REDE Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. TÜRKEI BEKIR KARLIGA August 2007 www.kas.de/türkei www.kas.de Das Verhältnis von Religion und Philosophie im Christentum und im Islam – Teil I VORTRAG VON BEKIR KARLIGA Sehr geehrter Vorsitzender, verehrte Gäs- Wir müssen zunächst die Beziehung von Re- te, wie Sie aus dem Programm ersehen ligion und Philosophie im Zusammenhang können, werden wir in der ersten Runde von göttlicher Eingebung und Verstand auf- dieses Workshops zum interreligiösen greifen und bewerten. Gibt es Gemeinsam- Dialog – Vergleich von Christentum und keiten zwischen Verstand und Eingebung? Islam, religiöse Inhalte, Mystik und Ge- Wie lassen sich die Grenzen von Verstand fühle – die Beziehung von Religion und und Eingebung bestimmen? Welche Rolle Philosophie in Christentum und Islam spielt der Verstand beim Verständnis der aufgreifen. Offenbarung? Welche Stellung hat der Mensch als Repräsentant geistiger Fähigkei- Ich möchte mich in meinem Vortrag auf die ten bei der Verwirklichung der Offenbarung Beziehung von Religion und Philosophie im im Leben? Wir müssen insbesondere zu die- Islam konzentrieren. Mein Kollege wird das sen Fragen tragfähige Aussagen finden. Thema natürlich auch aus christlicher Sicht diskutieren. In diesem Zusammenhang Ein weiterer Punkt in diesem Zusammen- werde ich mich auf die systemische Struktur hang ist die Bestimmung der Beziehung von der Beziehung von Religion und Philosophie Eingebung und Verstand – sei es im Hinblick im islamischen Denken stützen. Ich werde auf Glauben, Moral oder auch einem ande- mich bemühen, das Thema in den grundle- ren Gebiet – mit ihren Schnitt- und Schei- genden Quellen des Islams zu verorten so- depunkten. Mit Ihrer Erlaubnis beginnen wir wie die diesbezüglichen Bewertungen mus- damit, über das Phänomen der Eingebung limischer Denker, seien es Philosophen, nachzudenken. Es ist ziemlich natürlich, Theologen oder Mystiker, kurz zusammen- dass zum Begriff der Eingebung zahlreiche fassen. Im Ergebnis möchte ich vorschla- Spekulationen angestellt und von verschie- gen, wie dieses Problem heute aufgegriffen denen Religionen unterschiedliche Aussagen werden sollte. getroffen wurden. Als Menschen auf dieser Welt kommen wir aus einer, die wir mit un- Wenn von der Beziehung von Religion und seren menschlichen geistigen Fähigkeiten Philosophie oder Glauben und Wissen die nicht vollständig verstehen können, führen Rede ist, treten uns natürlicherweise Ratio- wir unsere Reise durch unser Leben, das nalität und göttliche Offenbarung als von Momenten umgeben ist, die wir nicht Schlüsselworte dieser beiden Gebiete ge- vollständig erfassen können und gehen auf genüber. Hier liegt der Ausgangspunkt der eine Welt zu, die wir mit unseren menschli- Beziehung von Religion und Philosophie. chen geistigen Fähigkeiten niemals erfassen Zweifelsohne ist es nicht möglich, ohne zu- können. vor eine gründliche Analyse vorzunehmen, zu einer tragfähigen Analyse der Detailprob- In diesem Ozean von Ungewissheit leme überzugehen. schwimmend ist es offensichtlich, dass der Mensch bei seiner Reise durch die Geschich- 2 te einer anderen, außerhalb seiner selbst jektive Kriterien zu gründen. Es ist sehr stehenden, d.h. übernatürlichen Quelle be- schwierig für jemanden, der dieses Ereignis TÜRKEI darf, die ihn berät und hilft. Es ist darum ein nicht erlebt hat, die Realität der Eingebung BEKIR KARLIGA natürliches Erfordernis unserer menschli- oder die Herkunft der übertragenen Bot- chen Struktur, dass wir eines Vermittlers schaft gestützt auf objektive Kriterien zu (Propheten) bedürfen, der uns die Botschaft akzeptieren oder zurückzuweisen. Doch dies einer übernatürlichen Quelle zu unserer reicht als Argument nicht aus, die Realität www.kas.de/türkei Vergangenheit, Zukunft und unserem Da- des Phänomens und die Wahrheit auf dieser www.kas.de sein auf der Welt überbringt. An diesem Weise übermittelter Botschaften zurückzu- Punkt angekommen, beginnen wir von der weisen. Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. August 2007 göttlichen Offenbarung zu sprechen, die uns durch die Vermittlung von Propheten er- Natürlich muss der Adressat der Eingebung, reicht. wenn er sie als solche wahrnimmt, auch fähig sein, in seiner Innenwelt zu spüren, Wenn es um den Menschen geht, so kann er dass dies eine wahrhaftige Kommunikati- die auf diese Weise von einer übernatürli- onsform ist. Aus diesem Grunde ist die Ein- chen Quelle stammende Botschaft vermittelt gebung ein Kommunikationsstil, ein Weg durch einen von Allah entsandten Propheten zur Übermittlung von Botschaften. Unter erlangen – der im islamischen Denken all- diesem Gesichtspunkt betrachtet ist das gemein gültigen Manifestation – sowie auch Phänomen der Eingebung für Dritte aus- durch das Lesen der Wunder des Univer- schließlich eine Frage von Glauben und Ak- sums, die die Natur Allahs ausschmücken. zeptanz. Wird aus dieser Sicht die Bezie- Außerdem ist es möglich, diese Botschaft hung von Eingebung und Verstand ge- durch die Betrachtung der Manifestation knüpft, müssen wir sorgfältig beachten, dieses höheren Wesens in verschiedenen dass die Eingebung ein Mittel zur Übertra- Gebieten des Seins zu erlangen. Nur auf gung und Zustellung von Wissen ist, Ver- diese Weise haben wir die Möglichkeit, dem nunft in unserem Sinne jedoch ein Mecha- göttlichen Willen gegenüberzutreten und die nismus zur Produktion von Wissen ist. Botschaft anzunehmen, die Er uns geben will, sie im Rahmen unseres eigenen Ver- Wenn wir uns der Beziehung von Eingebung ständnisses und unserer Kapazität zu kom- und Vernunft aus dieser Perspektive annä- mentieren und zu bewerten. hern, wird erkennbar, dass der Mensch der Eingebung gegenüber in einer passiven, ge- Zum Zeitpunkt der Offenbarung der göttli- genüber der Vernunft aber in einer aktiven chen Eingebung hat eine dritte Person so- Position ist. Wenn Vernunft nach grundle- lange keine Kenntnis ihres Inhalts, wie die genden Regeln als Auswahl, Aufzählung, Person, die sie empfängt (der Prophet) sie Unterscheidung, Analyse und Synthese ge- nicht weitergibt. Wenn tatsächlich von ei- dacht wird, so ist davon die Rede, gemäß nem anerkannten Mittler der göttlichen Ein- der Hauptprinzipien der Logik bestimmte gebung die Rede ist, so entfaltet sich das Kategorien herauszustellen und durch ob- Phänomen der Eingebung vor allem zwi- jektive Beobachtung dieser neues Wissen schen Allah als ihrem Sender und seinem hervorzubringen. Diener als Empfänger. Das heißt dementsprechend, dass solange der Inhalt der Ein- Wir sehen, dass die Eingebung in unter- gebung nicht mitgeteilt wird, diese Kommu- schiedlicher Form in allen Religionen vor- nikation in einer Geheimheit erfolgt, die es kommt, die einen von Gott stammenden Dritten nicht erlaubt, sie zu teilen. Das Er- Kommunikationsstil anerkennen. Im Hin- eignis zwischen Gott und dem Propheten ist blick auf den Islam stellen wir fest, dass er ein äußerst besonderes und subjektives. besondere und unterschiedliche Verfahren anwendet, um eine tragfähige Überein- Aus diesem Grund ist es ein äußerst schwie- stimmung zwischen Eingebung und Vernunft riges Unterfangen, die Eingebung als eine herzustellen und diese direkt im Leben zu Form Allahs, Befehls und Willens zu über- verwirklichen. Es ist eine Tatsache, dass der mitteln, mit anderen zu teilen und auf ob- Koran der Vernunft in einem Maße Raum 3 Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. gibt, wie sie in anderen heiligen Texten Schnitt- und Scheidepunkte richtig festzu- nicht anzutreffen ist. Soweit ich weiß wird in stellen. TÜRKEI ungefähr 46 Koranversen die Betonung di- BEKIR KARLIGA rekt auf den Verstand gelegt. August 2007 Zusammen mit verwandten Begriffen und dene Verfahren zur Überwindung der Prob- Bedeutungen können wir sagen, dass sich leme zu entwickeln, die bei der Wahrneh- die Zahl dieser Verse der Tausend annähert. mung der Eingebung durch den Verstand Betrachten wir die islamische Denktradition, sehen wir, dass versucht wurde, verschie- www.kas.de/türkei auftreten. Am häufigsten wurde dabei das www.kas.de Wir stellen fest, dass das Wort „Vernunft“ „te’vil“-Verfahren herangezogen. Te’vil ist im Koran nicht so sehr als Begriff, sondern kurz gefasst der Versuch, die vom mensch- in zusammengesetzten Formen wie „könnt lichen Verstand ziemlich schwer wahrzu- Ihr nicht denken“ oder „eine Gesellschaft, nehmenden Teile einer Eingebung durch die ihren Verstand gebraucht“ auftritt. Vergleiche, Synonyme und Allegorien in eine für die menschliche Vernunft verständli- Dies könnte ein Anzeichen dafür sein, dass che Form zu bringen. der Koran die Aufmerksamkeit weniger darauf lenken will, was Verstand ist, sondern Es liegt in der Natur der Sache, dass bei auf seine Funktion. diesem Vorgang zahlreiche Schwierigkeiten und Probleme auftreten. Auch wenn der Ra- Der Koran erklärt, dass wir, um die Wunder tionalismus in seiner in der modernen Welt Allahs im Universum, der menschlichen Per- zugeschriebenen Bedeutung, der zufolge sönlichkeit und seiner Umwelt zu sehen, zu alles gemessen und absoluten Kriterien un- verstehen und zu kommentieren, unseren terworfen wird, in der frühen Phase der Mu- Verstand benutzen müssen. Von dieser Sei- tazila vertreten wurde, war er in späteren te betrachtet, wird erkennbar, dass der Be- Jahrhunderten nicht mehr gut angesehen. stimmung des Gebiets der Eingebung und Jedoch setzte sich das in der Tradition der der des Verstandes besondere Bedeutung Eschari vielfach wiederholte Verständnis zukommt. Um bei der Bestimmung der Ge- durch, dass Eingebung und Vernunft zuein- biete von Verstand und Eingebung beide ander nicht im Widerspruch stehen und in nicht zu verwechseln oder das eine im Ge- dem Falle, wo ein solcher Widerspruch auf- biet des anderen zu verorten, muss äußerst tritt, dieser durch Bevorzugung des Vers- vorsichtig vorgegangen werden. Dabei müs- tandes und Anwendung des te’vil überwun- sen bei der Bestimmung des Gebiets der den wird, in der islamischen Denktradition Eingebung die Kriterien der Eingebung, bei durch. Vor allem nach dem 13. Jahrhundert der des Verstandes die Kriterien des Vers- wurden gegen den von Fahrettin Râzî sys- tandes angelegt werden. tematisierten Ansatz von vielen, allen voran Ibn Taymiyya, radikale Einsprüche vorge- Beim Verständnis der Eingebung kommt tragen. In unterschiedlichen Dimensionen dem Verstand natürlich eine bevorzugte und Intensität wurde diese Kritik auch von Stellung zu. Es ist der menschliche einigen Denkern der sufistischen Tradition Verstand, der die Eingebung versteht und wie Muhyiddîn ibn al Arabi und Mevlana vor- kommentiert. Es wird besser sein, dort wo getragen. Eingebung und Verstand einander gegenüberstehen, statt sie als einander zurückwei- Nun möchte ich ein wenig auf die Leitlinie send oder ignorierend oder aber als einan- der Diskussion von Religion und Philosophie der beinhaltend zu verschmelzen und zu in der islamischen Denktradition kommen. assimilieren, sie als zwei Bereiche aufzugreifen, die unterschiedliche Eigenschaf- Wie bekannt ist, konnten Muslime zu Leb- ten haben und einander ergänzen. In die- zeiten des Propheten zu jedem Thema von sem Rahmen ist es erforderlich – wie weiter den auf dem Wege der Eingebung dem Pro- unten ausgeführt wird – zunächst Verstand pheten übermittelten Botschaften profitieren und Eingebung als unterschiedliche Mecha- und dank dessen zu verschiedenen Ereignis- nismen anzuerkennen und danach ihre sen Zugang zu göttlichem Wissen erlangen. 4 Weil der Prophet der letzte Prophet war und Zu Anfang war dies weniger eine philosophi- weil er deutlich erklärte, dass nach ihm kein sche als eine theologische Diskussion. Die TÜRKEI weiterer Prophet kommen werde, blieben Probleme begannen sich weniger intellektu- BEKIR KARLIGA nach seinem Tod als einzige Quelle der hei- ell, sondern stärker gemäß politischen Ent- lige Koran sowie die auf den exakten Kom- wicklungen zu formen. Insbesondere die mentaren des Propheten beruhenden Aus- Ereignisse nach dem Tod Mohammeds wur- sprüche. den Anlass zur Diskussion verschiedener Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. August 2007 politischer Probleme unter Muslimen. Es be- www.kas.de/türkei www.kas.de In ihrer Anfangszeit führten die Muslime ein gannen Diskussionen, die zunächst unter ausgesprochen einfaches Leben. Der arabi- dem Namen „Kelam“ und dann „Tasavvuf“ schen Kultur waren theologische und philo- geführt wurden. Angesichts der auftreten- sophische Diskussionen wie die der antiken den, vielfach in der Politik wurzelnden, Er- Kulturen, der ägyptischen, indischen, grie- eignisse, die die gläubigen Muslime zutiefst chischen oder auch der byzantinischen Kul- verletzten, wurde über die Rolle des göttli- tur, vollkommen fremd. chen und des menschlichen Willens gesprochen. Auf diese Weise kamen Themen auf Doch in dem Maße wie sich das islamische die Tagesordnung, die zur Herausbildung Territorium ausbreitete, waren Muslime ge- neuer Konfessionen führten. Danach kon- zwungen, mit den in diesen Gebieten leben- zentrierte man sich auf die Frage, was den den Völkern in Verbindung zu treten. Zur Menschen bestimme. Während das Gewirr Haltung des Islams zu den Völkern, die in von Problemen, die durch das menschliche diesen Regionen lebten und leben und der Ego hervorgebracht werden, zum Ausdruck von Muslimen dazu entwickelten Verfahren gebracht wurde, versuchte man Wege und entstanden unterschiedliche Herangehens- Verfahren zu finden, sich davon zu distan- weisen. zieren. Diese zunächst unter der Überschrift Askese und Gottesfurcht aufgegriffenen Die Muslime trafen in den neu eroberten Themen wurden später unter dem Begriff Gebieten auf alte Kulturen. Im Irak, Iran Mystik zusammengefasst. und Mesopotamien trafen sie auf die altbabylonische, zoroastrische, mazdeistische In der letzten Phase trafen diese Diskussio- und manichäische Kultur, im syrischen Um- nen auf die griechische Philosophie, die zur feld auf die antike griechische Kultur, die ihrer Hauptgrundlage wurde. Als im Jahr hellenistische und byzantinische und in der 704 der Umayyadenprinz Halid ibn Yezîd ägyptischen Region trafen sie auf die alt- fremdsprachige Werke zur Chemie aus ägyptische und christlich-koptische Kultur. Ägypten übersetzen ließ, begann sich in der Es zeigte sich, dass die auf der arabischen islamischen Welt ein neues Verständnis zu Halbinsel hervorgebrachte Erfahrung die entwickeln. Zu Beginn der abbasidischen von diesen Kulturen aufgegriffenen Themen Revolution wurden Texte zur griechischen nicht ausreichend aufklären, zu den von ih- Logik aus dem Persischen ins Arabische nen aufgeworfenen Fragen keine ausrei- übersetzt. chenden Antworten und den auftretenden Problemen keine adäquaten Lösungen ent- Diesen folgte die direkte Übersetzung weite- wickeln konnte. rer Texte aus dem Griechischen ins Arabische. Auf diese Weise begann die islamische Angesichts dieser Entwicklung fand der Ge- Welt die antiken Kulturen mit großem Inte- danke allgemeine Anerkennung, dass neben resse zu verfolgen. Während die Muslime der ganzheitlichen Eingebung auch der zunächst gegenüber den antiken Kulturen menschliche Verstand eingesetzt werden äußerste Vorsicht verspürten, versuchten müsse. Es begann die Diskussion, welche sie später einen neuen Kontext für sie zu Lösungen auf der einen Seite die Offenba- finden, den sie um den Begriff der „Weiß- rung und auf der anderen Seite der heit“ formten. In intellektuellen Kreisen menschliche Verstand hervorbringen könne. wurde Weißheit, als eine Synthese göttlichen Wissens und durch den Verstand hervorgebrachten menschlichen Wissens aufge- 5 fasst und sich der Gedanke zu Eigen ge- schütterte das Vertrauen gegenüber dem macht, dass im Kontext von Weißheit die Verstand. Der Vorfall wurde zum Anlass da- TÜRKEI alten Kulturen in Übereinstimmung mit der für, dass die sefelische Position, die eine BEKIR KARLIGA islamischen gebracht werden können. distanzierte Haltung gegenüber dem August 2007 Natürlich konnte dieser Kontext zunächst Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Verstand einnahm und ihn sogar bei Seite schieben wollte, an Ansehen gewann. von breiteren Massen nicht richtig wahrgewww.kas.de/türkei nommen werden. Es kam zu umfassenden Mit der Übersetzung einiger griechischer www.kas.de und aufgeregten Diskussionen. Bei diesen philosophischer Werke ins Arabische began- Diskussionen begannen die ersten Vertreter nen die Themen der Diskussion von der der Mutazila genannten theologischen Schu- Theologie zur Philosophie überzugehen. Zu- le zunächst den Verstand als ein normales nächst wurde die Frage diskutiert, ob man Mittel menschlichen Wissenserwerbs zu be- sich die Erkenntnisse von Nichtmuslimen zu trachten und ihm später immer mehr Raum Nutze machen sollte oder nicht. Die Haupt- zu geben. Sie machten sich eine Position zu quelle dieser Diskussion war, ob Allah im Eigen, die die Position des Verstandes ge- heiligen Koran alles offenbart habe oder genüber der Eingebung verstärkte. Nazzâm, nicht. Manche vertraten mit Berufung auf ein Philosoph der Mutazila erklärte, „dass einen Koranvers, der sich eher mit dem Le- ein intelligenter Mensch die Existenz Gottes ben im Jenseits beschäftigt, dass Allah alles vor der Scharia finden müsse“; Ebu’l-Hüzeyl Feuchte und Trockene im Koran offenbart al-Allâf behauptet, dass „das Wissen über habe (En’am Sure:59). Aus diesem Grunde Allah und das zu seiner Erkenntnis notwe- bedürfe es keines Wissens aus anderen nigerweise der Verstand findet“ und fährt Quellen. Ebu’l- Hasan al-Aschari wandte fort, dass der Verstand „das einzige und er- sich gegen diese Position und betonte hart- forderliche Informationsmittel ist, um sich näckig, dass im Koran nicht alles offenbart als Person von anderen Dingen zu unter- sei. scheiden“. Al Gahiz, ein weiterer berühmter Denker, der zu den führenden Personen der Ein anderes Diskussionsthema in diesem Mutazila gehörte, vertrat offen, dass „was Rahmen war, ob es mit der islamischen Re- der Verstand nicht messen kann keinerlei ligion vereinbar sei, Wissen und Erfahrung Aussage zum absoluten Wissen treffen der Älteren, d.h. von Nichtmuslimen zu nut- kann.“ Er sagte sogar: “Folge nicht dem zen. Der berühmte islamische Philosoph al- Weg, den dir dein Auge zeigt, sondern folge Kindi, der das Thema als erster aufgriff, dem Weg, den dir dein Verstand zeigt. Je- vertrat, dass die Nutzung von Wissen und des Ding wird von zwei Kräften bestimmt. Gedanken, die die Älteren hervorgebracht Die sichtbare Kraft ist in den Gefühlen, die haben, kein Problem darstelle, sondern aus verborgene Kraft im Verstand. Der Verstand religiöser Sicht sogar ein Erfordernis sei und ist beweisfähig und darum ein nicht disku- eine Verpflichtung dazu bestehe. „Das Wis- tierbarer Maßstab.“ sen, das diejenigen vor uns hervorgebracht haben, kann aus islamischer Sicht kein Diese Diskussionen wurden natürlicherweise Problem darstellen. Wir haben ganz im Ge- zum Anlass zur Entstehung von Haltungen, genteil eine Verpflichtung dazu, es auf- die dem Verstand mit Argwohn begegneten. zugreifen.“ Wir sollten nicht nur ihr Wissen Ist es aus religiöser Sicht richtig, dem aufgreifen, sondern ihnen auch dankbar Verstand einen solchen Stellenwert zuzu- sein, denn sie geben uns ein großes Ge- messen? Von Zeit zu Zeit gewann diese schenk, denn sie bieten uns ihr Wissen, das Diskussion an Heftigkeit. Ahmad ben Han- sie unter großer Anstrengung hervorge- bel, Gründer der Konfession der Hanbeli, bracht haben, ohne dass wir uns dieser Last wurde wegen seiner Kritik an diesen Einstel- unterziehen müssen. Auf diese Weise öffne- lungen festgenommen und in Ketten gelegt te sich die Pforte zur islamischen Welt für und sollte zu Memûn geschickt werden, der die griechische und hellenistische Philoso- sich in Tarsus aufhielt. Dies wurde Aus- phie ein wenig weiter. gangspunkt für die Ausbreitung einer Gegenströmung gegen die Mutazila und er- 6 In diesem Zusammenhang bemühte sich al- Rüschds, dass es zwei einander verschiede- Kindi in einer Abhandlung über den ne Bereiche von Wirklichkeit gäbe, die mit- TÜRKEI Verstand nicht dessen Stellung gegenüber einander vollkommen im Widerspruch stün- BEKIR KARLIGA der Eingebung, sondern dessen funktionale den. Ibn Rüschd aber vertrat – wie gerade Formen und Mechanismen in der seit Aristo- dargestellt – dass es nicht eine duale, son- teles fortgesetzten Tradition zu erklären. dern nur eine Wirklichkeit gäbe. Aus diesem Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. August 2007 Grunde begannen mittelalterliche christliche www.kas.de/türkei Spätere islamische Denker, allen voran Fa- Denker Bücher gegen ibn Rüschd und die www.kas.de rabi und Ibn Sina (Avicenna), trugen da- Averroisten (Contra Averroes und Contra durch, dass sie das Thema in weit gefassten Averroistas) zu schreiben. Einige Denker und unterschiedlichen Perspektiven aufgrif- wie insbesondere der große Albert von Aqui- fen, dazu bei, die Verbindung zwischen der no und der Heilige Thomas kritisierten ihn in griechischen Denktradition und dem Islam grober Weise und stellten ihn als einen reli- grundlegend zu vollziehen. gionsfeindlichen Philosophen dar. Die „Fasül Makal“, d.h. in dem Werk, in dem er die Wie Kindi nahm auch Farabi in seinen be- Beziehung von Religion und Philosophie be- rühmten Werken zum Thema Vernunft ver- handelt, wurde–im Gegensatz zu seinem schiedene Klassifizierungen des Verstandes Gesamtwerk – erst sehr spät ins Lateinische vor und schuf davon ausgehend eine Kos- übersetzt, was dazu führte, dass seine Posi- mologie des Verstandes. Er ging von zwei tion im lateinischen Mittelalter nicht ausrei- Formen des Verstandes aus: Kosmologische chend bekannt war und sich nicht verbreite- Vernunft und epistemologische Vernunft. Er te. Wir wissen, dass eine sehr späte hebräi- betonte den Verstand als ein Mittel zur Er- sche Übersetzung existierte und noch später zeugung von Wissen und den Verstand als von dieser Übersetzung eine ins Lateinische die das Universum lenkende Kraft. Es war erfolgte. der Philosoph Ibn Rüschd (Averroes), der diese Probleme am weitesten diskutierte Ibn Rüschd brachte zum Ausdruck, dass und ziemlich tragfähige Lösungen hervor- Philosophie und Religion einander nicht ent- brachte. gegengesetzt oder feindlich seien, sondern im Gegenteil zwei unterschiedliche Kom- Zum Thema Eingebung und Vernunft, d.h. mentare oder Richtungen der gleichen Wirk- eigentlich zur Beziehung von Religion und lichkeit seien, die einander ergänzen. Er Philosophie schrieb er drei Werke. In sei- vertrat, dass ihre Ausgangs- und Zielpunkte nem unter dem Namen „Faslü-l Makal“ be- gleich seien, sich aber ihre Wege, Verfah- kannten Buch stellt er die Schnitt- und ren, Formen und Verläufe unterschieden. Scheidepunkte von Religion und Philosophie fest. Laut ibn Rüschd nähren sich Philoso- Die Diskussionen über das Thema wurden – phie und Religion von den gleichen Quellen wenngleich auch nicht mit gleicher Intensi- und verfügen über den gleichen Ausgangs- tät – auch nach ibn Rüschd fortgesetzt. Ins- punkt und erreichen das gleiche Ziel, ihr besondere im Osmanischen Reich zur Zeit Unterschied liegt nur in einem unterschiedli- des Sultans Fatih Mehmet wurde sie in der chen Kommentar der Wahrheit. als „Inkohärenz Diskussion“ (Tehafüt) bekannten Auseinandersetzung anhand von Ibn Rüschd behauptete, dass dem Men- Ghazalis und ibn Rüschds Positionen erneut schen in methodischer Sicht zwei Wege, die auf die Tagesordnung gebracht. Auch später Eingebung und die Vernunft, zur Verfügung noch wurde diese Diskussion innerhalb der stünden, doch dass ihre Ausgangs- und Reichsgrenzen fortgesetzt. Doch wurden Zielpunkte gemeinsam und gleich seien. Je- diese Diskussionen nun weniger im Hinblick doch vertraten die Averroisten, die seit dem auf die Beziehung von Religion und Philoso- 13. Jahrhundert in der westlichen Geistes- phie, sondern von Theologie und Mystik ge- geschichte eine wichtige Stellung einnah- führt. Sie beruhten auf dem Vergleich von men, aufgrund einer Fehlinterpretation bzw. Wissen und philosophischem Wissen und eines Missverständnisses der Position ibn der Entscheidung zugunsten von Ghazali oder ibn Rüschd. Während meist ibn Rüschd 7 Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. zurückgewiesen und Ghazali hervorgehoben wurde, wurde das philosophische Wissen TÜRKEI diskriminiert und das mystische Wissen vor- BEKIR KARLIGA gezogen. August 2007 Im Ergebnis hat der Islam dem Verstand keinerlei Grenze oder Hindernis gesetzt. www.kas.de/türkei Während er dem Verstand auf dem Gebiet www.kas.de der Vernunft schrankenlose Zuständigkeit gewährte, hat er sich gegenüber groben rationalistischen Herangehensweisen, die ihn zum Herrscher und Maßstab von allem machen, verschlossen. Demgegenüber schrieb er dem Verstand beim Verständnis, Kommentierung und der Anpassung der Offenbarung, die sie zum Leben erweckt, eine hohe Verantwortung und eine besondere Stellung zu.