Schreien, flüstern, zischen, glucksen : Eberhard Blum - E

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Schreien, flüstern, zischen, glucksen :
Eberhard Blum
Autor(en):
Ingold, Felix Philipp
Objekttyp:
Article
Zeitschrift:
Du : die Zeitschrift der Kultur
Band (Jahr): 56 (1996)
Heft 5:
Unerhört : Zeit für neue Musik
PDF erstellt am:
22.08.2017
Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-299421
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SCHREIEN, FLÜSTERN, ZISCHEN,
GLUCKSEN
Eberhard Blums puristische Exzesse. Von Felix Philipp Ingold
Sie denn auch
spielen
richtige Mu¬
Aber
sik?» Diese Frage - oder ist's eine Auf¬
forderung? - bekommt Eberhard Blum
und einbezieht, was «gefällt», und die allzu
oft einhergeht mit Gefühlsverwirrung,
Aufmerksamkeitsschwund, Luziditätsver-
immer mal wieder zu hören, und er muss
daraus wohl den Schluss ziehn, dass er, als
engagierter Vermittler neuer und neuster
Musik, eben nicht die «richtigen» Stücke
zur Aufführung bringt; dass er nicht für
jene Komponisten einsteht, die dem weit¬
hin dominanten, noch immer von der
lust.
Dieser ganz natürlichen, bei Kunstkon¬
sumenten und Kunstproduzenten glei¬
chermassen zu beobachtenden Tendenz
zu geistiger Bequemlichkeit einerseits, zu
ästhetischer Gefälligkeit anderseits hat
Eberhard Blum, ohne je belehrend sein zu
wollen, schon immer entgegengewirkt da¬
durch, dass er sich durchweg mit kompro¬
missloser Strenge und Solidarität in den
Dienst der von ihm aufgeführten Kom¬
ponisten gestellt und auf die persönliche
«künstlerische» Deutung beziehungsweise
Interpretation ihrer Werke durchweg ver¬
zichtet hat zugunsten einer möglichst prä¬
zisen, möglichst emotionsfreien Präsenta¬
tion des musikalischen Materials.
Zu solcher Strenge mag ihm vorab
seine Herkunft aus der protestantischen
Kirchenmusik verholfen haben - er war
Mitglied des Posaunenchors in der evange¬
lischen Gemeinde von Stralsund, bevor er
sich 1960, als Zwanzigjähriger, aus der
DDR nach Westberlin absetzte und bei
Aurèle Nicolet das Studium der Flöte auf¬
nahm. Schon früh scheint Blum die
Entbehmngen und Zwänge, denen er in
der geistigen Einöde der «Ostzone» bis zu
seiner Flucht ausgesetzt war, insofern für
sich genutzt zu haben, als er daraus
die Lehre zog, dass Freiheit nicht selbst¬
verständlich vorgegeben ist, sondern gegen
vielfältige Widerstände durchgesetzt wer¬
den muss und so auch gewonnen werden
kann.
Aus nur wenigen Elementen unter
schwierigsten Bedingungen etwas Hoch¬
wertiges zu schaffen - das war, das ist Eber¬
hard Blums Lebens- und Arbeitsdevise, ein
umfassendes kreatives Programm, in dem
Askese und Sinnenfreude, Künstlichkeit
und Spontaneität, Präzision und Phan¬
tasie, Reinheit und Pathos, Notwendigkeit
und Zufall spannungsreich sich verbinden.
Alles stimmt bei diesem mönchischen Ge¬
niesser überein, alles gerät ihm, ob er's will
oder nicht, zu einer quasi rituellen Hand¬
lung, die auch den schlichtesten Gesten
und Gegenständen eine eigene Schönheit,
ein gleichsam eigenes Mass verleiht: die
Art, wie er wohnt und sich kleidet, wie er
spricht und sich bewegt, wie er die Flöte rei¬
europäischen «Klassik» - genauer: den
Classics! - geprägten Publikumsgeschmack
und folglich auch den Präferenzen der mei¬
sten Orchesterleiter und Konzertveranstal¬
ter entsprechen.
In Eberhard Blum nun aber einen Ver¬
ächter «klassischen>, mithin «richtiger» Mu¬
sik sehen zu wollen, wäre ganz und gar
verfehlt. Die musikalische Klassik hat für
ihn, den klassisch ausgebildeten Musiker,
durchaus ihre Richtigkeit; als inadäquat,
als völlig überholt beurteilt er hingegen die
besonders geschmackvolle, bisweilen geschmäcklerische Art und Weise, wie klassi¬
sche Musik heute mehrheitlich dargeboten
und auch rezipiert wird. Für Blum jedoch
ist Musik, egal welcher Herkunft und wel¬
chen Stils, gerade keine Geschmackssache,
kein Geschmacksereignis, nichts, was mit
Geschmacksurteilen einzuholen oder gar
zu rechtfertigen wäre, sondern - schlicht
und streng - eine eigengesetzliche Klang¬
welt, die nicht primär zu gefallen, das heisst
Erwartungen zu erfüllen braucht, die viel¬
mehr in ihrer Ereignishaftigkeit gehört und
eben dadurch, stets von neuem, hörbar ge¬
macht werden muss.
Dass sinnliche, also ästhetische Wahr¬
nehmung oft mit Sentimentalität oder
blosser Emotionalität verwechselt wird, ist
eine triviale, für das «richtige» Verständnis
neuer Musik höchst problematische Tat¬
sache, mit der Eberhard Blum - wie so
viele andere Produzenten und Vermittler
aktueller Kunst - permanent konfron¬
tiert ist und die er bei seiner Arbeit
notwendigerweise berücksichtigen muss.
Dabei übersieht er nicht, dass jene Ver¬
wechslung auf ein durchaus menschliches
Grundbedürfhis zurückzuführen ist, das
Bedürfnis nach der Harmonisierung von
seelischen und musikalischen Stimmungs¬
lagen, nach der Herstellung von Harmonie
überhaupt - in der Hingabe an eine mäch¬
tige psychische Gravitation, die alles an-
56
nigt oder halblaut Texte liest, wie er einen
Konzertauftritt vor grossem Publikum
oder ein Nachtessen für Freunde vorberei¬
tet - all dies scheint mit schöner Selbstver¬
ständlichkeit Anteil zu haben an seiner ex¬
akt geregelten Arbeitswelt, die zugleich der
Raum ist, wo seine diskrete Lebenskunst
ihre grösste Intensität erreicht.
Um seinen puristischen
-
-
oder puritani¬
Exzessen frönen zu können,
musste Eberhard Blum, der zu den führen¬
schen?
den Flötisten der Gegenwart gehört, dies¬
seits von Johann Sebastian Bach die für ihn
«richtige» musikalische Domäne erschliessen; er fand sie, als er in den sechziger Jah¬
ren regelmässig die Ferienkurse für Neue
Musik in Darmstadt besuchte, zunächst
bei zeitgenössischen Komponisten wie
Pierre Boulez, Karl-Heinz Stockhausen,
Bernd Alois Zimmermann, Iannis Xenakis,
vor allem aber - nach 1971 - bei Morton
Feldman und John Cage, mit denen er in
der Folge während langer Zeit beruflich wie
auch persönlich eng verbunden blieb.
Auf Feldmans Einladung hielt sich
Blum in denjahren 1973 bis 1976 als Mit¬
glied des Center of the Creative and Per¬
forming Arts (University of Buffalo) in den
USA auf, wo er in zahlreichen Konzerten
und Workshops neuste amerikanische und
europäische Musik zur Aufführung, oft¬
mals auch zur Uraufführung brachte. Ab
1976 war Eberhard Blum ständiges Mit¬
glied des Ensembles Morton Feldman and
Soloists; viele Werke des damals noch we¬
nig bekannten Komponisten wurden in
Europa erstmals von und mit Blum vor¬
gestellt, darunter Why Patterns? (Berlin
1978), Crippled Symmetry (Berlin 1984),
For Christian Wó#f (Darmstadt 1986).
Seit 1972 war Eberhard Blum auch mit
John Cage bekannt, von dem - und für
den - er diverse Stücke mustergültig zur
Auffuhrung brachte, zuletzt Ryoanji an der
Akademie der Künste zu Berlin (1995) und
Variations (I) im Haus Bill bei Zürich
(1995). Dass Blum vor allem in der Aus¬
einandersetzung mit Cage und Feldman
seinen unverwechselbar eigenen, weil von
eigenen - interpretativen - Beigaben völlig
unabhängigen Aufführungsstil entwickelt
hat, ist durch eine Vielzahl von CD-Ein¬
spielungen dokumentiert, die unter dem
Label «HatHut» erschienen sind. Für Blum
hat die langjährige, noch heute andau¬
ernde Arbeit an Werken der beiden Ame¬
rikaner zu der schlichten, in ihrer Schlicht¬
heit aber sensationellen Einsicht geführt,
dass Musik nur dann zum ästhetischen Er¬
eignis werden kann, wenn sie gmndsätz¬
lich von der «Notwendigkeit, mit Tönen
und Klängen etwas ausdrücken zu müs¬
sen», befreit wird. Vielsagende, zu pseudo¬
sakralem Pathos tendierende Musik, wie
man sie von Richard Wagner, Gustav Mah¬
ler, Richard Strauss und noch von Jean
Françaix oder Arvo Part kennt, erweist sich
- in solchem Hörverständnis - als gera¬
dezu gewalthaft, stellt sie doch das eigent¬
lich Musikalische an der Musik in den
Dienst einer angeblich oder vermeintlich
«höheren», die konkreten Klangereignisse
überbietenden «Idee», welche ihrerseits der
Musik äusserlich, vor allem aber deren un¬
mittelbarer Wahrnehmung hinderlich ist.
Demgegenüber hat Eberhard Blum als konsequenter Vertreter einer
ganz an¬
dern, auf den Klang als solchen ausgerich¬
teten Musikästhetik - ein künstlerisches
Minimalprogramm entwickelt, das er mit
«ungeheurer Disziplin» (wie er selbst im¬
mer wieder betont) und mit entsprechen¬
der «Präzision» (eines seiner Lieblingswör¬
ter) zu maximaler Wirkung steigert - wobei
Wirkung, hier, nichts anderes besagt, als
dass jede musikalische Darbietung ein
Maximum dessen zu Gehör bringt, was in
strikter Befolgung der kompositorischen
oder konzeptuellen Vorgabe des Autors
überhaupt hörbar zu machen ist. Denn
darauf- und nur darauf- kommt es Blum
an: nach bestimmten Prämissen und Re¬
geln (und seien es die des Zufalls) Klänge
zu erzeugen, will sagen Klangereignisse zu
ermöglichen, die in der gemeinhin als
«richtig» empfundenen Musik nicht vor¬
kommen und die für das solcherart ge¬
schulte Gehör nicht mehr (oder noch
nicht) wahrnehmbar sind.
Der Autor - ob Komponist oder Dich¬
ter oder bildender Künstler - will mit dem,
was er schafft, nicht etwas Bestimmtes sa¬
gen, nach dem dann gefragt werden kann
und das verstanden werden soll; vielmehr
macht er es sich zur Aufgabe, Hörbares
hörbar, Lesbares lesbar, Sichtbares sichtbar
zu machen, das heisst - generell - die
Wahrnehmung zu entautomatisieren, sie
zu befreien auf das hin, was nicht «der
Rede wert» ist, weil es nur einfach das ist,
was es ist; weil es keine vorgegebene Be¬
deutung mit sich führt, welche «hinter den
Tönen», hinter
liegt und durch
der sinnlichen
werden, da sie
dienen haben.
den Texten oder Bildern
die die Töne, Texte, Bilder
Wahrnehmung entzogen
einzig dem Verstehen zu
«Was will der Autor damit sagen?» Die oft
gestellte Frage bezieht sich immer auf das,
was dahinter steht, und gleichzeitig blen¬
det sie aus, was da ist was man hier und
jetzt hören, lesen, sehen kann. Für den, der
-
«richtige» Musik darbietet, bedeutet dies,
wie Eberhard Blum 1992 in einem Inter¬
dass «eigentlich nicht
die Töne» gespielt werden, «sondern es
geht dämm, was hinter den Tönen ist...
Ich habe bei den meisten Stacken, die ich
als Flötist gespielt habe, das <hinter den
Tonern eigentlich nie gefunden, weil es
entweder nicht da war oder weil es so ba¬
nal war, dass ich mir gar nicht vorstellen
view ausgeführt hat,
konnte, dass es das ist.» Und dezidiert
bringt Blum seine Gegenposition zur Gel¬
tung: «Die Erzeugung von Klang ist Ge¬
genstand meines Musikmachens... Ich
setze grafische Gebilde um in akustische
Gebilde. Und der Klang, der entsteht, ist
Gegenstand der Musik und nichts anderes.
Ich sehe nicht», fügt er hinzu, «dass da im¬
mer eine literarische Nachricht sein muss,
die von einer besseren oder schlechteren
Welt redet.»
Nebst Disziplin und Präzision ist es was kaum überrascht bei einem «Prote¬
stanten», für den ästhetisches und ethi¬
sches Tun eins sind - vor allem die Verant¬
wortung gegenüber dem aufzuführenden
Werk und dessen Autor, von der Blum
bei seiner Arbeit sich leiten lässt. Doch
was heisst hier Verantwortung? Es gehe
ihm dämm, sagt Blum, «den Ansprü¬
chen der Partitur gerecht zu werden», und
solche künstlerische Rechtschaffenheit be¬
deutet nicht zuletzt den radikalen Verzicht
auf «eigenständige», besonders «originelle»
Werkinterpretation, den Verzicht darauf,
aus den Spielvorlagen «etwas machen» zu
wollen - statt dessen erfordert sie absolute
Werktreue im Sinn eines ständigen «sehr
genauen» Abwägens zwischen den von der
jeweiligen Partitur festgelegten Notwendig¬
keiten einerseits und den von ihr offen¬
57
gehaltenen Möglichkeiten anderseits. Die
Notwendigkeiten müssen erkannt und an¬
erkannt werden, die Möglichkeiten sind
optimal zu nutzen im Interesse einer un¬
mittelbaren Klangrealisierung, die durch
keinerlei musikalische Funktionen (etwa
psychologischer, symbolischer oder gar
politischer Art) belastet und behindert wer¬
den darf. Die Arbeit, die der ausführende
Musiker bei der Umsetzung grafischer Vor¬
gaben in akustische Vorgänge zu leisten
hat, ist - gerade auch im Fall des scheinbar
so simplen John Cage - von höchster
Komplexität und verlangt weit mehr als
das, was bei einem «richtigen» Interpreten
«richtiger» Musik vorauszusetzen ist.
Ob Eberhard Blum anhand eines visu¬
ellen Konzepts und einiger erläuternder
Sätze von Cage oder aber anhand einer
hundert Seiten umfassenden Partitur von
Feldman ans Werk geht - in jedem Fall
muss das an sich schon anspruchsvolle
Studium der Partitur, die ja nicht als direk¬
te Spielvorlage, sondern als offenes Spiel¬
projekt gedacht ist, ergänzt werden durch
eine detaillierte Ausarbeitung. Diese be¬
steht für Eberhard Blum darin, verbale, nu¬
merische, bisweilen auch ikonische Zei¬
chen und Informationen aufdie Zeitachse
zu übertragen, ihre instrumentale und
technische Realisierung festzulegen sowie
ein präzises Aktionsschema zu erstellen,
das für ihn - nicht aber notwendigerweise
auch für andere Musiker bei anderen
Aufführungen! - in der Konzertsituation
verbindlich sein wird und keine noch so
geringen improvisatorischen oder interpretativen Abweichungen zulässt, es sei denn,
der Komponist habe derartige Abwei¬
chungen als «unforseen eventualities» in
sein Konzept aufgenommen.
Der Ausführende solcher Musik ist in¬
sofern kein «richtiger» Interpret, als er eben
nicht vorab aufgezeichnete Melodien «in¬
terpretiert», sondern - der Eigengesetz¬
lichkeit des musikalischen Materials, des
jeweiligen Instruments, der jeweiligen kör¬
perlichen Verfassung und auch des Zu¬
falls folgend - Klangkonstellationen und
Klangverläufe ermöglicht, die trotz extre¬
mer Determinierung (etwa durch chrono¬
metrische oder spieltechnische Vorschrif¬
ten) als ständig sich verändernde, niemals
exakt wiederholbare lebendige Vorgänge
wahrzunehmen sind. Indem der Aus-
GALINA USTVOLSKAJA
(2. Sinfonie)
Aufträge nimmt sie keine
an. «Wenn Gott mir die
Möglichkeit gibt, etwas zu
schreiben, werde ich dies
führende das konzeptuelle Vorhaben des
Komponisten in einem Aufführungsplan
konkretisiert, welcher der musikalischen
Realisierung notwendigerweise vorange¬
hen muss und der durch die Instrumentie¬
rung, durch die Festlegung von Pausen und
andere Vorentscheidungen die Werkent¬
stehung massgeblich mitbestimmt, hat er
seinerseits integralen Anteil am Werk als
solchem, das ja immer erst als musikalisch
realisiertes, als ausgeführtes zur Voll¬
endung kommt.
Für Eberhard Blum sind die offenen oder «indeterminierten» - Werkkonzepte
von John Cage (im Unterschied zu «auf¬
geschriebener» Musik) so etwas wie musi¬
kalische Möglichkeitsformen, welche zur
Erzeugung von Klangereignissen Anlass
geben können, die unter andern Umstän¬
den und in andern Stacken nicht zustande
kämen: «Durch bestimmte Operationen,
Systeme, die ich mir erdacht habe, gibt es
Kombinationen von Notwendigkeiten, so
dass plötzlich ein Klang auf eine
ganz be¬
stimmte Weise erzeugt wird, auf die ich
selbst nie gekommen wäre.» Die Ausarbei¬
tung wie auch die Aufführung solcher
Werke hat durchweg experimentellen Cha¬
rakter, ist stets für Überraschungen, für
Entdeckungen gut und trägt damit zur per¬
manenten Modifikation und Erweiterung
dessen bei, was man sich gemeinhin unter
«richtigep> Musik vorstellt.
Die gewiss bedeutsamste Erweiterung mu¬
sikalischer Darbietangspraxis, die Eberhard
Blum gelungen ist und die zugleich als
seine unverwechselbarste performative Lei¬
stung gelten kann, ist die Aufführung von
Sprechstücken, und zwar vorzugsweise sol¬
chen, die aus lauter Sprachtücken bestehen,
Texte, wie man sie von Ball, Blümner,
Chlebnikow, Krutschonych, vor allem aber
von Kurt Schwitters kennt. Von Schwitters
hat Blum, nachdem er zuvor bereits als
Sprecher in diversen Musikwerken aufge¬
treten war, erstmals 1975 in New York die
Ursonate öffentlich vorgetragen. Der Erfolg
war gross - inzwischen ist die Ursonate, in
den USA ebenso wie in Europa, zum Para¬
destück des Verbalisten (oder Verbartisten)
Eberhard Blum geworden, der sie unlängst
ham (für «unbegleitete Stimme mit Mikro¬
fon») von John Cage im Künstlerhaus Be¬
thanien (Berlin 1977) gilt Blum - der seine
Vokaltechnik konsequent aus dem Flöten¬
spiel entwickelt hat - als einer der heraus¬
ragenden Sprechkünstler der Gegenwart;
sein rezitatorischer Personalstil kommt
dort am deutlichsten, auch am eindrück¬
lichsten zum Tragen, wo er mit transmen¬
talen, das heisst bedeutungsfreien und also
«unverständlichen» Texten arbeitet, die
ihm die Möglichkeit eröffnen, rein prosodisch, rein musikalisch zu sprechen und
am Leitfaden des sprachlichen Materials
sämtliche Register seines Atems und seiner
Stimme Schreien und Flüstern, Zischen
und Glucksen, Schnalzen und Hauchen,
aber auch das Rubato der Alltagsrede zur
Geltung zu bringen. Was dabei heraus¬
kommt und zu Gehör gebracht wird, sind
(diesseits von Goethe!) tatsächlich Urworte
orphisch, man glaubt sich am Nullpunkt
der Sprache aufzuhalten, an jenem utopi¬
schen Ort, wo es noch keine Sätze, keine
Aussagen gibt - nur Laute, Silben, mithin
Sprache pur; Sprache nicht als gewordene,
Sprache vielmehr als werdende, als authen¬
tisches, noch von keiner Bedeutung be¬
frachtetes «vokales Ereignis».
Eben dies hat sich Eberhard Blum - als
Sprecher wie als Flötist - zur stetigen Auf¬
gabe und zum asketischen Vergnügen ge¬
macht: musikalische, sprachliche Klänge in
ihrer Ereignishaftigkeit wahrnehmbar zu
machen; als reine Sensation, die nichts zu
verstehen, aber viel zu erfahren gibt.
-
-
¦
Zum Hinhören: Christian Wolff, Exercises (Eberhard
Blum, Roland Dahinden, Steffen Schleiermacher, Jan
Williams), hat ART CD 6167
Earle Brown, Four Systems (Eberhard Blum), hat ART
CD 6147
unbedingt tun. Meine
Arbeitsweise unterscheidet
sich in ihrem Ablauf
ganz wesentlich von der
anderer Komponisten.
Ich schreibe, wenn ich in
einen Gnadenzustand
gerate. Danach ruht das
Werk eine Zeitlang, und
wenn seine Zeit gekommen
ist, gebe ich es frei. Wenn
seine
Zeit nicht kommt,
vernichte ich es», schreibt
die St. Petersburger
Komponistin Galina
Ustvolskaja (geb. 1919).
«Mein Gott, gib mir
die Kraß zu komponieren!
bitte ich.» Etwas von
diesem Überwältigt-
und
Getriebensein, dieser
Stringenz und Zwang¬
haftigkeit drückt sich in
ihrer Handschrift aus. Es
ist ein Gekritzel, manisch
fast hinnotiert, es steigert
sich mit den innerlich
gehörten Klängen in die
Extreme wie in dieser
2. Sinfonie von 1979. Mit
mehrfachem Forte wer¬
den die Schläge gesetzt;
der Solist, schwarz geklei¬
det, spricht eher, als
dass er singt: ein Gebet des
Reichenauer Mönchs
Hermannus Contractus
und ein schmerzvolles
«Au, au-aueee...»
auch auf CD herausgebracht hat.
Seit der vielbeachteten Erstaufführung
der Sixty-Two Mesostics re Merce Cunning¬
58
T.M.
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