Dtsch. Ζ. Philos., Berlin 41 (1993) 2, 189-199 Die bleibende Aktualität von William James Von HILARY PUTNAM (Cambridge/Mass.) Amerika hat die ärgerliche Gewohnheit (ärgerlich jedenfalls für amerikanische Philosophen, die sich ihrer eigenen Sterblichkeit bewußt sind), tote amerikanische Philosophen zu vergessen. William James aber ist eine Gestalt, die uns einfach nicht losläßt. Nicht nur ist er niemals vergessen worden, sondern die Reaktionen auf sein Werk, die zustimmenden wie auch die ablehnenden, waren selbst nach seinem Tod überraschend leidenschaftlich. Bertrand Russell spottete in seiner History of Western Philosophy über James' wahrheitstheoretische Ansichten. Aber ein großer Zeitgenosse von Russell schrieb, „diejenige Anschauung, welche, wie mir scheint, die materialistischen Tendenzen der Psychologie mit den antimaterialistischen Tendenzen der Physik versöhnt, ist die Anschauung ... der amerikanischen neuen Realisten ... Ihre Auffassungen ... leiten sich größtenteils von William James her, und bevor wir weitergehen, wird es günstig sein, die revolutionäre Lehre, die er vorgeschlagen hat, in Erwägung zu ziehen. Ich glaube, daß diese Lehre eine wichtige neue Wahrheit enthält, und was ich vortragen werde, wird in beträchtlichem Ausmaß davon inspiriert sein." Wer war dieser Zeitgenosse? Kein anderer als Russell selbst - der Russell der Analysis of Mind. Wenn man Russell auf faire Weise liest, dann ergibt sich daraus kein Widerspruch; Russell schätzte zwar James' Ansichten über die Wahrheit nicht, von denen er freilich eine bloße Karikatur zeichnete, aber er bewunderte James' „neutralen Monismus" (Russells Bezeichnung für das, was James selbst „radikalen Empirizismus" nannte). Ja, als Russell 1936 in Harvard las, so sagte mir kürzlich I. B. Cohen, „gab es zwei Helden in seinen Vorlesungen Plato und James." Wenn wir näher an die Gegenwart heranrücken, so hat 1983 Martin Gardner - der bekannte Verfasser von Artikeln über mathematische Rätsel im Scientific American und Entmythologisierer der Telepathie sowie anderer Dinge, die er für wissenschaftlichen Schwindel hielt - ein Kapitel des Buches über seine philosophischen Ansichten, The WHYS of a Philosophical Scrivener, der Kritik an James' Auffassung von der Wahrheit gewidmet. Gardner, so beeile ich mich hinzuzufügen, hielt James jedoch nicht für einen Schwindler, sondern schrieb in seinem Buch, „daß James blind war ... für jene Art von Verwirrung, die unvermeidlich ist, wenn ein Philosoph ein Wort mit einer gemeinverständlichen Bedeutung nimmt und ihm einen neuen und überraschenden Sinn gibt. Die Pragmatisten glaubten natürlich, daß sich große Gewinne aus einer Neudefinition der Wahrheit, die diese als das Bestehen von Wahrheitstests deutet [!], ergeben würden, die tatsächlichen Resultate waren jedoch Jahrzehnte währende, befremdliche Debatten, mit denen sie unglaublich viel Zeit verschwendeten." Im gleichen Jahr (1983) veröffentlichte Jacques Barzun seinen liebenswer- Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:05 AM 190 Hilary Putnam, Die bleibende Aktualität von William James ten Band A Stroll with William James, in dem er seiner Wertschätzung „der Originalität und Geisteskraft" Ausdruck verleiht, „mit der James einigen der alten Sphinxen, die den Erdenwanderer - üblicherweise bei Todesstrafe - herausfordern, begegnete und sie bändigte". Wenn ich heute abend zu dieser Aura von Lob und Kritik, die William James' Person umgibt, einiges hinzufüge, so geschieht dies nicht einfach nur, um einen Vorläufer zu ehren. Ich glaube, daß James ein kompetenter Denker war, so fähig wie die besten dieses Jahrhunderts, daß seine Art zu philosophieren Möglichkeiten eröffnet, die viel zu lang vernachlässigt wurden, und daß sie Wege aus alten philosophischen Verstrickungen weist, die uns bis heute nachhaltig belasten. Kurzum, ich glaube, daß es höchste Zeit ist, dem Pragmatismus unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden, derjenigen Bewegung, deren bedeutendster Exponent, wie behauptet werden kann, James war. Ich beeile mich - sicherlich zu Ihrer Erleichterung - hinzuzufügen, daß dieser kurze Vortrag nicht vorgeben wird, schon jene detaillierte und einlässige Studie zu sein, die vonnöten wäre. Er ist bloß eine Werbung für dieses Projekt, der Versuch, auf einfache Weise vorstellig zu machen, warum man meinen kann, daß ein solches Unterfangen lohnend ist. Ich beginne, indem ich einen der Gründe aufzeige, warum James' Philosophie so widersprüchliche Reaktionen auslöst. Eines der Hauptcharakteristika der Jamesschen Philosophie ist ihr Holismus: Sie impliziert eine offensichtliche, wenn auch implizite Zurückweisung vieler vertrauter Dualismen. Faktum und Wert, Faktum und Theorie, Faktum und Interpretation, sie alle wurden von James als sich gegenseitig bedingend und interdependent gesehen. Ein weiteres Charakteristikum seiner Philosophie ist ein starker Hang zu dem, was die Philosophen direkten Realismus zu nennen pflegten, d. h. zur Lehre, daß sich die Wahrnehmung (normalerweise) auf Objekte und Ereignisse „da draußen" bezieht und nicht auf private Sinnesdaten. Es mag scheinen, daß der Holismus und der direkte Realismus miteinander unverträglich sind: So jedenfalls erschien es dem Oxforder Philosophen F. C. S. Schiller, einem der wichtigsten Anhänger von James, dem James' Realismus als eine Art Selbstverrat vorkam; auch Bertrand Russell hielt sie für unverträglich: Für ihn stellten sie zwei verschiedene Momente des Jamesschen Denkens dar, von dem das erste verfehlt, das zweite aber voll bedeutender Einsichten war. Meine Überzeugung und die von Ruth Anna Putnam, die mit mir in der Untersuchung von James' Philosophie zusammenarbeitet, ist es jedoch, daß die beiden Aspekte der Jamesschen Philosophie nicht unverträglich, sondern interdependent sind. Jeder setzt den anderen voraus, und jeder ist notwendig für eine stimmige Interpretation des anderen. Ich werde heute abend aber nicht versuchen, diesen Interpretationsanspruch im Detail einzulösen. Ich werde mich nur bemühen, ein gewisses Verständnis für beide Aspekte zu vermitteln. Wahrheit Die Textstelle, die am häufigsten aus dem Kontext gerissen und gegen James gekehrt wird, ist die folgende: „ ,Das Wahre' ist nichts anderes als das, was uns auf dem Weg des Denkens vorwärts bringt... langfristig und im großen und ganzen." So zitiert Russell James. James, so lesen ihn seine Kritiker, sagt, wenn die Konsequenzen des Fürwahrhaltens von „p" für die Menschheit gut sind, dann ist „p" wahr. Daher konnte Russell schreiben: „Ich habe mit dieser Lehre große intellektuelle Schwierigkeiten. Sie nimmt an, daß etwas Fürwahrgehaltenes „wahr" ist, wenn seine Wirkungen gut sind." Das aber ist nicht das, was James selbst Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:05 AM 191 Dtsch. Ζ. Philos. 41 (1993) 2 gemeint hat. Ja, es ist nicht einmal das, was James gesagt hat. Hier ist, was er tatsächlich in Der Pragmatismus schrieb: „ ,Das Wahre' ist, um es kurz zu sagen, nichts anderes als das, was uns auf dem Wege unseres Denkens vorwärts bringt, so wie ,das Richtige' das ist, was uns in unserem Benehmen vorwärts bringt. Dabei meine ich vorwärtsbringend in fast jeder Art, und vorwärtsbringend im ganzen und großen. Denn was der gegenwärtigen Erfahrung entspricht, das wird einer künftigen Erfahrung vielleicht nicht in gleich befriedigender Weise entsprechen. Die Erfahrung läuft zuweilen über und zwingt uns, unsere gegenwärtigen Formeln richtig zu stellen." [Hervorhebungen im Original. Die deutsche Ubersetzung des Zitats stammt von W Jerusalem; siehe W James, Der Pragmatismus, Hamburg: Meiner 1977, S. 140] Ich werde die paar Minuten, die mir heute abend zur Verfügung stehen, um meinen Enthusiasmus für James zu erklären, nicht auf genaue Textanalysen verwenden - von nun an werde ich einfach dogmatisch sagen, was James meiner Meinung nach intendierte, ohne die „Evidenz" beizubringen; aber ich kann der Versuchung nicht wiederstehen aufzuzeigen, auf welche Weise Russells Mißverständnis von James dem geläufigen Mißverständnis einer ebenfalls berühmten Textpassage von Wittgenstein ähnlich ist. Wittgenstein schrieb: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ,Bedeutung' - wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache." [Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 43] Hier mißachten viele Kommentatoren einfach die Wendung „wenn auch nicht für alle Fälle", setzen überdies ihre eigene Vorstellung davon, was „Gebrauch" ist, an die Stelle der Wittgensteinschen und kommen somit dazu zu sagen, Wittgenstein hätte die „Theorie" aufgestellt, daß „Bedeutung Gebrauch ist" - womit jede Möglichkeit, zu verstehen, was Wittgenstein wirklich sagte, dahingeschwunden ist. Auf dieselbe Art hat Russell die Jamesschen Wendungen „um es kurz zu sagen" und „in fast jeder Art" ignoriert - offenkundige Hinweise darauf, daß das, was uns vorliegt, eine Aussage ist, die ein Thema anklingen läßt, nicht aber der Versuch, eine Definition von „wahr" zu formulieren. Überdies hat Russell seine eigene Vorstellung von dem, was „vorwärtsbringend" sei, an die Stelle der Jamesschen gesetzt und kam daher dazu zu sagen, daß James die Theorie aufstellte, „wahr" heiße „gute Wirkungen erzielen" — womit alle Möglichkeit zu verstehen, was James tatsächlich sagte, dahingeschwunden war. James' Philosophie kann aber in Wirklichkeit - nicht anders als diejenige Wittgensteins nicht auf eine Kurzformel gebracht werden. Was auf Aussagen wie die eben zitierten, die ein Thema anschlagen, folgt, sind Diskussionen wichtiger Typen von Aussagen - Aussagen ζ. B. über die Memorial Hall und andere wahrnehmbare Objekte, Aussagen über abstraktere Dinge wie die Elastizität der Uhrfeder, Aussagen der zeitgenössischen physikalischen Theorien, mathematischen Aussagen, ethische Aussagen und religiöse Aussagen. Daraus ergibt sich, daß den verschiedenen Aussagetypen verschiedene Typen des „Vorwärtsbringenden" entsprechen; es wird nicht vorgeschlagen, daß jede beliebige Aussage wahr ist, wenn sie nur überhaupt auf irgendeine Weise (vielleicht langfristig) „vorwärtsbringend" ist. James selbst hat beispielsweise die Ansicht, die ihm oftmals unterstellt wird, daß eine Aussage dann wahr ist, wenn es die Leute subjektiv glücklich macht, sie für wahr zu halten, in The Meaning of Truth explizit zurückgewiesen. Im paradigmatischen Fall der „Fakten"aussagen, inklusive der wissenschaftlichen, ist eine Art des „Vorwärtsbringens", die James wiederholt erwähnt, deren Nützlichkeit für Vorhersagen; andere Desiderata wie die Erhaltung vergangener Leh- Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:05 AM 192 Hilary Putnam, Die bleibende Aktualität von William James ren, die Einfachheit und die Kohärenz („was jedem Teil des Lebens am angemessensten ist und sich mit der Kollektivität der Anforderungen der Erfahrung verbindet, dabei aber nichts unter den Tisch fallen läßt") gelten für Aussagen jeden Typs. William Quines These (die er in From, a Logical Point of View aufstellt), daß der Erfolg bei der Erfüllung dieser Desiderata eher von Abwägungen als von formalen Regeln abhängt, ist eine Idee, die auch James vertritt. Eine zweite Kritik an James, die manchmal von Bewunderern wie Morton White ebenso wie von Kritikern wie Martin Gardner erhoben wird, ist, daß James in Wirklichkeit über Bestätigung und nicht über Wahrheit gesprochen habe. James hat uns eine Erklärung der „confirmation" gegeben, sagen diese Kritiker, glaubte jedoch fälschlicherweise, uns eine Erklärung der Wahrheit gegeben zu haben. Überdies behaupten diese Kritiker, das Problem einer stimmigen Wahrheitstheorie sei in diesem Jahrhundert durch das Werk des großen Logikers Alfred Tarski gelöst worden. Ich selbst bin jedoch der Meinung, daß - ungeachtet der großen technischen Leistung von Tarski - sein Werk nicht in der Lage ist, den Begriff der Wahrheit zu explizieren, das aber ist nicht mein Vortragsgegenstand heute abend. Wie immer es auch sein mag, James hat keineswegs die Schuld auf sich geladen, Bestätigung und Wahrheit zu verwechseln, obzwar er mit Sicherheit glaubte, daß zwischen den beiden eine enge Beziehung besteht. Diese Beziehung gibt es aus folgendem Grund: Die Aussage, daß Wahrheit „Korrespondenz mit der Wirklichkeit" ist, ist nicht falsch, aber leer, solange nicht gesagt wird, was „Korrespondenz" ist. Wird nämlich gemeint, daß die Korrespondenz ganz unabhängig von den Weisen ist, durch die wir die Behauptungen, die wir aufstellen, bestätigen (so daß gedacht wird, es wäre möglich, daß das, was wahr ist, gänzlich von dem unterschieden ist, was wir berechtigt sind/«> wahr zu halten), dann ist die Korrespondenz eine okkulte und unser vermeintliches Verständnis von ihr gleichermaßen okkult. Wahrheit, so glaubte James, muß so beschaffen sein, daß wir auch sagen können, wie es für uns möglich ist zu begreifen, was sie ist. Und so wie Charles Peirce identifizierte er Wahrheit häufig mit der „endgültigen Meinung" - d. h. nicht mit dem, was gegenwärtig schon bestätigt ist, sondern mit dem, was „das Schicksal hat", bestätigt zu werden, wenn die Untersuchung lang genug und in verantwortlichem und fallibilistischen Geist vorangetrieben wird. Wahrheit, so schrieb James in einem seiner Essays, ist „das Schicksal des Gedankens", und „das einzige objektive Kriterium der Realität ist der Zwang, den sie langfristig auf den Gedanken ausübt". Das ist natürlich eine sehr problematische Position, obzwar verschiedene ihrer Elemente heute von Philosophen immer aufs neue wiedereingeführt und heiß diskutiert werden, wobei manche James gar nicht erwähnen. Ich selbst stimme mit dem ersten Teil der Jamesschen Position überein, mit der Idee also, daß Wahrheit nicht als okkulte Korrespondenz gedacht werden kann, sondern eher als die Idealisierung verbürgter Behauptbarkeit. Die Idee einer „endgültigen Meinung", die James von Peirce übernahm, halte ich jedoch nicht für befriedigend. Lassen Sie mich nur kurz erwähnen, daß diese Fragen - nach dem, worauf sich Wahrheit bezieht; nach der verbürgten Behauptbarkeit; nach der dauerhaften Glaubwürdigkeit; nach dem, worin Untersuchungen, wenn überhaupt, konvergieren müssen, wenn sie auf die richtige Weise durchgeführt werden - heute eine Rolle spielen in den Büchern und Aufsätzen der Putnams, in denen von Michael Dummett, Nelson Goodman, Richard Rorty und Bernard Williams. Obwohl diese Autoren in diesen Fragen unterschiedliche, ja manchmal sogar gegensätzliche Positionen vertreten, nehmen sie alle jene These sehr ernst, auf der James insistierte, daß nämlich unser Verständnis des Begriffs von Wahrheit nicht als ein Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:05 AM 193 Dtsch. Ζ. Philos. 41 (1993) 2 mystischer mentaler Akt vorgestellt werden darf, in dem wir uns auf etwas beziehen, was vollständig unabhängig von den Praktiken wäre, durch die wir entscheiden, was wahr ist und was nicht. Es ist nicht länger möglich zu behaupten, daß jemand, der die Idee ernsthaft vertritt, Wahrheit könne als eine auf bestimmte Weise idealisierte verbürgte Behauptbarkeit verstanden werden, Wahrheit bloß mit Bestätigung verwechselt. Wenn das Wahre das ist, was bestätigt würde, wenn die Bedingungen ausreichend gut wären (wobei der Begriff des „ausreichend Guten" kein transzendentaler Begriff ist, weil wir durch Untersuchung lernen können, was bessere und was schlechtere Bedingungen zur Beurteilung von Wahrheit sind), dann ist die beste Art, wie man den Begriff der Wahrheit erklärt, die Erläuterung, wie man entscheidet, was bestätigt ist (und wie man entscheidet, daß, was früher bestätigt war, nunmehr trotzdem aufgegeben werden muß). Somit wird für einen Pragmatisten die Diskussion der Wahrheit alle Substanz, die sie hat, durch die miteinhergehende Erklärung gewinnen, wie man zur Wahrheit kommt. Aber das, so wiederhole ich, schließt keine Verwechslung von „wahr" und „bestätigt" ein. Und das ist genau, was James zum Ausdruck brachte: „Wenn ich dir sage, wie du zur Eisenbahnstation kommst, führe ich dich nicht implizit ein in das Was, das Sein und die Natur dieses Gebäudes?" Holismus Bis jetzt mag James' Position positivistisch klingen. Tatsächlich hat James es aber als das erste Mißverständnis des Pragmatismus bezeichnet (er diskutiert es in "The Pragmatist Account of Truth and its Misunderstanders", Kapitel 8, The Meaning of Truth), daß „der Pragmatismus bloß eine Neuausgabe des Positivismus sei". James' Reaktion war, sich vom Phänomenalismus des zeitgenössischen (Machschen) Positivismus zu distanzieren. Der Pragmatismus behauptet nicht, daß Erkenntnis eingeschränkt ist auf die Sukzession unserer Wahrnehmungen. Aber unsere heutigen Neopositivisten (ich hoffe, Quine wird nicht widersprechen, wenn ich ihn als einen solchen klassifiziere) sind nicht phänomenalistischer als James es war, und ich habe schon gesagt, daß zumindest im Fall wissenschaftlicher Aussagen beide, James und Quine, die verbürgte Behauptbarkeit als eine Angelegenheit der ermessenden Abwägungen von recht ähnlich bestimmten Desiderata sehen, der Vorhersage, der Erhaltung alter Lehrmeinungen, der Einfachheit und der Gesamt-Kohärenz. Genau aus diesem Grund ist es notwendig, die Jamessche Position vom Neopositivismus zu unterscheiden, wenn wir deren zeitgenössische Aktualität ausfindig machen wollen. Dieser Unterschied hat mit der Ablehnung einiger geläufiger Dualismen - denen zwischen Faktum und Wert, Faktum und Theorie, Faktum und Interpretation - zu tun, von der ich schon zu Beginn dieses Vortrages gesprochen habe. Diese Ablehnung war übrigens das erste pragmatistische Thema, dem ich in meiner Studienzeit als „undergraduate" begegnete. Ich studierte an der University of Pennsylvania und einer von James' Studenten, A. E. Singer Jr., war viele Jahre lang ein berühmter Professor im dortigen Philosophischen Institut. Obwohl Singer schon emeritiert war, als ich zu studieren begann, lebte er noch in Philadelphia, und einige ältere Institutsmitglieder besuchten ihn regelmäßig. Eines dieser Mitglieder, C. West Churchman, schrieb folgende vier Prinzipien, die er Singer zusprach, an die Tafel: (1) Das Wissen von Fakten setzt ein Wissen von Theorien voraus. (2) Das Wissen von Theorien setzt ein Wissen von Fakten voraus. Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:05 AM 194 Hilary Putnam, Die bleibende Aktualität von William James (3) Das Wissen von Fakten setzt ein Wissen von Werten voraus. (4) Das Wissen von Werten setzt ein Wissen von Fakten voraus. Ich bin sicher, daß Singers Lehrer, William James, dem zugestimmt hätte! Die Prinzipien (1) und (2) sind nicht länger kontrovers, obwohl sie zu James' Lebzeiten sehr umstritten waren (und sogar noch einige Jahrzehnte nach seinem Tod, als die Idee der „Protokollsätze" - Erfahrungsberichte, die von Theorie unkontaminiert sind - von einigen Mitgliedern des Wiener Kreises verteidigt wurde). Aber die Prinzipien (3) und (4) sind heute so kontrovers, wie sie schon damals waren, und so werde ich einige Gründe für ihre Annahme nennen. Ein Desideratum, das sowohl von Pragmatisten als auch von Neopositivisten akzeptiert wird, ist die Kohärenz. Was aber ist ein „kohärenter" Uberzeugungszusammenhang? Die bloß deduktive Konsistenz ist wohl kaum hinreichend: Wobei nicht einmal ganz klar ist, warum Positivisten sie verlangen müssen. (Denn wenn das grundlegende Ziel der Wissenschaft die Vorhersage ist, könnte dann dieses Ziel nicht effektiver erreicht werden, wenn wir eine Pluralität von Theorien zuließen, jede konsistent und erfolgreich in ihrem eigenen Gebiet, auch wenn deren Verbindung nicht konsistent ist?) Wir könnten ganz einfach die Verbindung von Aussagen aus verschiedenen Theoriezusammenhängen, ohne eine Ausnahme zuzulassen, verbieten - diese Position wurde in der Tat von Bas van Fraassen, dem Philosophen aus Princeton, verteidigt. Tatsächlich ist Kohärenz als ein Desiderat sinnvoll genau aus dem Grund, weil wir unser System des Wissens nicht bloß als eine VorhersageMaschine ansehen; wir streben eine Weltanschauung [dt. Lehnwort im amerikanischen Original] an. Denn wie James in Der Pragmatismus bemerkte: „Eine outrierte Erklärung, die all unsere vorgefaßten Meinungen verletzt, würde niemals als eine wahre Auffassung akzeptiert werden ... Wir müssen eifrig weitersuchen, bis wir etwas weniger Exzentrisches gefunden haben." Was nun aber als eine Erklärung gelten kann und was „outriert" ist, das ist selbst oftmals Gegenstand von Kontroversen, auch in den strengsten Naturwissenschaften. Die gegenwärtige Fassung der Quantenmechanik ist das Produkt zweier Konferenzen in Solveg in den 30er Jahren - und auf diesen Konferenzen wurden ebenso viele philosophische wie physikalische Fragen diskutiert! Ja, die quantenmechanische Weltanschauung, die aus der Zweiten Solveg-Konferenz hervorging - die Kopenhagener Interpretation - bleibt bis zum heutigen Tag kontrovers. Eine gewichtige Minderheit von Kosmologen ist fahnenflüchtig geworden und hat sich der „Many Worlds Interpretation" zugewandt, die unter anderem impliziert, daß es „parallele Welten" gibt (welche wahrscheinlich auch solche einschließen, in denen die Vereinigten Staaten noch eine Britische Kolonie sind, und solche, in denen die Französische Revolution niemals stattgefunden hat). Für mich, so muß ich gestehen, ist die „Many Worlds Interpretation" einfach zu outrée. Beide Seiten aber wissen, daß das, worum es geht, nicht die Vorhersage ist. Worum es geht, ist genau, was zu einer Erklärung taugt und was nicht, was kohärent ist und was nicht. Und wenn solche Auseinandersetzungen auf einer fundamentalen Ebene ausbrechen, werden immer Grenzlinien überschritten. Philosophische Fragen sind mit wissenschaftlichen vermischt, kulturelle und sogar metaphysische Vorurteile spielen eine Rolle. James charakterisierte diese Situation in Der Pragmatismus trefflich, als er schrieb: „Die neue Wahrheit ist immer ein Vermittler, ein Glätter von Übergängen. Sie verheiratet alte Meinungen mit neuen Tatsachen auf solche Weise, daß sich ein Minimum an Schock, ein Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:05 AM Dtsch. Ζ. Philos. 41 (1993) 2 195 Maximum an Kontinuität ergibt. Wir halten eine Theorie für wahr genau in Proportion zum Erfolg, den sie dabei hat, dieses Problem von ,Maxima und Minima' zu lösen. Aber Erfolg bei der Lösung dieses Problems ist im wesentlichen eine Frage der Annäherung (vergleiche Quines „Abwägen"). Wir sagen, daß eine Theorie es im großen und ganzen besser löst als eine andere; das heißt aber: zufriedenstellender für uns, und Individuen werden an unterschiedlichen Punkten Zufriedenheit bekunden. In einem gewissen Ausmaß ist hier daher alles plastisch." Beachten Sie bitte, daß ich nicht behaupte, daß die fundamentalen methodologischen und philosophischen Fragen, die debattiert werden, wenn wir tiefe Veränderungen in unseren Paradigmen wissenschaftlichen Erklärens vornehmen, ethische Fragen sind, ich behaupte jedoch, daß dabei Wertfragen involviert sind, denn die Entscheidung, was als „kohärent" und was als „outriert" gilt, ist in jeglicher Hinsicht eine Wertfrage. Zumindest in der Physik behaupten empirizistische Wissenschaftsphilosophen gern, daß wir das „Beobachtungsvokabular" als fixiert behandeln können, weil jedes physikalische Phänomen, wie immer recherché, wenn es demonstriert wird, die Bewegungen von mittelgroßen Objekten, z. B. von Skalen oder Fotoplatten, beeinflußen muß. (Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftsphilosophen haben uns jedoch daran erinnert, daß die Interpretation der Bewegungen dieser mittelgroßen Objekte immer theoriegeladen ist.) Wenn wir uns nun aber das Studium von Menschen vor Augen führen, so kann nicht einmal dies vorausgesetzt werden. Wir klassifizieren Menschen als grausam oder mitfühlend, als sozial gewandt oder ungelenk, als Connaisseure oder Anfänger und tun dies manchmal in hochgradiger intersubjektiver Ubereinstimmung; dennoch gibt es keinen Grund anzunehmen, daß diese Klassifikationen auf ein fixes physikalistisches Vokabular zurückgeführt werden können. Einige dieser Klassifikationen sind darüber hinaus Klassifikationen von Phänomenen, deren Existenz teilweise erst durch diese Klassifikation hervorgebracht und aufrechterhalten wird. Daniel Bell nennt diese Gruppe von Phänomenen „die konstruierte Gruppe". Für Bell ist z.B. Geschlecht [„sex"] ein biologisches Phänomen, Geschlechtsidentität [„gender"] aber ein konstruiertes; ob Menschen als männlich oder weiblich klassifiziert werden, ist demzufolge eine Frage der Biologie, ob sie aber als „mädchenhaft" oder als „ritterlich" eingestuft werden, das ist eine solche der Kultur - und, wie wir wissen, haben Verhaltensformen, die stimmigerweise als „mädchenhaft" oder „ritterlich" klassifiziert werden, kaum Chancen fortzubestehen, wenn nicht die Klassifikationen selbst fortbestehen. Ob sie das tun, ist aber nicht unabhängig von den Bewertungen, die diese Klassifikationen voraussetzen. Auf entsprechende Weise ist es einleuchtend, daß das Gefühl des Bedauerns für jemand anderen unter bestimmten Umständen ein biologisch angeborenes Vermögen ist; dafür aber, „ein mitfühlendes Individuum zu sein", gibt es in Abwesenheit einer Kultur, die menschliches Verhalten unter solchen Rubriken klassifiziert und die jene Bewertungen teilt, die in solchen Rubriken enthalten sind, keine Möglichkeit. Es gibt keine Totalität von beobachtbaren Fakten, die von vornherein fixiert wären und nur auf die Beschreibung warteten. Was vorliegt, hängt - sogar auf der Ebene der beobachtbaren Fakten - teilweise davon ab, welche Kulturen wir schaffen, und das heißt davon, welche Sprachen wir schaffen. Oder wie James sagte: „Ich für meinen Teil kann mich der Erwägung, die sich mir immer wieder aufdrängt, nicht entziehen, daß der Wissende nicht einfach ein Spiegel ist, der sich haltlos irgendwo herumdreht und passiv eine Ordnung reflektiert, auf die er stößt und die er einfach als existierend vorfindet. Der Wissende ist ein Handelnder, der zum einen ein an der Wahrheit Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:05 AM 196 Hilary Putnam, Die bleibende Aktualität von William James mitwirkender Faktor ist, während er zum anderen die Wahrheit registriert, die er schaffen hilft." Ich habe argumentiert, daß James (und Singer) recht hatten zu glauben, daß Faktenentscheidungen und Werturteile voneinander abhängen und sich wechselseitig voraussetzen. Wenn James sagte, daß das Wahre „vorwärtsbringend in fast jeder Art" zu sein vermag, dann sagte er das, wie ich meine, genau deshalb, weil man nicht im voraus schon wissen kann, welche Erwägungen sich für eine bestimmte Frage langfristig als relevant erweisen werden. Oder wie Vivian Walsh in Abwandlung einer Metapher von Quine sich ausdrückte: „Um Quines deutliches Bild auszuborgen und zu adaptieren, wenn es möglich ist, daß eine Theorie schwarz von Fakten und weiß von Konventionen sein kann, dann kann . . . sie auch rot von Werten sein." Zu den vier Prinzipien, die der Student von James, Singer, schon 1940 aufgestellt hat, hätte er zwei weitere hinzufügen können: (5) Das Wissen von Fakten setzt ein Wissen von Interpretationen voraus. (6) Das Wissen von Interpretationen setzt ein Wissen von Fakten voraus. Denn die Rede davon, daß ein System wissenschaftlicher Theorie getestet wird, indem Voraussagen getestet werden, ist allein dann sinnvoll, wenn eine gemeinsame Welt und eine gemeinsame Sprache schon vorhanden sind. Damit ich weiß, daß du dieselbe Voraussage getestet hast wie ich, muß ich verstehen, was du sagst; das heißt aber, daß auch Interpretations· und Tatsachenfragen sich wechselseitig voraussetzen und bedingen. Daniel Dennett hat kürzlich argumentiert, daß eine interpretative Position nur in dem Ausmaß korrekt ist, in dem sie für eine Vorhersage optimal geeignet ist - indem sie also prognostiziert, was der Interpretierte sagen und tun wird - ich jedoch finde diese Ansicht ganz und gar nicht plausibel. Zum Beispiel habe ich Uberzeugungen darüber, was Aristoteles mit bestimmten Argumenten gemeint hat; aber ich beanspruche deshalb nicht, die Dispositionen von Aristoteles auf irgendeine Weise besser vorhersagen zu können als jeder andere auch. Es hilft nichts zu sagen: „Na ja, du mußt prognostizieren, daß Aristoteles - wenn er das heutige Englisch spräche, die gegenwärtige philosophische Literatur gelesen hätte etc. sagen würde, daß deine Interpretation seines Arguments in zeitgenössischer Sprache die richtige ist", weil nämlich diese hypothetische Situation viel zu weit hergeholt ist, als daß ich glauben könnte, diese kontrafaktische Annahme wäre sinnvoll. Ich glaube nicht, daß Aristoteles die Dispositionen wirklich hatte, Dinge in zeitgenössischem Englisch auszudrücken! Denn sogar bei den Zeitgenossen besteht ein Unterschied dazwischen, jemandes Rede oder Schrift zu interpretieren und vorherzusagen, was seine Reaktion auf diese Interpretation sein wird. Hostile Interpretationen z. B. - d. h. Interpretationen, deren Pointe es ist zu zeigen, daß der in Frage stehende Diskurs leer, pompös, verrückt oder heuchlerisch ist - werden vom Interpretierten, auch wenn sie korrekt sind, nahezu niemals akzeptiert. Denn obzwar Interpretation und Vorhersage voneinander abhängen, kann Interpretation doch nicht einfach auf Vorhersage reduziert werden. Obwohl die Ansichten von James zu seinen Lebzeiten und später Widerstand hervorgerufen haben, gewannen sie jederzeit auch Anhänger. Und - wenn Sie mir erlauben, eine Vermutung zu äußern - dann sage ich, daß eine der Quellen dieser Attraktivität genau jene Züge der Jamesschen Weltsicht sind, auf die ich hingewiesen habe - die Vision, daß Faktum, Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:05 AM 197 Dtsch. Ζ. Philos. 41 (1993) 2 Theorie, Wert und Interpretation sich zueinander interdependent verhalten. Denjenigen unter uns, die, wie James sagen würde, ein pragmatistisches Temperament haben, erscheint diese Vision einfach viel realistischer als die Vision derer, die uns überzeugen wollen, daß die vertrauten Dualismen korrekt sein müssen. Realismus An früherer Stelle habe ich bereits erwähnt, daß James' Philosophie nicht nur die Dualismen attackiert, sondern auch einen starken Zug zum direkten Realismus hat, zur Lehre also, daß wir Objekte und Ereignisse wahrnehmen, die „da draußen sind", nicht aber private Sinnesdaten. Und ich habe gesagt, daß Ruth Anna Putnam und ich glauben, daß das keineswegs inkonsistent ist, sondern daß jeder dieser Aspekte der Jamesschen Philosophie den anderen voraussetzt und jeder notwendig ist für die stimmige Interpretation des anderen. Die Essays on Radical Empiricism, in denen James seine Theorie der Wahrnehmung entwikkelt, sind der technischste Teil seiner Philosophie (und nicht zufällig derjenige, den Russell sehr bewunderte). Nicht nur aufgrund dieses technischen Charakters, sondern auch weil ich Sie nicht die ganze Nacht hier festhalten möchte, werde ich nicht einmal ansatzweise den Versuch unternehmen, deren Details vorzuführen; diejenigen unter ihnen, die das interessiert, könnten vielleicht Lust haben, die zwei Essays über James im dritten Teil von Realism with a Human Face [Putnam, Harvard University Press 1992, S. 217-251] zu lesen. Aber über das Verhältnis dieser beiden Elemente im Jamesschen Denken möchte ich doch noch ein Wort verlieren. Einige unter Ihnen werden sich zweifellos daran erinnern, daß der Angriff auf dualités heute ein Charakteristikum des Denkens von Jacques Derrida ist, aber in Derridas Händen (oder sollte ich - angesichts von Derridas Beharren auf der Schrift - lieber sagen „in Derridas Feder"?) verwandelt sich dieser Angriff in eine Art von Weltverlust, in einen Verlust des dehors texte. Für Derrida ist jede Vorstellung davon, daß wir Zugang zu einer gemeinsamen externen Welt haben, eine Rückkehr zu dem, was er die „Metaphysik der Präsenz" nennt, zu den diskreditierten Ideen von Unkorrigierbarkeit und von einem vorbegrifflich Gegebenen. Aber daß James' Gewichtung dessen, was er die „Plastizität" der Wahrheit nennt - d. h. unserer Rolle, „zum einen ein mitwirkender Faktor der Wahrheit zu sein" - , in Balance gehalten wird von seinem Beharren darauf, daß wir eine gemeinsame Welt teilen und wahrnehmen - , daß wir „die Wahrheit registrieren, die wir hervorzubringen helfen" —, das ist genau der Umstand, der es James ermöglicht, zu allen Formen des Skeptizimus auf Distanz zu gehen. Denn schon ab den frühesten pragmatistischen Schriften von Peirce war der Pragmatismus durch seinen Antiskeptizismus charakterisiert: Pragmatisten sagen, daß das Zweifeln ebenso rechtfertigungsbedürftig ist wie das Fürwahrhalten (Peirce traf eine berühmte Unterscheidung zwischen „wirklichem" und „philosophischem" Zweifel). Der Pragmatismus war überdies immer durch seinen Fallibilismus charakterisiert: Die Pragmatisten behaupten, es gebe keine metaphysischen Garantien dafür, daß selbst dasjenige, was wir am sichersten für wahr halten, niemals revisionsbedürftig werden wird. Daß man zugleich fallibilistisch und antiskeptizistisch sein kann, ist wahrscheinlich die Grundeinsicht des amerikanischen Pragmatismus. Ich sage meinen Studenten oft, daß Peirce der erste Philosoph war, der Zweifel hegte, daß Descartes zweifelte. Peirce schrieb einmal: „Zweifeln ist nicht so einfach wie lügen." Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:05 AM Hilary Putnam, Die bleibende Aktualität von William James 198 Nun, das klingt vielleicht nach einem delikaten (einige werden sagen nach einem unmöglichen) Balanceakt, es stellt aber die Situation dar, in der wir leben. Der Anschein des Unmöglichen könnte etwas geringer werden, wenn wir sehen - worauf uns Peirce, James und Dewey aufmerksam machen wollten - , daß der Zugang zur gemeinsamen Realität keinerlei Unkorrigierbarkeit erforderlich macht. So wie auch der Fallibilismus ja nicht von uns verlangt, daß wir alles insgesamt bezweifeln, sondern nur, daß wir bereit dazu sind, jedes einzelne zu bezweifeln, sollten sich dafür gute Gründe ergeben. Die Tatsache, daß die Wahrnehmung manchmal irrt, zeigt nicht, daß auch die nichtirrende Wahrnehmung in Wirklichkeit nur Wahrnehmung von Erscheinungen ist. Und es dürfte auch helfen, wenn wir uns klar machen - worauf sowohl Peirce als auch James und Dewey insistierten - , daß der Zugang zu einer gemeinsamen Realität nicht den Zugang zu etwas Vorbegrifflichem erfordert. Er erfordert vielmehr nur, daß wir in der Lage sind, gemeinsam geteilte Begriffe zu bilden. Manche von Ihnen erinnert das vielleicht an die Kontroverse, die sich rund um die Interpretation der Spätphilosophie Wittgensteins abspielte. So wie James, der den Begriff der Wahrheit zu humanisieren versuchte - der ihn also (so wie alle Beriffe) als ein menschliches Instrument deutete und nicht als eine Idee, die vom Himmel gefallen ist - , beharrte auch Wittgenstein darauf, daß alle unsere Begriffe von unseren „Lebensformen" abhängen. Auch in Wittgensteins Philosophie gibt es also ein realistisches Element. Ich erinnere mich, daß ich einmal (irrtümlicherweise) sagte, Wittgenstein hätte niemals die Wendung „der Realität korrespondieren" gebraucht, und daß mich Cora Diamond bei diesem Irrtum ertappte und darauf verwies, daß Wittgenstein in einer Vorlesung über Mathematik die Bemerkung machte, daß er sagen würde, der Satz „Dieser Stuhl ist blau" korrespondiere einer Realität obzwar er nur sagen könne welcher Realität, wenn er genau diesen Satz gebrauche. Überdies hat uns Wittgenstein daran erinnert, daß die verschiedenen „Dies" und „Das", auf die wir hinzeigen können, Paradigmen der Realität sind. Es gibt Leute, die finden, daß dieser realistische Zug (wenn sie ihn überhaupt bemerken) einen Widerspruch in Wittgensteins Denken darstellt. Angesichts von Wittgensteins feindseliger Haltung gegenüber der Metaphysik und dem unleugbar metaphysischen Hang von James mag es befremdlich anmuten, daß James überhaupt mit dem späten Wittgenstein verglichen wird, doch dieser Vergleich ist nicht gänzlich unbegründet. Denn in „The Moral Philosopher and the Moral Life" hat James Gedanken vorgetragen, die deutlich Wittgensteins berühmtes Privatsprachenargument antizipieren, und die Anschauung verteidigt, daß „Wahrheit einen Standard voraussetzt, der dem Denkenden extern ist". Das sind sehr schwierige Fragen, und ich möchte nicht den Eindruck erwecken, daß „die Antworten" im Opus von James oder Wittgenstein zu finden sind, oder auch nur, daß es solche endgültigen Antworten überhaupt gibt. Die Fragen jedoch sind es wert, daß man darüber nachdenkt, und ich finde die Art, in der James über sie nachdenkt (und die davon unterschiedene Art, wie Wittgenstein das tut) inspirierend. Philosophie und Leben Lassen Sie mich abschließend sagen, daß ich hoffe, bei meinem Versuch, James gegen den Vorwurf zu verteidigen, ein inkonsistenter Denker zu sein, die Komplexität und Tiefe seines Arguments nicht so betont zu haben, daß dabei aus dem Blick geriet, daß für James, wie für Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:05 AM Dtsch. Ζ. Philos. 41 (1993) 2 199 Sokrates, die zentrale Frage ist, wie man leben soll. Die Gegenüberstellung einer Philosophie, die mit dieser Frage beschäftigt ist, und einer Philosophie, die sich mit harten technischen Fragen befaßt, war für James jedoch, wie bereits für Sokrates und seine Nachfolger, eine falsche Gegenüberstellung. Wir brauchen Ideale und wir brauchen eine Weltsicht und wir wollen, daß unsere Ideale und unsere Weltsicht sich wechselseitig stützen. Philosophie, die gänzlich Argument ist, stillt keinen wirklichen Hunger. Während Philosophie, die ganz Vision ist, zwar einen realen Hunger stillt, aber mit breiiger Kost. Wenn es einen alles überragenden Grund gibt, sich mit dem Denken von James zu befassen, so ist es der, daß er ein Genie war, das sich mit dem wirklichen Hunger befaßte, und dessen Philosophie - was immer ihre Schwachstellen sein mögen - substantielle Nahrung für das Denken liefert, aber nicht nur für das Denken, auch für das Leben. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ludwig Prof. Dr. Hilary Putnam, Harvard Mass. 02138, U.S.A. Nagl University, Faculty of Arts and Sciences, Cambridge/ Anmerkung Hilary Putnam hielt seinen Vortrag „The Permanence of William James" im Rahmen des „1737th Stated Meeting" der American Academy of Arts and Sciences am 12. Februar 1992 im House of the Academy, Cambridge, Massachusetts. Die amerikanische Originalfassung ist im Bulletin der AAAS, Vol XLVI, December 1992, No. 3, p. 17-31, veröffentlicht worden. Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:05 AM JANETTE FRIEDRICH Der Gehalt der Sprachform Paradigmen von Bachtin bis Vygotskij Jjiii'tic I m d n c h Der Gehalt der Sprachform l'.ir.idi S nnn son Bacini η bis VyRotskij J. Friedrichs Buch ist eine komparative Rekonstruktion der in den 20er und 30er Jahren in der Sowjetunion entwickelten Theorien des Psychologen Vygotskij, des Philosophen Megrelidze sowie der Kultur- und Literaturtheoretiker Bachtin, Volosinov und Medvedev unter dem Blickwinkel der gegenwärtigen Debatten über kommunikations- und sprachorientierte Bewußtseinstheorien. Akademie Verlag 1 9 9 3 . 2 1 6 Seiten - 6 Abb. 170 m m χ 2 4 0 m m Hardcover 6 8 - DM ISBN 3-05-001938-7 Aus dem Inhalt: - Die funktionale Bestimmung des Denkens. Potenzen und Grenzen des Tätigkeitsansatzes Α. N. Leontevs und E. V. Il'enkovs - Die Ideen als Derivate gesellschaftlicher Interessen. K. R. Megrelidzes „Grundprobleme der Soziologie des Denkens" - Die Sprache als inhärente Gegenständlichkeit ideeller Erscheinungen. Vygotskij s psychologische Theorie - Die Entdeckung des Wortes im Wort. Der Bachtin-Kreis Bestellungen richten Sie bitte an Ihre Buchhandlung oder an den Akademie Verlag Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:05 AM