XV. Legitimationsprobleme der Literaturwissenschaft

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Einführung in die Literaturwissenschaft
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XV. Legitimationsprobleme der Literaturwissenschaft
XV. Legitimationsprobleme der Literaturwissenschaft
1. Zweifel an der Legitimität der Literaturwissenschaft
Der Literaturwissenschaft (allgemeiner: den Geisteswissenschaften) wird oftmals – zumal in
Zeiten knapper Finanzen – seitens der Politik, aber auch seitens anderer Wissenschaften
(insbesondere der Naturwissenschaften) mit Skepsis begegnet.
In der Regel wird zwar nicht die Produktion und Rezeption von Kunst in Frage gestellt, wohl
aber Sinn und Zweck der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur. Dabei wird
meistens bezweifelt, dass die Literaturwissenschaft die zwei Kriterien erfüllt, die für eine
(gute) Wissenschaft (etwa die Medizin) als konstitutiv betrachtet werden:
1. Jede (gute) Wissenschaft sollte mittel- oder unmittelbar zur Verbesserung der
menschlichen Lebensbedingungen beitragen (›praktische Wissenschaften‹).
2. Jede (gute) Wissenschaft sollte zu unserem Wissen beitragen, wie die Welt beschaffen ist
(›theoretische Wissenschaften‹).
Die Einwände gegen die Literaturwissenschaft richten sich darauf, dass diese weder das erste
noch das zweite Kriterium erfülle. Kritiker postulieren also, dass die Literaturwissenschaft
weder zur Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen (These 1) noch zu unserem
Wissen, wie die Welt beschaffen ist (These 2), beiträgt.
2. Zur Verteidigung der Literaturwissenschaft
Gegen These (1) sprechen akzidentelle extrinsische Gründe (= Zwecke, um deretwegen
eine Tätigkeit ausgeführt wird und die selbst wieder Mittel zu anderen Zwecken sind,
allerdings nicht die einzigen). Und zwar trägt Literaturwissenschaft bei zur
1. Stärkung der Argumentationsfähigkeit
2. Stärkung der schriftlichen und mündlichen Ausdrucksfähigkeit
3. Erhöhung der Sensibilität.
Nachteil dieses Arguments: Diese Gründe überzeugen nicht ganz, da diese Kompetenzen eher
Nebeneffekte des literaturwissenschaftlichen Studiums sind. Wären sie Hauptzweck, müssten
sie gezielter gefördert werden.
Gegen These (2) sprechen intrinsische Gründe (= Zwecke, um deretwegen eine Tätigkeit
ausgeführt wird und die selbst nicht wieder Mittel zu anderen Zwecken sind):
Literaturwissenschaft kann allein um der Literatur willen betrieben werden.
Die Literaturwissenschaft vermittelt Wissen über die Beschaffenheit der Welt, indem sie
Literaturgeschichtsschreibung betreibt, d.h. Fakten zusammenträgt, die etwa den
Entstehungskontext eines Werks erschließen.
Nachteil dieses Arguments: Eine in dieser Weise auf positivistische Literaturgeschichtsschreibung reduzierte Literaturwissenschaft wäre a) langweilig und ginge b) an der
literaturwissenschaftlichen Praxis vorbei, die meistens mehr leistet, als Fakten zu sammeln
und zusammenzustellen.
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In diesem ›Mehr‹ liegen essenzielle extrinsische Gründe zur Verteidigung der
Literaturwissenschaft (= Zwecke, um deretwegen eine Tätigkeit ausgeführt wird und die
selbst wieder Mittel zu anderen Zwecken sind, und zwar die einzigen oder doch die
hauptsächlichen): Literaturwissenschaft beschäftigt sich mit Interpretation.
Bei der Interpretation wird der Text als eine Art Rätsel betrachtet (wobei es nicht darauf
ankommt, ob und inwieweit der Autor den Text als Rätsel konzipiert hat oder ob wir als
Rezipienten den Text als Rätsel konstruieren). Die Interpretation bezeichnet das Ergebnis der
Rätsel-Lösung, den Versuch also, den Text unter einen Oberbegriff zu bringen,
herauszufinden, was der Text exemplifiziert. Dies geschieht mit Hilfe von Kontextwissen und
Theorien.
Interpretation führt zu Erkenntnissen, die wir ausschließlich bzw. hauptsächlich und in einer
spezifischen Weise durch Literatur erlangen. Durch Interpretation erhalten wir etwa die
Erkenntnis, dass ein Gedicht z.B. Traurigkeit ausdrückt, und zugleich die Erkenntnis, dass
sich Traurigkeit gerade in dieser Weise, d.h. in einem Gedicht, manifestieren kann (wir
erfahren also eine neue Facette von Traurigkeit). Das Besondere an den durch Interpretation
gewonnenen Erkenntnissen liegt darin, dass sie durch Reflexion gewonnen werden.
Eine so verstandene Literaturwissenschaft trägt bei zur
1. Bildung
Æ Dadurch, dass wir beispielsweise etwas über Trauer lernen, bereichern wir unsere
Persönlichkeit und nehmen unsere Umwelt differenzierter wahr.
2. Psychologie
Æ Durch Interpretation erkennen wir psychologische Gesetzmäßigkeiten; für viele Zeiten
gibt es keine anderen als literarische Quellen, um zu erschließen, wie Menschen gelebt
und gefühlt haben.
3. Soziologie
Æ Durch die Beschäftigung mit Literatur lassen sich Formen des menschlichen
Zusammenlebens erschließen.
4. Kulturwissenschaft
Æ Literaturwissenschaft trägt zum Beispiel dazu bei, fremde Kulturen zu verstehen;
darüber kann wiederum die eigene Kultur besser verstanden und – vor allem – relativiert
werden.
5. Philosophie
Æ Da sich in literarischen Texten die Frage nach dem guten Leben, nach der Auffassung
von Glück etc. stellt, kann Literaturwissenschaft als Propädeutik zur praktischen
Philosophie verstanden werden.
Diese Erkenntnisse lassen sich für die Literaturgeschichtsschreibung fruchtbar machen,
sodass sich eine vertiefte Literaturgeschichtsschreibung ergibt. Die so in
Literaturgeschichtsschreibung eingebettete Interpretation leistet einen Beitrag zur
Strukturierung der Welt, zur Orientierung des Einzelnen in der (als chaotisch empfundenen)
Welt.
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XV. Legitimationsprobleme der Literaturwissenschaft
3. Literaturhinweise
3.1 Zur gegenwärtigen Diskussion um die Literaturwissenschaft
Frühwald, Wolfgang [u.a.]: Geisteswissenschaften heute: eine Denkschrift. Frankfurt/M.
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1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 973).
Griesheimer, Frank/Prinz, Alois (Hgg.): Wozu Literaturwissenschaft? Kritik und
Perspektiven. Durchgesehener Nachdruck der 1. Auflage Tübingen 1992 (UTB für
Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 1640).
Huntemann, Willi: Ist die Literaturwissenschaft (noch) eine Kunstwissenschaft? Ein
metakritischer Versuch. In: CONVIVIUM 2001, S. 267-288 [direkt zur Diskussion im
Schiller-Jahrbuch].
Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? Diskussion im Jahrbuch der
Deutschen Schillergesellschaft. Jahrgänge 42 (1998), S. 457-507, 43 (1999), S. 447-487,
44 (2000), S. 333-358.
Mittelstraß, Jürgen: Krise und Zukunft der Geisteswissenschaften. In: Natur- und
Geisteswissenschaften – zwei Kulturen? Herausgegeben von Helmut Reinalter. Innsbruck
[u.a.] 1999, S. 55-79.
Prinz, Wolfgang/Weingart, Peter (Hgg.): Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten.
Frankfurt/M. 1990 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 854).
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3.2 Zum Begriff der ›Interpretation‹
Culler, Jonathan: The Pursuit of Signs. Semiotics, literature, deconstruction. With a new
preface by the author. London – New York 2001 [1981] [insbesondere Kapitel 1: »Beyond
Interpretation«: kritisch zum Stellenwert der ›Interpretation‹ für die Literaturwissenschaft].
Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Übersetzt
von Max Looser. Frankfurt/M. 41999 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 957) [The
transfiguration of the commonplace: a philosophy of art. Cambridge/Mass. 1981].
Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Übersetzt von Bernd
Philippi. Frankfurt/M. 21998 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1304) [Languages of
art: an approach to a theory of symbols. London 1969] [zum Begriff der
›Exemplifikation‹].
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