Physiologie – „Die Lehre von den Lebensfunktionen“

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Physiologie – „Die Lehre von den Lebensfunktionen“
Gedanken und Überlegungen zum Thema Neurowissenschaften
von Prof. Anton Hermann
In Jahrbuch der Universität Salzburg, Verlag Roman Kovar, 301-315, 1999
Die Physiologie ist die "Lehre von den Lebensvorgängen und Lebensäußerungen", das heißt
sie stellt sich die Aufgabe, die in lebenden Organismen ablaufenden Prozesse zu erkennen, zu
beschreiben und zu analysieren - im Unterschied also zur Physik, die Prozesse in der unbelebten
Natur beschreibt.
Tierphysiologen betreiben Forschung mit dem Ziel unter Verwendung chemisch-physikalischer
Methoden experimentelle Untersuchungen durchzuführen und Antworten auf die Fragen zu
erhalten: wie funktioniert Sehen, Hören, Riechen, Verdauung, Atmung, Laufen, Schwimmen,
Fliegen, etc., oder, wie funktionieren Nervenzellen und Nervensysteme.
Entsprechend der Vielfalt der Aufgaben haben sich im Fach Physiologie eine Reihe von
Teildisziplinen entwickelt, wie etwa die vergleichende Physiologie, die Ähnlichkeiten und
Unterschiede in den Funktionen bei verschiedenen Tiergruppen feststellt, die
Stoffwechselphysiologie, die Sinnes-, die Muskel-, oder die Neurophysiologie. Auch heute separate
Disziplinen, wie die Genetik (Physiologie der Vererbungsvorgänge), oder die Endokrinologie
(Physiologie der inneren Sekretion), waren einst Teile der Physiologie. Die Physiologie ist daher
eine wesentliche Grundlage für Biologen, Psychologen, sowie für Pharmakologen und Mediziner.
Die "Neurophysiologie" (Neuron = Nervenzelle, Physis = Natur, Logos = Lehre), ist ein
Spezialgebiet der Abteilung Molekulare Neurobiologie und zelluläre Physiologie. Die
Neurophysiologie ist die Lehre von der Funktion der Nervenzellen bzw. des Nervensystems. Den
Begriff "Neuron" verdanken wir übrigens dem deutschen Anatomen Wilhelm Waldeyer (1890), der
auch den Begriff "Chromosom" geprägt hat, und damit in die Geschichte der Wissenschaften
eingegangen ist. Die Neurophysiologie stellt also Fragen nach dem "Wie" funktioniert die
Nervenerregung, die Erregungsleitung, oder die Verarbeitung nervöser Signale aus der Lernen,
Gedächtnis und Verhalten resultieren. Ausgehend von der funktionellen Einheit "Zelle"
beschäftigen sich Neurophysiologen mit darunter- oder darüberliegenden Komplexitätsebenen. Das
heißt, sie untersuchen einerseits Prozesse die auf zellulärer und molekularer Ebene, z. B. an der
Zellmembran (Regulation von Ionenkanälen, Rezeptoren etc.), oder im Zytoplasma (Aktivierung von
Signalkaskaden, etc.) ablaufen, während andere Wissenschaftler die Interaktionen zwischen
Nervenzellen untersuchen (Verschaltungen von Neuronen, synaptische Prozesse), oder auf höchster
Ebene die Aktivitäten des Nervensystems während der Auführung bestimmter Funktionen (Hören,
Sehen, Denken) registrieren.
Bei Fragen zum Gehirn sind die Neurophysiologen integraler Bestandteil der
"Neurowissenschaften" - eine multidisziplinäre Wissenschaftsrichtung die aus einer Vielzahl
kooperierender Einzeldisziplinen besteht. Hier finden sich Biologen, Mediziner, Zellbiologen,
Psychologen genauso wie Pharmakologen, Biophysiker, Biochemiker, Immunologen und
Molekularbiologen. Und je mehr wir uns auf den "Weg nach innen - ins Gehirn" begeben, desto
mehr nähern sich die Neurowissenschaftler anderen Wissenschaftsgebieten, wie z. B. der
Psychologie, oder den Geisteswissenschaften an. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren
Krankheiten des Gehirns, wie Depressionen, Sucht oder Schizophrenie nahezu ausschließlich
Domänen der Psychiatrie, während Fragen nach den Mechanismen des Lernens, des
Gedächtnisses, der Wahrnehmung oder dem Bewußtsein vorwiegend durch Psychologen und
Geisteswissenschaftler behandelt wurden. Heute beschäftigen sich zunehmend auch
Neurowissenschaftler damit, die stofflichen Ursachen dieser Gehirnzustände zu ergründen. Und
hier liegt auch der Ansatzpunkt für die Medizin - versteht man erst einmal die grundlegenden
Funktionszusammenhänge und Wirkungsmechanismen, kann man die Abweichungen (krankhafte
Änderungen) besser erkennen und wirksamer behandeln!
Die Aufgabe, das menschliche Gehirn zu erforschen, ist sicherlich ein sehr hoch gestecktes Ziel. Sie
galt (und gilt) für viele Wissenschaftler sogar als unlösbar - "Ignoramus et ignorabimus" - wir
Division of Animal-Physiology
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Department of Cell Biology
University of Salzburg
wissen nicht und wir werden nie wissen, wie Emil du Bois-Reymond (1872) einst formulierte. Das
gewaltige Ausmass dieser Aufgabe läßt sich bereits erahnen allein aus der riesigen Anzahl von ca.
100 Milliarden Nervenzellen in unserem Gehirn. Die Anzahl der Verbindungen zwischen den
Nervenzellen ist nocheinmal um das 1000 bis 10 000 fache größer. Daraus ergibt sich eine
immense Anzahl von Kombinationsmöglichkeiten, die größer ist als die Anzahl der Atome im
Weltall. Kein Wunder also, daß Neurowissenschaftler nach einfacheren Nervensystemen mit
weniger Komponenten Ausschau hielten und daher zunächst Nervensysteme von Schnecken,
Krebsen, Insekten etc. zu untersuchen begannen.
Die Nervenzellen dieser Tiere besitzen viele Eigenschaften, die man auch bei Nervenzellen höherer
Tiere wiederfindet und sind daher für Fragen nach den Funktionsprinzipien als Modellsysteme
geeignet. So verdanken wir zum Beispiel grundlegende Erkenntnisse zum Mechanismus der
nervösen Erregungsbildung den experimentellen Untersuchungen an Tintenfischen (A. Hodgkin und
A. Huxley, Nobelpreis 1963).
Nach dem derzeitigen Kenntnisstand und dem rasanten Zuwachs an Wissen, braucht man heute
bezüglich der Erforschung des Gehirns nicht mehr so pessimistisch zu sein - "Nihil est quin
quaerendo investigari possit" - es gibt nichts, das nicht erforscht werden könnte. Die Werkzeuge,
das heißt die technischen Voraussetzungen dazu haben wir vor allem durch Entwicklungen in
Bereichen der Elektronik, der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) und der Gentechnik!
Mit den Erkenntnissen aus der neurowissenschaftlichen Forschung sollte es möglich sein, den
vielen Millionen Menschen die an neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen leiden (in
Deutschland sind es ca. 10 Millionen), mit neuen diagnostischen und therapeutischen Verfahren
zu helfen.
Zur Stellung der Neurowissenschaften schreibt Eric Kandel, renommierter Professor an der
Columbia University, New York, USA: "Das Verständnis der Gehirnfunktionen wird für das 21.
Jahrhundert wahrscheinlich die Bedeutung haben, die das Verständnis der Zellfunktion für das 19.
Jahrhundert und das der Genfunktion für das 20. Jahrhundert hatte und hat. Insofern stellt die
Neurowissenschaft auch eine Brücke zwischen Geistes- und Naturwissenschaften dar." Von den
verschiedenen biologischen Wissenschaftsdisziplinen wird den Neurowissenschaften in den
nächsten Jahrzehnten eines der höchsten Wachstumspotentiale zugeschrieben (siehe
Dokumentationen der Deutschen Forschungsgesellschaft, sowie der Society of Neuroscience/USA).
Auch in Österreich sind die Neurowissenschaften als einer der Schwerpunkte im Rahmen des EUProgramms "Decade of the Brain" ausgewiesen (s. Bericht "Neuroscience in Austria" des BM für
Wissenschaft und Forschung, 1994; Gründung einer Österreichischen Gesellschaft für
Neurowissenschaften (Austrian Neuroscience Association, ANA).
Es wurden und werden auch Anstrengungen unternommen die Neurowissenschaften an der
Universität Salzburg zu etablieren. Um entsprechende, bereits vorhandene Kräfte
zusammenzufassen und um eine "kritische Masse" zu erreichen, wurde von mir vorgeschlagen ein
"Institut für Neurowissenschaften und Zellbiologie" zu gründen. Dies wäre im Rahmen der
Implementierung des UOG 93 ein innovatives, relativ leicht durchführbares Unternehmen, das der
Universität Salzburg kurz- und langfristig wichtige Impulse liefern würde, um mit der
internationalen Entwicklung schritthalten zu können.
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