Wie Wissenschaft ihr Wissen schafft

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Leseprobe aus:
Wilhelm Tim Hering
Wie Wissenschaft ihr Wissen schafft
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(c) 2007 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
Gibt es natürliche Grenzen naturwissenschaftlicher Beschreibung?
Gibt es natürliche Grenzen naturwissenschaftlicher
Beschreibung?
Im Verlauf ihrer Erfolgsgeschichte haben die Naturwissenschaften
immer wieder Grenzen berührt, die man für unüberwindlich hielt.
Anfangs wurden sie von der Religion gezogen und waren sehr eng.3
Im Laufe der Zeit wichen die Barrieren des nicht rational Erklärbaren aber immer weiter zurück, und es erscheint heute nicht mehr
sinnvoll, über prinzipielle Grenzen zu philosophieren, die dem Ansturm zukünftiger naturwissenschaftlicher Methoden für immer
gezogen sind. Aber es sind auch keine systematischen Gründe erkennbar, die solche Grenzen prinzipiell ausschließen, denn die weiteren Entdeckungen sind ja nicht absehbar. Allerdings lassen sich
aus der bisherigen Erfahrung schon einige Tendenzen beurteilen.
So sind gelegentlich geäußerte Hoffnungen auf die Künstliche Intelligenz nicht wirklich gut begründet, wie begeistert auch immer ihre
Verfechter die Möglichkeit zukünftiger Rechner einschätzen [Bro03].
Keine noch so große Rechenmaschine hätte den Übergang von der
klassischen zur modernen Physik aufzeigen können, ohne über die
experimentellen Fakten zu verfügen, die um die Wende zum 20. Jahrhundert zunächst so große Verwirrung stifteten. Das Auffinden der
richtigen aus der übergroßen Zahl falscher Fragen ist Basis der Kreativität, die zumindest bisher dem menschlichen Geist vorbehalten
zu sein scheint. Das Gleiche gilt für seine Kulturleistungen, deren
Entwicklung aus dem stammt, was wir in Kapitel 4 als Emergenz beschrieben haben. So zeigen etwa die Auseinandersetzungen in den
Künsten und der Literatur vielfach ein Spannungsverhältnis zwischen Rationalität und Emotionalität, das den Naturwissenschaften
unbekannt ist.4 Es werden komplementäre Begriffe verwendet, die
eine Aussage unterschiedlich beleuchten können: Im Lichte des einen erscheint sie schlüssig und überzeugend, im Lichte des andern
dagegen unklar und schwach. Analog zur Quantenphysik wären
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10. Zusammenfassung und Ausblick
also für eine adäquate Erfassung beide Komponenten erforderlich,
aber dazu müsste erst ein geeignetes Komplementaritätsprinzip
formuliert werden, das noch nicht bekannt ist. Die quantenmechanische Komplementarität ist jedenfalls mit Sicherheit hierfür als
Quelle ungeeignet, weil die beobachtbaren Vorgänge im Gehirn
dafür zu klassisch sind.5
Näherliegend ist die Überlegung, inwieweit die anderen, bisher
als «weich» geltenden Wissenschaften, die traditionell nicht streng
naturwissenschaftlich vorgehen, ihre Methoden in deren Richtung
weiterentwickeln könnten. Die Erfolge der Physik haben schon seit
langem solche Versuche in Medizin, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften ausgelöst, die diesen Fächern wiederum den Vorwurf einbrachten, die Physik «nachäffen» zu wollen. Natürlich sind
für jede Wissenschaft, die sich auf geeignete Weise als formalisierbar herausstellt, die naturwissenschaftlichen Arbeitsmethoden und
der weitere Rahmen der hier beschriebenen Denkweisen im Prinzip
anwendbar. Aber Systeme mit eigentümlichen Unschärfen, die sich
zum Beispiel in der Koexistenz zwar gegensätzlicher, aber trotzdem
gleichermaßen anerkannter Theorien ausdrücken, können diese
Kluft nicht ohne weiteres überwinden. Daran ändert es auch nichts,
wenn sich die unvereinbaren Zweige jeweils einer eigenen Mathematisierung bedienen.6 Der Grundcharakter der Physik wird so
lange verfehlt, wie kein Konsensprinzip erkennbar ist, mit dem die
konkurrierenden Beschreibungen einheitlich beurteilt werden und
eine einzige von ihnen zum Sieger erklärt werden kann. Damit soll
diesen Gebieten nicht etwa prinzipielle Fehlerhaftigkeit oder gar
Nutzlosigkeit nachgesagt werden. Lediglich ein Streben nach dem
Objektivitätsideal der strengen Naturwissenschaften scheint für sie
einstweilen aussichtslos.
Es ist natürlich prinzipiell denkbar, dass in ferner Zukunft die
gesamte objektive Realität mathematisch-physikalisch darstellbar
sein könnte. Ob damit aber auch alle Eigenschaften der gesamten
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Wie geht es weiter?
Realität erfassbar würden, ist extrem unwahrscheinlich. Man denke nur an eine große Symphonie, die als Funktion der Zeit in allen
Bewegungen der Luftwellen und der Nervenimpulse im Kopf des
Hörers beschrieben würde. Wozu sollte das dienen? Der eigentlichen Wirkung auf den Musikhörer würde man auf diese Weise fast
mit Sicherheit nicht näherkommen, denn die in jedem Individuum
generierte subjektive Realität kann mit den objektiven Methoden
der Naturwissenschaften wohl nicht erschlossen werden.
Wie geht es weiter?
Wenn abschließend zu dieser Frage etwas gesagt werden soll, dann
kann es sich nur um die in der Einleitung definierten «educated
guesses» handeln. Haben schon die vorangehenden Abschnitte des
Schlusskapitels viel persönliche Einschätzung und Überzeugung
enthalten, so wird dieser davon nicht weniger enthalten können.
Dabei werde ich mich auch auf die Überlegungen einiger hervorragender Wissenschaftler stützen, doch zeigt sich bei genauerem
Hinsehen, dass sie es leider auch nicht viel besser sagen können.
Beginnen wir mit einer Überlegung zur Zukunft der Naturwissenschaften. Der Mediziner und Nobelpreisträger Peter Medawar hat
sich gefragt, was die Grenzen der Naturwissenschaften sein könnten
[Me84]. Er fand, dass der wichtigste Zweig sicher die Physik der Elementarteilchen bei hohen Energien ist, denn dort sind die noch unentdeckten Fundamentaleigenschaften der Natur zu finden. Aber gerade hier kann es auch sein, dass die Forschung an ihre technischen
Grenzen stößt, so wie Wolkenkratzer, Flugzeuge und Populationen
nicht beliebig wachsen können. Besonders die fundamentalsten
Fragen nach dem Aufbau der Materie verlangen einen immer größeren experimentellen Aufwand für Beschleuniger und Detektoren,
der vielleicht aus technischen oder finanziellen Gründen bald nicht
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10. Zusammenfassung und Ausblick
mehr aufgebracht werden kann. Noch vor sechzig Jahren hätte man
dieses Ende schon lange vor dem heute erreichten Stand vorausgesagt, aber der Erfindungsgeist hat bei Wirkungsweise und Aufbau
dieser Einrichtungen immer neue Auswege gefunden. Es scheint
jedoch auch möglich, dass eine endgültige Grenze schon in einigen
Jahrzehnten erreicht sein könnte. Dann wird die experimentelle
Methode, die bis heute Basis des wissenschaftlichen Fortschritts ist,
ersetzt werden müssen, wenn die Suche nach den Urbausteinen der
Materie weitergehen soll. Wie ein neues Prinzip aussehen könnte,
ist allerdings völlig offen. Die Untersuchung immer komplexerer
Systeme der belebten und unbelebten Natur wird jedoch sicher
weitergehen können, der Beruf des Physikers also nicht brotlos
werden. Es kann aber auch sein, dass die weiteren Entdeckungen
der fundamentalen Physik hoher Energien auf unüberwindliche
Schwierigkeiten bei der theoretischen Analyse stoßen, weil deren
Mathematik nicht mehr adäquat formuliert werden kann. Schon
heute werden die Weiterentwicklungen der fundamentalen Theorien zusammen mit Mathematikern betrieben, weil gleichzeitig mit
den physikalischen auch die mathematischen Grundlagen des Gebietes erst geschaffen werden müssen. Es ist daher denkbar, wenngleich noch nicht absehbar, dass man hier ebenfalls an die Grenzen
kommt. Eine viel näherliegende Gefahr besteht jedoch darin, dass
die sozialen und ökonomischen Probleme der Industriestaaten
übergroß werden und alle verfügbaren Mittel nötig sind, um sie zu
lösen. Dann müssen die Naturwissenschaften zurückstehen, und
die letzten Bestandteile der Materie müssen auf ihre Entdeckung
noch weiter warten, so wie sie es seit 14 Milliarden Jahren tun.
Aber auch ohne diese naheliegenden Schranken ist der endgültige Erfolg der naturwissenschaftlichen Naturerklärung keineswegs gesichert. Vielleicht existiert eine abgeschlossene Theorie ja
gar nicht, und den Gral des Reduktionismus sucht man vergebens.
Der Forschung könnte das sogar verborgen bleiben, und sie arbeitet
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Wie geht es weiter?
immer weiter mit Beschreibungen, die nicht nur untestbar, sondern
sogar fiktiv sind [Ka81]. Auf die Praxis der Naturwissenschaften
müsste das keinen Einfluss haben, und die Wissenschaftstheorie
vermöchte ebenfalls nicht, ein solches Dilemma zu lösen. Doch sogar mit dieser großen Ungewissheit könnte der menschliche Geist
auf Dauer leben, wenn er die prinzipiellen Barrieren versteht, die für
unsere Erkenntnisfähigkeit existieren. Er würde trotzdem keine philosophischen Auffangnetze religiöser oder sonstiger Art brauchen.
Es ist auch vorstellbar, dass die Ausbildung der Nachwuchsforscher irgendwann so lange dauert, dass sie die produktivste Phase
ihrer Begabung schon hinter sich haben, bevor sie endlich dazu
kommen, neue Probleme anzugreifen. Allerdings muss das keine
unlösbare Aufgabe sein. Tatsächlich ist zum Beispiel die künftige
Rolle exosomatischer Gedächtnisse, also etwa die hilfreiche Kapazität elektronischer Rechner, noch gar nicht abschätzbar. Auch wird
sich die Rolle der Black Boxes aus Messgeräten, Messelektronik und
Rechner noch weiter vergrößern, die der Forscher so verwendet, wie
viele Menschen ihren Fernseher benutzen, bei dem sie auch nicht
genauer wissen, was in seinem Inneren verborgen ist. Wenn diese
Tendenz anhält, kann der gewohnte Forschungsbetrieb noch eine
ganze Weile weitergehen. Auch heute ist ja das Lernen für den Forscher ein Dauerzustand. Die Phantasie kennt keine Schranken.
Während also die Zukunft der wissenschaftlichen Arbeit nicht
sicher vorauszusehen ist, so scheint doch ihre gesellschaftliche Basis nicht gefährdet. Dazu haben die Naturwissenschaften eine viel
zu zentrale Position in den industriellen Zivilisationen inne, und
die Entwicklung in den aufstrebenden Staaten wird am Ende wohl
genauso verlaufen, trotz aller Kritik, die schon vor langer Zeit von
Henry David Thoreau geäußert wurde, dass nämlich die Technik eigentlich nur immer weiter verbesserte Mittel zu gänzlich unverbesserten Zwecken bereitstellen würde. Dieser Vorwurf ist bedenkenswert und würde vielleicht eine eigene Untersuchung rechtfertigen.
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10. Zusammenfassung und Ausblick
Aber wie wird sich das Verhältnis der Natur- und Geisteswissenschaften zueinander entwickeln? Wird die Trennung, die Snow
thematisiert hat und von der schon in der Einleitung die Rede war 7,
fortdauern, indem sie man resigniert als naturgegeben ansieht, oder
kann die Gesprächsverweigerung abgebaut und das Interesse an der
Gedankenwelt des andern gefördert werden? Tatsächlich gibt es in
den USA Enthusiasten, die sich um eine Synthese beider Kulturen
in einer «Third Culture» bemühen [Bro03] und sich selbst als «Neue
Humanisten» bezeichnen. Bei genauerer Betrachtung haben sie das
verwegene Ziel, den Kulturpessimismus generell durch Wissenschaftsoptimismus zu ersetzen, und zwar mit Hilfe einer rasanten
Computerentwicklung. Das klingt allerdings nicht sehr erfolgversprechend und die Schwierigkeiten zwischen beiden Kulturen würden wohl eher noch weiter zunehmen, nicht nur in Europa.
Die Suche nach einer überzeugenden Philosophie, die beide
Kulturen zusammenführen kann, muss also weitergehen. In diesem
Meinungskampf der Konzepte können die Naturwissenschaften
eine Hilfe sein, wenn auch nicht durch die Sicherheit ihrer Aussagen, die manche in diesem Diskurs als eher nebensächlich empfinden mögen, sondern gerade durch das Beispiel, wie sie damit
umgehen, auch zuvor feste Ansichten ändern zu müssen, sobald objektiv fundierte Ergebnisse oder überzeugende Einsichten sie dazu
zwingen.
Ob solche Versuche Erfolg haben werden, ist ungewiss, vielleicht sogar unwahrscheinlich. Dann bliebe allerdings nur die ernüchternde Vorstellung, dass weder die Naturwissenschaften noch
die Philosophie und auch nicht die Religionen den andauernden
Konflikt divergierender Kulturvorstellungen in einer Weltgesellschaft beenden können. Das wäre kein Unglück, wenn sich dabei
eine friedliche Koexistenz einstellen würde. Obwohl die geschichtlichen Erfahrungen in dieser Hinsicht nichts Gutes ahnen lassen,
so muss das doch nicht ewig scheitern. Unsere individuellen Wert212
Wie geht es weiter?
vorstellungen beruhen schließlich auf einer gemeinsamen emotionalen Basis, die alle Menschen verstehen können. Ihre Elemente
sind gegenseitige Achtung, Freude am Schönen und Faszinierenden
in Natur und Kunst, Sehnsucht nach größerer Gerechtigkeit durch
einen angemessenen Ausgleich des blinden Unrechts in der Natur.
Die dazu unentbehrlichen Postulate werden aber nicht aus der Unversöhnlichkeit überirdischer oder kosmischer Imperative kommen,
sondern die Menschen sollten sie für sich selbst aufstellen. Sie werden uns ja eingeprägt durch die Gesellschaft, in der wir aufwachsen,
und formen sich in unseren eigenen Biographien aus. Darum können wir sie auch, und sei es mit Mühen und Rückschlägen, unseren
Einsichten und Erfahrungen anpassen.
Ließe sich hierüber im Prinzip Einigkeit untereinander erzielen,
dann wäre die Hoffnung auf eine überlebensfähige Zukunft nicht
mehr unbegründet.
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