken« (erstmals 2003 erschienen) und »Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten« (englisches Original erstmals 2002). Vgl. darüber hinaus meine Aufsätze »Die Entwicklung des Vokabulars der Handlungstheorien: Von den zweck- und normorientierten Modellen zu den Kultur- und Praxistheorien«, in: Manfred Gabriel (Hg.), Paradigmen der akteurszentrierten Soziologie, Wiesbaden 2004, S. 303-328 und »Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler«, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 40-54. 6 | Vgl. nur Theodore Schatzki: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park 2002; Elizabeth Shove u.a.: The Dynamics of Social Practice. Everyday Life and how it Changes, Los Angeles 2012; Davide Nicolini: Practice Theory, Work, and Organization. An Introduction, Oxford 2013; Theodore Schatzki/Elizabeth Shove (Hg.): Advances in Practice Theory, Oxford 2016; Robert Schmidt: Soziale Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012; Frank Hillebrandt: Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2014; Hilmar Schäfer: Die Instabilität der Praxis. Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie, Weilerswist 2013; Hilmar Schäfer (Hg): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2016. Vor wor t nen Richtungen weiterzuentwickeln. Die wichtigsten dieser Weiterführungen finden sich in den Aufsätzen vor allem im ersten Teil dieses Bandes: Die »neue Kultursoziologie« und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse formuliert einen basalen praxeologischen Bezugsrahmen in Form des »Quadrats« von Praktiken, Diskursen, Subjektivierungsweisen und Artefaktsystemen. Gegen das Missverständnis, die Praxistheorie sei primär mikrosoziologisch ausgerichtet,7 geht der Aufsatz davon aus, dass dieser Bezugsrahmen letztlich auf die Analyse makrosozialer Einheiten in Zeit und Raum ausgerichtet ist. Praktiken und Diskurse. Zur Logik von Praxis-/Diskursformationen behandelt zwei Konzepte, die häufig als miteinander konkurrierende Grundbegriffe verstanden werden. Der Aufsatz argumentiert jedoch, dass diskursive Praktiken selbst Teil einer praxeologischen Analytik sein müssen und schlägt das anti-dualistische Konzept der »Praxis-/Diskursformation« vor. Doing subjects. Die praxeologische Analyse von Subjektivierungsformen fragt danach, welche praxeologische Perspektive sich auf das »Selbst« und die menschlichen Subjekte auftut, die sich nun gleichsam als Korrelate sozialer Praktiken darstellen. Diese Perspektive profitiert entscheidend vom poststrukturalistischen Blick auf Subjektivierungsweisen, wie er sich etwa bei Foucault und Judith Butler findet.8 Der Aufsatz Kultur und Materialität fragt allgemein, inwiefern sich die sozialwissenschaftlichen Kulturtheorien seit der Jahrtausendwende »materialisiert« haben und sie das Soziale auf verschiedenen Ebenen – der Artefakte, der Räume, der Medientechnologien – als Netzwerk von kulturellen und materiellen Elementen verstehen. Praktiken und ihre Affekte. Zur Affektivität des Sozialen stellt dar, wie die sozialwissenschaftliche Analyse von Emotionen und Affekten von einer praxeologischen Perspektive profitieren kann, die Emotionen nicht mehr Individuen zuordnet, sondern affektive Stimmungen als Eigenschaften sozialer Praktiken begreift. Die Aufsätze Zukunftspraktiken. Die Zeitlichkeit des Sozialen und die Krise der modernen Rationalisierung der Zukunft und Ästhetik und Gesellschaft. Ein analytischer Bezugsrahmen (im zweiten Teil) kreuzen die sozial- bereits mit der gesellschaftstheoretischen Fragestellung. Sozialtheoretisch geht es ersterem darum, die Leistungsfähigkeit einer praxeologischen Perspektive auf Zeitlichkeit, insbesondere Zukünftigkeit auszuloten, während in letzterem diskutiert wird, dass jede soziale Praktik ihre eigene Organisation sinnlicher Wahrnehmungen betreibt – ästhetische Praktiken stellen sich dann als eine Untermenge dar, die auf sinnliche Wahrnehmungen um ihrer selbst 7 | Vgl. dazu Armin Nassehi: Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 2006, S. 228ff. 8 | Eine knappe, einführende Rekonstruktion zentraler Subjekttheorien findet sich in meinem Buch Subjekt, Bielefeld 2008. 13 14 Kreativität und soziale Praxis willen zentriert sind.9 Es findet sich damit in mehreren dieser Aufsätze ein analoger argumentativer Zug: Elemente der Welt, die gängigerweise Individuen oder einem äußeren Rahmen des Handelns zugeschrieben werden, also im Außen des Sozialen lokalisiert wurden, werden nun als Eigenschaften und Bestandteile einzelnen sozialen Praktiken zugerechnet (eine Praktik enthält eine spezifische Affektivität, eine spezifische Organisation sinnlicher Wahrnehmung, eine Strukturierung der Zeit etc.) – und diese Wende des Blicks eröffnet neue analytische Möglichkeiten. A uf dem W eg zu einer Theorie des K re ativitätsdispositivs Der zweite Teil des Bandes versammelt eine Reihe meiner gesellschafts- und modernetheoretisch ausgerichteten Aufsätze aus den letzten Jahren, die ich im Umfeld meines Buches Die Erfindung der Kreativität verfasst habe. Gesellschaftstheorie ist hier immer eng mit materialer Kultursoziologie verzahnt. Das praxistheoretische Vokabular steht in diesen Artikeln nicht zur Debatte, sondern wird angewandt. Meine Arbeit im Bereich der Theorie der Moderne verlief von Anfang an parallel zur sozialtheoretischen Reflexion und speiste sich aus einem analogen Unbehagen an der Diskussion in der deutschen Soziologie der 1990er Jahre. Auch hier war für mich der Eindruck eines Denkkorsetts prägend. Dieses presste die Heterogenität gesellschaftlicher Realität in eine modernisierungstheoretisch ausgerichtete Form, die den Eindruck der Überraschungslosigkeit perpetuierte. Die Theorie funktionaler Differenzierung, die in der deutschen Soziologie eine Zeitlang »alternativlos« schien, bildete die Speerspitze dieser modernisierungstheoretischen Perspektive auf die Moderne, verstanden als »Ausdifferenzierung« funktionaler Teilsysteme, die leicht den Eindruck einer veränderungsresistenten und konfliktfreien post histoire vermitteln konnte.10 Im Laufe der Zeit ist mir deutlich geworden, dass diese differenzierungstheoretische Version der Modernisierungstheorie jedoch nur eine spezielle Variante einer grundsätzlicheren soziologischen Perspektive auf die Moderne darstellt, die diese im Kern als einen Prozess formaler Rationalisierung wahr9 | Zwei weitere neue Texte von mir aus diesem Zusammenhang sind in diesem Band nicht wieder abgedruckt, da sie sich relativ stark mit den anderen hier vorliegenden Aufsätzen überschneiden: Andreas Reckwitz: »Affective Spaces. A Praxeological Outlook«, in: Rethinking History 16 (2012), S. 241-258 und »Sinne und Praktiken: Die sinnliche Organisation des Sozialen«, in: Hanna Göbel/Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld 2015, S. 441-456. 10 | Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1997.