Wie Schnecken der Hitze trotzen

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Wie Schnecken der Hitze trotzen
Hohe Temperaturen und Trockenheit zählen nicht unbedingt zu den bevorzugten
Umweltbedingungen von Schnecken. Dennoch gibt es einige Arten, die sogar in der Wüste
überleben können. Wie es den Tieren auf molekularer, zellulärer und physiologischer Ebene
gelingt, sich an extreme klimatische Situationen anzupassen, untersuchen jetzt die
Tübinger Zoologen Professor Dr. Heinz-R. Köhler und Professor Dr. Rita Triebskorn mit ihrer
Arbeitsgruppe zusammen mit Kooperationspartnern aus Avignon, Esslingen, Gießen und Le
Havre. Ihr von der DFG gefördertes Hot-Snail-Projekt soll insbesondere klären, ob die
Reaktionen auf hitzebedingten Stress Einfluss auf die phänotypische Vielfalt der Tiere
haben.
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Der Tübinger Zoologe Professor Dr. Heinz-R. Köhler erforscht die Hitzetoleranz von Schnecken. © privat
Schnecken stammen ursprünglich aus dem Meer, und die überwiegende Zahl der mehr als
60.000 verschiedenen Arten lebt auch heute noch im Wasser. Diejenigen, die an Land gezogen
sind, mussten im Laufe der Evolution eine Vielzahl von Anpassungsstrategien an die neuen
Lebensbedingungen entwickeln. „Hitze ist für Schnecken aber immer noch ein großes
Problem“, berichtet Professor Dr. Heinz-R. Köhler vom Institut für Evolution und Ökologie an
der Universität Tübingen. Schuld ist die feuchte und unverhornte Körperoberfläche der Tiere,
die diese nur unzureichend vor Austrocknung schützt. Dennoch gibt es Schneckenarten, die
auch in heißen Klimazonen ihren Lebensraum gefunden haben.
Die physiologischen und biochemischen Grundlagen dieser Hitzetoleranz untersuchen die
Tübinger Biologen jetzt im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
geförderten Hot-Snail-Projektes. Eine zentrale Rolle spielen dabei die sogenannten
Hitzeschockproteine (HSPs), die erstmals bei der Fruchtfliege Drosophila melanogaster als
zelluläre Antwort auf eine Temperaturerhöhung nachgewiesen wurden. „Inzwischen weiß man,
dass HSPs bei allen Organismen vorkommen - von Bakterien bis zu Säugetierzellen – und viele
von ihnen in der Evolution stark konserviert geblieben sind“, so Köhler. Ein Umstand, der auf
die enorme Bedeutung dieser Eiweiße für den Zellstoffwechsel schließen lässt.
Kritische Proteinfaltung
„Auch Schnecken reagieren auf Hitze mit der Bildung von Hitzeschockproteinen“, berichtet der
Biologe. Die HSPs zweier bedeutender Klassen, HSP70 und HSP60, werden dabei als
sogenannte ‚Chaperone’ bezeichnet. Vor dem Hintergrund, dass Proteine bestimmte räumliche
Strukturen einnehmen müssen, um ihre biologische Funktion ausüben zu können, leisten diese
Hitzeschockproteine einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Zellfunktion. Die
Proteinfaltung ist nämlich ein sehr störanfälliger Prozess, der in lebenden Zellen von
verschiedenen Chaperonen überwacht wird. „Die Hitzeschockproteine besitzen die
außergewöhnliche Fähigkeit, durch Hitze oder andere Faktoren geschädigte Proteine bis zu
einem gewissen Grad wieder in ihren natürlichen Zustand zurückfalten zu können“, so Köhler.
Ein Mechanismus, der den Zellen – und damit dem gesamten Organismus – das Überleben
sichert.
Allerdings kann die Pufferkapazität der Hitzeschockproteine in extremen Stresssituationen
auch rasch erschöpft sein. Schnecken verfügen deshalb noch über weitere Mechanismen, um
auf Hitzestress zu reagieren. „Einige Arten können zum Beispiel durch höhere
Verdunstungsraten die Körpertemperatur niedrig halten“, so Köhler. Gemeinsam mit
Ingenieuren der Hochschule Esslingen untersuchen die Tübinger Zoologen zudem die
thermodynamischen Verhältnisse in der Umgebung und im Inneren der Schneckenhäuser. „Wir
wollen zum Beispiel die Frage klären, ob Individuen mit dunklen Schalen sich tatsächlich
schneller aufheizen als solche mit hellen Gehäusen.“
Maskierte Mutationen
Die Hitzeschockproteine besitzen neben ihrer hitzeprotektiven Wirkung auf den
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Die Heideschnecke Xeropicta derbentina im natürlichen Habitat in Südfrankreich. Die Tiere entkommen dem sich
durch Sonneneinstrahlung stark erwärmenden Boden durch Erklimmen vertikaler Objekte. © A. Dieterich,
Universität Tübingen
Zellstoffwechsel aber noch weitere Fähigkeiten, die die Tübinger Arbeitsgruppe faszinieren.
Denn offensichtlich können HSPs das Auftreten von genetischen Mutationen im Erbgut bis zu
einem bestimmten Grad maskieren. „Eine Mutation , die zu einem Aminosäure-Austausch führt,
sollte üblicherweise auch die Struktur des dazugehörigen Proteins beeinflussen“, so Köhler, „es
wird jedoch angenommen, dass Hitzeschockproteine kleine Abweichungen von der
Idealstruktur erkennen können und dafür sorgen, dass die entsprechenden Proteine dennoch
‚korrekt’ gefaltet werden.“
So könnte verhindert werden, dass jede genetische Mutation sofort Auswirkungen auf den
Phänotyp hat. „Dadurch könnte die Evolution im Stillen Mutationen akkumulieren, die jede für
sich gar nicht auf ihren evolutiven Erfolg überprüft wird“, so der Wissenschaftler. Dies
geschieht offensichtlich erst ab einer kritischen Zahl von Mutationen. „Es ist nämlich durchaus
denkbar, dass mehrere verschiedene Mutationen in einem Protein, von denen jede für sich eine
ungünstige Wirkung hätte, in ihrer Summe plötzlich eine Funktionsverbesserung bewirken und
so doch noch eine Chance erhalten, sich in der Evolution durchzusetzen“, erklärt Köhler. Dieses
Denkmodell wird in der Wissenschaft aktuell im Rahmen der ‚Capacitor-Hypothese’ diskutiert.
Spielmasse für die Evolution
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In der Theorie bedeutet dies, dass in Populationen mit einem hohen HSP-Level die
phänotypische Variation der Tiere in Relation zu anderen Populationen deutlich geringer sein
sollte, weil potenziell mehr Mutationen maskiert werden können. „In den
Schneckenpopulationen, die wir bisher untersucht haben, sprechen die Ergebnisse deutlich für
die Capacitor-Hypothese“, so Köhler. Unter großem Stress hingegen – wenn sich beispielsweise
die Umweltbedingungen sprunghaft ändern – könnte dieses Capacitoring-System schlagartig
zusammenbrechen, weil die Hitzeschockproteine in den Zellen dann vermehrt für
Reparaturaufgaben benötigt werden.
„Als Konsequenz würde die Variation in der Population nach einem Stressereignis deutlich
ansteigen, weil der Pool an genetischer Vielfalt, der sich im Laufe der Zeit angesammelt hat,
plötzlich zum Tragen käme“, so Köhler. Ein Phänomen, das bei Modellorganismen wie der
Fruchtfliege Drosophila oder dem Kreuzblütler Arabidopsis unter Laborbedingungen bereits
beschrieben wurde. „Die Evolution hätte auf diese Weise eine größere Spielmasse zur
Verfügung, weil neue Phänotypen auftreten könnten, die an die veränderten
Umweltbedingungen sehr viel besser angepasst sein können als die bisherigen“, erklärt der
Zoologe. Mit dem Hot-Snail-Projekt will die Arbeitsgruppe um Köhler und Triebskorn jetzt
erstmals auch bei frei lebenden Tierpopulationen mediterraner Heideschnecken Belege für die
Capacitor-Hypothese liefern.
Fachbeitrag
12.09.2011
sb (12.08.2011)
BioRegio STERN
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
Weitere Informationen
Prof. Dr. Heinz-R. Köhler
Physiologische Ökologie der Tiere
Institut für Evolution und Ökologie
Universität Tübingen
Konrad-Adenauer-Straße 20
D-72072 Tübingen
Der Fachbeitrag ist Teil folgender Dossiers
Stress und molekulare Abwehrmechanismen
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