Eine Kettenreaktion, die den Tumor zerstört - Home

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INTERVIEW: THIERRY BOON
1991 entdeckten Forscher um Thierry Boon die erste
Struktur an der Oberläche von Krebszellen, die von
Immunzellen erkannt wird – ein Durchbruch, der die
molekulare Grundlage für die Krebsimpfung schuf. Die
Arbeiten von Boon und seinem Team trugen maßgeblich dazu bei, die Rolle des Immunsystems bei Tumorerkrankungen aufzuklären. Wir fragten ihn, wie es
zu dieser Entdeckung kam, was man daraus über Tumorerkrankungen lernen kann und wohin seiner Meinung nach die Krebsimmuntherapie steuern muss.
Professor Boon, Sie haben das erste Tumorantigen
entdeckt – also die erste molekulare Struktur auf Krebszellen, die von der Körperabwehr als »fremd« erkannt und attackiert wird. War das der Durchbruch Ihrer Karriere?
Boon: Die Wende war für mich eigentlich schon 20 Jahre
früher gekommen, als ich im Labor von François Jacob am
Institut Pasteur in Paris arbeitete. Ich forschte damals über
die Embryonalentwicklung von Mäusen, denen wir Zellen
aus sehr speziellen Tumoren einsetzten, nämlich aus Teratokarzinomen. Das sind embryonale Tumoren, die pluripotente Stammzellen enthalten und sich daher in die unterschiedlichsten Körpergewebe ausdifferenzieren können.
Dabei entstehen zum Beispiel Geschwulste, die Zähne oder
Haare enthalten. Ich versuchte, die Tumorzellen so zu verändern, dass sie sich nicht mehr ausdifferenzieren. So wollte ich Gene inden, die maßgeblich an der Embryonalentwicklung mitwirken.
Wie kam da die Immunologie ins Spiel?
Boon: Durch einen Zufall. Wir hatten ein merkwürdiges
Phänomen beobachtet: Wenn wir die Tumorzellen mit einer Substanz behandelten, die viele Mutationen im Erbgut
verursacht, bildeten sie zwar nach wie vor Tumoren im Körper der Mäuse. Doch in einigen Fällen wucherten die Geschwulste nach zwei Wochen nicht mehr weiter und ingen
stattdessen an, sich zurückzubilden. Das Immunsystem der
Tiere war also dazu übergegangen, sie zu bekämpfen. Mich
machte das stutzig, und ich setzte den Tieren, die die mutierten Tumorzellen abgestoßen hatten, auch Zellen aus
dem originalen tödlichen Tumor ein.
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LUDWIG INSTITUTE FOR CANCER RESEARCH (LICR) BRüSSEL
»Eine Kettenreaktion,
die den Tumor zerstört«
Thierry Boon ist Genetiker und war
bis 2011 Direktor am Ludwig Institute for
Cancer Research in Brüssel. Seit 2009
ist er Mitglied der National Academy of
Science (NAS) in den USA.
Mit welchem Ergebnis?
Boon: Einige Wochen, nachdem ich die Tumorzellen in die
Mäuse verplanzt hatte, untersuchte ich die Tiere. Und fand
keinen Tumor! Da spürte ich, dass ich auf etwas Wichtiges
gestoßen war. Offenbar hatte die erfolgreiche Auseinandersetzung mit den veränderten Tumorzellen dazu geführt,
dass die Körperabwehr der Mäuse jetzt auch den originalen
Tumor abwehren konnte. Es war, als ob ihr Immunsystem
nun etwas sehen konnte, was es vorher ignoriert hatte ...
... nämlich ein Antigen auf den entarteten Zellen.
Boon: Das wussten wir damals nicht. Es sollte noch mehrere Jahre dauern, bis wir es herausfanden. Zusammen mit
dem Immunologen und Zellbiologen Jean-Charles Cerottini
in Lausanne testeten wir, wie Mauslymphozyten auf Proteinbruchstücke reagieren, die Krebszellen auf ihrer Außenseite tragen. Es stellte sich heraus: Einige mutierte Tumorvarianten, die von den Mäusen abgestoßen worden waren,
hatten stark veränderte Proteinbruchstücke auf ihrer Oberläche. Das war offenbar der Grund gewesen, warum das Immunsystem sie als »fremd« eingestuft und angegriffen hatte. Der originale Tumor dagegen präsentierte Bruchstücke
aus normalen Proteinen, allerdings aus solchen, die üblicherweise nur in Keimzellen vorkommen. Die Auseinandersetzung mit den mutierten Tumorzellen hatte die Körperabwehr quasi darauf gestoßen, dass mit den Zellen des Originaltumors etwas nicht stimmte.
Funktioniert das auch beim Menschen?
Boon: Ende der 1980er Jahre begannen wir, an menschlichen Tumorzellen zu forschen. Alexander Knuth aus Mainz
SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · AUGUST 2014
hatte mich kontaktiert wegen einer Patientin, die unheilbar
am metastasierten Melanom erkrankt war. Es war ihm gelungen, ihre Tumorzellen zu kultivieren, und er kam mit ihnen im Gepäck zu uns nach Brüssel. Wir veränderten die Zellen genau so, wie wir es bei der Maus gemacht hatten, und
Knuth verabreichte sie der Patientin zurück. Und obwohl
die Frau eigentlich nicht mehr auf Besserung hoffen durfte,
passierte etwas Erstaunliches: Zunächst wuchsen ihre Metastasen weiter, dann aber begannen sie sich zurückzubilden
und verschwanden schließlich, bis die Patientin völlig ausheilte und nach Hause geschickt werden konnte.
Das Immunsystem der Patientin hatte also den Krebs
angegriffen. Konnten Sie herausinden, wogegen der Angriff gerichtet war?
Boon: 1991 entdeckten wir auf den originalen – also unveränderten – Krebszellen der Patientin das Proteinbruchstück Mage-1. Die Abkürzung steht für »Melanoma Antigene 1«. Wie bei der Maus stammt es aus einem normalen
Protein, das aber üblicherweise nur Keimzellen produzieren. Sein Vorhandensein auf den Tumorzellen hatte das Immunsystem der Patientin nach unserem Eingriff offenbar
dazu bewogen, die Zellen als fremd einzustufen. Wir hatten
die Idee, mit diesem und anderen kleinen Proteinbruchstücken Patienten zu impfen, um ihre Lymphozyten zu einem
Angriff auf den Tumor anzustacheln. Vielleicht, so dachten
wir, ließe sich damit der Umweg vermeiden, die Tumorzellen zu entnehmen, künstlich zu verändern und wieder in
den Körper der Patienten zurückzubringen.
Hatten Sie Erfolg?
Boon: Die ersten Versuche verliefen erstaunlich gut. Bei
drei oder vier geimpften Patienten bildeten sich die Tumoren stark zurück. Allerdings ließ der Erfolg mit der Zeit
nach: Je mehr Patienten wir behandelten, desto kleiner
wurde der Anteil, der von dem Eingriff proitierte. Heute
führt die therapeutische Impfung bei etwa einem von zwölf
Patienten zu einer spürbaren Besserung.
Wie ist diese kleine Zahl zu erklären?
Boon: Anfangs dachten wir, bei den Patienten, die nicht hinreichend auf die Impfung ansprechen, klappe die Immunisierung nicht – die Impfung schalte also gewissermaßen zu
wenig Abwehrzellen scharf, um den Tumor zurückzudrängen. Vor einigen Jahren jedoch, als neue Beobachtungsergebnisse vorlagen, haben wir unsere Meinung revidiert; die Sache ist offenbar deutlich komplizierter. Umfassende Immunreaktionen gegen den Tumor sind vielfach schon vor der
Impfung nachweisbar – allerdings laufen sie ins Leere, als
würde der Körper sie hemmen. Eine erfolgreiche Krebsimpfung führt dazu, dass die Lymphozyten nun nicht mehr ins
Leere stoßen, sondern effektiv gegen den Tumor vorgehen.
Wie wir jedoch überrascht feststellten, werden die dabei wirksamen Lymphozyten nicht direkt durch die Impfung produziert. Vielmehr richten sie sich gegen andere Antigene als das
geimpfte.
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Haben Sie eine Ahnung, warum?
Boon: Wir glauben, dass die meisten Krebspatienten spontan eine Immunreaktion gegen ihren Tumor entwickeln.
Doch der Tumor bildet eine Umgebung um sich herum, die
die Immunantwort unterdrückt. Wir nennen diesen Effekt
Immunsuppression, und er ist je nach Patient mehr oder
weniger stark ausgeprägt. Eine erfolgreiche Krebsimpfung
führt vermutlich dazu, dass wenigstens ein paar aktivierte
Lymphozyten an den Ort des Tumors gelangen und diesen
stark genug angreifen, damit bestimmte Signalmoleküle, so
genannte Zytokine, ausgeschüttet werden. Diese Moleküle
heben die Immunsuppression lokal auf. Das wiederum gibt
anderen Lymphozyten, die bis jetzt nicht wirken konnten,
freie Bahn, den Tumor anzugreifen. Es setzt eine Kettenreaktion ein, die, wenn sie stark genug wird, bis zur Zerstörung des Tumors führen kann. Die Herausforderung bei einer Krebsimpfung besteht also unserer Meinung nach nicht
darin, massenweise aktive Lymphozyten zu produzieren,
die ein ganz bestimmtes Antigen erkennen. Vielmehr reicht
es, wenn einige wenige Immunzellen die Schutzumgebung
des Tumors durchbrechen – und so einen Funken erzeugen,
der einen globalen, viel massiveren Angriff in Gang setzt.
Die Wahl des Impfantigens ist also nicht so wichtig?
Boon: Sie ist wahrscheinlich nicht das K.o.-Kriterium insofern, dass andere Lymphozyten als jene, die durch die Impfung aktiviert werden, den größten Teil der Arbeit leisten.
Der entscheidende Punkt scheint zu sein, die suppressive
Umgebung des Tumors zumindest punktuell zu durchbrechen, um den initialen Funken überhaupt zu ermöglichen.
Deshalb befürworten wir Krebsimpfungen, die nicht nur
auf einen einzigen Impfstoff setzen, sondern noch andere
Maßnahmen einbeziehen – zum Beispiel eine lokale Verabreichung von Zytokinen, um die Immunhemmung am Ort
des Tumors zu reduzieren oder gar auszuschalten.
Wie sieht Ihrer Meinung nach die Krebsimmuntherapie der Zukunft aus?
Boon: Die Zeit ist gekommen, die Arbeitsweise des Immunsystems nachzuahmen. Bei einer viralen oder bakteriellen
Infektion beschränkt sich unsere Körperabwehr keineswegs
auf einen einzigen Mechanismus. Um uns vor schädlichen
Mikroorganismen zu retten, die uns in wenigen Tagen umbringen können, verfolgt unser Immunsystem Dutzende
oder Hunderte von Strategien gleichzeitig. Das Ganze ist
eine Art heuristisches Verfahren nach dem Prinzip »Versuch
und Irrtum«, wobei unser Körper sich ständig anpasst – und
in den meisten Fällen triumphiert. Auch in der Onkologie
wird es keinen Königsweg geben, den Krebs zu besiegen. Wir
werden unterschiedliche Komponenten des Immunsystems
gleichzeitig beeinlussen müssen, um Tumorerkrankungen
erfolgreich zurückzudrängen. Ÿ
Das Gespräch führte Emmanuelle Vaniet, promovierte Biologin
und Wissenschaftsjournalistin in Darmstadt.
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