Stephan Grohs I Katrin Schneiders I Rolf G. Heinze unter Mitarbeit von Anna-Lena Schönauer und Claudia Ruddat Mission Wohlfahrtsmarkt Institutionelle Rahmenbedingungen, Strukturen und Verbreitung von Social Entrepreneurship in Deutschland ~~ ~~ Nomos Inhaltsverzeichnis Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 11 Abkürzungsverzeichnis 13 l. Einleitung: Neue Spieler auf etablierten Feldern 15 2. Der neue Diskurs: Begrifflichkeiten und theoretische Perspektiven 22 3. Strukturen der Wohlfahrtsproduktion in Deutschland 36 3.1 3.2 Institutionelle Ausgangslage Akteure der Wohlfahrtsproduktion 36 40 4. Deutschland in Perspektive. Die institutionelle Einbettung Sozialer Dienstleistungsproduktion im internationalen Vergleich 47 4.1 4.2 4.3 48 49 4.4 4.5 Institutionelle Grundlagen von Wohlfahrtsstaatlichkeit Rolle des Dritten Sektors und privatgewerblicher Anbieter Finanzierung des Dritten Sektors: Die beschränkte Rolle der Philanthropie Wandlungsimpulse Gelegenheitsstrukturen fur Social Entrepreneurship? 5. Wandlungs prozesse im sozialen Dienstleistungssektor 62 5.1 5.2 5.3 5.4 Altenpflege Behindertenhilfe Frühkindliche Bildung und Erziehung Jugendhilfe 67 68 70 54 56 58 72 7 Inhaltsverzeichnis 6. Zur Rolle von neuen Akteuren 78 6.1 6.2 6.3 6.4 wellcome gGmbH nestwänne e.V. Deutschland Chancenwerk e.V. Zwischen Stabilität und Wandel: Trends der Wohlfahrtsproduktion 79 80 81 7. 7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.4.1 7.2.4.2 7.2.4.3 7.2.5 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.4 7.4.1 8 Social Entrepreneurship in Deutschland: Strukturen der "alternativen" Wohlfahrtsproduktion in zwei ausgewählten Handlungsfeldern Anlage der empirischen Untersuchung und methodisches Vorgehen Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund (Anna-Lena Schönauer) Die Bildungsbeteiligung von Schülern mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem Von der Schule bis zur Nachhilfe - Individuelle Förderung in Deutschland Ansätze zur individuellen Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund und deren Wirksamkeit Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund - eine empirische Bestandsaufnahme Die schulischen Rahmenbedingungen im Handlungsfeld "Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund" Projekte im Handlungsfeld "Förderung von Kindern mit Migrations-hintergrund" - Inhaltliche Ausgestaltung, Akteure und Organisation Innovative vs. traditionelle Projekte im Handlungsfeld "Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund" Chancen und Herausforderungen im Handlungsfeld Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund Kultursensible Altenhilfe (Claudia Ruddat) Ältere Migrantinnen und Migranten in Deutschland - ein Überblick Kultursensible Altenhilfe und -pflege - ein emergentes Handl ungsfeld Soziale Innovationen der kultursensiblen Altenhilfe Vergleichende Analyse der Handlungsfelder Initiierung: Etablierte und neue Akteure 84 87 88 93 94 97 100 102 103 107 111 115 118 119 122 123 l35 135 Inhaltsverzeichnis 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5 Inkubatoren der Innovativität: Vernetzung und Kooperation Strategische Ausrichtung Finanzierung Die institutionelle Einbettung von Social Entrepreneurship 137 139 143 146 8. Innovation durch Vernetzung - Soziale Innovationen 150 8.l. 8.2. Der Diskurs um Soziale Innovationen Soziale Innovationen am Beispiel von sozialen Dienstleistungen für ältere Menschen Quartierskonzepte und Genossenschaften als Handlungsrahmen für Soziale Innovationen Social Entrepreneurs als "Treiber" Sozialer Innovationen? Herausforderungen für die Akteure des Wohlfahrtsstaates 151 8.3. 8.4. 8.5. 9. 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 Die Transformation sozialer Dienstleistungsproduktion: Unklar werdende Grenzen zwischen Staat, Markt und Gemeinschaft Neue und alte Rollen des Bürgerschaftlichen Engagements und intermediärer Akteure Neue und alte Rollen für Politik und Verwaltung Neue und alte Rollen für den Markt Neue Rolle von Vernetzung: Hybride Rollenverschränkung Ausblick 10. Literaturverzeichnis 154 165 170 172 178 181 185 189 191 194 203 9 l. Einleitung: Neue Spieler auf etablierten Feldern Die internationale Debatte um Social Entrepreneurship und ein neues Sozialunternehmertum ist mittlerweile auch in Deutschland angekommen. Angeregt und finanziell unterstützt durch Stiftungen und Mittlerorganisationen erregt der Begriff vermehrt die Aufmerksamkeit in Fachmedien, sozial wissenschaftlichen Veröffentlichungen und neuerdings auch der Politik. So spricht das Bundesfamilienministerium den neuen "Sozialunternehmern" eine besondere Bedeutung bei, "weil sie aus einem gesellschaftlichen Antrieb heraus mit unternehmerischen Mitteln dazu beitragen, dass für unser Gemeinwesen relevante Herausforderungen wirksam bearbeitet und einer Lösung zugeführt werden" (BMFSFJ/Deutscher Bundestag 2012: 7). Nach dieser offiziellen Würdigung ist der Weg zur Förderung nicht weit, den auch die Europäische Union (EU) gehen wird: ab 2014 werden Sozialunternehmen speziell gefördert (vgl. für einen Überblick über die Förderpolitik Zimmer/Bräuer 2014: 16f). Der Hype um Social Entrepreneurship hat aber nicht nur die Medien und darüber vermittelt die Politik erreicht, sondern auch das Wissenschaftssystem. An vielen Hochschulen entstehen neue Studiengänge und Professuren für Social Entrepreneurship, es werden Konzepte für eine "Social Entrepreneurship Education" (Schwarz 2014) entwickelt, ohne dass immer hinreichend begründet wird, worin das "neue" eigentlich bestehe und warum akademische Disziplinen sich daraufhin ausrichten sollen. In diesem Buch soll geklärt werden, ob und inwieweit die von vielen Akteuren formulierten Ansprüche bzw. Erwartungen an "Social Entrepreneure" von diesen auch eingelöst werden. Auch wenn nicht der Organisationserfolg im Mittelpunkt steht, stellt sich die Frage nach den Auswirkungen dieser von den Akteuren selbst so definierten sozialen Innovationen. Nach einer anfänglichen Euphorie macht sich inzwischen auch in der Szene des Social Entrepreneurships selbst Ernüchterung breit; die wenigsten Projekte können ohne Förderung überleben und auch die Förderer (wie große Stiftungen) fragen zunehmend nach den nachhaltigen sozialen Wirkungen. Die Effizienzthematik trifft auch die vermeintlich innovativen Projekte, die wohl nur dann Überlebenschancen haben werden, wenn sie Wirkungs- und Effizienzkriterien erfüllen und damit auch vorzeigbare Beispiele für eine allgemeine Umsetzung liefern. 15 1. Einleitung: neue Spieler au/etablierten Feldern Überraschend ist, dass nicht die Wohlfahrtsverbände in der expandierenden Sozialwirtschaft im Fokus des öffentlichen Interesses stehen, sondern die Medien und die Politik (und auch die Wissenschaft) ihr Augenmerk in den letzten Jahren auf die neu entstandenen Social Entrepreneurs richten (ohne dass es eine einheitliche Definition gäbe). Sie werden sogar zum Hoffnungsträger einer Reaktivierung des Sozialen und zu einer Versöhnung von Unternehmertum und Gemeinwohl stilisiert: Die "Mission Wohlfahrtsmarkt" jenseits etablierter Kooperationsmuster nimmt in ihnen personalisierbare Gestalt an. Diskursgeschichtlich stellt Social Entrepreneurship das neueste Gegenmodell zu den verkrusteten Strukturen der Wohlfahrtsproduktion dar. Nach dem Abflauen der Begeisterung für das Modell der Bürger- oder Zivilgesellschaft ist ein neuer Topos auf den Öffentlichkeitsmarkt getreten: Neue "Weltretter", d.h. Unternehmer, die keinen Profit, sondern sozialen Mehrwert schaffen wollen. Die aktive Gestaltung des Sozialen vor dem Hintergrund sozioökonomischer Unsicherheiten scheint auf viele Beobachter bürokratisierter wohlfahrts staatlicher Systeme imponierend zu wirken. Aus soziologischer Sicht zeigt sich in den Social EntrepreneurshipProjekten ein Suchprozess aus der Krise der Ökonomie und insbesondere der Staatsfinanzen. Der Wandel hin zum "Konsolidierungsstaat" (Streeck 2013) ist die sozioökonomische Folie, die auf eine verminderte soziale Integrationsfahigkeit des liberalisierten Kapitalismus hinweist und Suchbewegungen in Richtung selbststeuernder Gemeinschaften auslöst. Gemeinsam ist den Social Entrepreneurship-Initiativen, dass sie lokale öffentliche Güter ohne die ("Zwangs")-Institution Staat realisieren und damit als institutionelle Innovatoren wirken wollen. Zweifellos zeigen sich hier jenseits von Markt und Staat neue sozialkulturelle Ordnungsschemata, wenngleich die Darstellung mancher Projekte überhöht ist. Empirische Indikatoren verdeutlichen allerdings, dass sich eine "Kultur der Selbstständigkeit" zukünftig weiter ausbreiten wird. Auch international lässt sich der Wandel von einer "managed" zu einer "entrepreneurial economy" nachzeichnen (in Deutschland schon länger unter dem Begriff "Arbeitskraftunternehmer" (Pongratz/Voß 2003) diskutiert). Bezogen auf den Sozialsektor sind solche Fragestellungen für Deutschland durchaus neu, der abgeschottete Sozialkorporatismus ließ wenig Raum für Experimente. Der hoch regulierte Sozialsektor mit eingeschliffenen Finanzierungswegen, Kooperationsund Arbeitsbeziehungen bietet wenig Gelegenheiten für kreative unternehmerische Lösungen - in der Folge haben die meisten Social Entrepreneurship-Projekte einen prekären finanziellen Status. 16 1. Einleitung: neue Spieler auf etablierten Feldern Auch wenn sie nur begrenzt überlebensfähig sind, bleibt dennoch die Frage, ob ihre hohen Ansprüche berechtigt sind und ob diese innovationsfördernd im etablierten System der Wohlfahrtspflege wirken können. Von der Zielsetzung her treten die Protagonisten des Social Entrepreneurship sehr selbstbewusst auf: "Social Entrepreneurship" liefert in der Verbindung von gesellschaftlicher Zielsetzung und unternehmerischer Funktionsweise sowohl für die Herausforderung der Finanzierung, als auch für die Herausforderung der Maximierung gesellschaftlichen Mehrwerts zukunftsweisende Impulse, auf die der Sozial sektor zunehmend angewiesen ist" (Oldenburg 2011: 156). In diesen Passagen wird eine Mission und ein gewisses Sendungsbewusstsein sichtbar sowie der Anspruch, eine Alternative zum traditionellen Wohlfahrtsstaat oder rein marktlichen Lösungen zu entwickeln. Sicherlich ist es reizvoll, kreative "unternehmerische" Lösungsvorschläge im Sozialsektor zu thematisieren, allerdings sollte dabei der besondere historische Entwicklungspfad der Wohlfahrtsproduktion in Deutschland beachtet werden, der immer Vermischungen zwischen den Sektoren aufwies und sich hinsichtlich neuer Projekte mit einiger Verzögerung oft als "Auffangbecken" erwies und soziale Innovationen in die gewachsene Verbändelandschaft integrierte. Jenseits des offensichtlichen Hypes stellen sich deshalb Fragen, welchen zusätzlichen Mehrwert diese "neuen" Formen sozialer Aktivitäten für die bestehenden Strukturen der Wohlfahrtsproduktion bringen und wie sich die empirische Bedeutung und organisatorische Ausgestaltung dieser neuen Spieler-darstellt. Schließlich ist zu fragen, wie sich die neuen Spieler in etablierte Strukturen sozialer Dienstleistungsorganisation einpassen, mit den dort herrschenden Spielregel zu spielen lernen und Innovationsanstöße jenseits ihrer eigenen "Mission" zu geben vermögen. Diese Fragen gewinnen an Relevanz, wenn man sie in die Veränderungen der sozialen Dienstleistungsproduktion der letzten Jahre einbettet. Ausgelöst durch veränderte institutionelle Rahmenbedingungen haben sich die Trägerstrukturen des sozialen Dienstleistungssektors erheblich gewandelt. Erkennbar sind sowohl trägerinterne Umstrukturierungen als auch Verschiebungen zwischen den einzelnen Trägertypen sowie das Entstehen neuer Trägerformen. Mit Social Entrepreneurs tritt neben die "etablierten" Träger, d.h. für Deutschland die traditionelle Wohlfahrtspflege sowie öffentliche Träger, ein (vermeintlich) neuer Trägertyp, der für sich in Anspruch nimmt, durch die Verknüpfung von sozialem Engagement und untemehmerischem Handeln die Effektivität der Produktion sozialer Dienstleistungen zu verbessern. 17 1. Einleitung: neue Spieler auf etablierten Feldern Vielfach fokussiert die Debatte auf die Erfassung des einzelnen, förderungswürdigen Social Entrepreneurs als Teilausschnitt des Phänomens Social Entrepreneurship. Diese Akteurzentrierung resultiert aus der hervorstechenden Stellung einer Einzelperson für die Organisation. Entweder hat sie die Erschließung eines neuen Handlungsfelds initiiert oder eine neue, den herausragenden Erfolg der Organisation begründende, Herangehensweise an ein gesellschaftliches Problem eingeführt. Der in diesem Sinne verstandene Social Entrepreneur findet seine Motivation in dem Willen, eine drängende gesellschaftliche Frage zu bearbeiten. Ein solches Verständnis wird beispielsweise der Förderung mit Stipendien durch Ashoka zugrunde gelegt (Ashoka 2010). Meist ist das Engagement biographisch erklärbar. Die Risikobereitschaft begründet sich hier aus einer mutmaßlich philanthropischen Haltung. Diese Personalisierung mag im Hinblick auf eine Lenkung der medialen Aufmerksamkeit zweckmäßig sein, begrenzt allerdings den Untersuchungsgegenstand auf eine äußerst kleine Gruppe von Akteuren, deren Eruierung infolge der subjektiven Kriterien übermäßig von der Selbstwahrnehmung der Einzelperson abhängig wäre. Wie diese neuen Akteure in etablierte Strukturen der Wohlfahrtsproduktion eingebunden werden, wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung dagegen noch unzureichend behandelt. Im Weiteren soll dieser Frage nachgegangen werden. Genauer geht es in diesem Band um folgende Fragen: • Welche Merkmale zeichnen Social Entrepreneurs aus; welche Handlungsorientierungen werden von Social Entrepreneuren ausgefüllt? • Wo liegen die "Einfallstore" für soziale Unternehmen als hybride Organisationen, wie reagieren die traditionellen Anbieter sozialer Dienste, allen voran die Wohlfahrtsverbände auf diese Herausforderung? • Wie können Organisationen des Social Entrepreneurship produktiv in etablierte Strukturen eingepasst und Kooperationsstrukturen aufgebaut werden, die etablierte und neue innovative Lösungen ermöglichen? Stichworte sind hier Vernetzung und Schnittstellenmanagement. • Wie kann die Debatte um Social Entrepreneurship mit den aktuellen Diskussionen zu Legitimationsverlusten der traditionellen Wohlfahrtspflege, einem neu austarierten "Wohlfahrtsmix", sozialen Innovationen und eine Vermarktlichung sozialer Dienste verknüpft werden? Bislang hat sich in Deutschland keine einheitliche Definition des aus dem angelsächsischen Bereich stammenden Begriffs des "Social Entrepreneurship" durchsetzen können. Die simple Übersetzung aus dem Englischen 18 1. Einleitung: neue Spieler auf etablierten Feldern ("Sozialunternehmertum") ist ebenso wenig eindeutig wie die bisweilen anzutreffende Gleichsetzung des Begriffs mit (vermeintlich) philanthropischen Gründerpersönlichkeiten. Neben der Abhängigkeit vom jeweiligen institutionellen Kontext variieren die Interpretationen dessen, was unter Social Entrepreneurship zu verstehen ist, mit der wissenschaftlichen Disziplin, aber auch mit der Motivation, Message oder Handlungsorientierung des den Begriff verwendenden Autors. Innerhalb eines "neuen" Social Entrepreneurship-Sektors können sehr unterschiedliche Organisationsformen verortet werden. Das Spektrum reicht dabei von der unternehmensnahen Stiftung mit einem Budget von mehreren Millionen Euro und einem Mitarbeiterstab eines Konzerns über die Initiative eines Einzelnen, der sich einen von ihm als drängend empfundenen sozialen Problems annimmt und dies zunächst als Einzelunternehmer ohne weitere Mitarbeiter bearbeitet. Quantitative Daten zur Zahl der Organisationen und ihrer Beschäftigten sowie den von ihnen bearbeiteten Tätigkeitsfeldern sind bislang außer für die eindeutig den privat-gewerblichen Unternehmen zuzuordnenden Organisationen, für den auch amtliche Statistiken vorliegen, nur in unsystematischer Form vorhanden. Dies ist vor allem auf die Hybridität der Organisationen zurückzuführen, die eine klare Zuordnung erschwert. Der hier interessierende Sektor des "Social Entrepreneurship" wird in Deutschland aber um ein Vielfaches größer sein, als die bei den beiden Organisationen Ashoka und Schwab Foundation akkreditierten 46 bzw. 13 Fellows bzw. Social Entrepreneurs (Stand April 2014).2 Die Produktion sozialer Dienstleistungen ist ein komplexer Prozess. Zur Komplexität tragen sowohl die Spezifika der Dienstleistungen selbst als auch die jeweiligen Austauschprozesse zwischen Produzenten und Konsumenten bei (vgl. die Beiträge in EverslHeinze/Olk 2011). Spezifika, die in einigen Dienstleistungsbranchen zum Teil überwunden wurden, wie z.B. das uno actu-Prinzip bzw. die Koproduktion durch die Klienten und die schwierige Qualitätsbeurteilung, haben hier zum Großteil weiter Bestand. Zwischen den Konsumenten und Produzenten besteht eine Asymmetrie bezüglich des Wissens um die Notwendigkeit einerseits und die qualitative Ausgestaltung des Dienstleistungsprozesses andererseits. Konsumentensouveränität ist nicht nur hinsichtlich des Umfangs und der Art 2 Vgl. zum Versuch, einer systematischen Erfassung der Organisationen, die der "Zivilgesellschaft" zuzuordnen sind, das beim Stifterverband angesiedelte Projekt "Zivilgesellschaft in Zahlen"; www.Stifterverband.de. 19 1. Einleitung: neue Spieler au/etablierten Feldern der Dienstleistungen limitiert, sondern auch wegen der oftmals eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten und/oder individueller Fähigkeiten. So wird von einem delinquenten Jugendlichen der Bedarf an Hilfe nicht wahrgenommen und auch die angebotenen sozialen Dienstleistungen werden von ihm weder ausgewählt noch sind sie in ihrer Qualität von ihm beurteilbar. Die Diskussion um Qualitäts- und Wirkungsmessung ist in diesem Feld zwar umfangreich, jedoch noch weit davon entfernt etablierte Standards gefunden zu haben (vgl. Otto/Polutta/Ziegler 2010; Mildenberger/Müscher/Schmitz 2012). In einigen Hilfefeldern wie der Altenpflege wurden in den letzten Jahren eine Reihe von Steuerungsmaßnahmen ergriffen, um die Transparenz im Sektor zu erhöhen (Qualitätsberichte, Pflegenoten). Hinzu kommt eine hohe Regulationstiefe, die den Spezifika geschuldet ist, aber auch damit zusammenhängt, dass ein Großteil der sozialen Dienstleistungen eben nicht im Rahmen von Marktprozessen zwischen Kunden und Produzenten ausgetauscht werden (Dienstleistung gegen Geld), sondern in einem Dreiecksverhältnis zwischen Kostenträger, Kunde und Leistungserbringer. Dabei setzte seit Mitte der 1990er Jahre (Einführung der Pflegeversicherung; Reform der Arbeitsverwaltung; Kommunalisierung der Eingliederungshilfe in einigen Bundesländern) eine Differenzierung auf Seiten der öffentlichen Kostenträger ein, die das Feld fur Leistungsempfanger und anbieter unübersichtlicher gestaltet. Für soziale Aufgabenfelder, die "quer" zu den etablierten Strukturen liegen und beispielsweise Nischen bearbeiten, ist es schwierig, adäquate Finanzierungsstrukturen aufzubauen, da ein hoher Regulierungsgrad entlang der Säulen der Sozialgesetzgebung existiert, der häufig mit den etablierten Strukturen der Wohlfahrtsproduktion kongruent ist. Anbieter, die dem Social Entrepreneurship zugerechnet werden können, stoßen in dieser Landschaft auf zahlreiche institutionelle Hürden: Für neue innovative Angebote existiert häufig keine klare öffentliche Finanzierungsverantwortung, so dass ein Lobbying in eigener Sache notwendig wird. Im Feld der etablierten Aufgaben finden sich häufig geschlossene Märkte, da weiterhin bestehende korporatistische Routinen überwiegen und eine enge Verwobenheit zwischen Fachverwaltungen als Kostenträgem und etablierten Anbietern aus der Verbändelandschaft zu beobachten ist. Ausgehend von der traditionellen Ausgestaltung deutscher Wohlfahrtsarrangements und der inzwischen Jahrzehnte andauernden Debatte um deren Leistungsgrenzen, ihre Defizite und mögliche Reformoptionen, wird im Folgenden das neue Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet: Mit dem internationalen Vergleich der Rolle von Sozialunter20 1. Einleitung: neue Spieler auf etablierten Feldern nehmern in der sozialen Dienstleistungsproduktion sowie einer Analyse des Framings des aktuellen deutschen Diskurses sollen die inhärenten Widersprüche einer Übertragung des angelsächsischen Social Entrepreneurship-Diskurses, aber auch der französisch geprägten Diskussion zur "Economie Sociale" auf EU-Ebene, mit dem deutschen Kontext herausgearbeitet werden. Mit einer quantitativen Analyse der empirischen Verbreitung von neuen Organisationsformen in den ausgewählten Feldern der kultursensiblen Altenhilfe und der Angebote für Schüler mit Migrationshintergrund wird erstmals ein Beitrag zur Einordnung der Relevanz des Phänomens für Deutschland geliefert. In Fallstudien zu ausgewählten Projekten wird ausführlich auf die besonderen Probleme und Chancen "neuer Spieler" auf Wohlfahrtsmärkten eingegangen. Die empirischen Befunde werden in den abschließenden Abschnitten in die aktuelle wissenschaftliche Diskussion eingebettet und daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet. 21 9. Die Transformation sozialer Dienstleistungsproduktion Auf der anderen Seite sind auch die Social Entrepreneurs mit z.T. sehr forschern Auftreten und einer teilweise naiven Herangehensweise an etablierte Strukturen in Politik und Verwaltung oft gescheitert. Die neuen Akteure im Sozialsektor sollten daher beachtet, aber (nach den bisher vorliegenden Befunden) nicht überschätzt werden. Social Entrepreneurs können als Innovationsinkubator fungieren, aber es ist wahrscheinlich, dass eine "Eingemeindung" erfolgreicher Ansätze in etablierte Strukturen (nicht zuletzt auf Grund des Drangs zur Verstetigung und zu verlässlichen Förderstrukturen) erfolgen wird, so dass nicht "Change" (im Sinne weitreichenden Strukturwandels), sondern das Setzen kleiner feiner Unterschiede das Ziel von Social Entrepreneurship sein kann. 9.5 Ausblick Wenn auch strukturelle Wandlungsprozesse des Wohlfahrtskorporatismus eingeleitet sind, wird über eine Optimierung des Zusammenspiels zwischen Staat, Markt und intermediären Institutionen weiter gestritten werden. Der Prozess der strategischen Umorientierung ist allerdings insbesondere im Sozialsektor schwierig, weil Lernprozesse in etablierten Organisationsstrukturcn voraussetzungsvoll und einfache "Marktlösungen" aufgrund der Besonderheiten des Sektors nicht möglich sind. Für den Umbauprozess in Richtung einer besseren Balance zwischen Staat, Markt und "aktiver" Gesellschaft liegen bislang lediglich Erfahrungen auf Modellprojektebene vor, ein schlüssiges Gesamtkonzept wurde jedoch bislang jedoch weder von der (Sozial-)Politik noch von der Wissenschaft , noch von den Wohlfahrtsverbänden als zentralen Akteuren vorgelegt. Wie schwierig sich die Vernetzung und Steuerung heterogener Akteure gestaltet, zeigt sich an einer Vielzahl von verzögerten und halbherzigen Reformen nicht nur in der Sozialpolitik, sondern auch in anderen Politikfeldern. Angesichts des Marktversagens und der drohenden Überforderung des Staates sind in dieser historischen Phase die gesellschaftlichen Ordnungsleistungen gefragt; zu einem Zeitpunkt, an dem auf den gesellschaftlichen Akteuren (etwa den Wohlfahrtsverbänden) "multiple Druckpotenziale" (Schimank 2011: 24) lasten, die die Dynamik einschränken. Auch wenn es reizvoll (da einfach) ist, unternehmerische Lösungsvorschläge im Sozialsektor zu thematisieren, sollte der besondere historische Entwicklungspfad der Wohlfahrts produktion in Deutschland bzw. die spezifische Ko-Evolution von Verbänden und Wohlfahrtsstaat beachtet werden. Die breite Thematisierung von Social Entrepreneurship 194 1 9.5 Ausblick zeigt eine Verunsicherung im Wohlfahrtssystem, aus denen sich an einigen Stellen neue, zumeist hybride Verschränkungen in vielen sozialen Dienstleistungsfeldern entwickeln. In der Altenhilfe bzw. -pflege als dem sozialpolitischen Feld mit dem vielleicht höchsten Handlungsdruck gibt es bspw. einen neuen Konsens: Anstatt isolierter Pflegeheime wird der sozialräumliche Kontext ("Pflege im Quartier") in den Fokus genommen. Dies kann nur durch neue Allianzen zwischen verschiedenen Akteuren, ggf. in Projektform - mithin Sozialen Innovationen - gelingen. Die Debatten zu Sozialen Innovationen könnten auch ein Weg für die traditionelle Wohlfahrtspflege sein, ihr Leistungspotenzial neu auszurichten. Vor dem Hintergrund der unsicheren Finanzierungsstrukturen und Vertrauensproblemen (insbes. im Kirchenumfeld) sind solche Optionen nicht einfach umzusetzen. Eine Modemisierung des Wohlfahrtsverbändesystems in Richtung eines ausbalancierten Akteursystems mit multiplen Funktionen kann dann gelingen, wenn die Re-Organisation nach innen offen und nach außen transparent (auch in Finanzierungsfragen) verläuft. Nur dann kann ein gesellschaftlicher Konsens über die Notwendigkeit und Zukunftsfähigkeit der freien Wohlfahrtspflege wieder hergestellt werden. Es gibt generell ein gesteigertes Interesse an Formen öffentlicher Güterproduktion. Für Wohlfahrtsverbände wie neue Spieler wird es darauf ankorrunen, Teil von Innovationsallianzen zu werden. Sie müssen strategisch auf Kooperation und Vemetzung setzen und Innovationen vorzeigen. Verschiedene Studien belegen zudem, dass die Potenziale des Bürgerengagements nicht hinreichend ausgeschöpft werden. Wie die mittlerweile auch politisch geforderten Formen eines "Wohlfahrtsmix'" strukturiert sein sollen, um sich erfolgreich ausbreiten zu können, ist noch nicht klar. Das alte korporatistische Ordnungsmodell ist in seiner Gänze nicht mehr vorhanden, Ökonomisierungsaspekte haben zum Teil problematische Effekte und eine Rückkehr zum etatistischen Modell scheint auch nicht möglich, gefordert sind also auch experimentelle Antworten. Im Feld der sozialen Dienste zeigen sich eine Pluralisierung der Trägerlandschaft und eine Binnendifferenzierung der etablierten Wohlfahrtsverbände, die jedoch zu einer Verantwortungsdiffusion führen. Die neuen Verschränkungen von sozialstaatlichen, marktbezogenen und bürgergesellschaftlichen Elementen in sozialen Einrichtungen und Diensten werden nicht umsonst als hybride Organisationsformen bezeichnet. Die Fokussierung auf Eigenverantwortung und Selbstorganisation im Rahmen eines Wohlfahrtsmix sollte jedoch nicht als Aufforderung zur Privatisierung und einen Rückzug des Staates verstanden werden, vielmehr geht es um die Mobilisierung und Stärkung sozialen Engagements sowie die Modemisie195 I 9. Die Transformation sozialer Dienstleistungsproduktion rung verkrusteter Organisationsstrukturen. Dazu werden jedoch innovative Gestaltungsakzente durch eine aktivierende Dienstleistungspolitik benötigt, die bislang hierzulande noch unterentwickelt ist. Eher dominieren in der deutschen Sozialwirtschaft noch soziosklerotische Tendenzen (vgl. Evans/Galchenko/Hilbert 2013). Es gibt aber bereits verschiedene Bereiche, in denen sich ein "schleichender" Wandel zu mehr Eigenverantwortung, selbstregulierenden Strukturen und einer besseren Nutzung des Humanvermögens vollzogen hat (beispielsweise im Gesundheits- und Sozialsektor mit der Gründung von Selbsthilfegruppen). Sie weisen auf ein gesteigertes Interesse an alternativen Formen der Vergemeinschaftung jenseits von Markt und Staat hin. Solcherart komplementäre "Bewegungen von unten" sind im Feld sozialer Diensteauch deshalb vielversprechend, da in Deutschland nach wie vor von einem relativ hohen Niveau sozialer Sicherung auszugehen ist, das sicherlich manche Ungerechtigkeiten und wachsende Polarisierungen kennt, die meisten Risiken aber (noch) abfangen kann. Und auch die Einkommensarmut ist zwar in den letzten Jahrzehnten angestiegen, allerdings hat sich der betroffene Bevölkerungsanteil zuletzt kaum verändert (vgl. Grabka/Goebel/Schupp 2012). Dennoch breiten sich resignative Grundhaltungen und individuelle Klagen über soziale Ungerechtigkeiten immer weiter aus und verdrängen dabei die Debatte, inwieweit eine Neugestaltung der Dienstleistungen zum "Motor" für soziale Innovationen werden kann. Für rationale Politiksteuerung brechen dadurch schwere Zeiten an; grundlegende Irritationen in der "Vertrauenslandschaft" werden etwa von Bude (2010) attestiert - auf den Ebenen des Systemvertrauens, des Sozialvertrauens und des Selbstvertrauens. Beim Systemvertrauen geht es um die Gleichzeitigkeit von Markt- und Staatsversagen, die Sozialvertrauensverluste beziehen sich auf die Erosion eines homogenen Milieus und die Irritationen des Selbstvertrauens lassen sich auf die diffuser gewordenen Zusammenhänge von Leistung und Erfolg zurückführen. Zusammengenommen ergibt sich in vielen Fragen ein "grassierendes Misstrauensvotum gegenüber der Respondenzfahigkeit des politischen Systems" (ders. 2010: 28; vgl. auch Michelsen/Walter 2013), das nicht mehr durch eine Statusquo-fixierte Politik befriedigt werden kann. Vor allem wenn sich die Regierungspolitik auf resignative Positionen der Alternativlosigkeit zurückziehtsind Legitimationskonflikte vorprogrammiert. Die schwindende Akzeptanz wird vorangetrieben durch die Funktionsverluste der traditionellen Akteure (auch der Kirchen und Wohlfahrtsverbände) sowie der politischen Arenen (vor allem den Parlamenten). Wenngleich die Caritas und die Diakonie in der Bevölkerung größeres Ansehen als die derzeit unter Legitima196 9.5 Ausblick tionsdruck stehenden Amtskirchen besitzen, so sind in den letzten Jahren Vertrauensverluste der etablierten Wohlfahrtsverbände unübersehbar. Die von internen Kirchenkritikern geäußerten Vorbehalte gegenüber "Schweigekartellen" und die "Wagenburgmentalität" (vgl. Graf2011). haben nicht nur bei den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden zu de-legitimierenden Effekten in der Öffentlichkeit geführt. Die abgeschotteten Problemlösungen des Sozialkorporatismus mit der Tendenz zu "c1osed shops" entsprechen allgemein nicht mehr der sozialen Vielfalt und Problemlösungskompetenzen. Mit einer Strategie des "Weiter-So" würden die Wohlfahrtsverbände ihre Prägekraft und den Anschluss an stärker individualisierte Sozialstrukturen und die Pluralisierung der Lebenswelten weiter verlieren. Das neue Interesse an Social Entrepreneurship kann als Ausbruch aus den Blockaden bzw. Sklerosen gedeutet werden. Damit werden Hoffnungen geschaffen, allerdings gibt es auch Risiken. Die Pluralisierung und Hybridisierung der Wohlfahrtsproduktion wird weitergehen, wobei insbesondere mit einer verstärkten Vermarktlichung zu rechnen ist. Die Fragmentierungsprozesse im Feld sozialer Dienste werden eine der "Schlüsselthemen des 21. Jahrhunderts" sein. Damit stellt sich die Frage, ob die "korporatistische Variante gesellschaftlicher Selbststeuerung in einer post-industriellen Gesellschaft, die von sinkenden Organisationsgraden bei den großen Verbänden, zunehmender sozialer Heterogenität und einem sich verändernden Verhältnis von Staat und Verbänden geprägt ist, noch hinreichend Legitimation und Durchsetzungskraft hat?" (Busemeyer/Ebbing-haus/Leibfried et al 2013: 70). Wenngleich derzeit die Chancen für eine aktive Gesellschaftsgestaltung nicht allzu hoch eingeschätzt werden, sollte "Vater Staat" nicht gänzlich abgeschrieben werden. Dafür ist der Wohlfahrtsstaat viel zu sehr in der Gesellschaft präsent und überrascht ja auch immer wieder durch Problemlösungen. Lernprozesse werden in einer von Großorganisationen dominierten Gesellschaft eben zumeist durch externe Schocks ausgelöst. Da in den Politikfeldern der sozialen Sicherung Entwicklungsprozesse aber relativ langsam verlaufen, ist aus dieser Sicht (anders als etwa in der Energiepolitik) derzeit kein großer Push zu einem grundlegenden Politikwandel zu erwarten. Dies zeigte sich jedenfalls in der jüngeren Vergangenheit. Wenn man den "mentalen" Zustand der relevanten politischadministrativen Akteure in Deutschland in diesem Politksektor etwas holzschnittartig beschreiben sollte, dann ist oft noch immer eine Furcht vor dem Wandel zu konstatieren. Das Beharrungsvermögen und die Eigeninteressen der traditionellen politischen Akteure sind nicht zu unter197 9. Die Transformation sozialer Dienstleistungsproduktion schätzen, obwohl der Spielraum für Variationen innerhalb eines Entwicklungspfades relativ groß ist und auch Pfadkombinationen möglich sind. Anhand der Diskurse um die neue Bedeutung von Social Entrepreneurs in den letzten Jahren zeigt sich, wie brüchig der alte Konsens der "Wohlfahrtsbürokratie" geworden ist und welche latenten Existenzsorgen relativ kleine "neue Spieler" (allerdings mit viel Medienunterstützung) produzieren können. Zudem hat sich auch in Deutschland ein buntes Bild einer wachsenden Experimentierlandschaft herausgebildet. Nicht nur Social Entrepreneurship-Projekte, sondern auch neu entstehende Gruppierungen wie Seniorengenossenschaften, "Zeitbanken", Quartiersinitiativen oder auch Dorfläden sehen sich als oft multifunktionale Krisenlöser, die sich von eindimensionalen Organisationslogiken bewusst abgrenzen. Man kann sie mit der Formel "Mach dein Ding" umschreiben. Auf lokaler Ebene haben sich in den letzten Jahren (auch in besonders benachteiligten Stadtteilen) solche "Selbermacherprojekte" gebildet und neue Chancen für lokale Partizipation aufgebaut. ,,»Selbermacherprojekte« vernetzen Menschen und sparen zugleich Kosten, weil die Bürger Leistungen in Eigenarbeit erbringen, die eigentlich Aufgaben der Gemeinde bzw. der Wohnungswirtschaft sind, wie z. B. eine Begrünung des Schulhofs oder andere Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes. Eine Qualifizierungsmaßnahme alleinerziehender Mütter mit Sozialhilfebezug in ei~er Ruhrgebietsstadt hat ihre Klientel aus dem Wohnbereich und nicht nach dem Buchstabenprinzip rekrutiert. Auf diese Weise entstand nach weniger als einem Jahr ein lokales Netzwerk von Frauen in ähnlicher Lebenssituation, die noch vor Beginn der Maßnahme ihre soziale Isolation beklagt hatten" (Strohmeier 2009: 171; vgl. zusammenfassend zur Sozialraumorientierung FehrenlHinte 2013). Bei all diesen selbstorgansierten Projekten geht es um "die Einrichtung von Praktiken, die darauf abzielen, Fähigkeiten zu entwickeln, Akteur der eigenen Veränderung zu sein. Sie verweist notwendig auf die Klärung des neuen Verhältnisses zwischen Chance und Schutz" (Ehrenberg 2011: 492). Die Besinnung auf die eigene Kreativität und Autonomie sowie die Suche nach einer Selbstständigkeit in hybridartigen Formen wird auch durch die schlechten Einstiegschancen gerade für junge, hochqualifizierte Menschen geweckt. "Young, educated and unwanted" ist eine Formel, die manche junge Leute in Existenzgründungen oder gemeinschaftliche Alternativprojekte treibt. Diese Aussage gilt zunehmend weniger für deutsche Verhältnisse, sicherlich aber noch in vielen westeuropäischen Ländern. Socia1 Entrepreneurs können auch in Deutschland sozialintegrierend wirken, indem sie bspw. neue Ansätze entwickeln, bislang engagementferne 198 9.5 Ausblick Gruppen gezielt ansprechen (z.B. Schüler mit Migrationshintergrund) oder bewusst modeme Kommunikations- bzw. Rekrutierungsstrategien über soziale Medien umsetzen. Darüber können neue Engagementpotentiale generiert und stabilisiert werden. Wenngleich also "Schleichwege" aus der traditionellen Pfadabhängigkeit möglich sind, verbleiben die bislang realisierten institutionellen Innovationen noch weitgehend dem klassischen Leitbild verhaftet und zeigen eher sogar Erschöpfungszustände (vgl. Trampusch 2009 und Heinze 2011). Dennoch teilen wir nicht den allseits grassierenden SteuerungspesSImIsmus. Auch wenn es viele Hürden (bspw. die Kompetenzzersplitterungen oder anders gesagt die Eigenlogiken der "political streams"21) zu überwinden gilt, um den Gestaltungsauftrag der öffentlichen Daseinsvorsorge zu realisieren, deuten sich in den zunehmend entgrenzten Politikfeldern neue Formen von Govemance an, die allerdings Kreativität und Lembereitschaft bei den Akteuren fur solch ein strategisches "Kontingenzmanagement" voraussetzen. Bedacht werden muss zudem, dass in die institutionellen Besonderheiten der jeweiligen Politikfelder auch kulturelle Faktoren und gesellschaftliche Leitbilder verwoben sind, die sich gegen Wandlungsprozesse zunächst sträuben. Die Beseitigung der Unübersichtlichkeit der staatlichen Interventionen gerade im Sozialsektor ist sicherlich der erste Schritt für eine grundlegende, integrativ ansetzende Neuorientierung. Wichtig ist der richtige Zeitpunkt für Innovationen: die Nutzung der "windows of opportunity" (gekoppelt mit politischen Entrepreneuren). Hat man diese Handlungskontingenzen vor Augen, dann sind zwar auch in der Sozialpolitik positive (weil evidenzbasierte) Resultate eher eine Ausnahme denn die Regel. Allerdings können sie dann gelingen, wenn ein "window of opportunity" zur Verfügung steht, die Politikströme gekonnt zusammengeführt und Entscheidungen von den relevanten Politikakteuren zeitnah umgesetzt werden.- Der erste Schritt innerhalb einer experimentellen Innovationsstrategie ist die Entwicklung entsprechender dialogi- 21 Wir beziehen uns hier auf den "Multiple-Streams-Ansatz", der davon ausgeht, dass es keine systematische Verknüpfung zwischen einem Problem und einer bestimmten politischen Entscheidung (etwa einem Gesetz) geben muss. Politik ist deshalb weitaus weniger rational programmiert und liefert auch nicht unbedingt problemlösende Entscheidungen. Es sind verschiedene "Ströme" (multiple streams) zu unterscheiden, wobei die Ströme relativ autonom agieren und ihre eigene Dynamik und Antriebskräfte haben (Schmid 2011, 329; vgl. als Überblick Rüb 2009). 199 9. Die Transformation sozialer Dienstleistungsproduktion scher Diskussions- und Planungsfonnen, um ausgehend von einer Bestandsaufuahme der Potentiale eine Bündelung der Ressourcen der lokalen Akteure voranzutreiben. Durch die Vernetzung würden Synergieeffekte angestoßen und darüber könnten neue innovative Projekte in verschiedenen Sozialfeldern generiert werden. Unstrittig ist, dass kein allgemeiner Entwicklungspfad der Dienstleistungsproduktion mehr zu erkennen ist und sowohl die Governanceebenen als auch die Felder der sozialen Dienste unterschiedliche Wohlfahrtsarrangements aufweisen. Die verschiedenen Entwicklungstendenzen (von der Ökonomisierung der sozialen Dienste über die Pluralisierung der Trägerlandschaft, neue hybride Organisationsfonnen bis hin zur Erosion der verbandlichen Ehrenamtlichkeit) weisen darauf hin, dass sich das soziale Ordnungsmodell des Wohlfahrtskorporatismus zumindest in Teilbereichen entgrenzt und tendenziell verflüssigt hat. Die zentralen Säulen stehen zwar noch, bedürfen allerdings einer grundlegenden Konstruktionsrefonn. Als Leitbild kann ein erweiterter "Wohlfahrtspluralismus" bzw. Welfare Mix (vgl. Evers/Olk 1996) dienen, der derzeit eine Renaissance als strategische Option für eine lokal organisierte Wohlfahrtsproduktion erlebt. Die zentrale Steuerungsmetapher ist weder die Hierarchie noch der Markt, sondern gefragt sind intelligente, netzwerkartige Verknüpfungen unterschiedlicher Steuerungsmodi. Plakativ formuliert: der Entwicklungspfad führt vom versäulten W ohlfahrtskorporatismus zum vernetzten Wohlfahrtsmix. Die aktuelle Revitalisierung des Subsidiaritätsprinzips zielt ebenfalls in diese Richtung und relativiert die im klassischen Subsidiaritätsprinzip immer mitgedachten hierarchischen Verantwortungszuschreibungen (manche sprechen auch vom "Paternalismus") aufgrund der Ausdifferenzierung der Gesellschaft und kultureller Pluralisierungen. Dies bedeutet auch die Aushandlung eines neuen "Wohlfahrtsmix" zwischen den verschiedenen Akteursgruppen (Individuum, Familie, Vereine und Verbände, Nachbarschaft, Selbsthilfegruppen, aber auch soziale Unternehmer), wobei sektorenübergreifende Versorgungsstrukturen ein besonderes Gewicht erhalten. Die Leitidee des Subsidiaritätsprinzips ist weiterhin aktuell und lässt sich auch mit der Mission der Social-Entrepreneurship-Initiativen gut verbinden: eine selbstverantwortliche Lebensgestaltung der Individuen und der primären sozialen Netzwerke (Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaften etc). Nicht zu trennen ist davon jedoch die Verpflichtung des Staates rur eine Infrastruktur, die die Basis rur eine eigenund mitverantwortliche Lebensgestaltung darstellt. 200 9.5 Ausblick Social Entrepreneure können in diesem Zusammenhang die Funktion "heimlicher Agenten" des sozialen Wandels einnehmen und dazu beitragen, die traditionellen Verbandsstrukturen zu modernisieren. Die SocialEntrepreneurship-Projekte sind Teil einer in den letzten Jahren sich vollziehenden Gründungswelle von kooperativen, lokal ausgerichteten Projekten insbesondere im Sozial- und Gesundheitswesen sowie der Energieversorgung und der Bereitstellung ökologisch angebauter Lebensmittel. Dieser "Push" ist wiederum eine Reaktion auf die veränderten sozioökonomischen Handlungsbedingungen. Wenn es den Social Entrepreneurs gelingt, durch Irritation bzw. bestenfalls durch Kooperation mit den etablierten Akteuren Modernisierungsprozesse auszulösen, hätten sie zwar nicht die Mission des "Weltveränderns" im Sinne eines grundlegenden Systembruchs erfüllt, aber einen wichtigen Beitrag zu dem zentralen Projekt einer Neujustierung der verschiedenen Akteure und Steuerungsinstrumente in der Sozialpolitik geleistet. 201