Hein Retter Das Soziale im klassischen Pragmatismus: Bedeutung, offene Fragen, Rezeptionsprobleme 14. polnisch-deutsche pädagogische Konferenz, Szczecin 7.-9.10.2013 (Thesenpapier) 1. Der klassische Pragmatismus, zu dessen Gründervätern die amerikanischen Philosophen Charles S. Peirce, William James und John Dewey zählen, ist auch mehr als 100 Jahre nach seiner Entstehung weder in Polen noch in Deutschland als relevantes Thema der Erziehungswissenschaft voll erkannt worden. Die Rezeption des Pragmatismus in Europa führte zu vielen Missverständnissen, die aber heute weitgehend historisch sind und nicht zuletzt auch auf Unschärfen und Wandlungen der Aussagen pragmatischer Philosophen beruhten. 2. Sowohl in der deutschen als auch in der polnischen pädagogischen Fachliteratur spiegelt sich die hohe Wertschätzung wider, die einer der drei oben genannten Philosophen, nämlich John Dewey, genießt. In Deutschland – und ich vermute: ebenso in Polen steht auch die Sozialtheorie von Deweys Freund und Kollegen George Herbert Mead bei Erziehungswissenschaftlern in hohem Ansehen. Doch beide Philosophen werden in der Pädagogik primär nicht als Pragmatisten wahrgenommen. Meads Sozialtheorie wird gewöhnlich unter dem Etikett „Symbolischer Interaktionismus“ (H. Blumer) abgehandelt, oft ohne zu erwähnen, dass Mead selbst seine Theorie als „social behaviorism“ verstand. Dieser Begriff weckt in deutschen pädagogischen Ohren eher unerwünschte Konnotationen. 3. Bei Dewey ist die im Zuge seiner Rezeption im deutschen Sprachraum vorgenommene Etikettierung noch aufschlussreicher: Dewey ist in der Wahrnehmung deutscher Erziehungswissenschaftler erstens der Erziehungsphilosoph der progressive education, der „neuen Erziehung“, aber auch deren erfolgreicher Praktiker durch Gründung der von 1896 bis 1904 bestehenden Laboratory School an der Universität Chicago. Dewey ist zweitens der Sozialphilosoph der Demokratie einem in der Geschichte Amerikas verwurzelten Ideal, das nicht nur im Ablösungsprozess von der englischen Kolonialherrschaft, sondern ebenso in den Begründungszusammenhängen des Pragmatismus als eigenständiger amerikanischer Philosophie eine Rolle spielte. Dewey wird drittens als einer der Gründungsväter des Pragmatismus bezeichnet völlig zu Recht. Doch das dritte Merkmal fungiert meist ohne nähere Erläuterung von Fragen, die sich dem Leser der Werke Deweys durchaus stellen können: Was ist die Philosophie des Pragmatismus? Wie unterscheidet sich Deweys Pragmatismus von dem Pragmatismus von James, Peirce und anderen? Welcher ernst zu nehmenden Sachkritik hatte sich Dewey bei anderen amerikanischen Philosophiekollegen zu erwehren? Welche Theoriezusammenhänge stellt Dewey, der als Pragmatist bekennender Naturalist war, selbst her zwischen Pragmatismus, Naturalismus und Darwinismus einerseits, seiner Erziehungs- und Sozialphilosophie andererseits? Gerät Dewey nicht in Dilemmata und Widersprüche, wenn er die Entwicklung der Gesellschaft auf dem Boden der Evolutionstheorie als naturhaft organischen Vorgang deutete? Wie bewerteten die Protagonisten des Pragmatismus die nach 1900 in den USA stark anwachsende EugenikBewegung, die heute als inhuman gilt? Warum ist in Deweys Sozialtheorie die Sexualität als Erfahrungs-, Handlungs- und Kulturtatsache völlig ausgeblendet? 4. Pragmatisches Denken wurde ursprünglich von Peirce als eine Methode der Logik zur Gedankenklärung entwickelt nach der Maxime: Gedanken werden klarer, wenn sie in den Kontext des Handelns gestellt werden. Relevantes Denken enthält immer auch eine Dimension des Handelns einschließlich der Erfahrung dieses Handelns. William James wandte pragmatisches Denken zur Lösung lebenspraktischer Fragen an. James ist verantwortlich dafür, a) dass der Pragmatismus ab 1898 die Gestalt eines philosophisches Programms erhielt, b) dass sein Freund Peirce zum „Erfinder“ dieses Programms erklärt wurde, c) dass Peirce, der die Popularisierung seiner Philosophie durch James durchaus 2 ambivalent sah, ab 1905 seine eigene Philosophie als Pragmatizismus bezeichnete, um sie jeder populistischen Deutung zu entziehen. 5. Allen Gründungsvätern des Pragmatismus liegt eine Kritik der Philosophie Immanuel Kants zu Grunde. Kants Trennung der empirischen Welt der Erscheinung der Dinge von der (empiriefernen) Wesenswelt des An-sich-Seins der Dinge sollte durch eine empiriegeleitete Einheit von Erkenntnis ersetzt werden. Dort, wo die europäische Philosophie prinzipielle Unterscheidungen traf Geist/Materie, Sein/Sollen, Denken/Handeln, Subjekt/Objekt usw. setzte der amerikanische Pragmatismus ein von Empirie (= Erfahrung) bestimmtes Interesse entgegen, das antidogmatisch sein wollte durch das Infragestellen aller philosophischen Absolutheitsansprüche. Diese neue – pragmatische Sicht sieht in der Wahrheit keinen absoluten Wert. Pragmatisch gesehen ist Wahrheit vielmehr die Herstellung einer Übereinkunft. Wahrheit ist, so gesehen, letztlich ein sozialer Wert. Für die Qualität des moralischen Verhaltens (ebenso für religiöse Bindung) ist handlungsbestimmend das, was im Ergebnis optimal für den Einzelnen, die Gesellschaft bzw. einzelne Gruppen der Gesellschaft ist. Die Moraltheorie von Dewey ist aber weit komplexer, als dass sie als „utilitaristisch“ abqualifiziert werden könnte. Moralisches Verhalten ist für Dewey nicht etwas Herausgehobenes, sondern identisch mit sozialem Verhalten. Dewey sah die menschliche Natur anders als James von vornherein auf Sozialität angelegt. Er betonte die Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein Handeln. Moralisches Handeln wird durch zu lernende Tugenden bestimmt. Die in den Reaktionen der sozialen Mitwelt zum Ausdruck gebrachten Reaktionen wirken zurück auf die eigene Moralität und verändern so die eigenen Handlungsgewohnheiten. Deweys Pragmatismus war dabei ständig auf der Suche nach dem universell Guten, dem Idealen und dem Transzendenten. 6. Dewey entwickelte den Pragmatismus von Peirce und James weiter durch Ausweitung auf soziale, ästhetische und wissenstheoretische Fragestellungen, wobei er einzelne Auffassungen von James und Peirce veränderte, zum Teil auch radikalisierte. Dies vollzog Dewey zum einen auf der Basis naturwissenschaftlich-experimentellen hypothesenprüfenden Denkens, zum anderen auf der Grundlage des qualitativen Forschungsansatzes der Chicago School of Sociology, die er in seiner Chicagoer Zeit 1894-1904 (gemeinsam mit G.H. Mead) als sozialtheoretisch führende Schulrichtung maßgeblich prägte. Dabei ist auffällig, dass Dewey zeitlebens kein Buch schrieb, in welchem der Begriff „Pragmatismus“ im Titel erscheint oder inhaltlich entwickelt wird. Dewey bevorzugte für seine eigene pragmatische Sicht zunächst nach 1900 den Begriff „immediate empiricism“, später den Begriff „instrumentalism“. Kaum bearbeitet wurde bisher die Frage, wie Selbsttätigkeit, Wachstum und Erfahrung in Deweys Pädagogik der Logik seiner instrumentellen Wissenschaftstheorie entspringen. Dewey selbst hat den Zusammenhang zwischen instrumentellem Pragmatismus und Erziehung, nicht explizit theoretisch entfaltet, weder in „Democracy and Education“ (1916) noch in einem anderen Werk. 7. Die deutsche Dewey-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg, die in voller Breite erst Anfang der neunziger Jahre einsetzte, hatte Dewey mit seiner Reformschule und seinem Eintreten für die Demokratie primär die Rolle zugewiesen, dem fragwürdigen politischen Gebaren mancher deutscher Reformpädagogen und der unterstellten deutschen Demokratieferne ein leuchtendes Gegenbeispiel vorzuhalten. Der Umgang mit Dewey ist bis heute wesentlich moralisch bestimmt. Das moralisch aufgedrückte Signum der Zeitgemäßheit Deweys verhinderte, die historische Distanz wahrzunehmen, die uns von ihm trennt. Erst die neuere Quellenerschließung beginnt, Dewey als historische Gestalt kritisch abwägend wahrzunehmen wohingegen für Peirce und James der Historisierungsprozess schon lange abgeschlossen ist, ohne dass dies ihre Bedeutung schmälert. In Bezug auf das Verhältnis zwischen europäischer und amerikanischer Wissenschaftskultur vor 100 Jahren, das lange durch Betonung der Gegensätze bestimmt wurde, ist heute ein echter Perspektivenwechsel 3 feststellbar. Wenn man für die Zeit bis 1914 zuvor vor allem Differenzen betonte, werden jetzt die wechselseitigen Anregungen zwischen amerikanischer und mitteleuropäischer Sozialphilosophie hervorgehoben. Sich diesem Trend zu öffnen dürfte der historischen Erziehungswissenschaft Gewinn bringen. Präambel der Verfassung Polens von 1997 in deutscher Übersetzung, verabschiedet von der Nationalversammlung am 2. April 1997. http://www.sejm.gov.pl/prawo/konst/niemiecki/kon1.htm In der Sorge um unser Vaterland und seine Zukunft, nachdem wir in 1989 die Möglichkeit wiedergewonnen haben, souverän und demokratisch über unser Schicksal zu bestimmen, beschließen wir, das Polnische Volk - alle Staatsbürger der Republik, sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten, wir alle, gleich an Rechten und Pflichten dem gemeinsamen Gut, Polen, gegenüber, in Dankbarkeit gegenüber unseren Vorfahren für ihre Arbeit, für ihren Kampf um die unter großen Opfern erlangte Unabhängigkeit, für die Kultur, die im christlichen Erbe des Volkes und in allgemeinen menschlichen Werten verwurzelt ist, an die besten Traditionen der Ersten und Zweiten Republik anknüpfend, verpflichtet, alles Wertvolle aus dem über tausendjährigen Erbe an kommende Generationen weiterzugeben, mit unseren über die gesamte Welt verstreuten Landsleuten gemeinschaftlich verbunden, im Bewußtsein der Notwendigkeit, mit allen Ländern für das Wohl der Menschheitsfamilie zusammenarbeiten zu müssen, im Gedenken an bittere Erfahrungen aus der Zeit, in der die Grundfreiheiten und Grundrechte der Menschen in unserem Vaterland verletzt wurden, im Willen, Bürgerrechte stets zu gewährleisten sowie die Redlichkeit und die Leistungsfähigkeit der Tätigkeit der öffentlichen Institutionen zu sichern, im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott oder vor dem eigenen Gewissen, uns die Verfassung der Republik Polen zu geben als grundlegendes Recht des Staates, fußend auf der Achtung vor Freiheit und Gerechtigkeit, der Zusammenarbeit der öffentlichen Gewalt, den gesellschaftlichen Dialog sowie auf dem Prinzip, durch Hilfe die Rechte der Staatsbürger und deren Gemeinschaften zu stärken. Alle, die diese Verfassung zum Wohl der Dritten Republik anwenden werden, fordern wir auf, dabei die dem Menschen angeborene Würde, sein Recht auf Freiheit und seine Pflicht zur Solidarität mit anderen Menschen zu beachten, und diese Prinzipien als unverletzliche Grundlage der Republik Polen immer einzuhalten.