Contrapunctus in versus 12

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Georg Ernst Streibig alias Chyron
„Contrapunctus in versus 12“
(„Kontrapunkt in 12 Versen“)
Bachs vollendete Kunst der Fuge
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CHYRON – VERLAG
Die
KUNST
DER
FUGE,
Johann Sebastian Bachs
musikalisches Testament,
dieses zentrale Werk
der abendländischen Musik,
lag uns immer schon
vollendet
- aber verschlossen vor.
Hier nun ist der Schlüssel.
INHALT
Gesetzt, es gelänge eine vollkommen richtige,
vollständige und in das Einzelne gehende Erklärung der Musik,
also eine ausführliche Wiederholung dessen, was sie ausdrückt,
in Begriffen zu geben, diese sofort auch eine genügende Wiederholung
und Erklärung der Welt in Begriffen, oder einer solchen ganz
gleichlautenden, also die wahre Philosophie sein würde.
(Schopenhauer)
I
Circulus per Quartas & Quintas.
Der Quintenzirkel als musikalischer Zyklus schlechthin (1). – Der Quintenzirkel als Weltzyklus (3). – Bachs Kunst der
Fuge als musikalische vollendete Darstellung dieses Weltzyklus (4). – Kanon & Spiegelfuge als Gesetze des Weltzyklus (5).
II
Der 12er-Zyklus
Die tonalen – musikalisch-kosmologischen – Bereiche des Weltzyklus (6). – Die 84 Halbtonstufen des Quintenzirkels
als Grundmaß für Bachs Zyklus (8). – Die Nahtstelle des in sich zurückkehrenden Fugenzyklus (11). – Bachs Hinweise im Originaldruck (12).
III
Gang durch den 12er-Zyklus
Der 1008 = 12 × 84 Takte umfassende Umlauf als das eigentliche Kreismaß für Bachs Zyklus (17). – Die vier grundlegenden Kombinationstypen für die Themenkombinationen der Contrapuncti (19).
Die zwei Hauptbereiche des neu beginnenden Zyklus (19):
DER URSPRUNGSBEREICH (TAG): Contrapunctus 1 bis Contrapunctus 7
Contrapunctus 2: Geburt und Etablierung des Themas (Paradigmas) (22).
Contrapunctus 1: Entfaltung des Themas (25).
Contrapunctus 3: Selbstreflexion des Themas (26).
Contrapunctus 4: Höhepunkt der Selbstreflexion („Mittagspunkt“) (27).
Contrapunctus 5: „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ durch Spiegelung (28).
Contrapunctus 6: „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ durch Spiegelung
und Verkleinerung (29).
Contrapunctus 7: „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ durch Spiegelung,
Verkleinerung und Vergrößerung (29).
DER ABGELEITETE BEREICH (NACHT): Contrapunctus 8 bis Contrapunctus 12
Contrapunctus 9: Beginn der thematischen Differenzierung (30).
Contrapunctus 10: Weitere Differenzierung und Abspaltung (31).
Contrapunctus 8: „Die zwei Wege“ (32).
Contrapunctus 11: „Kampf der zwei Wege“ (Nachtmittelpunkt) (36).
Contrapunctus 12
( = Fuga a 3 Soggetti):
„Erscheinen des Mittlers – Nachfolgeschaft – Entscheidungskampf – Neubeginn“ (40)
Die Kanons als die ‚Horizontalgesetze‘ des Zyklus (45). – Die Spiegelfugen als die ‚Vertikalgesetze‘ des Zyklus (46). –
Analogie Thementakte Spiegelfuge (a 4) : den 4 Kanons : den 4 Evangelien (47). – Taktanzahlbeziehungen Spiegelfugen :
Umlaufzahlen (48). – Beziehungen Anzahl Themenauftritte : Taktanzahlen (49). – Taktanzahl’befreundungen‘ zwischen den
Contrapuncti (50). – Verhältnisse Umlaufzahlen : Aufführungsdauer (51).
EXKURS
Bachs (tonales) Maß- und Ordnungssystem
Die symmetrische Mixtur der Platonischen WELTSEELE (52). – Die 37 Einzelmischungen („Töne“) der WELTSEELE (53). – Die 288er-‚Mikro‘-Struktur jeder Einzelmischung (53). – Die vierfältige Struktur der WELTSEELE
(54). – Die Gesamtstruktur der WELTSEELE als kosmologisches Grundmaß (888 JESUS, 1480 CHRISTUS etc.) (55).
– Die zwei spiegelbildlichen musikalischen Ausprägungen der WELTSEELE als Grundlage des tonalen Dur/MollSystems (57). – Die spie-gelbildlich in einander verschränkte WELTSEELE als exaktes Muster für die beiden Spiegelbilder des Hauptthemas der Kunst der Fuge (58). – Das Vermögen der WELTSEELE als dialektisch-logischer (binärer)
Bewegungsprozeß (Kreislauf) (61). – Die auf den Zahlen der WELTSEELE basierenden Weltzyklen (62). – Tonstufenzahlen (64). – Der KREIS DES SELBEN und der KREIS DES VERSCHIEDENEN in Bachs Kunst der Fuge (66). –
Die Canones Diversi aus dem Musikalischen Opfer als die KREISE DES VERSCHIEDENEN (69). – Das Symbolum
Nicenum der h-moll-Messe als 840er-Kreislauf (72). – Symbolum Nicenum + Sanctus als 1008er-Zyklus (72). – Weitere Beispiele für WELTSEELEN-Maßzahlen in Bachs h-moll-Messe ( 74). – Der 1008er-Zyklus aus Bachs „Orgelmesse“ (73). –
Weitere Bespiele für die Maßzahlen der WELTSEELE in Bachs Kompositionen (76 – 83).
IV
Kurzer Ausblick auf den 7er- und den 5er-Zyklus
Die multifunktionale Struktur von Symbolen (83). – Der Kreislaufwechsel im Platonischen POLITIKOS- Mythos (84). –
Die Proportionierung des 7er-Zyklus in Bachs Kunst der Fuge (85). – Der 5er-Zyklus als Passus Duriusculus Generis
Hominum (90). – Die Nahtstelle als paradigmatische Kombination aller drei Zyklen und des Kreislaufs selbst (92).
Nachwort zur ersten Auflage 1997 (93)
Georg Ernst Streibig alias Chyron
„Contrapunctus in versus 12“
Bachs vollendete Kunst der Fuge
(2. Auflage 1999)
Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge ist kein Torso. Dieses Werk ist vollendet wie kein zweites in der Musikliteratur. – Mit dem vorliegenden Aufsatz soll aber nicht nur jene im Werk implicite enthaltene Lösung dieses
großen Bachschen QUAERENDO INVENIETIS dargestellt und durch eine Anzahl von Hinweisen begründet werden (für eine erschöpfende Begründung siehe meine beiden Aufsätze Bachs vollendete Kunst der Fuge
und Die Kunst der Fuge – Bachs großes Quaerendo Invenietis. Der Beweis); in ihm wird auch eine Interpretation gegeben, was dieser vollendete Zyklus für Bach – und für die Musik überhaupt – bedeutet bzw. bedeuten soll. Das
heißt: Diese Interpretation liefert nicht nur den Schlüssel für eine (erstmals) systematische musikalisch-symbolische
Gesamtdeutung des gesamten musikalischen Schaffens dieses großen ‚Schweigers‘ und ‚Esoterikers‘. Sie
offenbart darüber hinaus auch, welch enge symbolische Beziehungen zwischen jener platonisch-christlichen
(gnostischen etc.) Weltdeutung, die noch bis zum (deutschen) Barock Gültigkeit hatte und wirksam war, und
dem/den seit der Antike gleichzeitig sich herausbildenden abendländischen Tonsystem/Tonsystemen grundlegend bestehen – Beziehungen, von denen die Musikwissenschaft zwar immer schon wußte (siehe z. B. R.
Dammann, Der Musikbegriff im deutschen Barock, Köln 1967) , deren systematisches Verständnis bisher aber, aus
Mangel an Schriftlich-Überliefertem, erschwert oder überhaupt nicht möglich war.
I
Je näher ein Ding seinem Ursprunge ist/ je vollkommener es ist: Derowegen/ je weiter die Proportiones
von der Unität als ihren Principio abweichen/ je unvollkommener sie sind...Je weiter nun die Numeri,
und Proportiones in die Vielheit hinein lauffen/ und von der Unität abweichen/ je verwirreter und verdrießlicher sie sind: Et ita natura ab infinitis abhorret. (Andreas Werckmeister, 1707)
D
IESE und ähnliche Sätze sind Beleg für die Selbstverständlichkeit, mit der noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts (in Deutschland) musikalische Zusammenhänge als universelle, kosmische Gesetzmäßigkeiten aufgefaßt wurden. Aussagen über die Musik waren gleichzeitig (philosophische) Aussagen über die (göttliche) Ordnung der Welt. Das musikalische
Kunstwerk wurde als klingendes Abbild dieser Ordnung begriffen, - ohne daß der Komponist eigens auf diese kosmologischen Aspekte seiner Schöpfungen hinweisen mußte.
Die Evidenz für diesen musikalisch-kosmologischen Zusammenhang lieferte das Phänomen der Musik selbst: Stünde nicht hinter den in bestimmten proportionalen Zahlenverhältnissen zueinander stehenden Luftwellenpaaren die entsprechenden wahren (geistigen)
kosmologischen Strukturen, so existierten erstere als bloße Geräusche, die Welt der Musik gäbe
es nicht. –
Das (auf antiker Tradition beruhende) tonale, musikalisch-kosmologische System, auf
das sich die Sätze Werckmeisters beziehen, läßt sich – in Worten der Musiklehre – etwa
folgendermaßen konkretisieren: Ursprung (Principium) ist die Prime, die Unität (1), alle
Tonbeziehungen sind Ableitungen (Verwandtschaften, Ähnlichkeiten) der Prime, zugleich
aber auch Abstände (Intervalle), Entfernungen von ihr, vom Ursprung. Die Oktave (1/2
bzw. 2/1) zeigt dabei unter allen zwölf Intervallen den (qualitativ) größten Verwandtschaftsgrad, die größte Ähnlichkeit, erscheint gleichsam als Identität des Ursprungs
(trotz – paradoxerweise – größter quantitativer Entfernung). Der statische Aspekt dieses Sys-
CIRCULUS PER QUARTAS & QUINTAS
2
tems der Tonverwandtschaften betrifft – in pythagoreisch-platonischer Tradition – das
symmetrische System der Quintenbeziehungen:1
729/64 243/32
AS
36
ES
35
81/16
27/8
9/4
3/2
1
2/3
4/9
8/27
16/81
B
34
F
33
C
32
G
31
D
30
A
3-1
E
3-2
H
3-3
FIS
3-4
32/243 64/729
CIS
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GIS
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E
FR
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Ursprung
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D
1
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32C
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34 B
EN
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3 5 ES
3-8 AIS
FR
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3 -7 DIS
EM
-4
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CIS 3
7
-6
6
3 AS/GIS 3
DES 3
DUNG
Diabolus
in
Musica
ENT
FRE
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G
33 F
N
B
Die dynamisch-zeitliche Ausfaltung dieses Systems stellt der Quintenzirkel (Circul, Heinichen,
1711 und 1728) dar, der in beiden Richtungen und natürlich auch als Quartenzirkel
(Circulus per Quartas & Quintas) gelesen werden kann (siehe Figur 1).
MD
U
Figur 1 Circulus per Quartas & Quintas
Die (musiktheoretische wie -praktische) Tatsache, daß sich der Quinten-/Quartenzirkel
nicht von selbst schließt, die Rückkehr zum Ursprung, zum Principio, nur über einen
‚Sprung‘ (eine Verschiebung, eine Kurskorrektur) – z. B. im Falle der Linksdrehung als
Sprung von  zu  (also von AS zu GIS, DES zu CIS oder von GES zu FIS) – erreicht
wird, daß also die Eigenlogik des Zirkels immer weiter vom Ursprung (von der Einheit)
weg ins Chaos (in die totale Vielheit) führen würde, hat entscheidende Bedeutung. – Darüber unten ausführlicher. Zunächst ist hier festzuhalten:
Der Quinten-/Quartenzirkel kann als der musikalische Zyklus schlechthin angesehen werden
und – im Sinne der für den Musikbegriff des deutschen Barock noch geltenden Identität
von Weltordnung und Musikordnung – als Gesetz und tönendes Symbol des Weltenlaufs.
1
Da die Oktavtöne als Identitäten des Grundtons behandelt werden, ist die untere Zahlenreihe auf Potenzen
von 3 reduziert bzw. sind die 2er-Potenzen weggelassen.
CIRCULUS PER QUARTAS & QUINTAS
3
Johann Sebastian Bach hatte mit seinen beiden Teilen des Wohltemperierten Claviers
(1722 und 1744) den gesamten Tonraum zweimal durchmessen. Dieses Durchschreiten
der Oktave in 12 Halbtonstufen – jede Stufe doppelt vertreten, in beiden Tongeschlechtern, Dur und moll, also in insgesamt 24 Einheiten, jeweils in Präludium und Fuge vorgeführt, - vermittelt keinen Kreislauf im Sinne eines musikalisch-funktionalen (Entfaltungs)prozesses, sondern will – als Zyklus – repräsentieren. Die gesamte harmonische und melodische Pracht und Vielfalt des (musikalischen) Kosmos’ wird dem Rezipienten vor ‚Augen und Ohren‘ geführt. Als Repräsentationszyklus bezieht dieser Kreislauf seine Wirkung
aus dem unmittelbaren Kontrast, aus dem Nebeneinander der Gegensätze.
Während in den beiden Repräsentationszyklen der eng gestufte, kontrastierende
Tonraum direktes (‚äußeres‘) Symbol des Kosmos’ ist und sich als solcher direkt repräsentiert,
wird in der Kunst der Fuge das funktionale, weit ausgebreitete musikalische Bezugssystem, der
Quinten-/Quartenzirkel, zum (indirekten) musikalischen Sinnbild kosmischer (zeitlicher) Prozesse,
des Weltenlaufs, des (motivisch-thematischen) Werdens und Vergehens. Als Sinnbild muß dieser
Quinten-/Quartenzirkel nicht mehr durch direkte tonale Bezüge aktualisiert werden. Bach
schreibt daher nur in einer Tonart, im zentralen d-moll.
Wenn wir davon ausgehen, daß Bach von der Übereinstimmung zwischen Musikordnung und Weltordnung zutiefst überzeugt war – und wer wollte ernsthaft daran zweifeln
–, dann war für ihn dieses musikalische (pythagoreische) Bezugssystem Inbegriff und
Symbol der Weltordnung schlechthin. Indem Bach – wie dieser Aufsatz zeigen wird – mit
seiner Kunst der Fuge dieses Weltgesetz als Weltentfaltungsprozeß, der auch ein musikalischer ist, in seiner letztgültigen Form musikalisch verwirklichte und zum Klingen brachte,
hat Bach einen in quasi doppelter Hinsicht musikalischen Zyklus komponiert.
Eine direkte, aktualisierte Form der kompositorischen Auseinandersetzung Bachs mit
dem Quinten-/Quartenkreislaufmodell liegt bekanntlich im Canon a 2 per tonos (Modulationskanon) aus dem Musikalischen Opfer vor. Von links nach rechts drehend in aufsteigenden Quinten und nach f-moll transponiert, die früheste tonale Kurskorrekturmöglichkeit
nutzend, mag er als (dreh-inverses) Paradigma für Bachs gewaltigen Fugenkosmos gelten
(siehe Figur 2).
D
G
A
C
E
2
3
1
F
H
4
Anfang
6
5
FIS
B
ES
Sprung
GIS
CIS
Figur 2 Tonartenkreislauf des Canon a 2 per tonos
aus dem Musikalischen Opfer
Die folgende Darlegung bzw. Nachzeichnung der Kunst der Fuge anhand des (oben beschriebenen) Quinten-/Quartenzirkels impliziert dabei 4 Thesen (die verifiziert werden):
4
CIRCULUS PER QUARTAS & QUINTAS
1. Der (von Bach selbst so betitelte) Zyklus Kunst der Fuge liegt uns als vollendet vor.
2. Bach hat diesen (vollendeten) Zyklus zu seinen Lebzeiten stechen lassen,
und zwar vollständig, so wie ihn der Originaldruck (im Zusammenhang mit
den 7 Schlußtakten aus P 200) bietet (wahrscheinlich war er selbst an den
Stecharbeiten beteiligt).
3. Alle Absonderlichkeiten des Druckes (merkwürdige Überschriften, seltsame Ziffernformen, (anscheinende) Verwechslungen, (anscheinend) fehlerhafte Numerierungen etc. etc.) sind von Bach beabsichtigt.
4. Bach hat es dem Weltenlauf (Weltgesetz) selbst überlassen, zum rechten
Zeitpunkt die Nahtstelle zu finden, an der der Kreislauf zum Ursprung zurückkehrt und damit seine Gesetzmäßigkeit und Symbolik offenbart.
Bei einem so systematisch denkenden Komponisten wie Bach ist von vornherein davon auszugehen, daß sich die Einheitlichkeit dieses Werkes, die sich aus der inneren, monothematischen Struktur ergibt, auch auf die äußeren musikalischen Formen (Satzarten) übertragen hat. D. h. Bachs Intention ist es hier nicht (im Gegensatz zum Wohltemperierten
Clavier), die Verschiedenheit musikalischer Formen (die die durch die Monothematik erzielte Einheitlichkeit nur gefährden würde) innerhalb der inneren (thematischen) Entwicklung vorzuführen. Das Auftreten verschiedener Satztypen – Fuge – Kanon – Spiegelfuge – hat
hier folglich ganz andere Funktion. Welche, soll die folgende (kurze) Untersuchung aufzeigen.
Fuge
Gegenüber anderen Satzarten (z. B. der Sonate) ist eine Fuge (fuga soluta, fuga libara)
ein relativ freies, an keinen feststehenden (von ‚außen‘ vorgegebenen) Entwicklungsplan
oder Ablauf (Makrostruktur) gebundenes Stück. Fuge bezeichnet keine (feste, vorgegebene) musikalische Form, sondern verweist auf ein Gefüge, bei dem musikalische Figuren
(Mikrostrukturen) nach einem bestimmten Prinzip miteinander (‚horizontal‘ und ‚vertikal‘)
kombiniert werden. Je nachdem welche musikalischen Figuren der Komponist wählt bzw.
zur Ausführung bringt und welche Prinzipien er anwendet oder berücksichtigt, können
dabei ganz unterschiedliche und höchst individuelle (Groß)formen entstehen.
Bei der Freiheit der Entfaltung garantiert die Bindung aller Stimmen an das Thema
(an das thematische Material) die Einheitlichkeit des Satzes, die aber – aufgrund der Vielfalt des polyphonen Gewebes und der daraus resultierenden ‚Gesamtmelodie‘‘2 – nicht ein2
Diese ‚Gesamtmelodie‘ ist es, was jede Bachsche Fuge von der eines anderen (insbesondere eines nachbarocken)
Komponisten so fundamental unterscheidet. Dieses aus dem polyphonen Stimmengeflecht sich ergebende
Melos jeder Bachschen Fuge bindet nicht nur jede freie Stimme, sondern auch das Thema selbst derartig fest in
das Gefüge ein, daß ein Spieler, für den das Wesentliche einer Bachschen Fuge im Heraushören des Themas
besteht, alle Mühe hat, das Thema beim Vortrag durch Betonung herauszuarbeiten (herauszulösen) und
dadurch hörbar zu machen.. – Das Phänomen der ‚Gesamtmelodie‘, des Melos’, einer Bachschen Fuge steht
CIRCULUS PER QUARTAS & QUINTAS
5
tönig wirkt. (In einem homophonen Musikstück, etwa einer klassischen Sonate, hätte diese Einheitlichkeit monotone Wirkung; die Form der Sonate beruht daher wesentlich auf Abwechslung
(verschiedene Nebenthemen u. a.))
Aufgrund dieser Eigenart ist die Fuge wie kein anderer Tonsatz dazu geeignet, musikalische (motivische/thematische) Entfaltungs- und Veränderungsprozesse innerhalb eines
musikalischen Ablaufs vorzuführen, ohne dabei die Einheit und Identität der Thematik in
Frage zu stellen oder gar aufzugeben.
Kanon
Wenn man sich vergegenwärtigt, was an einer Fuge kanonhaft ist – die in bestimmten
(zeitlichen) Abständen und Intervallen, monothematisch und gestaffelt einsetzenden Stimmen -, so wird
der Unterschied zwischen Fuge (fuga soluta) und Kanon (fuga ligata) unmittelbar klar: Der
Begriff Fuge bezeichnet – sehr vereinfacht gesagt – einen Tonsatz, der nach gewissen
kanonhaften (‚kanonischen‘) Gesetzen, nach dem Vorbild des Kanons (wörtl.: Maßrohr), geregelt
ist, - während der Begriff Kanon dieses Gesetz quasi selbst meint. Indem der Kanon – als
klingender Satz – dieses Gesetz ausführt, kann er zum Sinnbild für die in ihm verankerte
und reflektierte Regel werden.
Kanon als Sinnbild für Regel, Gesetz sei durch folgende Phänomen-Beschreibung veranschaulicht:
Die nachfolgenden Stimmen (consuguente) haben sich exakt nach der vorangehenden (guida) zu richten,
diese – als ihr Vorbild, als ihre Richtschnur – getreu nachzuahmen. Gleichzeitig muß aber die vorausgehende auf die nachfolgenden dergestalt ‚Rücksicht nehmen‘, daß sie – bei aller Freiheit – so voranschreitet,
daß die anderen – im Sinne eines harmonischen Gefüges – auch folgen können. D. h. die Vorgaben, die
sie leistet, die ‚Konsequenzen‘, die sie von den Nachfolgern abverlangt, müssen ‚zumutbar‘ sein und dürfen
die Harmonie des Ganzen nicht gefährden. Hinzu kommt: Die vorausgehende Stimme ist nicht nur indirekt, durch die ‚Rücksichtnahme‘, gebunden, sondern sie ist in ihren Bewegungen gleichzeitig direkt (harmonisch) auf die Nachfolger angewiesen, wie umgekehrt auch.
Es gibt sicher kein schöneres künstlerisches Symbol für das, was Gesetz – idealerweise – leistet.
Spiegelfuge
Analog zum ‚horizontalen‘ Kanon bezieht sich die Satzart der Spiegelfuge auf die (melodisch-harmonischen) Abhängigkeiten zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ eines musikalischen Systems: Bei den melodischen Bewegungen jeder Stimme ist zu berücksichtigen, was jeder
Schritt (melodisch und harmonisch) für das Spiegelbild bedeutet. Der (chromatischen) ‚Erhöhung‘ entspricht im Spiegelbild eine ‚Erniedrigung‘, und vice versa. Das Gesetz der Symmetrie
sorgt jeweils für (gerechten) Ausgleich.
In diesem Sinne bedeutet der konsequent gespiegelte Tonsatz ebenso Kanon (Regel,
Richtmaß, Gesetz) wie der Kanon selbst, – nur eben in einer anderen – dazu komplementären –
Beziehung.
auch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Themenbeantwortung (reale – tonale). Siehe dazu weiter unten,
Abschnitt III.
6
CIRCULUS PER QUARTAS & QUINTAS
Mit dieser – zugegeben, sehr vereinfachten – Begriffsabgrenzung sind jetzt die besonderen Funktionen definiert, d. h. die Rollen, die alle drei Satzarten in der Kunst der Fuge
spielen, automatisch verteilt:
Kanons und Spiegelfugen definieren (in jeweils individuellen Ausprägungen) die Gesetzmäßigkeiten (das göttliche Gesetz) des Zyklus’; sie repräsentieren Gesetz und Regel, nach denen
der musikalische Quinten-/Quartenkosmos, ‚horizontal‘ und ‚vertikal‘, funktioniert bzw.
sich gestaltet. Die Kanons demonstrieren das zeitliche Gesetz des Kreislaufs, die in sich kreisende, unaufhörliche Kanonstruktur als das klingende Abbild des Kosmos‘ (Giovanni Battista Vitali).
– Analog symbolisieren die Spiegelfugen das ‚oben-wie-unten‘ des Zirkels, das ‚tonräumliche‘
Gesetz. – Den Kreislauf selbst, das motivische/thematische Werden und Vergehen, bestreiten
die verbleibenden 12 (normalen) Fugen, gemäß den 12 Quinten/Quarten des Quintenzirkels.
Nur die Beschränkung auf eine einzige musikalische Satzart ermöglicht die wirkliche, auch
äußere, formale Einheitlichkeit des Zyklus’. Der Zyklus besteht also nicht aus 19, auch nicht
aus 14 Teilen, sondern aus 12 Einzelfugen. Diese 12 Contrapuncti bilden quasi eine einzige,
12-teilige Superfuge, einen SUPER-CONTRAPUNCTUS. Bach nennt auf Seite 37 des Originaldruckes den Titel treffend:
II
D
AMIT im folgenden klargestellt wird, von welchem Tonsatz der Kunst der Fuge jeweils die Rede ist, d. h. um von vornherein Verwechslungen auszuschließen, sei hier
schon auf die Nomenklatur (S. 10) verwiesen. In diesem Zusammenhang möchte ich gleich
vorwegnehmen, was dann im Laufe der weiteren Ausführungen im einzelnen verifiziert
werden wird: Bei den verschiedenen Fassungen und Versionen der Sätze des Originaldrucks und des Autographs (P 200) haben wir es nicht – wie man glaubt – mit Spät- bzw.
Frühfassungen zu tun, sondern mit gleichberechtigten Varianten, die – je nach Art des
Kreislaufs – verschiedene Funktionen innerhalb des Zyklus’ erfüllen.
Auch wenn ich mir über die Aversion vieler Musikwissenschaftler gegenüber symbolischen Deutungen musikalischer Strukturen im klaren bin (Musik hat heute wertfrei zu sein und
sich ‚gefälligst‘ auf ihre ästhetische Dimension ‚zurückzuziehen‘), kann ich doch in diesem
Aufsatz auf diese Deutungen nicht verzichten, soll der Musik Bachs, seinen Intentionen
wirklich entsprochen werden. So sind auch bei der folgenden, in die einzelnen tonalen
DER 12er-ZYKLUS
7
Bereiche untergliedernden Darlegung des tonalen Systems Hinweise, was dieses Tonsystem als Weltmodell symbolisch für Bach impliziert, unerläßlich.
DIE TONALEN BEREICHE
DES PYTHAGOREISCHEN SYSTEMS
(Der pythagoreische Systemton x = 3+ -N (N = 0; 1; 2; 3; ...) teilt
das System in folgende tonale Bereiche:)
TONVERWANDTER BEREICH
TONFREMDER BEREICH
3-6 < x < 3+6
Ursprungsbereich
Tag
Abgeleiteter Bereich
Nacht
3-3 ≤ x < 3+4
3-6 < x < 3-3
3+6 > x ≥ 3+4
Gott regiert die Welt
3-6 ≥ x ≥ 3+6
Der Mensch unter
der Herrschaft Gottes
Der Mensch unter der Herrschaft des Teufels
Der Teufel regiert die Welt
FR
EM
5
H3
FIS 3
Initium &
Finis
-3
-4
-5
3 5 ES
CIS 3
3 -7 DIS
3 6 AS/GIS 3-6 DES 37
GES 3 8
Diabolus
in
Musica
MD
DUNG
ENT
FRE
N
T
4 3 2
1
6
12
7
8
9 10 11
34 B
3-8 AIS
E3-2
U
Figur 3 Das System der Musik als kosmologisches Kreislaufmodell
(Die Numerierung bezieht sich auf die Linksdrehung, in Quinten abwärts)
ANDTER
REICH
33 F
G
EMDER
REICH
5
N
A3 -1
7
32C
EN
5
1
D
1
3 G
Gott
regiert
die Welt
Der Teufel
regiert
die Welt
Ursprung
rsprungsbereich
7
EUNDU
Abgeleiteter Bereich
E
FR
G
B
Zur dynamisch-zeitlichen Auffächerung dieses tonalen Gesamtsystems siehe Figur 3.
DER 12er-ZYKLUS
8
Zu diesem tonalen (pythagoreischen) Gesamtsystem3 treten noch die sogenannten natürlichen Intervalle, die aber selbst kein eigenes System bilden, sondern ein bloßes, dem pythagoreischen, normativen System untergeordnetes bzw. von diesem in besonderer Weise
abgeleitetes Schema. Es bezeichnet (symbolhaft) den materiellen, stofflich-sinnlichen Aspekt des
Systems:
..AS*
5⋅3
2
ES*
5⋅3
B*
5
F*
5⋅3
C
(G)
(D)
(A)
E
-1
H*
-1
5 ⋅3
FIS*
5
-1
CIS*
-1
5 ⋅3
-1
GIS*..
5-1⋅3-2
Wie ich noch zeigen werde, hat die (musikalisch-mathematische) Tatsache, daß es 7
Oktaven sind, durch die sich die 12 Quinten, und wiederum genau 5 Oktaven, durch die sich
die 12 Quarten erstrecken, weitreichende Bedeutung. D. h. – im Sinne der Analogie von
Musikgesetz und Weltgesetz – existieren neben dem 12er-Kreislauf4 zwei weitere, hierarchisch angeordnete, kosmische Kreisläufe – der 7er- und der 5er-Zyklus -, die natürlich alle
in der Kunst der Fuge ihre musikalische Darstellung finden (in dem vorliegenden Aufsatz
will ich mich vornehmlich auf die Darstellung des 12er-Kreislaufs – als des fundamentalen
und auf unterster hierarchischer Stufe stehenden – einlassen und die beiden anderen nur
kurz streifen.5).
Gott, der Weltenbaumeister, der ARCHITECTUS Sapientißimus (Lippius) hat die Welt
nach pondus, numerum, mensura & harmonia geschaffen, woraus wir sehen, daß Gott ein Gott der
Ordnung sey und kein Gefallen an der Unordnung haben könne (Werckmeister). Daß ein Komponist solcher gottgewollter Ordnung in seinen Kompositionen in jeder Beziehung zu entsprechen hat, dürfte für Bach eine Selbstverständlichkeit sein. Mithin ist zu erwarten, daß
Bach seinen Fugenzyklus auch in seinen ‚äußeren‘, arithmetischen Dimensionen – als Widerspiegelung exakten geistig-kosmischen Kreisens – exakt und wohlproportioniert gezirkelt hat. Die (sinnvollen) Maßzahlen ergeben sich aus den musiktheoretischen, tonalen
Strukturen gleichsam von selbst: 7 Oktaven a 12 Halbtonstufen = 84 Stufen. Pro Stufe ein
Takt, also 84 Takte – wären für eine einzelne Fuge ideal,6 für eine Superfuge, einen musikalischen Zyklus (aus 12 Einzelfugen), aber viel zu wenig: also das Ganze (nochmals) um
den Faktor 12 vergrößert:
3
Dem Musikausübenden bis zur Barockzeit, dessen Cembalo oder Orgel noch nicht gleichschwebend temperiert und daher noch nicht hinsichtlich des tonalen ‚Gefälles‘ ‚eingeebnet‘ war, wurde die Symbolik dieses
Systems und seiner Bereiche noch mehr oder weniger drastisch vor ‚Ohren und Augen geführt‘: wenn er
sich beim Spielen z. B. zu weit aus dem Ursprungsbereich hinaus wagte und den (Orgel)wolf heulen hörte.
4
Bach hat in seiner Musik sein ganzes Leben lang mit in sich zurückkehrenden Kreisläufen direkt ‚zu tun‘
gehabt, und zwar als Komponist und Aufführender von Kantaten für alle Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres:
Ostern
Himmelfahrt
Pfingsten
4 3
2
5
6
1
12
7
8 9 10 11
Weihnacht
Matth. 25,1-13
5
Michaeli
Zur ausführlichen Darlegung siehe: CHYRON, Principia Logica.
6
Siehe z. B. das 2. Credo der h-moll-Messe, wo Bach selbst die Taktanzahl 84 im Autograph eigens vermerkt.
DER 12er-ZYKLUS
9
12 × 84 = 7 × 12 × 12 =
1008.
Der 12er-Zyklus umfaßt also 1008 Takte. Allerdings ergibt sich – wie zu zeigen ist – diese
ideale Taktanzahl erst ab dem zweiten Umlauf; der erste Umlauf ist – sozusagen als ‚Einschwingvorgang und ‚Vorstellung‘ – etwas umfangreicher als die folgenden, da sich bei letzteren Anfang und Ende an der Nahtstelle einige Takte überlappen.
Die nächste durch 12 teilbare Zahl nach 1008 ist 1020; Bach wählt die übernächste:
1032 = 12 × 86.
Der erste Umlauf des 12er-Kreislaufs beträgt also 1032 Takte, verteilt auf die beiden tonalen Kreislaufbereiche (des tonverwandten Hauptbereichs) im Verhältnis 7 : 5 (602 : 430).
Der erste Umlauf des 12er-Zyklus hat dann die Gestalt, wie sie in Figur 4 abgebildet ist
(siehe dazu auch die Nomenklatur auf Seite 10). Für das Verfahren, bei den Contrapuncti
8, 9, 10 und 11 die Taktanzahl zu halbieren, gibt Bach selbst, im Zusammenhang von
Originaldruck und Autograph, einige Beispiele, wie hier zu verfahren sei. Bezüglich der
Taktanzahlhalbierung (= Taktvergrößerung) von Contrapunctus 12 gibt Bach im Originaldruck ab Takt 105 (209) deutliche Hinweise.
Contrap
.3
Co
72 T.
nt
r
84
86 = T.
6
7
2
1
86 =
T.
Initium
&
Finis
t
5 . 430
1
p.1
9 10
12
11
ra
8
trap. 1 Contrap. 1
2
Con
Co
119 T
.
n
4 3
78 T.
5
.2
ap
7.602
92
trap. 7 Contrap. 6
Con
Co
79 T.
8
nt
61 T.
p.
t ra
90
T.
trap. 4
Con
.
5
13 8 T
p.
ra
94
T.
trap. 10 Contrap.
9
Con
Co
65 T.
60 T.
n
Figur 4 Der 1. Umlauf (12 × 86 = 1032 Takte) des 12er-Zyklus’
Auf die einzelnen Contrapuncti gehe ich erst bei der Darstellung des zweiten, für alle
folgenden Umläufe maßgebenden, Umlaufs (1008 = 12 × 84 Takte) ein. Wenden wir uns
jetzt sofort der Nahtstelle zu, an der sich der Kreis schließt, der erste Umlauf in den zweiten übergeht.
Einige Überlegungen zur Vorbereitung seien vorausgeschickt:
DER 12er-ZYKLUS
10
NOMENKLATUR DER KUNST DER FUGE
BWV
1080
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
19
12
Quelle
Originaldruck
P 200
Originaldruck
P 200
Originaldruck
P 200
Originaldruck
Originaldruck
P 200
Originaldruck
P 200
Originaldruck
P 200
Originaldruck
P 200
Originaldruck
P 200
Originaldruck
P 200
Originaldruck
P 200
Originaldruck
Beilage zu P 200
Originaldruck
P 200
Originaldruck
13
15
17
16
14
P 200
Beilage zu P 200
Originaldruck
P 200
Originaldruck
Originaldruck
Originaldruck
P 200
Beilage zu P 200
Taktanzahl
78
37
84
39
72
35
138
90
90
79
79
61
61
188
188
130
65
120
98
49
184
184
232 [+ 7]
239
56 (R + I)
56 (R + I)
71 (R + I)
71 (R + I)
71 (R + I)
71 (R + I)
103
103
78
82
109
44
55
109
R = Rectus
I = Inversus
Hier verwendete
Bezeichnung
Contrapunctus 1
Contrapunctus 1(A)
Contrapunctus 2
Contrapunctus 2(A)
Contrapunctus 3
Contrapunctus 3(A)
Contrapunctus 4
Contrapunctus 5
Contrapunctus 5(A)
Contrapunctus 6
Contrapunctus 6(A)
Contrapunctus 7
Contrapunctus 7(A)
Contrapunctus 8
Contrapunctus 8(A)
Contrapunctus 9
Contrapunctus 9(A)
Contrapunctus 101
Contrapunctus 102
Contrapunctus 10 (A)
Contrapunctus 11
Contrapunctus 11(A)
Contrapunctus 12
Contrapunctus 12(A)
Spiegelfuge a 4
Spiegelfuge a 4 (A)
Spiegelfuge a 31
Spiegelfuge a 32
Spiegelfuge a 3 (A)1
Spiegelfuge a 3 (A)2
Canon in Hypodiapason
Canon in Hypodiapason (A)
Canon alla Duodecima
Canon alla Decima
Canon in Hypodiatessaron
Canon in Hypodiatessaron(A)1
Canon in Hypodiatessaron(A)2
Canon in Hypodiatessaron(A)3
DER 12er-ZYKLUS
11
Mit Takt 120 (239) von Contrapunctus 12, d. h. mit dem letzten, dem 1032., Takt des Zyklus’, geht der erste Umlauf in den zweiten über, beginnt das Ganze – auf ‚höherer Ebene‘
- von vorn. Das bedeutet, daß hier, an dieser Übergangsstelle, sofort das Urthema wieder
erscheinen muß, nicht erst, wie bisher angenommen, später, nach alleiniger Durchführung
der Themen 1, 2 und 3. Daraus folgt aber auch, daß es eine abschließende (von vielen
‚Vollendern‘ quasi als ‚krönender Abschluß‘ des gesamten Werkes gedachte) Durchführung
aller vier Themen nicht gibt, eine solche von Bach nie vorgesehen war. Sondern: Sobald das
Urthema die Bühne betreten hat, die Ursprungssphäre erreicht ist, schweigen die anderen.
Daß von Bach tatsächlich nicht beabsichtigt war, ab Takt 120 (239) eine (kombinative)
Durchführung der 3 Themen folgen zu lassen, und daher alle Versuche in dieser Richtung
in die Irre gegangen sind – gehen mußten -, läßt sich (auch) wie folgt plausibel machen:
Erstens: Die Art und Weise Bachscher Themenkombination -: daß bei diesem Kombinationstyp7 der Fluß des bewegteren, ‚schnelleren‘ Themas (Laufthema) den Bewegungscharakter des ganzen Satzes prägt, daß er das ‚langsamere‘ Thema cantus-firmusartig in sich aufnimmt – hätte hier zur Folge, daß der zweite Teil von Contrapunctus 12 quasi wiederholt
würde (jedenfalls entstünde dieser Eindruck beim Hören; siehe die diversen Ergänzungsversuche). Daher ist es kein Zufall, daß Bachs mehrthematische Fugen dieses Typs, bei
denen die einzelnen Themen abschnittweise vorgestellt und dann kombiniert werden, so
angelegt sind, daß das ‚schnellere‘ der Themen (Laufthema) stets erst im letzten Abschnitt
erscheint und durchgeführt wird und sich in der zweiten Hälfte des Abschnitts dann das
erstere, ‚langsamere‘, wie beiläufig ‚dazugesellt‘.
Zweitens: Daß nach einem so deutlichen Einschnitt wie bei den Takten 117ff. (233ff.) sofort und mit so deutlicher Markierung die Kombination der (3) Themen vorgenommen
wird, ist in Bachs Œuvre absolut singulär. In allen anderen vergleichbaren Fällen von
mehrthematischen Fugen bei Bach ereignet sich die Kombination in der oben beschriebenen Form: Nachdem das letztere der Themen durchgeführt wurde, fügen sich die anderen (‚langsameren‘) in der zweiten Hälfte desselben Abschnittes, die sich ohne Unterbrechung oder Zäsur an die erste Hälfte anschließt, zwanglos und beinahe unauffällig dem
Bewegungsfluß des letzteren ein. In keiner anderen (!) Bachschen Komposition ist eine in
solch auffälliger Weise vorbereitete, markierte und konzentriert-kompakte Themenkombination Ausgangspunkt einer (gemeinsamen) Durchführung der Themen (dies würde
auch völlig unnatürlich wirken). Sie könnte höchstens End-und Höhepunkt derselben sein.
Und das ist sie hier in der Tat: Die Themenkombination von Takt 117ff. (233ff.) ist dazu
bestimmt, die erste, einzige und letzte der 3 (bzw. 4) Themen (im Zyklus) zu sein.
Es ist klar, worin die Einmaligkeit dieser Stelle besteht: Sie ist Anfangs- und Endpunkt
des Kreislaufs zugleich, Α und Ω, Vereinigung von Tag und Nacht. Zudem ist sie die Sammlung aller formalen Kräfte, die nötig ist, um ein Abweichen in noch weiter vom Ursprung
entfernte Bereiche zu verhindern und zum Ursprung zurückzukehren.
Dem Urthema (4. Thema), das an dieser Stelle unter Schmerzen geboren wird, fällt dabei
die entscheidende Funktion (Schlüsselfunktion) zu, indem es hier den neuen Reigen (Kreislauf) eröffnet. (Dazu ist mit Takt 120 (239) ein Taktwechsel nötig: Die Doppeltaktierung
geht (wieder) in den Normaltakt zurück.) Doch geht Contrapunctus 12 nicht etwa in den
Contrapunctus 1 über, sondern, indem 1 und 2 ihre Plätze tauschen, in Contrapunctus 2, ge7
Zu den Kombinationstypen siehe weiter unten.
12
DER 12er-ZYKLUS
nauer gesagt, in dessen Variante des Autographs (P 200), und zwar ohne rhythmische Punktierung
(sine punctatione). Siehe die Übergangsstelle (Nahtstelle) auf den Seiten 14 und 15.
Bach gibt deutliche Hinweise:
• Auf der letzten Seite (Seite 5) des Manuskripts von Contrapunctus 12 (Beilage zu P 200),
bei dem es sich ganz offensichtlich um eine Reinschrift handelt, hat Bach den unteren,
restlichen Teil des Blattes durch unordentliche und z. T. falsche Rastrierung total unbrauchbar gemacht (die Abstände zwischen den Notensystemen werden nach unten
zu immer enger, einzelne Linien fehlen, das Ganze macht einen zunehmend chaotischen Eindruck). – Bachs Aussage ist klar: Hier soll nichts mehr (Neues) folgen, der
Zyklus hat seinen äußersten Punkt erreicht (hier führt nur noch ‚Rückkehr‘ weiter), jede Fortsetzung in die eingeschlagene Richtung geht in die Irre, leitet ins Chaos (siehe
das Faksimile auf Seite 13.).
•
Bach hat auf dieser letzten Seite, zwischen den auskomponierten Notensystemen,
dort, wo die 3 Themen zusammengeführt sind, ein System frei gelassen. – Wofür, ist klar:
Für das 4. Thema, das Urthema.
•
Bach hat diese letzten sieben Takte, in denen er die 3 Themen kombiniert, nicht in
den Originaldruck mit aufgenommen. (Es sind die einzigen (!) Takte, die im Originaldruck fehlen.) – Bach will damit sagen: In dieser Form sind die sieben Takte nicht
druckreif. Sie sind unvollständig: Es fehlt noch das 4. Thema, das Urthema.
•
•
Auf allen 5 Seiten des Manuskripts hat Bach jeweils oben ein Kreuz (  ) gezeichnet
(das unverdächtig als Abklatschmarkierung für den Stecher gedeutet werden kann und
auch so gedeutet wurde). – Bach weist damit nachdrücklich darauf hin, daß der letzte
Ton des Alt, F, unbedingt zu FIS erhöht werden muß: Schlußpunkt und Neubeginn
des Kreislaufs soll D-Dur sein (gleichzeitig als Endakkord von Contrapunctus 12).
Wie schon von vielen Bachforschern kommentiert, hat die Ziffer 1 von Contrapunctus 1
im Originaldruck ein äußerst ‚bemerkenswertes‘ Aussehen. Außerdem folgt nach der Ziffer kein Punkt, sondern ein seitenverkehrtes Komma:
Einen noch deutlicheren Fingerzeig wollte Bach nicht geben: Contrapunctus 1 (bzw. dessen Version aus P 200,) wird ab dem 2. Umlauf zur Numero 2 ( = II), soll also nach
Contrapunctus 2 (der, nun ohne Punktierung, zur Numero 1 wird) erfolgen; d. h.
Contrapunctus 1 und Contrapunctus 2 sind (ab 2. Umlauf) bezüglich ihrer Reihenfolge seitenverkehrt, d. h. von rechts nach links, zu lesen.
•
Nach dem 120. (239.) Takt von Contrapunctus 12 steht im Originaldruck der Orgelchoral Wenn wir in höchsten Noethen sein. Bekanntlich existiert von diesem Satz noch eine
(offensichtlich) spätere Fassung von fremder Hand (unter dem Titel Vor deinen Thron
tret ich hiermit), die aber nach der ersten Seite abbricht. – Bach will sagen: So wie der
abbrechende Choral (von fremder Hand) in seine frühere Fassung (Version) übergehen soll, analog soll auch die (vermeintlich) unvollendete Kunst der Fuge ‚von fremder
Hand‘ in eine Fuge „früherer“ Fassung (Version) überleiten.
DER 12er-ZYKLUS
13
14
DER 12er-ZYKLUS
DER 12er-ZYKLUS
15
DER 12er-ZYKLUS
16
Ab Takt 105 (209) von Contrapunctus 12 des Autographs (Beilage zu P 200) führt Bach
eine Takterweiterung (Doppeltaktierung) ein, die einige Takte später wieder verschwidet.
– Bach weist damit zum einen auf die Taktanzahlhalbierung des gesamten Contrapunctus
12 hin, zum andern auf die bevorstehende Rückkehr zum Normaltakt ab Beginn des
neuen Umlaufs.
Die auf den Seiten 14 und 15 ausgeführte und vorgestellte Anschlußstelle (Nahtstelle) demonstriert (und macht beim Durchspielen hörbar), wie logisch und wie von selbst (aus sich
heraus) Contrapunctus 12 in (die unpunktierte Version von) Contrapunctus 2 hinüberläuft, wobei
der D-Dur-Akkord in Takt 120 (239) ( = Takt 1 des neuen Umlaufs) wie ein heller, kurzer
Markierungspunkt aufleuchtet.
Die Schwierigkeit dieser Nahtstelle besteht darin, daß Baß und Tenor sich bei Beginn
des neuen Umlaufs – entsprechend der erreichten kosmologischen höheren Ebene – eine Oktave
über normal befinden (siehe Anschlußstelle S. 14 und 15). Daraus resultiert, daß auch der
Alt eine Oktave höher einsetzt (siehe Anschlußstelle S. 14 u. 15), - ganz im Sinne des neuen
lichten Tages, der mit Beginn des neuen Umlaufs anbricht. Konsequenterweise müßte dann
die vierte Stimme, der Sopran, ebenfalls eine Oktave höher, auf dem hohen a, beginnen.
Um dies zu vermeiden bzw. die praktisch-spielbare Fortsetzung zu ermöglichen, müssen
Sopran und Alt (vorübergehend) ihre Stimmlagen tauschen (siehe Anschlußstelle S. 14 u.
15). – Bach gibt in Contrapunctus 12 des Originaldrucks einen Hinweis:
•
Im Originaldruck sind im Takt 95 (einfache Zählung) von Contrapunctus 12 der Sopran
und der Alt (‚irrtümlich‘) vertauscht. – Der eben beschriebene, notwendig werdende
Tausch der Stimmlagen von Sopran und Alt beginnt exakt in Takt 9 des den neuen
Kreislauf einleitenden Contrapunctus 2. Dieser Takt 9 ist aber gleichzeitig auch Takt 5
des neuen Umlaufs (9. = 5.), da vier der 9 Takte noch in den alten Umlauf hineinragen, von diesem überlappt werden (siehe Anschlußstelle S. 14 u 15).
Baß und Tenor werden von Bach selbst wieder in Normallage gebracht, ‚heruntergeholt‘, und
zwar dadurch, daß der eine in Takt 8 (des den neuen Kreislauf einleitenden
Contrapunctus 2) einen Oktavsprung nach oben, der andere in Takt 9 einen Septimsprung nach
oben macht, d. h. jeweils machen würde, denn sie sind ja bereits oben (siehe Anschlußstelle
S. 14 u. 15).
III
D
ER erste Umlauf umfaßt 1032 Takte. Da sich der Anfang jedes folgenden Umlaufs
mit dem Ende des jeweils vorigen um einige Takte überlappt, werden also alle folgenden Umläufe etwas kürzer. Wie schon auf Seite 9 erörtert, hat Bach für diese, also für
alle Umläufe 2.ff., die Idealmaßzahl
12 × 84 = 1008
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
17
festgelegt.8 (Dabei wird der letzte Takt des zu Ende gehenden Umlaufs = erster Takt des
neuen Umlaufs doppelt gezählt.9) Da sämtliche 2.ff. Umläufe (sowohl was die Gesamttaktzahl als auch die Reihenfolge und die Auswahl der Varianten (Versionen) der Einzelsätze
betrifft) gleich gestaltet sind, dieser 1008er-Umlauf also als der eigentliche 12er-Umlauf anzusehen ist (der 1032er-Umlauf ist praktisch nur die Einführung in die gesamte (ewige)
Kreislauffolge), will ich mich bei den folgenden Einzeldarstellungen vornehmlich mit diesem befassen, - obgleich er ja – da anfangslos – für sich allein praktisch nicht spielbar ist.10
Hinsichtlich der Auswahl der Varianten und der Reihenfolge der Sätze gestaltet sich
dieser 2.ff. Umlauf (1008 Takte11) folgendermaßen (siehe dazu auch die Nomenklatur auf
Seite 10):
1.: Contrapunctus 2(A)
((2 × 39) − 4 (überlappte)=)
74 Takte
(ohne Punktierung)
2.:
3.:
4.:
5.:
6.:
7.:
Contrapunctus 1(A)
Contrapunctus 3
Contrapunctus 4
Contrapunctus 5(A)
Contrapunctus 6(A)
Contrapunctus 7(A)
8.:
9.:
10.:
11.:
12.:
Contrapunctus 9(A)
Contrapunctus 10(A)
Contrapunctus 8(A)
Contrapunctus 11(A)
Contrapunctus 12(A)
(2 × 37 = )
(188 : 2 (T.-Erweiterung)=)
(184 : 2 (T.-Erweiterung)=)
(238 : 2 (T.-Erweiterung)+1)=)
74 Takte
72 Takte
138 Takte
90 Takte
79 Takte
61 Takte
65 Takte
49 Takte
94 Takte
92 Takte
120 Takte
4 einfache
Fugen
7 × 84 =
588
Tag
3 Gegenfugen
5 mehrthematische Fugen
5 × 84 =
420
Insgesamt: 12 × 84 = 1008 Takte
Siehe dazu die Kreislauffigur (12er-Zyklus plus Zyklusgesetze, Figur 5) auf Seite 18. Das
tonale (pythagoreische) System und dessen Zirkel liefern Bach für seinen Zyklus nicht nur
das musikalisch-kosmologische Modell mit allen seinen Bereichen. Sie definieren auch,
welche Einzelstrukturen (welcher Aspekt) dieses Systems jeweils in welchem
(Haupt)abschnitt des Kreislaufs regieren, also prägend sind, und welche Strukturen regiert
8
Daß der für den Circulus per Quartas & Quintas paradigmatische Modulationskanon aus dem Musikalischen
Opfer (Canon per tonos, siehe Figur S. 3) bei vollständigem Oktavdurchlauf exakt 6 × 168 = 1008 Töne zählt
(einschließlich sich überlappender und liegen gelassener Töne), sollte bei Bach nicht weiter überraschen.
9
Diese Doppelzählung gilt für alle Umläufe 2.ff., also für alle 1008er-Umläufe: Der 120. Takt von
Contrapunctus 12 (des alten Umlaufs) ist gleichzeitig der erste Takt von Contrapunctus 2(A) (des neuen Umlaufs). Sie gilt aber nicht für den ersten, den 1032er -Umlauf. Im 1032er-Umlauf hat Contrapunctus 12 daher nur
119 Takte (siehe Figur 4 auf Seite 9).
10
Der 1032er-Umlauf und der 1008er-Umlauf stehen – bezüglich ihrer kosmologischen und ihrer praktischen
Bedeutung – gewissermaßen in einem umgekehrten Verhältnis: Während ersterer hauptsächlich praktische
Bedeutung hat, obwohl er kosmologisch eigentlich gar nicht existiert, existiert letzterer in erster Linie kosmologisch, dürfte aber praktisch von geringerer Bedeutung sein, es sei denn, man spielt den Zyklus in (mindestens) zwei Umläufen (also in (mindestens) doppelter Länge).
11
Eine Auswahl von Beispielen zu diesen fundamentalen Maßzahlen 1008 und 84 bei Bach bietet der Exkurs, siehe unten.
Nacht
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
18
werden. Musikalisch drückt Bach dies durch die Relationen aus, die zwischen dem Thema und
seinem Kontrasubjekt (und einzelnen Motiven) bzw. – bei mehrthematischen Fugen – zwischen den verschiedenen Themen untereinander bestehen.
DER 12er-ZYKLUS
2.ff. Umlauf
1008
ap
.
T.
=7 4
T.
5 4 3 2
1
6
7
12
8
9 10 11
11
(A)
. 84 =
420
T.
Con
5
)s.p. Con
t
r
a
p
.
12(A
p. 2(A
ntra
)
120 T
Co
.
nt
r
A ) C o n tr a p
trap. 7(
. 6( A
Con
)
)
Co
79 T.
9 (A
61 T.
ntr
.
p
a
ra
.
90
T
5
T.
6
74
7 8- 4
94 T.
trap. 8(A
49 T.
) Contra
p. 10
( A)
Co
nt
Der Teufel
regiert
die Welt
n tr
Co
7
. 84 =
588
Co
)
5
3
72 T.
Initium
&
Finis
888 T.
.
ap
p.
)
5(A
Contrap.
A
1(
Gott
regiert
die Welt
trap. 4
C on
.
1 38 T
92
7
Maßdreieck
Mehrthematische 5
Fugen
GESETZE DES ZYKLUS’:
CANON in Hypodiapason (A)
CANON alla Duodecima
CANON alla Decima
CANON in Hypodiatessaron (A)1
SPIEGELFUGE a 4 (A)
SPIEGELFUGE a 3 (A)1
3
Gegenfugen
4 Einfache
Fugen
Figur 5 Der 2.ff. (1008-taktige) Umlauf des 12er-Zyklus’
So wichtig die (von vielen Bachforschern durchgeführten) Analysen der Themenentwicklungen und -veränderungen (Themenmetamorphosen etc.), die Frage, wo (versteckte)
fragmentarische Ansätze und Motive z. B. des BACH-Themas in den einzelnen
Contrapuncti vorkommen, welche Funktionen dabei diese oder jene Themen- (oder Motiv-)kombination hat etc., auch sein mögen und welch wesentliche Beiträge in diesem Zusammenhang auch geleistet wurden, - entscheidend ist vielmehr die (bisher nicht gestellte)
Frage: In welche Beziehung tritt das jeweilige Thema innerhalb des Tonsatzes mit seinem
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
19
Kontrasubjekt (oder mit anderen Motiven) und insbesondere – bei mehrthematischen
Fugen – mit dem (den) anderen Thema (Themen)?
Was letzteres betrifft – das strukturelle Verhältnis der Themen untereinander -, so lassen sich bei Bach (und in der Kunst der Fuge) grundsätzlich 4 Hauptarten von Beziehungen
(Kombinationen) zwischen zwei (oder mehr) Themen unterscheiden:
Kombinationstyp 1: Thema A und Thema B sind gleichberechtigt an der Exposition und
Durchführung (bzw. den Zwischenspielen) beteiligt, regieren gemeinschaftlich (z. B. im Sinne
des doppelten Kontrapunkts).
Kombinationstyp 2: Thema B ordnet sich Thema A unter, d. h. das expositionell vorherrschende Thema A bestimmt den Tonsatz (‚wer exponiert bzw. durchführt, regiert‘); Thema B
fügt sich dem Durchführungsprozeß von A ein.
Kombinationstyp 3: Typ 3 ist gewissermaßen die extreme Form von Typ 2, d. h. Thema B tritt
(harmonisch/melodisch) als Antipode von Thema A auf (‚kämpft‘ mit diesem um die (tonale) ‚Vorherrschaft‘).
Kombinationstyp 4: Bei diesem Kombinationstyp handelt es sich um den ‚Cantus-firmus-Typ‘.
Das expositionell bestimmende, die Gesamtstruktur des Tonsatzes prägende Thema nimmt
integrierend und tragend das andere Thema als ‚cantus firmus‘ in sich auf, gleichsam als seine
höhere, übergeordnete und führende Instanz.
Im Ursprungsbereich (am Tage) des kosmologischen, tonalen Kreislaufmodells regiert die
Idealgestalt des pythagoreischen Systems (die Idealgestalt des Kreislaufs) selbst (das wahre
Paradigma). Ich hatte diesen Topos umschrieben mit: Gott regiert die Welt.
ES
35
B
34
F
33
C
32
G
31
1
D
1
A
3-1
E
3-2
H
3-3
FIS
3-4
CIS
3-5
Dieser Idealstruktur (aus 12 Intervallen, einschließlich Prime, bzw. aus 12 Tönen, D zweifach), entspricht in der Kunst der Fuge das 12-tönige Urthema, das tonale Paradigma des gesamten Zyklus’:

            
Der das Thema aufspannende Quint-/Quartsprung symbolisiert dabei die
Quint-/Quartstruktur des Systems bzw. des Zirkels (sowohl aufsteigend, im Themenoriginal,
als auch absteigend, im gespiegelten Thema). Die beiden Figuren (Figur 6 und 7) auf Seite 20
illustrieren, wie das Urthema paradigmatisch die 12 Contrapuncti des Zyklus’ (besser: dessen Idealgestalt) vergegenwärtigt, und zwar in zwei möglichen Varianten: einmal als reines
12er-Thema, zum andern als (latentes) 13er-Thema (mit überlappender Anfangs- und
Endnote D).
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
20
Figur 6 und 7 Die 12 Töne des Urthemas als Spiegelung des 12er-Zyklus’,
links normal, rechts mit überlappender Anfangs-und Endnote
Im abgeleiteten Bereich (in der Nacht) des Systems ändern sich die tonalen
‚Herrschaftverhältnisse‘. Jetzt regieren (mehr und mehr) die dem tonalen Ursprungsbereich entfernteren, oder gar entfremdeten, tritonalen und transtritonalen Strukturen (sowohl
als 3er-Potenzen als auch als 5er-Potenzen des ‚natürlichen‘ Schemas). Sie lassen sich etwa
in der folgenden tonalen 10er-Struktur zusammenfassen:
B*
ES*
AS*
DES* GES*
B*/AIS*
5
FIS*
CIS*
GIS*
GES*/FIS*
ES*/DIS*
DIS*
AIS*
ESES*
ASES*
5
DES*/CIS*
AS*/GIS*
oder
B*
ES*
AS*
DES*
GES*
CES*
FES* HESES*
5
5
DES*
AS*
GES*
ESES*
ES*
B*
HESES*
ASES*
FES*
CES*
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
21
Ich hatte dies sinnbildhaft ausgedrückt: Der Teufel regiert die Welt. Bach symbolisiert diesen
tonfremden Strukturbereich – in seiner gefestigten, schematisierten Form – durch das
10-tönige B-A-C-H-Thema, dessen Einflußsphäre für die 5 × 84 = 420 Takte der 5 ‚nächtlichen‘ Contrapuncti12, zunächst latent, dann immer deutlicher werdend, prägend ist und
das dann im 3. Abschnitt von Contrapunctus 12 selbst in Erscheinung tritt:

          

Die parallelen Halbtonschritte (B, A, C, H) versinnbildlichen gewissermaßen den durch
die chromatische doppelte Ableitung total entfremdeten Strukturbereich (die ‚enharmonisch-parallele‘ Sphäre).
Betrachten wir jetzt die beiden Kreislaufbereiche im einzelnen. Als kosmologischer Wegweiser für diesen Gang durch den Contrapunctus in 12 ‚Versen‘ möge uns der (nochmals abgebildete) Quintenzirkel (von rechts nach links drehend, bei H beginnend) dienen:
Ursprung
1
3 G
1
D
A3 -1
32C
E3-2
3
H 3-3
3 F
34 B
FIS 3
3 5 ES
-5
CIS 3
7
-6
3 6 AS/GIS 3
DES 3
-4
GES 3 8
Diabolus
in
Musica
Figur 8 Der Quintenzirkel (in absteigenden Quinten von rechts nach links drehend,
bei H beginnend) als Wegweiser durch Bachs Fugenzyklus
Gehen wir zurück zur Nahtstelle, dorthin, wo der Umlauf neu beginnt.
12
Wenn Fragmente dieses Themas bereits im ‚Tagesbereich‘ auftreten, dann nur als sich unterordnende Elemente,
- ein symbolhafter Hinweis, daß auch der durch diese Elemente verkörperte tonfremde Bereich gesamtkosmologisch verankert ist.
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
22
DER URSPRUNGSBEREICH (TAG)
(7 Contrapuncti, 7 × 84 = 588 Takte)
1.
Contrapunctus 2(A)
(ohne Punktierung)
78 − 4 (überlappte) = 74 T.



 
  
    

Das Thema, das wahre Paradigma, ist soeben, unter Mühen und Bedrängnis (harten Dissonanzen), geboren worden13 und hat dabei selbst – den Contrapunctus 2A) eröffnend und die
erste Themendurchführung erzeugend – die Geburt des neuen Tages eingeleitet. Sofort
schweigen die anderen Themen (ihre Aufgabe ist beendet, sie treten von der Bühne ab),
das Urthema ist mit seinem Kontrasubjekt allein. Die nächsten 18 Takte, in denen es
durch die übrigen drei Stimmen wandert, atmen Ruhe und Erholung14 (wie nach einem gerade überstandenen, nächtlichen Unwetter). Nimmt man die ganze Exposition, also auch die
die Durchführung einleitenden 6 Takte der unmittelbaren Übergangsstelle (Kombinationsstelle), so hat man einen in sich geschlossenen Abschnitt von 24 Takten (siehe Nahtstelle S. 14/15), eingerahmt von zwei (fast identischen) Dominantakkorden (Takt 117
(233) von Contrapunctus 12 und Takt 22 − 4 = 18 von Contrapunctus 2(A)).
Diese derartig deutlich markierte Positionierung dieser 24 Takte bedeutet: So wie das
12-tönige Urthema thematische Keimzelle und thematisches Paradigma des Zyklus’ darstellt,
analog sollen die 24 Takte als expositionelles Muster Grundlage (Grundplan) für alle weiteren
Durchführungen und thematischen Entwicklungen sein. Die taktanzahlmäßigen Proportionen unterstreichen dies: 24 Takte sind genau 1/42 des gesamten (1008-taktigen) Umlaufs
(24 × 42 = 1008), d. h. diese 24 Takte spiegeln sich (wenn man das Original dazunimmt)
42 mal (die Zahl 24 spiegelt sich in der 42).
Nun muß aber festgestellt werden, daß das Hauptthema (Urthema) im gesamten Zyklus nur in 11 Contrapuncti vorkommt (wenn man von den letzten Takten von
Contrapunctus 12 absieht). Mithin hätten sich die taktanzahlmäßigen (symbolhaften) Proportionen auch nur auf 11 Contrapuncti zu beziehen, also – bei der Idealtaktzahl 84 – auf
11 × 84 = 924 Takte; d. h. die Urexpostion sollte – falls man die 42 der vorigen Rechnung
im Auge behält – als der 42. Teil von 924 = 22 Takte zählen. Und dies trifft in der Tat
(auch) zu: Da – bei der Taktanzahlhalbierung von Contrapunctus 12 (und wegen Doppelzählung des letzten, den 120., Taktes) - eigentlich nur 4 (statt 6) Takte zu den 18 Takten
von Contrapunctus 2 dazukommen, umfaßt die Urexposition in dieser Rechnung exakt 22
Takte, also 1/42 von 924.
Damit aber der proportionalen Zusammenhänge noch nicht genug. Wenn man die 6
(bzw. 4) Takte von Contrapunctus 12 von den insgesamt 24 (oder 22) abzieht – da hier das
13
Daß das Thema eine Oktave höher, also in Altlage statt im Baß, geboren wird, macht – neben der bereits
erwähnten Symbolik: höhere geistige Ebene des neuen Umlaufs – auch in anderer Hinsicht ‚Sinn‘: Die Stimmlage des gerade ‚Geborenen‘ kann (noch) nicht Baß sein.
14
Diese Takte, in denen der Alt über dem Sopran geführt wird, drücken die gleiche Stimmung aus wie
Contrapunctus 4 (siehe dazu weiter unten).
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
23
Thema ja noch nicht im Sinne einer regulären Durchführung auftritt (es wird ja hier mit drei
anderen kombiniert)15 – und von den übrigen Takten die nicht-thematischen unberücksichtigt läßt, so bleiben für die eigentliche Urexposition genau 12 thematische Takte (= dreimal
das viertaktige Thema). – Also auch in dieser Beziehung ausgewogene Proportionen: den
12 Tönen des Urthemas entsprechen die 12 Takte der Urexposition und die 12 Contrapuncti des ganzen
Zyklus’16. Figur 9 möge diese Spiegelung des 12er-Urthemas auf drei Ebenen17 illustrieren:
Figur 9 Die Spiegelung der 12 auf drei Ebenen:
Urthema – Urexposition – Urzyklus
15
Außerdem gehört die Vorstellung des Themas noch nicht eigentlich zur Durchführung.
Da – wie wir in Abschnitt IV sehen werden – der 12er-Kreislauf in der Hierarchie der Zyklen an unterster
Stufe steht, kann er als Ur-Zyklus bezeichnet werden.
17
Diese Spiegelung ist sogar 4-fach, wenn man die 84-taktige Version von Contrapunctus 2 aus dem ersten
Umlauf einbezieht: Urthema (12 Töne) – Urexposition (12 Takte) – Urcontrapunctus (12 × 7 Takte) – Urzyklus (12
Contrapuncti).
16
24
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
Bei diesen auf Seite 14/15 notierten 24 bzw. 22 Takten handelt es sich also nicht nur
um die Übergangsstelle (Nacht - Tag), sondern sozusagen auch um die musikalisch-strukturelle Matrix18 des Kreislaufs.
Nach Vorstellung dieser 24- (22- bzw. 16-) taktigen Urexposition ist nun ‚keine Zeit
mehr zu verlieren‘. Ohne auch nur einen einzigen weiteren Takt, der für einen regulären
Themenbeginn nötig wäre, abzuwarten, läuft der Alt mit Achtelschritten in die zweite
Durchführung.
Contrapunctus 2(A) ist um 6 Takte kürzer als seine Variante aus dem 1. Umlauf, hat also statt 84 nur noch 78 Takte19 (einschließlich der 4 überlappten). Diese 6 Takte enthielten
den Auftritt des Themas im Sopran, auf der Tonika d1 beginnend. Da nun der anschließende Contrapunctus 1(A) exakt mit diesem d1 thematisch (im Alt) eröffnet, ist es musikalisch
völlig sinnvoll und logisch, daß in dieser neuen Reihenfolge der Sätze diese 6 letzten Takte
von Contrapunctus 2 fortfallen; sie sind entbehrlich geworden, da ihre Funktion jetzt der
Beginn des nun folgenden Contrapunctus 1(A) übernimmt (Contrapunctus 2 gibt gleichsam
seine letzte Themenpräsentation (in der Tonika ) an den nachfolgenden Contrapunctus 1(A)
ab).
Daß etwas (wieder)geboren ist, heißt in der Regel, daß es nicht sofort ‚auf eigenen Füßen
stehen‘ kann. Wesentlich für die Struktur von Contrapunctus 2(A) ist daher folgendes: Das
Urthema befindet sich in dieser Fuge quasi noch ganz in der Obhut seines Kontrasubjekts, das ihm das 2. Thema von Contrapunctus 12 (als seinen Ausläufer) mitgegeben hatte. Der
gesamte Contrapunctus 2(A) gewinnt seinen Bewegungscharakter ausschließlich aus dem
Impuls und Duktus dieser aus dem 2. Thema von Contrapunctus 12 ausschwingenden Lauffiguren, in die das neue (‚erneuerte‘), das Urthema, wie ‚eingebettet‘ ist (keinen einzigen Impuls, keine Vorwärtsbewegung – nicht einmal das oben erwähnte etwas ungestüme Hineinlaufen, bei dem das Thema gewissermaßen seinem Kontrasubjekt ‚nachläuft‘ – entwickelt das Thema selbständig, aus sich heraus). (Das Urthema ist in diesem ersten
Contrapunctus des neuen Umlaufs hauptsächlich (nur) anwesend20.)
Der besondere musikalische Reiz von Contrapunctus 2(A) liegt darin, daß man einerseits diesen Satz – in dieser rhythmisch geglätteten Fassung – als völlig neu empfindet,
andererseits – da man seine punktierte Fassung schon gehört hat – (unbewußt) an Bekanntes erinnert wird (‚Altes erscheint in neuem Licht‘).
18
Wobei die eigentliche Matrix die 16 thematischen Takte (also einschließlich der Themenvorstellung bzw. -geburt)
sind.
19
Es ist kein Zufall – bei Bach gibt es keine Zufälle - , daß die beiden Versionen des Chorsatzes des Credo (2)
aus der h-moll-Messe bzw. des Gott, wie dein Name, so ist auch dein Ruhm aus der Kantate BWV 171 sich taktanzahlmäßig zueinander wie diese beiden Versionen des Contrapunctus 2 - 84 : 78 - verhalten. – Außerdem :
Credo (2) = 84 : an 2. Stelle des Messeteils (Symbolum Nicenum) - Gott, wie dein Name, so ist auch dein Ruhm =
78 : an 1. Stelle der Kantate. (Siehe dazu mehr im Exkurs.)
20
Somit handelt es sich bei der Urexposition tatsächlich um die Exposition des Zyklus’ schlechthin (quasi
um eine reine, ‚nackte‘ Exposition); das Thema wird gleichsam passiv, ohne direkte eigene, aktive Beteiligung,
durchgeführt, dargelegt.
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
25
2.
Contrapunctus 1(A)
74 T.

 
 
  
    

Contrapunctus 2(A) endete auf der Dominante (also zum dritten Mal am selben ‚Ort‘,
diesmal aber nicht zum Taktanfang, sondern zum Taktende) und wies damit – quasi als Ouvertüre des neuen Umlaufs – auf das nun folgende Eigentliche: Nach Geburt und Etablierung kann das Thema nun seine in ihm enthaltenen (veranlagten) strukturellen Möglichkeiten entfalten, sein Wesen, seine Substanz und seine Wahrheit offenbaren und demonstrieren. Das Paradigma muß sich bewähren, es ist ab jetzt ‚auf sich allein gestellt‘ (erst jetzt
erscheint das Thema, zum ersten Mal, allein; bisher war es stets von mindestens seinem
Kontrasubjekt begleitet).
Erst jetzt, in Contrapunctus 1(A), gestaltet sich die Fuge aus sich heraus, aus dem Thema
selbst und dessen Material, ist das Thema Führer seines Kontrasubjekts, und nicht umgekehrt. Somit wird das Thema erst ab hier seinem Anspruch als Paradigma, als Muster, gerecht.
In diesem Zusammenhang wird nun auch verständlich, warum im 1. Umlauf
Contrapunctus 1 vor Contrapunctus 2 erschien. Der 1. Umlauf (der kosmologisch nicht existiert) hatte (neben der einleitenden) präsentative Funktion. Da er selbst aus keinem Umlauf
hervorging (keine Nacht diesem ersten Tag vorausging), mußte das Urthema nicht geboren
werden. Da der erste Umlauf (bzw. das Urthema in ihm) selbst ‚Anfang‘ ist, entstand das
Thema nicht (der Anfang ist unentstanden21). Das Thema wurde einfach präsentiert und demonstrierte – als Paradigma – sogleich sein musikalisches Potential. Der darauf folgende
Contrapunctus 2 war dann gewissermaßen Vorspiel und Eröffnung zur weiteren Präsentation. – In den 2.ff. Umläufen dagegen, an deren Beginn jeweils das Urthema gerade (neu)
entstanden ist, bedarf es einer Fuge, die diese begründende und etablierende (den gesamten Umlauf eröffnende) Funktion erfüllt. Dafür eignet sich keine Fuge besser als
Contrapunctus 2(A) (in seiner rhythmisch geglätteten, den Bewegungsfluß des 2. Themas
von Contrapunctus 12 weiterführenden Fassung, endend auf der vorwärtsweisenden Dominante). Die eigentliche Entwicklung beginnt nun erst danach, - mit Contrapunctus 1(A). (Ich
werde weiter unten dann zeigen, daß die Umgruppierung der Contrapuncti 8, 9 und 10 bzw.
die Variantenauswahl von Contrapunctus 10(A) ähnlichen, analogen Erwägungen entspricht.
21
PHAIDROS, 245 d
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
26
3.
Contrapunctus 3
72 T.

 
 
    
  

Contrapunctus 1(A) endete ohne die 4-taktige Coda (aus dem 1. Umlauf). Dadurch wird
nun der nächste Contrapunctus 3, die Spiegelung des Urthemas, des Paradigmas, umso enger
an das Vorige gebunden.
Auf den Seiten 5 und 6 hatte ich auf das Musikalisch-Sinnbildhafte der beiden Satzarten (in Bachs Musik) hingewiesen: Kanon und Spiegelfuge als Symbol für Gesetz. Die vier
(fünf) Kanons und die beiden Spiegelfugen ‚definieren‘ (sinnbildhaft) den Maßstab für die
Contrapuncti des Kreislaufs.
Indem die Contrapuncti diesem Maßstab folgen, offenbart sich nun auch deren sinnbildhafte Funktion (Sinngehalt): Die polyphone, freie Satzstruktur der Fuge (fuga libera)
wird zum Symbol für Reflexion, für Denken. Indem ein und dasselbe Thema einer Fuge in
jeder Stimme erscheint, sich auf unterschiedlichen Tonstufen, in verschiedenen Zusammenhängen und zeitlichen Abständen frei begegnet, kann dieser musikalische Vorgang als tonale
Analogie zum Sich-Selbst-Erkennen, zum Denken begriffen werden. Im Sinne der für den
barocken Menschen (noch) geltenden Gleichsetzung von Mikrokosmos (Ich) und Makrokosmos (Weltganzes) heißt dies: Welterkenntnis, Erkenntnis schlechthin. Insofern das Urthema
das wahre Paradigma, den wahren Maßstab versinnbildlicht, ist diese Welterkenntnis wahr,
bedeutet sie Wissen (wahre Wissenschaft).
Musikstrukturell wird diese Analogie dadurch noch weitergeführt, daß im polyphonen
Geflecht (der Fuge) der Baß die tragende und führende Stimme ist, auf dessen Fundament
(vgl. auch den Generalbaß als Grundlage vieler barocker Satzarten) die anderen Stimmen
sich frei entfalten können. Der (General)baß symbolisiert gleichsam die Vernunft (den Logos), unter deren (dessen) Schutz und Regiment die anderen Teile der Seele (Vorstellungen,
Gefühle, Empfindungen) zu ihrem Recht kommen22.
Halten wir fest: Fuge (Polyphonie) bedeutet: Denken, Erkennen. In Anwesenheit des
Urthemas, des wahren Paradigmas, heißt dies (für Contrapunctus 2(A) und 1(A)): Wahre Erkenntnis, Wissen der Wahrheit.
Indem nun ab Contrapunctus 3 dieses wahre Paradigma (erstmals in diesem Umlauf) in
seiner gespiegelten (reflektierten) Gestalt auftritt, wird die Reflexion quasi selbst zum Objekt der
Reflexion, die ‚Reflexion reflektiert sich selbst‘. Das Wissen wird selbst Thema (des Wissens). Damit werden Contrapunctus 3 und 4 zum Sinnbild einer höheren Art von Erkenntnis, von Wissen. Das reflektierte Paradigma kennzeichnet sinnbildhaft einen höheren, einen Idealzustand
22
In der nachbarocken, (sogenannten) homophonen Musik ändern sich die tonsatzstrukturellen (und damit
auch die symbolischen) Verhältnisse radikal. Dort herrscht nicht mehr der (‚tolerante‘, ‚großzügige‘ und der
Improvisierfreude Vorschub leistende) die Vernunft repräsentierende (und anregende) (General)baß, sondern
der die Empfindung, das unmittelbare Gefühl ausdrückende (und ansprechende) Diskant. Der ‚Tyrannei‘
dieser, den homophonen Tonsatz mehr oder weniger allein prägenden und dominierenden Oberstimme
haben sich von nun an alle anderen Stimmen bedingungslos unterzuordnen; sie werden – sinnbildhaft – zu
‚Sklaven‘ des Gefühls (oder gar der Instinkte, wenn man etwa an die heutige Unterhaltungsmusikkultur
denkt). Wo aber nicht mehr die Vernunft regiert, sondern das Gefühl (oder der Instinkt), dort herrscht Ungerechtigkeit, ist die Seele – nach POLITEIA, 444e u. a. – in Unordnung, krank.
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
27
der Seele, und zwar – im Falle von Contrapunctus 3 –: den der Besonnenheit (Temperantia, Mäßigung, Seelenharmonie, der dritten der 4 Kardinaltugenden23).
Aus allen diesen Überlegungen (wie ja schon aus dem Wesen des Urspungsbereichs selbst)
ergibt sich, daß bei der Interpretation von Contrapunctus 3, so wie von allen 7 Contrapuncti
dieses Bereichs, jede direkte, vordergründige tonsymbolische Ausdeutung des Gegensatzpaares Diatonik – Chromatik von vornherein fernzuhalten ist. Chromatik hat hier, im Ursprungsbereich, nichts zu tun mit ‚menschlichem Leiden‘, mit ‚Sünde‘ und dgl.. Contrapunctus 3 versinnbildlicht – ganz im Gegenteil – die Gelassenheit (Temperantia) und Souveränität, mit denen das
reflektierte-reflektierende Urthema – das höhere Bewußtsein – auch in der die Gefühle und
Empfindungen der Seele symbolisierenden (vergegenwärtigenden) chromatischen Sphäre
regiert: Das diatonische (reflektierte) Urthema bringt durch sein Erscheinen in diese ‚von
Haus aus‘ (tonal) unsicheren und unruhigen chromatischen Strukturen stets eine tiefe innere
Ruhe und Gelöstheit (dabei hilft unterstützend der z. T. ostinato gesetzte Baß).
4.
Contrapunctus 4
138 T.

 
 
  
Schwer verläßt,
was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort.
(Hölderlin)
    

Mit Contrapunctus 4 befinden wir uns in der Mitte des tonalen pythagoreischen Systems,
direkt am Ursprung. Wie das gespiegelte Urthema, als höheres Bewußtsein (als höheres, göttliches
Wissen), auf der Gefühls- und Empfindungsebene (Chromatik) souverän regierte
(Contrapunctus 3), so regiert es nun ebenso unangefochten in der rein geistigen Sphäre (Diatonik). Dieses geistige Über-den-Dingen-Stehen24 drückt sich in Contrapunctus 4 auch dadurch
aus, daß diese Fuge – spiegelbildlich zu Contrapunctus 2(A), der den neuen Umlauf und
damit den Ursprungsbereich eröffnete – ihre Exposition konsequent von oben nach unten
durchführt.
Hier ist die Wahrheit in ihrem eigentlichen, angestammten Bereich, am Ursprungsort,
‚bei sich zu Hause‘. Diese Fuge steht dem Beginn von Contrapunctus 11(A) (‚Mitternacht‘)
diametral gegenüber: Hier, in Contrapunctus 4, das reflektierte Thema in seiner Urgestalt, in
tonaler Themenbeantwortung – dort, in den Takten 1 bis 13 (1 bis 26), das originale Thema
in veränderter Gestalt und in realer Themenbeantwortung. Beide Male regiert das Hauptthema (Urthema bzw. ‚Ur’thema). Aber welch ein Unterschied! In den 13 (26) ‚nächtlichen‘
23
Vgl. die Definition der Besonnenheit als Wissen des Wissens, CHARMIDES, 166c ff.
Daß man den musikalischen Ausdrucksgehalt dieser Fuge immer wieder mit Begriffen wie Resignation und
dgl. in Verbindung gebracht hat, zeigt, wie sehr man sich – auch und besonders bei diesem Tonsatz – von
Vordergründigem hat leiten lassen. Tatsächlich manifestieren sich ja beide Gemütsverfassungen – die der Gelassenheit und die der Resignation - , vordergründig, in einander sehr ähnlichen temperamentsmäßigen Erscheinungsformen.
24
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
28
Takten spürt man – ich werde darauf zurückkommen -, daß die Exposition des Themas
gerade noch ‚geduldet‘ wird, seine ‚Stunden sind gezählt‘, seine Zeit läuft erbarmungslos ab.
– Hier dagegen hat man das unbeschreiblich wunderbare Gefühl, als ob die Wahrheit nun
‚für alle Ewigkeit‘ ‚bei uns‘ bliebe, ‚uns nie wieder verlassen‘, das Thema nie wieder ‚vergehen‘ könne25. Über der ganzen Fuge liegt eine geistige Ruhe und Abgeklärtheit, die in dieser
besonderen Art unmittelbar an die 6 Einleitungstakte (Adagio) der Kantate Gott fähret auf
mit Jauchzen (BWV 43) erinnern26.

5.
Contrapunctus 5(A)
90 T.
 


   

    






              

 
In Contrapunctus 3 hatte sich neben dem gespiegelten Urthema ab Takt 23 mehrfach
eine Variante dieser gespiegelten Urform zu Wort gemeldet, die jetzt, ab
Contrapunctus 5(A), paradigmatisch, d. h. zum Hauptthema wird. Daß diese veränderte (um
zwei Töne erweiterte, aber zeitlich umfanggleiche) Form bereits in der dritten Fuge auftrat, ‚hat System‘. Contrapunctus 3 bezog sich – wie wir gesehen haben – auf die chromatische
Sphäre, d. h. auf die Ebene der Gefühle und Empfindungen und deren Beherrschung
durch das reflektierte Urthema (Paradigma). Mit dieser Welt der Gefühle (Chromatik) unmittelbar verbunden ist der stofflich-sinnliche, ästhetische Bereich, im tonalen Modell vertreten
bzw. symbolisiert durch die (abhängigen) sogenannten natürlichen Intervalle, insbesondere
durch die ‚Naturterz‘ (bzw. ‚Natursext‘). Um diesen Zusatzbereich (genauer: einen Teil desselben) sinnbildhaft miteinzubeziehen, hat Bach das 12er-Urthema um zwei Durchgangstöne erweitert, entsprechend der um die ‚natürliche Terz‘ (bzw. ‚natürliche Sext‘) erweiterten
Quintenreihe:
ES
35
B
34
F*
5⋅3-1
F
33
C
32
G
31
D
A
3-1
E
3-2
H
3-3
H*
5-1⋅3
FIS
3-4
CIS
3-5
Während also in Contrapunctus 4 sozusagen ‚pythagoreische‘ Terzen ‚gemeint‘ waren, sind
jetzt, in Contrapunctus 5, gewissermaßen ‚natürliche‘ Terzen und Sexten ‚angedeutet‘.
25
Die von Bachforschern immer wieder als Schmerzmotive interpretierten einzelnen chromatischen Nebentöne
dieser Fuge haben hier ausschließlich regulierende, schützende und vorsorgende Funktion: Sie halten die Fuge – im
Sinne eines leichten (chromatischen) Steuerns (eines leichten, heilsamen Zwangs) – sozusagen ‚auf Kurs‘, sorgen
vorbeugend dafür, daß alles stets ‚im Ruder bleibt‘.
26
Vgl. insbesondere diese 6 Einleitungstakte (aus BWV 43) mit den Takten 87 ff. von Contrapunctus 4. Der
Exkurs (siehe unten) legt u. a. dar, daß der gesamte erste Satz dieser Himmelfahrtskantate durch seine analoge ‚Taktarithmetik‘ im Zusammenhang mit diesem 1008er-Zyklus gesehen werden muß, allerdings nicht
als zeitlicher Kreislauf, sondern als zeitloses (himmlisches) Sein.
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
29
Die polyphone Struktur dieser 5. Fuge (und der zwei folgenden) – (fast) ununterbrochene Engführungen des neuen Themas, in beiden Formen, d. h. im Original und im Spiegel
(also rectus und inversus) – ist Ausdruck dafür, daß die Wahrheit nun in alle (geistigen) mikro- und makrokosmischen Ebenen des Seins hineingetragen wird, alle Lebensbereiche
erfüllt, immer weiter sich reflektierend und vervielfältigend zu ständig neuen Erkenntnissen führt.
6.
Contrapunctus 6(A)
79 T.

                
   


       




Contrapunctus 6 setzt die in Contrapunctus 5 begonnene Aktualisierung der im Thema
(Paradigma) enthaltenen (veranlagten) Wahrheitsstrukturen, die Anwendung der Wahrheit
auf allen Ebenen weiter fort. Der rhythmische Duktus der Französischen Ouvertüre, der den
äußeren Charakter dieses Tonsatzes beherrscht, signalisiert, daß wir erst jetzt am eigentlichen
Beginn dieser Ausweitung und Anwendung der Wahrheit stehen: Contrapunctus 6 eröffnet
der Wissenschaft der Wahrheit (Scientia Dei) den gesamten (geistigen) Kosmos.
Das Auftreten des Themas in zwei Geschwindigkeiten symbolisiert, wie eigentlich
erst hier Mikrokosmos und Makrokosmos als identisch erkannt und miteinander verbunden
werden (der Mikrokosmos der menschlichen Seele ist Spiegel allen Lebens).
7.
Contrapunctus 7(A)
61 T.



     
      
 
   





 

     
Mit diesem großartigen Tonsatz weitet sich der Anspruch und Geltungsbereich der
Wahrheit ins Unendliche. Die drei Geschwindigkeiten des Themas sind Sinnbild für die
unendliche Selbstreflexion des Seins: Das Eine Sein spiegelt sich in sich selbst unendlichfach, vom
unendlich Kleinen, über das ‚Mittlere‘, bis zum unendlich Großen, - alles ist eins, eins ist alles -, jedes
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
30
steht mit jedem in vollkommener (prästabilierter) Harmonie, die unendliche Fülle des Seins bildet
gleichzeitig eine große, geordnete Einheit (Einheit in der Mannigfaltigkeit).
Daß es in dieser Fuge nur noch sehr wenige themenfreie Takte gibt, demonstriert, daß
die Wahrheit nun wirklich alles vollständig durchdrungen hat.
Die weitgespannte Schlußkadenz (Takt 57 ff.) markiert den Höhepunkt – und gleichzeitig Endpunkt dieser geistig-kosmischen Entwicklung (des Menschen) innerhalb des geistig-kosmologischen (raum-zeitlichen) Kreislaufs. Die Wahrheit ist zwar – als zeitlose Idee –
unerschöpflich, - ihrer Anwendung und Widerspiegelung in Raum und Zeit sind aber Grenzen
gesetzt (in ihren raum-zeitlichen Möglichkeiten hat sie sich nun erschöpft), die Zeit ihrer
unumschränkten Herrschaft geht zu Ende, denn der Tag hat sich geneiget.
DER ABGELEITETE BEREICH (NACHT)
(5 Contrapuncti, 5 × 84 = 420 Takte)
8.
Contrapunctus 9(A)
65 T.









 


  



                                     


Mit dem Verlassen des Ursprungsbereichs (Bereich der ‚weißen Tasten‘) betreten wir
nun jenen Kreislaufabschnitt, in dem die Welt von einem anderen regiert wird. Die Wahrheit (das Paradigma) besitzt keine unumschränkte Macht mehr, der einzelne ist nun anderen Mächten ausgeliefert. (Die Welt ist von jetzt an (während der Weltennacht) eine Welt des
Teufels, in der der einzelne sich mehr und mehr (siehe unten, Contrapunctus 8(A)) zwischen
zwei Wegen entscheiden muß.)
In dieser Zeit (der ‚Gottabgewandtheit‘) wird die Wahrheit allgemein nicht mehr (wissenschaftlich, logisch) verstanden, sondern hauptsächlich – solange sie überhaupt noch im Besitz einiger weniger ist – religiös verehrt, geglaubt. (Wissenschaftliches Verstehen ist (naivem) religiösem Glauben gewichen.) Im Sinne der Symbolik des Tonsystems drückt sich dies dadurch
aus, daß hier das System der pythagoreischen Töne (Intervalle) zunehmend durch das
(von diesem abhängige) Schema der ‚natürlichen‘ Intervalle ersetzt wird:
ES*
5⋅3
B*
5
F*
5⋅3-1
C*
C
G
D
A
E
E*
H* FIS* CIS*
5-1⋅3 5-1 5-1⋅3-1
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
31
Als Sinnbild dieser religiösen (und mehr äußerlichen) Umschreibung der Wahrheit (des
Themas), seiner Veränderung ins Religiöse, ins Gefühlsmäßige (und ‚Ästhetische‘), läßt Bach in
Contrapunctus 9(A) (also in der ‚Abenddämmerung‘) ein (2.) Thema auftreten, das zwar noch
im Großen und Ganzen nach dem Vorbild des Urthemas geformt ist, jedoch nicht mehr in
seinen Einzelheiten und in seinem (logischen) Zusammenhang. Es ist im Sinne des Kombinationstyps 4 (siehe S. 19) gestaltet: Seine wesentliche Aufgabe besteht darin, das (noch in der
Welt ‚vorhandene‘) Urthema voranzutragen, als cantus firmus (als seine höhere Führung) in sich
aufzunehmen. Kombinationstyp 4 stellt (symbolhaft) gewissermaßen den ‚religiösen‘, ‚glaubensmäßigen‘ Contrapunctus-Typ dar. (Wir werden diesem Typ wieder in Contrapunctus 12(A), gegen Ende der Nacht, begegnen.)
9.
Contrapunctus 10(A)
49 T.

 

   

    


    
 
 
 

Mit Contrapunctus 10 hat sich nun das bereits im vorigen Contrapunctus in den Vordergrund getretene Schema der ‚natürlichen‘ Töne (Intervalle; noch ohne Tritonus) – Sinnbild
der Welt des ‚schönen Scheins‘ (des ‚Betörenden‘, ‚Fesselnden‘ materieller Schönheit), der stofflich-sinnlichen Ebene, des materiellen (abgeleiteten) Aspekts des pythagoreischen Systems - verselbständigt und dabei gleichzeitig vereinfacht. D. h. dieses Schema ist von nun an nicht mehr
– wie noch in Contrapunctus 9(A) – nach dem pythagoreischen Urbild, nach dem Urthema,
geformt, sondern bildet jetzt eine eigene Form und geht nun eigene Wege.
Entsprechend dem materiellen, stofflich-sinnlichen (ästhetischen) Charakter des ‚natürlichen‘ Schemas hat dieses neue Thema eine aus (durch Pausen) getrennten Einzelteilen zusammengesetzte Gestalt. Besonders seiner ersten Hälfte mangelt es – durch die zwei kurzatmigen in sich gespiegelten und voneinander abgesetzten 3-tönigen Figuren – an der Geschlossenheit eines einheitlichen Themas. Da die zweite Hälfte fast wie angehängt erscheint,
findet das Thema zu keiner in sich geschlossenen Form, sondern bleibt eine mehr oder weniger lose Zusammensetzung gleicher und ungleicher Elemente (die auch stets nur einzeln wahrgenommen werden).
Eröffnet wird diese Fuge durch eine in Engführungen verlaufende Exposition des
(erweiterten) punktierten Urthemas, wie wir es aus den letzten drei Contrapuncti (Gegenfugen) des Ursprungsbereichs her kennen, - allerdings erscheint hier nur noch die zeitlich
kürzeste Gestalt. D. h. dieser ‚nächtliche‘ Tonsatz knüpft noch einmal – wie rückblickend –
an die in diesen drei Fugen (Gegenfugen) vollzogene Ausweitung und Anwendung des
Themas (der Wahrheit) an, bezieht sich aber hier nur noch auf den kleinsten, engsten (Le-
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
32
bens)bereich. Da das Thema zudem nur in der gespiegelten Form erscheint, vermag diese
Exposition auch nur einen schwachen Abglanz der damaligen Fülle zu vermitteln.
Das Thema (Paradigma) regiert hier zwar noch einmal während des gesamten Tonsatzes, - seinen Herrschaftsbereich muß es sich aber zunehmend mit dem ab Takt 11 hinzutretenden, neuen Thema – im Sinne des doppelten Kontrapunkts – teilen. Dabei ist es, um
neben diesem neuen Thema bestehen zu können, gezwungen, sich und sein Kontrasubjekt stetig, in Nachahmung des neuen Themas, zu verfestigen. Im Zuge dieser Verfestigung
geht es u. a. dazu über – entsprechend den Terzschichtungen seines Kontrahenten - , feste,
kompakte ‚Sextenverbände‘ (Sextschichtungen27 ) zu bilden und dem Gegenthema gegenüberzustellen.
Das Ergebnis dieses immer notwendiger werdenden Stabilisierungsprozesses, dem das
Urthema im Verlauf dieser Fuge durch das Gegenthema ‚ausgesetzt‘ wird, ist dann die ab
dem nächsten Contrapunctus (Contrapunctus 8(A)) auftretende, veränderte (verfestigte) Gestalt des Urthemas, wie sie hier (quasi) direkt aus der ‚Bündelung‘ beider Themen entsteht:

 

 
    
  


    
 
 
 


 

        

    
10.
Contrapunctus 8(A)
188 : 2 = 94 T.




 

 


  
       




               


               
        
  

   
Wenn wir anhand des Wegweisers (S. 21) den weiteren Gang durch die einzelnen
‚nächtlichen‘ Zyklusabschnitte verfolgen, so sehen wir, daß wir jetzt an einer Stelle des
Kreises angelangt sind, an dem sich der Quintenzirkel in zwei Wege teilt: In einen ‚oberen‘
Weg, einen Weg über die Kreuztöne GIS, CIS, FIS (‚Kreuzweg‘), zurück zum Ursprungsbereich, - und einen ‚unteren‘ Weg, über die B-Töne AS, DES, GES, immer weiter vom Ursprungsbereich weg und damit immer tiefer in den tonfremden Bereich.
27
Auch hier sind natürlich wieder (wie in Contrapunctus 5(A)) ‚natürliche‘ Terzen und Sexten ‚gemeint‘. – Die
Sexten deuten (tonsymbolisch) an, daß die zunehmende Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht schon weit fortgeschritten ist.
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
33
Das Symbol der zwei Wege ist uns aus der griechischen Antike als Mythologem des Herakles am Scheideweg bekannt, in Verbindung mit dem 20. Buchstaben des griechischen Alphabets, dem Υ, der sogenannten Littera pythagorica vel philosophica (die auch den Lebensbaum
symbolisiert). Dieser mythologische Topos wurde – als moralische Allegorie (Entscheidung des Jünglings, bei seinem Eintritt in das Mannesalter, zum Guten oder zum Bösen)
– vom Christentum übernommen.
Spätestens an diesem Punkt des Zyklus’, genau am Tritonus, am Ursprung der Nacht
(diabolus in musica), muß sich der einzelne entscheiden, welchen der beiden Wege er gehen
will: den oberen, den rechten (vom Ende her gesehen), den harten, beschwerlichen Weg des
Kreuzes (der Wahrheit und der Tugend), des Verzichts auf äußere Erfolge, - oder den unteren,
den linken, den bequemeren Weg (der Unwahrheit), den erfolgreichen Weg.
In Contrapunctus 8(A) versinnbildlicht Bach diese beiden (aus dem pythagoreischen
Zirkel sich ergebenden) Wege durch die bereits im vorigen Contrapunctus sich herauszubilden beginnenden Themenbereiche (siehe Figur 10; vgl. auch die Notenbilder am Kopf
dieses Abschnitts).
h
U rt
em
a
tes
der w e g
n
ä
Ver e u z
Contrapunctus 10(A)
K r Contrapunctus 8(A)
Te
We
uf
gb e
els
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e r th
we
em
g
a
+P
r ot
eg e
Figur 10 Contrapunctus 8(A) als Scheideweg
Aus dem fremden, starren Thema von Contrapunctus 10(A) ist hier nun dieses feste,
aber beweglichere, in Viertelnoten durchgehende Thema (mit eingelagerten Chromaschritten) geworden. [Man beachte die enge Verwandtschaft dieses Themas mit jenem Thema
der (quasi ebenfalls als dreistimmige Fuge gestalteten) Altarie Wer Sünde tut, der ist vom Teufel aus BWV 54.) Es versinnbildlicht das um den Tritonus erweiterte, ausschließlich aus den
sogenannten ‚Natur’intervallen gebildete, materielle (abgeleitete) tonale Schema:
AS*
ES*
B*
F*
C*
G
D
A
E*
H*
FIS* CIS* GIS*
Dieses Thema wird zum unmittelbaren und direkten Wegbereiter und Träger für jene Figur, die, zunächst als Kontrasubjekt eingeführt, später zum Rang eines Themas erhoben, sich
vermöge ihrer formalen Offenheit und Biegsamkeit chromatisch durch alle Schichten des
Tonsatzes arbeitet und im weiteren Verlauf dieser und vor allem der nächsten Fuge die
gesamte musikalische Struktur an sich reißt und dominiert. In dieser unschematisierten,
ungezähmten und ungeordneten (‚willkürlichen‘) Gestalt symbolisiert dieses ‚Quasithema‘
34
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
den auf Seite 20 dargestellten tritonalen bzw. transtritonalen (tonal entfremdeten) Bereich
in seiner noch nicht verwissenschaftlichten Form. Beide Tongebilde – der Wegbereiter und
sein Protegé (ersterer ist gleichzeitig Profiteur des anderen) – bündeln sich im Laufe dieser
beiden Fugen, und aus der Bündelung (dem Bündnis, Pakt) beider entsteht dann die schematisierte, verwissenschaftlichte Form dieses ‚Quasithemas‘: das B-A-C-H-Thema von
Contrapunctus 12(A) (siehe Ende von Contrapunctus 11(A)).
Als Thema Nr. 3 (wenn man dieses ‚Quasithema‘ mitzählt) tritt nun das neue, verfestigte
Urthema (‚Ur’thema) das erste Mal auf den Plan, in seiner inversen Gestalt (in der es ja auch
verfestigt wurde). Diese aus der Struktur des vorigen Contrapunctus sich ergebende, aus
einer Bündelung (siehe S. 32) entstandene Verfestigung bedeutet natürlich einen inneren
Verlust. Durch die zur Stabilisierung und (Ver)härtung (sozusagen in Funktion eines
‚Schutzpanzers‘) notwendig werdenden Pausen zwischen den Tönen (das neue ‚Ur’thema ist
aufgrund seiner ‚Kurzatmigkeit‘ sozusagen gezwungen, häufiger ‚Luft zu holen‘) sind sowohl Ruhe als auch der innere Zusammenhang weitgehend verlorengegangen. Das Thema hat
sich den Gegebenheiten und Umständen angepaßt, es hat sich für einen schweren Kreuzweg28 und schließlich (siehe Contrapunctus 11(A)) für einen harten Kampf gewappnet.
Das ‚Ur’thema in dieser (beinahe) ‚materialisierten‘ Form stellt keine wirkliche, ungebrochene Fortsetzung des eigentlichen Urthemas mehr dar; die direkte Verbindung zum Ursprung ist abgebrochen. Bach bringt dies dadurch zum Ausdruck, daß er Contrapunctus 8(A)
nur als dreistimmige Fuge komponiert hat: Die (4.) Schiene, auf der das Urthema ‚lief‘, ist
unterbrochen, das neue Hauptthema (das veränderte, verfestigte ‚Ur’thema) ‚läuft‘ auf
anderer Spur (auf dem oberen Teil des nun zweigeteilten Weges) weiter.
Mit den drei Stimmen dieser Fuge werden automatisch die Plätze für die drei Themen
verteilt. Regenten dieses Stückes sind die beiden verbündeten Themen 1 und 2; das 3. Thema, das neue ‚Ur’thema, wird von diesen beiden nur noch geduldet, muß ‚froh‘ sein für den
Spielraum, den diese ihm bei ihren Durchführungen und Zwischenspielen lassen (vgl.
Kombinationstyp 2, siehe S. 19).
Bevor ich zu Contrapunctus 11(A) übergehe, möchte ich zwei weitere (verschlüsselte)
Hinweise Bachs aufzeigen, die belegen, daß die hier von mir getroffene Anordnung (Reihenfolge) der Contrapuncti 9, 10 und 8 bzw. die Auswahl der kürzeren Fassung von
Contrapunctus 10 (also Contrapunctus 10(A)) die richtige, d. h. die von Bach gewollte ist, - unabhängig davon, daß die durch diese Auswahl und Anordnung sich ergebenden exakten
taktanzahlmäßigen Proportionen (in Verbindung mit dem Nachweis der gleichen Maßzahlen und Proportionen in vielen anderen Bachschen Werken ähnlichen musikalischen Gehalts, siehe unten, Exkurs) bzw. sinnvollen tonsymbolischen Beziehungen wohl sicher
nicht auf Zufall beruhen können.
•
28
Bei der Überschrift über der kürzeren Variante von Contrapunctus 10 des
Originalsdrucks (die diesem Contrapunctus 10(A) äquivalent ist) fehlt das „unctus“ von
„Contrapunctus“. Man könnte dies als „iunctus“ („verbunden“) lesen. – Bach will (möglicherweise, - ich möchte mich hier vorsichtig ausdrücken, da diese Deutung mir nicht völlig
sicher erscheint) damit sagen: Sobald der 1. Umlauf mit dem 2. verbunden ist (iunctus)
und in diesen übergegangen ist, soll nur noch die gekürzte Fassung von Contrapunctus
10 („Contrap.“) verwendet werden, - also in quasi umgekehrter Analogie:
Der erste Satz der Kreuzstabkantate (BWV 56) entspricht nicht zufällig in seiner inhaltlich-symbolischen und
proportionalen Struktur exakt dem 1008er-Zyklus (siehe unten, Exkurs).
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
35
„Contrap(i)unctus 10“ : „Contrap. 10“ =
CONTRAPUNCTUS : CONTRAPUNCTUS IUNCTUS
•
Die kürzere Fassung von Contrapunctus 10 hat – bei Taktanzahlhalbierung – 49 Takte.
Contrapunctus 8 hat – bei Taktanzahlhalbierung – genau 94 Takte. Auf der letzten
Seite von Contrapunctus 8 (im Originaldruck) ist die Seitenziffer 25 gespiegelt abgedruckt:
Bach will damit sagen: So wie bei dieser Seite die 25 mit der 52 vertauscht ist, so soll
auch die 94 mit der 49, also Contrapunctus 8 mit Contrapunctus 10, vertauscht werden.
Außerdem: Da die 25 als
seitenverkehrt ist, so soll auch die Reihenfolge der
Seiten nicht von links nach rechts, sondern von rechts nach links gelesen werden, also: Seite
26 vor Seite 25, d. h.: Contrapunctus 9 (der auf Seite 26 beginnt) vor dem nun nach
dem Plätzetausch auf Seite 25 endenden Contrapunctus 10:
Tausch
94 T.
Contrapunctus 8
2.
Contrapunctus 9
1.
49 T.
Contrapunctus 10
Von-rechts-nach-linksLesung
Contrapunctus 9
1.
Contrapunctus 10
2.
Contrapunctus 8
Im übrigen ist festzuhalten, daß die auf Seite 25 hinsichtlich der Vertauschung von
Contrapunctus 1 und 2 gemachte Unterscheidung zwischen präsentativer Funktion (1. Umlauf) und evolutiver Funktion (2.ff. Umläufe) auch hier gilt: Der 1. Umlauf ist – als Anfang –
kein Zyklus im Sinne eines thematischen ‚Entstehens und Vergehens‘ (Der Anfang ist
unentstanden.). Für einen Kreislauf, der in erster Linie präsentieren will, ist die Anordnung in
der Originalausgabe bezüglich dieser drei Contrapuncti folgerichtig: Zuerst werden die einzelnen (thematischen) Ergebnisse vorgestellt, dann die einzelnen Schritte, die zu diesen Ergebnissen führten. Also: Zuerst das Thema aus Contrapunctus 8, dann (später) das aus
Contrapunctus 10. Um letzteres entsprechend zu präsentieren, hat Bach 22(11) Takte
hinzukomponiert, so daß im 1. – präsentativen – Umlauf jedem der Themen der
Contrapuncti 9, 10, 8 und 11 eine eigene ‚Vorstellungsexposition‘ eingeräumt wird.
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
36
11.
Contrapunctus 11(A)
184 : 2 = 92 T.




   









  
     
     
  
 

         
            



 
Nach dem (bisherigen) Gang durch den Zyklus haben die folgenden 13 (26) Takte
dieses ‚dramatischen‘ Contrapunctus 11(A) etwas unglaublich Erschütterndes. Das veränderte
‚Ur’thema tritt auf, diesmal (zum ersten Mal) in der Recto-Form; und es regiert, - für kurze
Zeit: In vollständiger Exposition wandert es durch alle vier Stimmen. Doch die Art und
Weise, wie es hier in seiner letzten Durchführung (jedenfalls in dieser seiner ungespiegelten
Form) auftritt, sich quasi ‚von der Bühne des theatrum mundi verabschiedet‘, ist wahrhaft
ergreifend: Bei jedem der 13 (26) Takte fühlt man – sozusagen auf Schritt und Tritt, von
Takt zu Takt -, wie sehr seine Zeit bemessen ist, wie knapp der zeitliche und musikalische
(chromatisch/diatonische) ‚Raum‘ ist, den ihm die 13 (26) Takte lassen. Wie ein letztes Fanal erklingt das Thema ein fünftes, überzähliges Mal noch (im Sopran), - dann ist seine Zeit
endgültig vorbei (was bleibt, ist – außer den 8½ (17) Takten, die noch für sein Inverso eingeschoben werden – der Kampf, um doch vielleicht nicht vollständig unterzugehen).
Bei diesen 13 (26) Takten fällt auf: keine tonale Themenbeantwortung (wie sonst in
den Expositionen des Hauptthemas), sondern ausschließlich reale.
Auf Seite 4 hatte ich darauf hingewiesen, daß das Wesen einer bachschen Fuge darin
besteht, daß sie in ihrem polyphonen Geflecht eine ‚Gesamtmelodie‘, ein Melos, erzeugt und
in diesem Melos ihren eigentlichen (musikalischen) Sinn findet. Durch die tonale Beantwortung gewinnt nun der jeweilige Themenauftritt die für dieses ‚Fugenmelos‘ notwendige
(harmonisch-melodische) Biegsamkeit, ordnen sich die jeweiligen (thematischen) Stimmen
dem harmonisch-melodischen Fluß dieser ‚Melodie‘ unter, - während die reale Beantwortung (bei entsprechendem Thema) diesen Fluß hemmt, die Fuge harmonisch-melodisch
nicht vorankommen läßt: Es ist etwa so, als würde die Fuge bei jedem Themenauftritt (der
Durchführung) immer wieder, auf der jeweils anderen Stufe, von vorn beginnen - ‚auf der
Stelle treten‘ (etwa so wie bei einem Fugato einer Symphonie) – und sich damit der Entwicklung (der ‚Gesamtmelodie‘) entgegenstemmen. – Und eben dies will das Thema in diesen 13
(26) Takten am Beginn von Contrapunctus 11(A): Bach läßt hier – entgegen der von ihm
sonst streng eingehaltenen bzw. im Sinne des Melos’ genutzten Regel29 - ausschließlich real
beantworten: Das Hauptthema stemmt sich gegen die weitere Entwicklung, in die die
anderen Themen vorandrängen, möchte die Zeit ‚anhalten‘, die ihm noch verbleibt.
29
Auch in den Themeneinsätzen hält sich Bach fast immer an die Regel, - nämlich an die durch die Goldene
Proportion vorgegebene musikalische Ordnung:
Baß
:
Tenor
=
Alt
:
Sopran
1
:
2/3
=
1/2
:
1/3
(Tenor ist Arithmetisches Mittel, Alt ist Harmonisches Mittel zwischen Baß und Sopran.)
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
37
Wie schon auf Seite 27 bemerkt, befinden wir uns mit diesen 13 (26) Anfangstakten
von Contrapunctus 11(A) genau diametral gegenüber von Contrapunctus 4. D. h . Contrapunctus 4
kennzeichnet den Tageshöhepunkt, den höchsten Stand der Sonne (Mittagspunkt),
Contrapunctus 11(A) den tiefsten Punkt der Nacht (Mitternacht). Der exakte Mitternachtspunkt
liegt zwischen Takt 2(4) und 3(5) von Contrapunctus 11(A), der exakte Tagesmittelpunkt zwischen Takt 74 und 75 von Contrapunctus 4. An beiden Stellen erklingt das Hauptthema, am
Mittagspunkt gespiegelt, am Mitternachtspunkt in Normalform. Der thematische Ton A aus
Takt 74 (Contrapunctus 4) liegt dem thematischen A aus Takt 3(5) (Contrapunctus 11(A)) im
Kreis genau gegenüber. Bach weist auf diesen Zusammenhang, auf diese beiden zentralen
Punkte A seines Zyklus’, im Originaldruck auf Seite 25, direkt vor Beginn von
Contrapunctus 11, deutlich – grafisch – hin (siehe Figuren 11 und 12).
Figur 11 und 12 Der Schmuckbuchstabe von S. 25 des Originaldrucks
als Hinweis auf die beiden A-Punkte (Mittagspunkt/Mitternachtspunkt) des 12er-Zyklus’
Mit dem Abgang des ‚Ur’themas betritt nun – wie in wohldurchdachter Dramaturgie –
der eine der beiden Widersacher aus Contrapunctus 8(A), der Protagonist des ‚Quasithemas‘, die
Bühne, diesmal sowohl in Normalform (rectus) als auch gespiegelt (inversus). Das bedeutet:
Nicht nur die einfache Lüge, die Unwahrheit in seiner einfachsten, manifesten Form, sondern auch alle (‚höheren‘) Formen des Irrtums, der Unwahrheit und Täuschung (des ‚schönen
Scheins‘) sind hier am Werk, eine verengte, rein auf menschliches Wollen und Empfinden
bezogene und von diesen abhängige Sichtweise hat überall Besitz ergriffen. Nicht mehr
Geist und Vernunft (Logos) regieren, sondern menschliche Empfindungen und Gefühle. Der –
wie in Contrapunctus 3 – zeitweise einsetzende Ostinato-Baß – Ausdruck der immer weiter
zurückweichenden Vernunft – vermag nur noch notdürftig die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Der ‚göttliche Dramaturg‘ dieses Trauerspiels hätte eigentlich nun direkt im Anschluß
den entscheidenden letzten Akt folgen lassen können. Doch vorher soll dem Spiegelbild des
‚Ur’themas Gelegenheit gegeben werden, sich darzustellen: Ein Kurzauftritt von 8½ (17)
Takten – gerade ausreichend für eine Exposition – wird noch für ihn eingeschoben, keinen
Takt ‚mehr‘, - die anderen ‚Darsteller‘ ‚warten schon‘.
Was dann folgt, ist der überwältigende Ansturm der (wie nun entfesselten) Empfindungen und Gefühle gegen den letzten und verzweifelten, erbitterten Widerstand dieser
immer weiter an den Rand gedrängten Vernunft: Ein Aufruhr eines Teils gegen das Ganze der
38
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
Seele, um sich zum Regenten in ihr zu machen, trotzdem ihm das nicht zukommt, sondern er seiner Natur nach so beschaffen ist, daß er jenem Teil dienen solle, der zum Regieren befähigt ist.30
Um diesem (dramatischen) Inhalt, dieser dem Wesen der Fuge eigentlich ganz ungeeigneten inneren Struktur dieses Kampfes (Zwiespalt der Seele) doch noch in der musikalischen
Form einer Fuge gerecht werden zu können, erzeugt Bach in diesem letzten Abschnitt
dieses 11. Contrapuncts ein musikalisches (gleichsam) paradoxales Gebilde: einen musikalischen Satz, der in seiner (äußeren) musikalischen Struktur – unter (bestimmten) analytischen Gesichtspunkten – polyphon erscheint, in seinem Wesen aber fast allen Prinzipien des
Kontrapunkts zuwiderläuft, - kurz: eine Fuge, die eigentlich gar keine ist, sondern bei der es
sich eigentlich um ein nach homophonen (‚vertikalen‘) Strukturprinzipien komponiertes Musikstück handelt, in dem alle die die jeweiligen rein homophon konzipierten Harmonien
(Akkorde) ausfüllenden Figuren – wie ‚zufällig‘ – eben auch Themen, Fugenthemen, sind
(und als solche in den vorigen Fugen auftraten). Der besondere Eindruck, der bei diesem
im Wesen homophonen Satz beim Anhören entsteht, basiert darauf, daß man ihn dennoch
als Fuge hört.
Man kann das eben beschriebene musikalische Paradoxon, das Bach hier kompositorisch zu verwirklichen gezwungen war, auch so formulieren: Das einer Fuge gerade Zuwiderlaufende -: die Unselbständigkeit (Abhängigkeit) der mittleren und unteren Stimmen – wird
hier ausgerechnet in einer Fuge aktualisiert. (Die (latente und allmähliche) Entwicklung zu
dieser paradoxalen Satzstruktur setzte bereits mit Contrapunctus 10(A) ein.)
Den Kombinationstyp 3 auf Seite 19 hatte ich ganz im Hinblick auf diesen letzten Teil
von Contrapunctus 11(A) definiert. Es scheint, daß dieser Typ sich auch nur in solch einem
paradoxalen Gebilde verwirklichen läßt, da sicherlich bereits die Tendenz der einzelnen
Stimmen und Themen, sich gegeneinander (konkurrierend) durchzusetzen, den Gesetzen
der (echten) Polyphonie widerstrebt.
Die gesamte musikalische Entwicklung in den Contrapuncti 10(A), 8(A) und 11(A) läßt
sich, nach den vorangehenden Ausführungen, inhaltlich beschreiben als einen thematischen
(Ent)fremdungsvorgang, als ein motivisches/thematisches Auseinanderstreben, das das
‚Ur’thema zunächst durch Anpassung – fast um den Preis der Aufgabe der eigenen Identität –
auszugleichen sucht und das dann im letzten Abschnitt von Contrapunctus 11(A) im Sinne des
Kombinationstyps 3 eskaliert. Man kann diese Entwicklung aber auch formal auffassen als
allmähliche innere Auflösung – oder besser: Aushöhlung – der polyphonen Struktur, der
Fuge: als Korrumpierung der polyphonen Gesetze und Prinzipien. – Die Welt gerät, unter dem direkten Einfluß der tonal-entfremdeten Zirkelbereiche, vertreten durch die entsprechenden
Themen, immer tiefer in die Gesetzlosigkeit, in das Chaos. (In der Welt des Teufels bestimmen
nicht Vernunft (Logos), Prinzipien und Gesetze, sondern Instinkt, Gesetzlosigkeit und Willkür.)
Der Kampf (die Psychomachia), den beide Gestalten des ‚Ur’themas, die Normalform
und seine Spiegelung, gegen die anderen, die Gegenthemen, in diesem letzten Abschnitt
von Contrapunctus 11(A) auszufechten haben, ist kein Kampf gleichartiger Gegner. Er ist
vielmehr wie der Überlebenskampf eines Menschen gegen hereinbrechende Naturgewalten, etwa der
eines Schwimmers, der gegen eine Brandung oder Strömung ankämpfen muß, der er in
einem ‚Meer von Wellen‘ ausgesetzt ist. So erscheint das ‚Ur’thema in den kompakten, geschlossenen Tonformationen der anderen Stimmen wie in einem Auf- und Untertauchen:
Nach jedem Themeneinsatz (insgesamt sind es 5) schlagen die Wellen höher über dem
wie weggetauchten ‚Ur’thema zusammen und formieren sich neu. Das Ganze hat etwas
unerhört Ergreifendes (man denke an die unbeschreibliche Wehmut der letzten, verklingenden Töne des Themas in Takt 75 (149/150)).
30
POLITEIA, 444 b
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
39
Die gebündelte Kraft beider Gestalten des ‚Ur’themas erringt in diesem aussichtslos
erscheinenden Kampf zwei (scheinbare) Siege: In deutlichem Anklang an Takt 11 (22)
erscheinen die beiden dicht hintereinander auftretenden Taktfolgen 79 (158) bis 81 (162)
und 82 (164) bis 84 (168) wie zwei schnell errichtete Siegeszeichen: Beide Male legt sich für
diese Momente, in denen beide Themenformen des ‚Ur’themas vereint erklingen, der
Sturm; die Gegenthemen kommen kurze Zeit zur Ruhe, da die chromatische Sphäre für
den Augenblick verlassen wird, Diatonik (Geist) regiert. – Doch sogleich bricht ab Takt
85 (169) die ganze (Sint)flut des (dreifach geschichteten) dritten Themas (‚Quasithemas‘)
um so stärker – wie angestaut – herein... – In den letzten Takten dieses Dramas vermag
sich das ‚Ur’thema noch einmal an die äußerste Oberfläche des (Stimmen)meeres zu
kämpfen (es erklingt in höchster Lage, über allen anderen Stimmen), - aber man spürt, ein
Weiterbestehen des Paradigmas (der Wahrheit), eine Weiterentwicklung in den bisherigen
Bahnen ist nicht möglich. – Aber auch die anderen Themen (Gegenthemen) haben sich erschöpft (auch deren Fortsetzung in dieser Form ist beendet). Aber durch diesen Kampf
sind beide Gegenthemen noch fester zusammengewachsen. Ihre Bündelung (Bündnis, Pakt)
führt – ich wies schon im Zusammenhang mit dem vorigen Contrapunctus darauf hin – in
der Verfestigung (Schematisierung, Verwissenschaftlichung) direkt zum B-A-C-H,


         
                

     

  
    

   
      


das dann im letzten Abschnitt von Contrapunctus 12(A) als vollständiges Thema – als der
sich zu Erkennen gebende Herrscher und Urheber31 des Nachtbereichs – in Erscheinung tritt und
damit die (innere) Verbindung zu Contrapunctus 11(A) wieder herstellt.
31
Das ‚Meer‘, das beide Themen (Wegbereiterthema und sein Protegé) gemeinsam in Contrapunctus 11(A)
erzeugen, hat also seinen Ursprungsort im ‚B-a-c-h‘.
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
40
12.
Contrapunctus 12(A)
(238 : 2) + 1 = 120 T.
Vom Allebendigen aber
ist einer ein Sohn,
ein Ruhigmächtiger ist er.
(Hölderlin)

 

                          















 
 


Medium
Initium

     





Finis
Finis
Finis
 
 

 

Finis
Mit dem Ende von Contrapunctus 11(A) und dem Beginn dieses 12. Contrapunctus ist
eine Wegmarke bei unserem Gang durch den Zyklus erreicht, die Wegmarke schlechthin.
Denn bis zum Schlußtakt von Contrapunctus 11(A) sind es exakt
888
32
Takte . Dem entspricht auch, daß mit dem ersten Takt dieser letzten Fuge (des Umlaufs)
eine neue Zeiteinteilung (‚Zeitrechnung‘) beginnt. Denn während alle 11 bisherigen
Contrapuncti aus Takten zu je vier Vierteln bestanden, enthalten die 120 Takte (nach der
hier angewandten, neuen Zählung) von Contrapunctus 12(A) doppelt so viele, also jeweils 8
Viertel (zwei Ganze).
An dieser Stelle der völligen Finsternis – das wahre Paradigma hat soeben die Bühne des
theatrum mundi verlassen und ist damit (für die Nacht) endgültig abgetreten, eine Weiterentwicklung (aus sich heraus) war nicht mehr möglich, – an einem Punkt also, an dem in
der antiken Tragödie nach der Regel ein ‚deus ex machina‘ einzugreifen pflegt – erscheint nun
jenes symmetrische M-Thema – König aller Bachschen Fugenthemen – auf dem Plan: Ruhig und
mächtig voranschreitend, alles in seinen Bann ziehend, mit größter Souveränität, bewegt
es sich im Strom seines Kontrapunkts (‚Subjekt‘ und ‚Kontrasubjekt‘ sind hier eins) vorwärts.
Es ist der (rein diatonische) Vertreter des Urthemas, das siebenfältige Gesetz der Wahrheit selbst:
der AION33, - und nichts vermag sich diesem Gesetz in den Weg zu stellen34.
32
Wie der Exkurs (siehe unten) näher ausführt, handelt es sich bei der Verwendung dieser und anderer
Zahlen durch Bach nicht etwa um Numerologie u. dgl..
33
Dieses Thema – die Seele des Ganzen (des Kosmos’) selbst – als „entseelt“ (Schwebsch) zu bezeichnen (statt
sich allein schon von seinem Gefühl eines Besseren belehren zu lassen), zeigt einmal mehr, wie leicht man
durch Ideologie irregeleitet werden kann.
34
Ähnlich wie Contrapunctus 4 wurde auch dieser 12. Contrapunctus in seinem musikalischen Charakter mehr
vordergründig interpretiert. Der angeblich ‚improvisierte‘ Eindruck, den der erste Abschnitt dieser Fuge machen
soll, hat zu tun eben mit dieser Souveränität, die Bach hier musikalisch zum Ausdruck bringen will: Das Thema mit seinem Kontrasubjekt verkörpert gewissermaßen sein eigenes Gesetz (es ist sich selbst Gesetz). Der
Gesetzgeber erscheint hier quasi selbst, schreitet voran, ‚wie er will‘.
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
41
Bach sieht in diesem 1. Abschnitt dieses Contrapunctus 12(A) – wie auch im 2. Abschnitt – ganz davon ab, neben dieser wahren Sphäre auch die des Unwahren, neben diesem
wahren, rechten Weg auch den ‚unteren‘ Weg, den Weg der Unwahrheit, musikalisch darzustellen. (Wie der vierte Teil dieses Aufsatzes deutlich machen wird, hat dies – außer symbolischen – Gründe, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der Zyklusstruktur des
7er-Zyklus’ stehen.) Daß in den Abschnitten 1 und 2 dieser Fuge keine entsprechenden
Gegenthemen auftreten, bedeutet keineswegs, daß die dem Urthema (dem wahren Paradigma) feindlichen Mächte (die Sphäre des Teufels) etwa in diesen Abschnitten nicht mehr in
Erscheinung träten.
Abschnitt 1 leitet bei Takt 57 (114) nahtlos in den 2. Abschnitt über, in den zweiten
Abschnitt einer Fuge des ‚religiösen‘ Kombinationstyps 4 (‚Cantus-firmus-Typ), wie er uns schon
zu Beginn der Nacht, in Contrapunctus 9(A) begegnet war: Das bewegliche, wie ‚ein Rad sich
drehende‘ 2. Thema (Laufthema) nimmt das M-Thema als ‚cantus firmus‘ (als höheres Gesetz,
höhere Führung) in sich auf, trägt es voran. Die besondere Regelmäßigkeit dieses zweiten
Abschnitts versinnbildlicht dabei zweierlei: Zum einen die ungewöhnliche, ordnende Kraft,
die von diesem M-Thema (7er-Thema) ausgeht. Zum andern die enorme Zielstrebigkeit und
Planmäßigkeit, mit denen dieser Contrapunctus 12(A) seinem Ende bzw. dem Ende der Nacht
zusteuert.
Doch ehe dies soweit ist, erscheint erst der Teufel selbst, der Leviathan: 23 (46) Takte
müssen ihm der ‚göttliche Dramaturg‘ und Bach noch einräumen, in denen er – diesmal uneingeschränkt, ohne Gegenspiel durch die Wahrheit – seine gesamte chaotische Energie entfalten kann. Der ‚alte Drache‘, der geschwächt (erschöpft) schien, steht wieder auf (‚als wäre die tödliche Wunde wieder heil‘), das B-A-C-H-Thema als die Bündelung (Bündnis, Pakt) beider Gegenthemen (bzw. des Gegenthemas und seines Kontrasubjekts, seines Protegés) aus
Contrapunctus 11(A), direkt anknüpfend an diesen 11. Contrapunctus, ertönt. Ab Takt 97
(193) tritt diese Sphäre nun unverhüllt in Erscheinung, mit seinem ihm veranlagten Chroma
zerstört das Thema – ein tonales Monstrum – jede tonale Bindung, kein Urthema (keine
Wahrheit) ist mehr da, das (die) diesem Zerstörungs-und Auflösungsprozeß irgendwie
Schranken setzten könnte. Das B-A-C-H-Thema versinnbildlicht die (bereits im letzten
Abschnitt von Contrapunctus 11(A) vorbereitete) Schematisierung (Verwissenschaftlichung)
des tonal-entfremdeten Gegenbereichs. Es stellt die Antithese zum Urthema, zum wahren
Paradigma, dar, es kreiert eine (chromatische) Gegenwelt zur Wahrheit (Diatonik), eine
Pseudowissenschaft, ein Gegensystem zum tonalen, pythagoreischen System. In dieser ‚künstlichen‘
Welt (in der ‚Gott tot ist‘) wird diese Pseudowissenschaft selbst zum Gott (zum Götzen),
einem Koloß auf tönernen Füßen, der alles niederwalzt, was sich ihm in den Weg stellt, und
überall tonale Unordnung, Chaos und Verwüstung hinterläßt. Diese Gegenwelt, diese
Nachäffung des wahren Systems, ist tonal in etwa versinnbildlicht in den 10 doppelt abgeleiteten Tönen,
B*
ES*
AS*
DES*
GES*
CES*
FES*
HESES*
ESES* ASES*,
(‚enharmonisch‘) scheinbar mit dem Ursprungsbereich (oder einem Teil desselben) identisch,
in Wirklichkeit aber von diesem total entfernt (entfremdet): eine Verzerrung der Wahrheit, der
wahren, geistigen Wissenschaft (Scientia Dei), die Welt immer weiter vom Ursprungsbereich weg in die Irre führend35. Figur 13 (auf Seite 42) zeigt die seit der nächtlichen Weg35
Daß Bachs Name hier zum musikalischen Symbol des Negativen, des Bösen (des Teufels), wird, hat natürlich
tiefe Bedeutung: Das Böse – der ‚Teufel‘ – ist keine ‚Macht‘ von außen, sondern hat seinen Ursprung direkt
in der menschlichen Seele selbst.
42
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
scheide auseinanderlaufenden Wege und ihre musikalische Darstellung in den entsprechenden Contrapuncti. Wie Bach in den beiden ersten Abschnitten dieser dreiteiligen Fuge die weitere Entwicklung des unteren Weges symbolisch weggelassen hat, so fehlt ‚dafür‘
kosmologisch im letzten Abschnitt der entsprechende Teil des oberen Weges (quasi als musikalischer ‚Ausgleich‘): Der eine Zweig des Lebensbaumes ist in diesem letzten Stadium der Nacht
verdorrt, abgestorben.
H
FIS
888
CIS
GIS
Contrap. 10(A)
e g
w
z
e u
r
K
Contrap. 8(A) Contrap. 11(A) Contrap. 12(A)
AS
T e
u f
e l
s w
DES
e g
888
GES
CES
Figur 13 Die Darstellung der beiden Wege in den letzten 3 Contrapuncti der Nacht
Das B-A-C-H-Thema stellt neben seiner Bedeutung als direkte Verkörperung des tonal entfremdeten Bereichs – als Reich des Teufels – noch eine weitere symbolische Beziehung her: Es symbolisiert zugleich das Leiden des dem Teufel (mehr oder weniger schutzlos) ausgelieferten Menschen während der Weltnacht.
Dies alles klingt gänzlich anders als die angebliche Inkarnation des Menschen-Ich...der im eigenen Ich erlebten menschlichen Individualität... der Ichbeseeltheit... das Ich als Kontrasubjekt der Schöpfung ...in sich geläutert zu reinerem Leben
und dgl., von dem Schwebsch in seinem Buch ständig redet. Bei allem Verdienst war er es, der in dieses
Werk eine völlig bachfremde Ideologie gebracht hat36 (von der offenbar auch W. Graeser beeinflußt war). Die
an Goethischer Weltsicht orientierte Lehre der Anthroposophie (Menschenweisheit), in der der (sogenannte)
‚autonome‘ Mensch (alleiniger) Mittelpunkt des Seins (des Kosmos’) ist, hat weder mit barocker noch gar mit
Bachs Weltanschauung auch nur das geringste zu tun. – Nichtsdestoweniger ist Schwebschs Interpretation in
sich konsequent. Sämtliche Stellen im Zyklus, die in meinem Aufsatz negativ, als Verkörperung negativer, dem
Ursprungsbereich (der Wahrheit) entfremdete Bereiche und Mächte, gedeutet werden, werden bei ihm, ent-
36
Das (leise) Unbehagen, das man bei der Lektüre von Schwebschs Buch empfindet (vor allem in den letzten
Abschnitten) – man spürt, die Welt, die Schwebsch beschreibt, ist nicht Bachs Welt - , hat viele Bachforscher
allergisch gemacht gegenüber jedweder tonsymbolischen Interpretation von Bachs Fugenzyklus. In dieser
Hinsicht war und ist dieses Buch letztlich weniger dem echten Bachfreund als vielmehr den Gegnern eines vertieften Verständnisses Bachscher Musik (bei ihrer Polemik) von Nutzen.
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
43
sprechend seinem anthroposophischen Weltbild, positiv37, im Sinne des in dieser Lehre verherrlichten menschlichen Individualisierungsprozesses, besetzt. Für den Anthroposophen muß sich – in Anlehnung an die ‚Philosophie Goethes – der Mensch, um große (geniale), individuelle Leistungen zu vollbringen und Erfolge zu
haben, in bestimmtem Maße auch mit den ‚dunkleren‘ Seiten seiner Seele ‚einlassen‘: Dieser Vorgang ist quasi
Teil seines menschlichen Individualisierungsprozesses, seiner Persönlichkeitsentfaltung. Er muß sich – wie Faust in
Goethes Schauspiel – gleichsam, um schöpferisch Neues, Großes hervorzubringen, mit dem ‚Teufel in sich‘
verbünden, paktieren. In diesem Sinne ist ‚Faust‘ – allgemein – Symbol für den heutigen, autonomen, ich-bezogenen
Menschen geworden, der nach eigenen moralischen ‚Gesetzen‘ lebt. – Darüber hinaus ist ‚Faust‘ aber auch –
spezifischer – Sinnbild für den seit Beginn der Neuzeit sich herausbildenden Typ des (Natur)wissenschaftlers, der
sich bei seiner ‚Wahrheits’suche ausschließlich dem (materiellen) Fortschritt und der sogenannten ‚wissenschaftlichen Wahrheit‘ gegenüber verpflichtet weiß.
In den 23 (46) Takten von Contrapunctus 12(A), in diesen dunkelsten Stunden der Weltnacht (in
höchsten Noethen), in denen sich das ganze Geschehen ganz auf dem ‚unteren‘ Weg abzuspielen scheint, geschieht am Ende (Takt 117 ff. (234 ff.)) doch noch das ‚Wunder‘ (in Takt
112 (224), am absoluten Tiefpunkt, in dem Augenblick, in dem das B-A-C-H-Thema im Baß
in der Umkehrung (inverso) erscheint, wird dieses ‚Wunder‘ tonsymbolisch angekündigt: der
‚vertikal‘ bedingte B-Ton GES erscheint thematisch-melodisch (umgedeutet) als FIS, aus ‚Erniedrigung‘ wird ‚Erhöhung‘, der Quintenanschluß zum H, zum Ursprungsbereich, ist (sinnbildhaft) hergestellt): Aus dem Gefüge der 3 Themen (Fuge aus drei Sogetti) preßt sich das 4. Thema, das Urthema, wie bei einer ‚schwierigen Geburt‘ 38(man beachte, wie sich der fünfte Ton
des Urthemas, der Kreuzton CIS, (gleichsam wie ein ‚Messer‘ 39) zwischen die anderen
Themen ‚bohrt‘); der 7 Takte umfassende Tonkomplex, der ohne das Urthema doch so licht
und unbeschwert klang, arbeitet sich – in dieser vollständigen Version – wie ‚unter schweren
Wehen‘ von Dissonanz zu Dissonanz40, - wobei das 2. Thema (Laufthema) und die aus
diesem Thema gewonnenen Figuren der freien Stimme das Ganze gleichzeitig als einen
kontinuierlichen, unaufhaltsamen und in sich zwangsläufigen Bewegungsvorgang erscheinen lassen; der unvermutete D-Dur-Akkord (aurea hora) bringt umso größere Erleichterung und Erlösung. – Von diesem Punkt an haben die anderen Themen keine Funktion mehr, sie treten
ab. Auch das 7er-(M)-Thema hat seine Aufgabe erfüllt: Es hat – selbst Anfang, Mitte und
Ende in sich vereinend – die Verbindung von Ende und Anfang wieder hergestellt. Es ist –
obgleich größer, umfassender (nicht nur in seinen Notenwerten) als das Urthema – in diesem
auch weiterhin (am Tage) gegenwärtig (Parusia: Ich bin bei euch alle Tage). D. h. als Vertretung
des Urthemas, als 5. Stimme, ist hier das 7er-Thema eine Stimme zuviel; die bei
Contrapunctus 8(A) unterbrochene ‚Schiene‘ (daher dort nur 3 Stimmen) ‚läuft‘ hier wieder,
mit dem Urthema, weiter.
37
Alle jene Bachforscher, die aus der Kunst der Fuge bzw. aus einzelnen Fugen des Werkes (insbesondere
natürlich aus dem 11. Contrapunctus) beethovensche oder überhaupt nachbarocke Klänge positiv herausgehört
haben wollen, bekunden mit solchen Interpretationen, daß sie – wenn sie sich auch meist ironisch-polemisch von Schwebsch distanzieren – Anhänger der gleichen Ideologie sind.
38
Das Urthema ist gewissermaßen das Erzeugnis aus der Vereinigung des M-Themas mit dem Kreislaufthema
(Laufthema), wobei das B-A-C-H-Thema als ‚Geburtshelfer‘ fungiert.
39
Der übermäßige Dreiklang (bereits in Takt 108 (216) – in gleicher Lage – erklungen) meint bei Bach: einen
tiefgreifenden, aufwühlenden, bohrenden oder dumpfen Schmerz (z. B. bei einer offenen Wunde oder einer Geburt: vgl.
Choral BWV 407 (T. 7); oder aufgrund von Stichen: vgl. Choral (Satz 6, T. 6) aus BWV 40 oder den ‚Hl.
Georgskampf‘ des Eingangschorsatzes der 6. Kantate von BWV 248, wo der Drache jeweils (Takt 32 – 48
bzw. 224 – 240) 9 lange und 7 kurze Stiche abbekommt und zwei der langen (T. 37 u. 39 bzw. 229 u. 231) als übermäßige Dreiklänge - offenbar ‚tödlich‘ sind [wie Tonaufnahmen zeigen, wird das Tempo dieser
Chorfuge in der Regel zu langsam genommen; ideal dagegen Collegium Aurium/Tölzer Knabenchor].)
40
Die (genau) 5 Takte, in denen das Urthema entsteht, enthalten 84 Töne (Noten). Siehe Teil IV, S. 92.
44
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
In diesen letzten (vollständigen) Takten der Kunst der Fuge wird noch einmal deutlich, wie anders sich Bachs
‚Version‘ seines Werkes darstellt als die von Schwebsch und seinen ‚Anthroposophen‘ gedachte: nicht als eine
Apotheose des Ichs, der menschlichen Individualität, mit einer entsprechenden kolossalen Coda (aller 4 Themen), sondern als demütiges (‚Soli Deo Gloria‘) Dienen und Geschehenlassen der Wahrheit (des Urthemas), ein Mitwirken
an der neuen geistigen Aufgabe, die dieses Paradigma stellt.
Die ‚schmerzlichen Dissonanzen‘ dieser letzten Takte, im Zusammenhang mit der entsprechenden
Deutung des letzten Abschnitts dieses Contrapunctus 12(A), verweisen aber auch noch auf einen anderen wesentlichen Unterschied zwischen anthroposophischer (an Goethe orientierter) und barocker (Bachscher) Weltsicht,
- und zwar was das Ende jenes unteren Weges, den Weg des tonfremden Bereichs, betrifft. Goethe hat die alte
(aus dem 16. Jahrhundert stammende) Faustlegende umgedichtet. Im letzten Akt von Faust II wird großartig
vom Dichter in Szene und Verse gesetzt, wie Faust am Ende seines Weges – gerade noch dem Teufel, der
auf Einhaltung des bei Paktschließung ausgehandelten Vertrages pocht, glücklich entronnen – (von Engeln
getragen) sogleich in den Himmel kommt (gerettet ist das edle Glied)... – Das Ende des Faust der alten Legende
sieht dagegen etwas anders aus. Über die Nacht, in der ihn der Teufel holt, heißt es im alten Faustbuch: Es
geschahe aber zwischen zwölff und ein Uhr in der Nacht, daß gegen dem Hauß her ein grosser ungestümmer Wind gienge, so
das Hauß ahn aller orten umgabe, als ob es alles zu grunde gehen, und das Hauß zu Boden reissen wolte, darob die Studenten
vermeynten zu verzagen, sprangen auß dem Bett, und huben an einander zu trösten, wolten auß der Kammer nicht. Der Wirt
lieff auß seinem in ein ander Hauß. Die Studenten lagen nahend bey der Stuben, da D. Faustus innen war, sie hörten ein
grewliches Pfeiffen und Zischen, als ob das Hauß voller Schlangen, Nattern und andere schädlicher Würme were, in dem gehet
D. Fausti thür uff in der Stuben, der hub ahn umb hülff und Mordio zu schreyen, aber kaum mit halber Stimme, bald hernach hört man ihn nicht mehr. Als es nun tag ward, und die Studenten die gantze nacht nit geschlaffen hatten, sind sie in die
Stuben gegangen, darinnen D. Faustus gewesen war, sie sahen aber keinen Faustum mehr, und nichts, denn die Stuben voller
Bluts gesprützet. Das Hirn klebte ahn der Wandt, weil ihn der Teuffel von einer Wandt zur andern geschlagen hatte. Es
lagen auch seine Augen und etlich Zäen auch allda, ein grewlich und erschrecklich Spectakel. Da huben die Studenten an jn zu
beklagen und zu beweynen, und suchten ihn allenthalben, Letzlich aber funden sie seinen Leib heraussen bey den Mist ligen,
welcher grewlich anzusehen war, dann ihm der Kopf und alle Glieder schlotterten.
____________
Wer sich selbst erhöhet, der soll erniedriget werden, und wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden41. In diesen Worten ist jenes fundamentale (kosmologische) Prinzip formuliert, das
dafür Sorge trägt, daß jede Abweichung des Umlaufs vom Idealkreis stets und exakt kompensiert wird, und dadurch die Rückkehr zum Ursprung gewährleistet, - ein Gesetz also,
das ideal geeignet ist, in Tönen dargestellt zu werden. So sehr sich auch der untere Weg,
von der Wegscheide an, von Kreissektor zu Kreissektor in 3er-Potenzen immer weiter
vom Ursprung entfernte, - der Abstand zum oberen Weg (zum Idealkreis, zu den Kreuzen Cis, Fis...), der ihn wie sein Schatten, sein zweites Ich, begleitet, blieb doch stets derselbe: ein pythagoreisches Komma. Mittels des Gesetzes der Identität (der Oktavtöne) erzwingt dieses Fundamentalprinzip (der Spiegelsymmetrie) somit das Paradoxon: daß auch der falsche
Weg - der Weg immer weiter weg vom Ursprung, in die falsche Richtung – dem Ursprung immer näher bringt, - ohne diesen allerdings je erreichen zu lassen. Das Abweichen vom Idealkreis ist eben kein Abweichen in ein absolutes Nichts, sondern stellt eine
Verzerrung, Abirrung42, ein falsches oder Negativbild (eine ‚enharmonische Verwechslung‘) bezüglich des Idealkreises dar. So sehr auch das Negative dieser Abweichung durch jeden
41
42
Mat. 23, 12
SOPHISTES 228 c
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
45
Schritt, mit dem sich der Abstand vom Ursprung vergrößert, wächst, - immer bleibt nur
ein, wenn auch mit Anstrengung, Selbstüberwindung und großen Schmerzen für den Betroffenen verbundener, Sprung – eine Art spiegelsymmetrischer Seitenverkehrung (Reflexion) nötig, um den (eigenen) entscheidenden Irrtum zu erkennen und sich augenblicklich auf
der richtigen (tonalen/harmonischen) Stelle zu befinden.
Sinnbildhaft vorgeführt hat Bach dieses fundamentale musikalische wie kosmologische
‚Vertikal-Gesetz‘ anhand der 12 Contrapuncti des Super-Contrapunctus, repräsentiert wird
es durch die beiden Spiegelfugen. Die ‚Horizontalgesetze‘, die den Ablauf innerhalb des
durch dieses Symmetriegesetz geregelten tonalen-harmonischen Rahmens bestimmen, hat
Bach in den vier Canons niedergelegt (siehe Figuren 14 bis 17).
Figur 14 bis 17 Die 4 Canons als die ‚Horizontalgesetze‘ des Kreislaufs
46
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
Es werden also 4 Umläufe – entsprechend diesen vier Canons – zu einer Umlauffolge
zusammengefaßt. Wie diese Umlauffolge – also demgemäß auch die Reihenfolge der Canons, die diese Umläufe regieren – aussieht, läßt sich wiederum in Verbindung mit den
Spiegelfugen, insbesondere der 4-stimmigen, ermitteln. Die 16- (17-) taktige Exposition
der 4-stimmigen Spiegelfuge liefert – recto und inverso – das Grundmuster für die Urexposition des Themas und bietet – im Zusammenhang mit den auf- und absteigenden Partien (je
zwei) des Urthemas – dabei gleichzeitig die Grundlage für die Umlauffolgen (siehe S. 47).
Diese Entsprechungen zwischen Spiegelfuge und den 4 Canons zeigen, daß es zwei
solcher Umlauffolgen (4er-Folgen) gibt, die sich hinsichtlich der Reihenfolge der beiden
mittleren Kreislauftypen – entsprechend der Reihenfolge Terzcanon-Quintcanon – unterscheiden (siehe S. 47).
In welchen dieser vier Umläufe (als den gegenwärtigen) und welche der zwei Umlauffolgen wir uns quasi einschalten, wenn wir das Werk spielen bzw. hören, - dazu gibt Bach
Hinweise: Es sind genau
84
Takte, die ein jeder der Canons jeweils durchmessen hat, sobald er von vorn beginnt und
das neu einsetzende Thema gerade erklungen ist43 (diese Art der Ausmessung entspricht
der des Gesamtumlaufs, der erst dann vollendet ist, wenn das Urthema am Ende von
Contrapunctus 12, nach 12 × 84 Takten, gerade wieder erschienen ist).
Dieser 84-Takte-Durchlauf (analog zu den 12 × 84 Takten des Zyklus’ und entsprechend den 7 Oktaven = 84 Halbtonstufen eines Quintenzirkels) gilt also für jeden der
Canons, - mit Ausnahme des Terzcanons: Wenn man bei diesem die Nahtstelle gefunden
hat und das wieder bei Neubeginn einsetzende Thema erklungen ist, sind es nicht 84,
sondern 86 Takte. – Damit gibt Bach zu verstehen, daß, wenn wir (gegenwärtig) in den
Kreis – spielend bzw. hörend – ‚eintreten‘ – was ja nur durch den 1032er-Umlauf möglich
ist -, wir uns damit in jenen Umlauf eingeschaltet haben, dem der Terzcanon entspricht
(1032 = 12 × 86).
Daß Bach den zu diesen 4er-Folgen gehörenden Quartcanon (CANON in
Hypodiatessaron (A)1, siehe Nomenklatur S. 10) nicht mit in den Originaldruck aufgenommen
hat44, ist Signum, daß der durch ihn repräsentierte Kreis noch nicht durchlaufen ist. – Aus
allem folgt, daß es sich bei der gesuchten Kreislauffolge um die Umlauffolge 1 (siehe S. 47)
handelt.
Das Gesetz der SPIEGELFUGEN regiert – wie dargelegt – durch sein Prinzip (des
spiegelsymmetrischen Ausgleichs) den gesamten Zyklus. Darüber hinaus stehen beide Spiegelfugen in besonderem Verhältnis zu den 7 Contrapuncti des ‚Tagbereichs‘. Dieses Verhältnis zeigt sich schon äußerlich:
4-stimmige Spiegelfuge : 4 einfache Fugen
3-stimmige Spiegelfuge : 3 Gegenfugen
Als für die Contrapuncti 5, 6 und 7 maßgebendes Gesetz teilt die 3-stimmige Spiegelfuge
mit diesen den punktierten Rhythmus und das Prinzip der Gegenthematik.
Die folgenden taktanzahlmäßigen Proportionen unterstreichen noch einmal die ‚prinzipielle‘ Bedeutung der Spiegelfugen für die Strukturierung und Proportionierung des
Kreislaufs.
43
Beim Oktavcanon und beim Quartcanon schließt das 4-taktige Thema (also ohne die letzte Note) mit dem
84. Takt. Beim Quintcanon (bei dem das Thema (ohne Endnote) 8 Takte umfaßt) ist es etwas anders: Hier
liegt die Endnote A im 84. Takt. Beim Quartcanon gilt Taktanzahlverdopplung (durch Takthalbierung).
44
Die 109-Takte-Fassung dieses Kanons, die sich im Originaldruck befindet und die üblicherweise gespielte
ist, gehört nicht zum 12er-Zyklus (siehe unten, Teil IV).
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
47
48
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
SPIEGELFUGE a 4 (A)
56 T.
SPIEGELFUGE a 3 (A)1
72 T.
(mit Auftakt)
=
=
2 × 28
2 × 36
28 × 36
=
1008
56 × 72
=
4032
=
48 × 84
(eine Umlauffolge von 4 Umläufen,
entsprechend den vier Canons)
Wenn wir die beiden Spiegelfugen zeitmäßig vergleichen und sie zu diesem Zweck auf
einen gemeinsamen zeitlichen Nenner bringen, d. h. sie in ihrem zeitlichen Ausmaßen aufeinander beziehen, so ergeben sich folgende Proportionen:
SPIEGELFUGE a 4 (A)
56 T.
SPIEGELFUGE a 3 (A)1
60 T.
(Auftakt bis Pause)
¾ -Takt
¾ × 56
2/4 -Takt
× 60
=
30
=
2/4
=
42
=
7:5
(Tag : Nacht)
7 Fugen
42 × 2 (rectus + inversus)
=
84
7 × 84
=
588
5 Fugen
30 × 2 (rectus + inversus)
=
60
5 × 60
=
300
888
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
49
Das regulär auftretende und in seinen Ausmaßen regulär gebildete Hauptthema (Urthema
und verändertes ‚Ur’thema)45 erscheint im repräsentativen, einführenden 1032er-Umlauf
86 mal recto
und
86 mal inverso.
Siehe dazu folgende Tabelle:
rectus
Contrapunctus 1
Contrapunctus 2
Contrapunctus 3
Contrapunctus 4
Contrapunctus 5
Contrapunctus 6
Contrapunctus 7
Contrapunctus 8
Contrapunctus 9
Contrapunctus 10
Contrapunctus 11
Contrapunctus 12
insgesamt:
11
13
11
15
16
inversus
24
42
7
16
11
14
12
8
23
12
6
26
37
7
20
12
1
86
86
24 × 42 = 100846
24 × 37 = 888
Im eigentlichen, im 1008er-Umlauf, tritt das Hauptthema
84 mal recto
und
86 mal inverso
auf. Das sind zusammen
170 = 2 × 85
Themenauftritte.
Ein nach Zahl, Maß und Gewicht geordnetes und proportioniertes Ganzes wie dieses
einmalige Werk ist natürlich (auch) in seinen ‚äußeren‘, mathematischen Strukturen unerschöpflich. Als ein vollkommener, von den Gesetzen des gerechten und harmonischen
Ausgleichs regierter ist dieser Zyklus in allen seinen Teilen mit sich verbunden: 1008 Takte, das sind zwei Zahlenpaare, jedes bestehend aus den zwei ersten sogenannten befreundeten
Zahlen (numeri amici):
45
Nicht berücksichtigt bei dieser Zählung sind also alle jene Hauptthema-Varianten, deren Gestalt (noch)
nicht voll ausgeprägt ist (sich noch in der Entwicklung befindet) oder nur fragmentarischen Charakters ist.
46
Zur bedeutung jener Zahlen, die den Faktor 37 enthalten, siehe unten, Exkurs.
50
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
1008 =
220 + 284
+
+
284 + 220
______________
504
+
504
Hinsichtlich der Taktanzahlen der 12 Contrapuncti führt dies zu folgenden vier Paarbildungen (Befreundungen):
Contrapunctus 1(A)
Contrapunctus 5(A)
Contrapunctus 12(A)
504 Contrapunctus 6(A)
Contrapunctus 10(A)
Contrapunctus 11(A)
Contrapunctus 2(A)
Contrapunctus 3
Contrapunctus 4
504 Contrapunctus 7(A)
Contrapunctus 8(A)
Contrapunctus 9(A)
74
90
120
79
49
92
74
72
138
61
94
65
284
220
284
220
Begrenzt man diese (insgesamt 4-fache) Befreundung nicht durch die einzelnen Abmessungen der Fugen, sondern teilt den 1008er-Zyklus nach den zwei Zahlenpaaren in 4
entsprechende Quadranten auf, und zwar so, daß die eine Diagonale dieses Quadranten
durch den Tages- und Nachtmittelpunkt des Zyklus’ verläuft, so stellt man fest, daß sich
nicht nur (wie schon auf Seite 37 hingewiesen) an den zwei Schnittstellen der Vertikalachse jeweils ein thematisches A befindet, sondern auch an den Schnittstellen der Horizontalachse des den Kreis aufteilenden ‚Befreundungskreuzes‘ (siehe Figur 18).
Figur 18 Die 4 thematischen A’s an den 4 Schnittstellen des den Kreis
aufteilenden ‚Befreundungskreuzes‘
GANG DURCH DEN 12er-ZYKLUS
51
Selbstredend hat Bach diesen Zyklus auch real-zeitlich, also hinsichtlich seiner Spielbzw. Aufführungsdauer, nach entsprechenden Idealzahlen ausgemessen:
12er -ZYKLUS
Tagbereich
30 Minuten
Nachtbereich
30 Minuten
60 Minuten =
insgesamt:
3600 Sekunden (Kreiszahl)
GESETZE DES ZYKLUS’
4 Canons
4 × 3 = 12 Minuten
Spiegelfuge a 4
2 × 3 = 6 Minuten
Spiegelfuge a 3
2 × 3 = 6 Minuten
24 Minuten =
insgesamt:
1440 Sekunden
ZYKLUS + GESETZE
60 + 24 = 84 Minuten =
5040 Sekunden =
2840 + 2200
Für die Aufführung des 12er-Zyklus’ bieten sich nach Durchlauf des 1032-taktigen
Einführungskreises alternativ zwei – auch taktzahlmäßig – sinnvolle Schlüsse an:
Entweder: Finis mit Schlußtakt von Contrapunctus 2, aber in der 84-taktigen Version des Originaldrucks:
1032 + (84 − 4 (überlappte)) = 1112 Takte
Zählt man den sonst doppelt gezählten letzten Takt von Contrapunctus 12 einfach und den
Finistakt – als Ende – für sich, so rundet sich der Kreis zur Zahl
1110 = 30 × 37 47.
Oder: Finis mit (6-stimmigen) Schlußtakt von Contrapunctus 5(A). Auch hier ergeben sich
sinnvolle Taktmaße (die letztlich unterstreichen, daß auch dieser Schluß von Bach gewollt
ist):
1032 +
Contrapunctus 2(A): 74 +
Contrapunctus 1(A): 74 +
Contrapunctus 3: 72 +
Contrapunctus 4: 138 +
Contrapunctus 5(A): 90 =
1480 = 40 × 37
Der Charakter beider Schlüsse entspricht dem Sinn: Sie entlassen den Hörer mit der
Empfindung, daß sich der Kreis zwar zu einem harmonischen Ganzen geschlossen hat,
mit der Rückkehr aber bereits ein neuer Umlauf betreten (und z. T. durchschritten) wurde.
47
Zur besonderen Bedeutung der Zahl 37 siehe unten, Exkurs.
52
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
EXKURS
E
XKURS als Bezeichnung für den folgenden Abschnitt ist insofern etwas ungewöhnlich, als es sich bei diesen Ausführungen um die Darlegung dessen handelt, auf das
sich alles Vorhergehende (Teil I, II und III) und alles Nachfolgende (Teil IV) gründet: Das
musikalisch-kosmologische (tonale) Maß- und Ordnungssystem Bachs.
Eigentlich hätte dieser Teil – als eigenes, großes Kapitel – an den Anfang gestellt
werden müssen. Damit hätten sich aber die Gewichte verlagert; das Thema dieses Aufsatzes: Bachs Kunst der Fuge stünde nicht mehr so absolut im Mittelpunkt – und aus dem Aufsatz wäre eine umfangreiche Abhandlung geworden, - die zu schreiben ich gegenwärtig
(wegen Zeitmangels) nicht in der Lage bin (siehe Nachwort). Da ich aber dem Leser hier
die Grundlagen doch nicht vorenthalten will, bleibt nur übrig, ihm eine Einführung in
dieses Maß-und Ordnungssystem Bachs in allerknappster – und leider auch oberflächlicher –
Form48 als eingeschobenen Exkurs zu bieten.
Der Systematiker, Denker und Komponist Bach leitet sein musikalischkosmologisches (tonales) System, das den musikalischen Strukturen seiner Kompositionen letztlich zugrunde liegt und in welchem er das gesamte tonale Dur-/moll-System – als
das System der Musik – verankert sieht, im wesentlichen aus jenen zwei Schriften her, von
denen neben der Theologie und Philosophie auch die (deutsche) Musiktheorie (bis zum Barock)
maßgeblich bestimmt wurde: der Bibel und dem TIMAIOS.
Der göttliche Demiurg des TIMAIOS erschafft (metaphorisch) ein kosmologisches Gebilde – die Weltseele (Anima Mundi) oder den Geist Gottes (Spiritus Dei) -, das in seiner Struktur
musikalisch ist: Aus der Mixtur der drei Grundideen (ideae irresolubiles) – der Idee des Selben (idem
oder Identitas), der Idee des Seienden (Essentia) und der Idee des Verschiedenen (diversi bzw.
Diversitas) – formt er - mittels der goldenen Proportion
x+ y
2 xy
=
:y
2
x+ y
- jenes Lambda49, das durch unzählige Besprechungen, nicht nur in philosophischen, sondern
auch naturwissenschaftlich- wie musikwissensschaftlich-historischen Büchern, in über zwei Jahrtausenden ‚berühmt‘ -, aber gleichwohl bis jetzt weder in seiner Struktur noch in seiner
Bedeutung verstanden wurde (siehe Figur 19 auf S. 53)50.
Die Versuche vieler – auch antiker – Interpreten, die Glieder dieser Doppelreihe von
Intervallen bzw. Tönen in einer einzigen Tonleiter unterzubringen und (bei entsprechender
Streichung doppelt vorkommender Töne) auf die Gesamtzahl von 36 Tönen zu kommen,
gehen fehl: Das Gebilde ist so, wie es die Figur 19 zeigt, in seiner proportionalen Struktur
und seiner Anzahl, ‚kosmologisch korrekt‘. Es besteht also aus genau 37 Mischungen und begründet diese fundamentale kosmologische Maßzahl (nach dem lateinischen ‚Zahlenalphabet‘ –
einfach durchgezählt – entspricht das Lambda dem Christusmonogramm).
Im TIMAIOS wird nichts über die innere Struktur jeder dieser 37 Mischungen gesagt (es
wird lediglich erwähnt, daß jede aus den 3 Grundideen besteht). – Will man Näheres über
x:
48
Zur ausführlichen, systematischen Darlegung siehe CHYRON, Principia Logica.
TIMAIOS, 35a ff.
50
Selbstverständlich sind die gemäß TIMAIOS, 36 b auszufüllenden Quarten symmetrisch, d. h. phrygisch, und
nicht dorisch auszufüllen.
49
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
53
diese innere Struktur der 37 Mischungen (‚Töne‘) erfahren, so hilft eine Stelle aus dem Alten Testament weiter:
288 Sänger
läßt König David zum ‚Gottesdienst‘ im Tempel antreten, und diese 288 Stimmen ergeben eine
Stimme, einen Ton51. Nimmt man dies als Hinweis auf die gesuchte Struktur jeder der 37
Mischungen (‚Töne‘), so ist damit ihr Umfang festgelegt: Jede der 37 Mischungen (‚Töne‘) besteht aus einer Idealstruktur von 288 ( = 2 × 144) ‚Unter-/Obertönen‘.
1
3
2
9
32
27
27
16
4
3
2
16
9
27
16
2
16
9
2
3
9
9
2
64
27
81
16
8
3
16
3
3
27
8
6
9
27
2
243
16
16
18
27
P
15
32
9
P
I
XI
37
4
9
2
128
27
16
3
6
27
4
9
8
X
22
Figur 19 Das Lambda der Weltseele
Der Aufbau dieser 288-Idealstruktur erfolgt selbstverständlich wieder – analog der Aufteilung der 37 – mittels der goldenen Proportion: Analog zum Aufbau des Lambdas werden –
quasi auf Mikroebene – zwischen ‚Grundton‘ (1) und ‚Oktave‘ (1/2 bzw. 2/1) und zwischen
‚Grundton‘ (1) und ‚Oktavquinte‘ (1/3 bzw. 3/1) die Mittel der goldenen Proportion, also ‚Quinte‘
und ‚Quarte‘ bzw. ‚Quinte‘ und ‚Oktave‘, gebildet (siehe Figur 20, S. 54).
51
1. Chr., 25,7 bzw. 2. Chr., 5,13
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
54
1
2
3
1
2
1
3
1
2
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3
1
3
2
2
3 2
3
2
1
Figur 20 Die 24er- (25er-)Sequenz der 37 Einzelmischungen
(12 solcher Sequenzen ergeben jeweils die Gesamtstruktur jeder Einzelmischung:
die 288er- (289er-)Struktur.)
Die auf diese Weise entstehende ideale 24er- (25er-) ‚Unter-/Obertonsequenz‘, 12 mal wiederholt52, ergibt 144 ideale ‚Ober‘- und 144 ideale ‚Untertöne‘, symmetrisch geschieden durch den
‚Zentralton‘ (1) im Zentrum, zusammen
288 ( = 2 × 122 ) bzw. 289 ( = 172 )
53
‚Einzeltöne‘ .
Mit diesem Ergebnis können wir jetzt auch die übrigen Angaben zum Gesamtaufbau
und zur Anordnung der Weltseele richtig interpretieren: Da jede der 37 idealen ‚Unter‘-/‘Obertöne-Mischungen‘ ‚länger‘ (288 !) ist als die Anzahl dieser Mischungen (37 !) selbst –
da also das Ganze (wenn man es sich als ein Rechteck 37 × 288 vorstellt) 288 bzw. 289
Einheiten ‚lang‘ und 37 Einheiten ‚breit‘ ist -, so bedeutet die Angabe im Text54, die gesamte Systasis der Länge nach zu teilen, keine (wie bisher angenommen wurde) Teilung quer
durch alle 37 Mischungen, sondern besagt: Scheidung der 37 288er-/289er-Mischungen in zwei
Hauptteile der Weltseele, und zwar – wie dann weiter der Text ausführt55 - in einen in sich
sechsfach unterteilten ( 7 Teile umfassenden) Kreis des Verschiedenen (bestehend aus einer Anzahl
solcher 288er-/ 289er-Mischungen) und einen in sich ungeteilten Kreis des Selben (bestehend
aus den übrigen 288er-/ 289er-Mischungen).
Die astronomischen Daten (Planetenbahnen, Zodiakos) dieses kosmologischen Modells sind als rein metaphorische (symbolische) Einkleidungen (Verkleidungen) zu verstehen. Alle
Interpreten, die diese Angaben wörtlich genommen haben – und meines Wissens sind es
tatsächlich alle (!) -, kennen offenbar ‚ihren‘ Platon nicht56
Mit den 37 288er-/ 289er-Mischungen (‚Tönen‘) ist die Weltseele (Anima Mundi, Spiritus
Dei) aber noch nicht vollständig. Die 37 stellen nur den obersten, den vernünftigen Teil (das
Denkvermögen) der Weltseele dar – vergleichbar der Baßstimme in einem Tonsatz. Wie der
Tonsatz aber erst mit allen 4 Stimmen –
Baß - Tenor - Alt - Sopran
komplett ist, so ergeben auch in der Seele erst 4 Teile ein vollständiges Ganzes57. Die vollständige Weltseele umfaßt also
4 × 37 = 148
288er-/ 289er-Mischungen (‚Töne‘), jeder der 37 ‚Seelen-Baßtöne‘ hat also (‚neben‘ oder ‚unter‘ sich) einen ‚Seelen-Tenor‘, einen ‚Seelen-Alt‘ und einen ‚Seelen-Sopran‘. Selbstverständlich
52
Zur Begründung für diese 12-malige Wiederholung siehe CHYRON, Principia Logica.
Jede dieser 288 bzw. 289 ‚Ober‘-/‘Untertöne‘ dieser Urmonade besteht selbst aus einer ganz spezifischen
proportionalen (harmonischen, - symmetrischen /asymmetrischen) Grundmischung der 3 Grundideen (Einheit der Gegensätze). Vgl. CHYRON, Principia Logica.
54
TIMAIOS, 36 b
55
TIMAIOS, 36 c
56
Siehe z. B. POLITEIA, 529 d7 f.
57
Daß die Mischung noch nicht vollständig ist, sagt TIMAIOS, 39 e.
53
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
55
ist das jeweilige Verhältnis dieser 458 Töne zueinander – d. h. das Verhältnis der 4 Seelenteile –
wieder vollkommen harmonisch, also nach der goldenen Proportion, gewichtet:
Baß : Tenor : Alt : Sopran
½
1 : 2/3 :
: 1/3
Dieses proportionale Verhältnis verweist auf die idealen Stimmlagen in einem vierstimmigen
Satz bzw. auf das Verhältnis der Themeneinsatzpunkte in einer regulären Fugenexposition (als ein
Grundprinzip Bachscher Fugen; vgl. S. 36):
Tonika : Dominante : Oktave : Oktavdominante
Für das im TIMAIOS beschriebene und hier interpretierte kosmologische Gebilde – das
universale Denk- und Seelenvermögen, in dem jedes individuelle Denk- und Seelenvermögen
(mit)enthalten59 ist und das in seiner Struktur die Grundlage für alles Seiende bildet – kennt auch
das Alte Testament das entsprechende Symbol: In Ezechiels Vision60 präsentiert sich Jahwe auf
seinem Thronwagen, bei dessen Rädern (je zwei Räder drehen sich – ‚ekliptisch‘ – ineinander)
jeweils ein ‚vierteiliges‘ Wesen
Mensch - Adler - Löwe - Rind
erscheint. Diese vier Cherubgestalten dieses ‚vierteiligen‘ Wesens versinnbildlichen – in der typischen Symbolik des Alten Testaments – eben jene vier Seelenteile der Weltseele, wie sie im
TIMAIOS und in der POLITEIA geschildert und erörtert sind.
Auch die Maßzahlen, die sich aus diesem hier gewonnenen Aufbau des kosmologischen Gebildes und aus dessen Proportionen ergeben haben, sprechen eine klare, unmißverständliche Sprache: Das gesamte Gefüge umfaßt – wie oben dargelegt – 4 × 37 = 148
288er-/ 289er-Mischungen (‚Töne‘). Wenn man die 12 × 24 = 288 idealen ‚Ober‘-/ ‚Untertöne‘ jeder dieser 148 Mischungen (‚Gesamttöne‘) in die Rechnung mit einbezieht, so
führt das zu folgenden äußerst bemerkenswerten ‚zahlenalphabetischen‘ Übereinstimmungen:
148
(4
288 = 48
I N R I
37 )
9
13
17
888
( 24
37 )
200
70
9
48
P
XII
15
600 100
10 200 300
1480
58
70
200
22
37
288
10
8
400
200
888
Die POLITEIA nennt ausdrücklich nur drei Seelenteile, spielt aber in 443 d/e – musikalisch-symbolisch – auf
einen vierten an. – TIMAIOS, 17a ff. betont das Fehlen des vierten Gesprächsteilnehmers.
59
TIMAIOS, 30d ff.
60
Ez. 1, 4 ff.
56
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
Eines wird hier auch deutlich: Wenn man davon ausgeht, daß Bach mit diesen kosmologischen Strukturen (des TIMAIOS und der anderen Schriften) vertraut und von deren
Wahrheit überzeugt war, dann hat das Auftreten dieser aus diesen Strukturen sich ergebenden und abgeleiteten Zahlen in seinem Werk nichts zu tun mit Zahlensymbolik,
Numerologie, Zahlenallegorie und dgl. (so etwas sollte man einem Bach auch nicht unterstellen61). Denn die numerologische, zahlensymbolische Bedeutung einer bestimmten Zahl beruht
auf einer – zufälligen – ‚zahlenalphabetisch‘ vermittelten ‚Übereinstimmung‘ zwischen
dieser Zahl und einem Begriff, - während sich hier die Zahl unmittelbar in der (kosmologischen) Struktur (auf die dieser Begriff hinweist) begründet und die ‚zahlenalphabetische‘
‚Übereinstimmung‘ nur eine – wenn auch bemerkenswerte und denkwürdige – Begleiterscheinung darstellt.
Durch die in der POLITEIA anzutreffende Definition der gerechten Seele, durch die Unterscheidung zwischen harmonischer (gesunder) und disharmonischer (kranker) Seele und durch
die kosmologisch-musikalische Analogie sah Bach ein weiteres – für ihn absolut verbindliches – fundamentales Kompositionsprinzip bestätigt: Wie in der Seele nur dann Harmonie
(Gerechtigkeit oder überhaupt Tugend) verwirklicht ist, wenn der vernünftige Teil (Denkvermögen) der Seele regiert und sich diesem die anderen Teile (Vorstellungen, Empfindungen
und Gefühle) freiwillig unterordnen, so hat auch im Tonsatz – als musikalisches Spiegelbild der
Seele, des Gemüts – der die Vernunft (den Logos) symbolisierende Baß das Regiment innezuhaben haben und sich jede der anderen Stimmen dessen Führung anzuvertrauen. (Ich
hatte auf diesen kosmologisch-musikalischen Konnex schon im Zusammenhang mit
Contrapunctus 3 der Kunst der Fuge (S. 26) hingewiesen). Wo dies nicht oder nicht in der richtigen Weise – d. h. letztlich: nicht im Dienste der Tugend (zur Ehre Gottes) – erfolgt, da ists
keine eigentliche Music sondern ein Teuflisches Geplerr und Geleyer.
Der TIMAIOS sagt nichts darüber, ob die 37 bzw. die sich mittels der goldenen Proportion
ergebenden 148 Proportionszahlen (also ‚Töne‘, wenn man von einem Grundton (1) ausgeht) als Proportionen von Tonfrequenzen oder von Saitenlängen aufzufassen sind. Das ist
konsequent. Denn für das kosmologische Modell der Weltseele ist diese Unterscheidung irrelevant, da seine Proportionen rein geistige (abstrakte) Strukturen betreffen. Erst insofern
man dieses kosmologische Modell unter dem – seinen zahlenmäßigen Proportionen innewohnenden – musikalischen Aspekt sieht, gewinnt diese Unterscheidung Relevanz. D. h.:
Musikalisch interpretiert, hat dieses kosmologische Gebilde neben seinem primären, nach
Saitenlängen proportionierten Original (Baßtöne als größte Proportionszahlen, Soprantöne
als kleinste) ein exaktes, nach Frequenzzahlen proportioniertes Spiegelbild. In Figur 21 (S. 57)
sind beide, Original und Spiegelbild, in Noten abgebildet.
In dieser doppelten, symmetrischen musikalischen Erscheinungsform stellt das kosmologische Modell der Weltseele, nicht nur in seinen – oben ansatzweise beschriebenen –
ordnungsmäßigen, strukturhaften, sondern auch in seinen tonalen Beziehungen, die absolute
Grundlage sowohl für das (musikalische) Denken Bachs als auch – unreflektiert – für die
gesamte abendländische Musikentwicklung dar: Es erweist sich in seiner Struktur genau
als jenes System, zu dem jene Entwicklung am Ende geführt hat.
61
Diese Unterstellung geht in der Regel noch viel weiter: Nach der (‚inoffiziellen‘) Meinung vieler Autoren,
die überall und bei jeder (ihnen passenden) Gelegenheit (und obwohl sie sich ‚ansonsten‘ von dergleichen
unseriösen Spielereien ausdrücklich distanzieren) die einschlägigen Bachnamenszahlen 14 und 41 in seinen
Werken ‚vorfinden‘, muß Bach offenbar – entgegen den Aussagen seiner Söhne – ein eitler Narr gewesen
sein.
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
B
H
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FIS CIS
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57
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RECTUS
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D
G
D
B ES
C
F
D
D
FIS
Figur 21 Die beiden musikalischen (symmetrischen) Erscheinungsformen der Weltseele
Als die Basisstruktur des pythagoreischen Systems enthält es alle Töne der Oktave,
mit Ausnahme des dem Tritonus entsprechenden mittleren Tons, also 11 Töne (bzw. 11
Intervalle). Es ist somit Grundmuster für den durch das Urthema der Kunst der Fuge verkörperten idealen Quinten-/Quartenzirkel:
ES
B
F
C
G
D
A
E
H
FIS
CIS
Diese musikalische Recto-Inverso-Ausprägung der Weltseele begründet auch die Struktur
der Tongeschlechter (Tonleitern), d. h. beantwortet die Frage, welche Leitern als für das System
der Musik allgemein als grundlegend und verbindlich anzusehen sind und in welchem symmetrisch-spiegelbildlichen – alternativen – Verhältnis diese zueinander stehen: Aus der vollkommenen, phrygischen Tonleiter (siehe S. 58), die in beiden Ausprägungen der Weltseele (Recto (R)
und Inverso (I)) dieselbe bleibt, entstehen – durch die erniedrigenden Töne B und ES und
den erhöhenden Ton FIS in dem einen System (Original (Recto)), durch die erhöhenden
Töne FIS und CIS und den erniedrigenden Ton B im anderen (Spiegelbild (Inverso)) – insge-
58
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
samt 4 Tonleitern, je zwei als Paar spiegelbildlich aufeinander bezogen, - die sowohl absteigend als auch aufsteigend gelesen werden können. In Figur 22 (S. 59), oberer Teil, sind
diese zwei Paare mit ihren jeweils dazu gehörigen (vereinfacht dargestellten) Ausprägungen
der Weltseele veranschaulicht. Zwei von diesen vier Leitern sind unsere Dur- bzw.moll-Tonleiter. Das in diesem kosmologischen Modell gleichberechtigte Existieren der zwei
anderen – spiegelbildlichen – legt den Gedanken nahe, daß sich diese 4 Leitern, d. h. bestimmte Zweierkombinationen von ihnen, historisch abwechseln.

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Die oben (auf S. 57) abgebildete musikalische Recto-Inverso-Darstellung des kosmologischen Weltseelenmodells war noch nicht völlig korrekt wiedergegeben. Denn sie ließ
noch unberücksichtigt, daß jede der 148 Proportionszahlen (Mischungen) mit dem Faktor
¼ zu multiplizieren62 ist., um den jeweiligen exakten ‚Weltseelenton‘ zu erhalten. Wenn wir
dies jetzt nachholen, so entsteht jenes symmetrisch ineinandergreifende Tongebilde in
Figur 22 (S. 59). Die darunter zum Vergleich notierten Strukturen von Original und Spiegelbild des Urthemas der Kunst der Fuge illustrieren, daß die beiden durch die
Ineinanderverschränkung neu entstandenen, symmetrischen Wellenlinienfiguren (oder
Zickzacklinien) den (übereinandergelegten) Gestalten des Urthemas gleichen. Im Zusammenhang mit den 4 Canons des 12er-Zyklus’ der Kunst der Fuge, von denen jeder für den
jeweiligen historischen Kreislauf, dessen Gesetz er darstellt, steht (siehe oben, Teil III),
und unter der Voraussetzung, daß bei diesem Weltseelengebilde (dem die beiden Gestalten des Urthemas, symmetrisch übereinandergelegt, entsprechen63) jeweils die absteigende
Tonfolge ‚absteigende Tonleiter‘ bedeutet und die aufsteigende Tonfolge ‚aufsteigende Tonleiter‘,
führt dies dazu, daß die zwei Tonleiterpaare (die sich aus der musikalischen RectoInverso-Ausprägung der Weltseele ergeben haben) in der auf Seite 60 abgebildeten 2-fachen Reihenfolge - abwechselnd absteigend und aufsteigend – historisch auftreten. – Zwei Tonleitern
sind es also stets (nach dieser Zuordnung), die für die Musik einer Weltperiode (eines
12er-Umlaufs) maßgebend sind. Ich kenne, sagte ich, die Tonarten nicht; aber lasse mir jene Tonart
übrig, welche dessen Töne und Silbenmaße angemessen darstellt, der sich in kriegerischen Verrichtungen
und in allen gewalttätigen Zuständen tapfer beweist, und der auch, wenn es mißlingt oder wenn er in
Wunden und Tod geht oder sonst von einem Unglück befallen wird, in dem allen wohlgerüstet und ausharrend sein Schicksal besteht. Und noch eine andere für den, der sich in friedlicher und nicht gewaltsamer, sondern gemächlicher Tätigkeit befindet, sei es, daß er einen andern wozu überredet und erbittet,
durch Flehen Gott oder durch Belehrung und Ermahnung Menschen, sei es im Gegenteil, daß er selbst
einem andern Bittenden oder Belehrenden und Umstimmenden stillhält und demgemäß vernünftig handelt
und nicht hochfahrend sich beweist, sondern besonnen und gemäßigt in alledem sich beträgt und mit dem
Ausgang zufrieden ist. Diese beiden Tonarten , eine gewaltige und eine gemächliche, welche der Unglücklichen und Glücklichen, der Besonnenen und Tapferen Töne am schönsten nachahmen werden, diese lasse
mir.64
62
Zur Begründung für dieses Verfahren siehe CHYRON, Principia Logica.
Diese Entsprechung ist sehr deutlich: Nicht nur in seiner ‚grafischen‘ Gestalt sind die beiden (übereinandergelegten) Formen des Urthemas der kosmologischen Figur nachgebildet, sondern auch intervallmäßig: Die linke
Seite (der Beginn) steigt in Quinte(n) auf bzw. ab, die rechte Seite steigt in Tonleiterschritten auf bzw. ab und
kehrt ebenfalls in Tonleiterschritten zum Ursprungston zurück.
64
POLITEIA, 299 a
63
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
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D


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 


I


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
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
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    
     
     
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   
   
   





D
R




D


   
   
   
   
   
   
   
   
   

   

   
















  
  
  


   
   
   


Figur 22 Das in sich gespiegelte, übereinander gelegte Urthema der Kunst der Fuge als die
ineinander verschränkte ‚musikalische Weltseele‘
60
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
61
Wie ich auf Seite 54 bereits – ansatzweise – ausführte, ist jedem der 288 bzw. 289 idealen
‚Ober‘-/ ‚Untertöne‘ eine bestimmte proportionale Mischung der drei Grundideen (des Selben,
des Seienden und des Verschiedenen) zugeordnet. Das heißt: Der jeweilige ideale ‚Ober‘bzw.‚Unterton‘ resultiert aus einer idealen, symmetrischen (logisch-dialektischen) (Austausch)bewegung
zweier dieser 3 Grundideen. Auf die Einzelheiten – auf das logische System65 - dieses in den
genannten Schriften enthaltenen Modells kann hier nicht näher eingegangen werden. Nur
soviel sei hier gesagt: Die hintereinander ablaufende Folge solcher idealen (logischdialektischen ‚Binär-Bewegungen‘ erzeugt die im TIMAIOS metaphorisch als ‚Planeten‘- bzw.
‚Zodiakosbewegung‘ beschriebenen (verkleideten) Kreisläufe der Weltseele. Jede der 288erbzw. 289er-Mischungen der Weltseele, also jeder der 148 ‚Idealtöne‘, bezeichnet einen
Kreislauf, wobei, wenn man sich das ganze System analog dem astronomischen Modell
der Ekliptik vorstellt, eine bestimmte Anzahl dieser idealen Kreisläufe sich zu einem einheitlichen, in ein und derselben Geschwindigkeit sich herumdrehenden Komplex anordnen –
TIMAIOS nennt ihn Kreis des Selben, als Metapher die ‚Fixsternsphäre‘ - und die restlichen
Kreisläufe sich zu 7, in 5 verschiedenen Schnelligkeiten kreisenden Komplexen formieren –
TIMAIOS nennt diesen Gesamtkomplex Kreis des Verschiedenen, als Metapher die ‚Sphäre der
7 Planeten‘. Das psychische Vermögen (Denken, Vorstellen, Fühlen etc.) wird hier also auf
bestimmte dialektisch-logische (Bewegungs)prozesse zurückgeführt. Und wenn es – in konsequenter Fortführung des astronomischen Bildes – weiter heißt66, daß diese Bewegung der
Kreise die Zeit erzeugt, ist mit diesen, als abstrakte, dialektisch-logische (Bewegungs)prozesse gedeuteten Kreisen der Weltpsyche (die jede Individualpsyche enthält) auch dieses Phänomen
definiert: Jede der innerhalb dieses dialektisch-logischen Prozesses ablaufenden ‚binären‘
Einzelbewegungen stellt ein zeitliches momentum dar – die kleinste Zeiteinheit (den kleinsten
Zeittakt oder das kleinste Zeitmaß), die nicht mehr zu unterschreitende ‚binäre‘ Unterscheidungsschwelle - , aus dessen fortlaufender Folge sich der gesamte Kreislauf – also die Zeit –
zusammensetzt. Die Anzahl dieser Einzelmomente (Einzelbewegungen), die solch einen
Zyklus erfüllen, nennt die POLITEIA vollkommene Zahl (numerus perfectus)67.
Wenn wir dieses Interpretationsergebnis wiederum direkt auf die Ebene der Musik
übertragen, so folgt daraus: Jedem der 4 × 37 = 148 ‚Ganztöne‘ des musikalischen (originalen) Weltseelenmodells entspricht ein (zeitlicher) Zyklus, dessen Umlaufszeit durch den
Zeitwert dieser Note symbolisiert wird und der sich – wie dieser – aus einer festgelegten
(vollkommenen) Anzahl von Einzelmomenten konstituiert (siehe Figur 23).
=
(Gesamtumlaufszeit)
+
+
(Einzelmomente)
Figur 23 Das Verhältnis Gesamtumlaufszeit – Einzelmomente,
tonsymbolisch dargestellt
65
Siehe dazu CHYRON, Principia Logica.
TIMAIOS, 37 d/e
67
POLITEIA, 546 b. Es handelt sich um die 10. vollkommene Zahl: 288 (289− 1) = 191 561 942 608 236 107
294 793 378 084 303 638 130 997 321 548 169 216. Sie umschließt ein vollkommenes Ganzes, so wie die 1.
vollkommene Zahl, die 6, und wird daher durch diese vertreten (6 Schöpfungstage, 6 Kantaten, 6 Suiten, 6 Sonaten etc.).
66
62
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
Damit berühren wir jenen grundlegenden Zyklus des Bachschen Supercontrapunctus:
den 12er-Zyklus. Er stellt – wie in Teil II und III erwähnt – in der hierarchischen Folge der
Zyklen den grundlegenden Kreislauftyp, den Grund- oder Urzyklus dar: sozusagen den ‚Sekundenzeiger der Weltuhr‘. – Der nächsthöhere Zyklus(typ), der 7er-Zyklus (es sind 7 Oktaven,
die bei einem Quintenzirkel durchlaufen werden), ist ein Zyklus von 12er-Zyklen. Die Anzahl
der 12er-Zyklen, die ein 7er-Zyklus enthält, und seine Proportionierung werden wieder durch
die Struktur und die Zahlen des Weltseelenmodells vermittelt: Aus
7 × 37 = 259
12er-Umläufen besteht solch ein 7er-Zyklus (siehe Figur 24).
37
37
37
37
259
37
37
37
Figur 24 Die Proportionierung des 7er-Zyklus
(aus insgesamt 259 12er-Zyklen)
Genau genommen kommt noch 1/5 eines 12er-Umlaufs dazu, so daß er – bei exakter
Proportionierung seiner beiden Hälften – folgende Zahlenstruktur aufweist:
(4 × 37) + (3 × 37) + 1/5 = 259.2
bzw.
(4 × 37) + [(2 × 37) + (1 × 37.2)] = 259.2
Im Zusammenhang mit dem 5er-Zyklus – dem letzten in der Zyklushierarchie – kann der
7er-Zyklus, aufgebaut mittels des Maßsystems der Weltseele, auch folgendermaßen rekonstruiert bzw. vorgestellt werden:
(4 × 37) + (4 × 28) = 260
148(0)
ΧΡΙΣΤΟΣ
112
CHRISTUS
26
JAHWE
(4 × 37 = 148 die gesamte Weltseele)
(4 × 28 = 112 der Kreis des Verschiedenen)
Der 5er-Zyklus (es sind 5 Oktaven, die bei einem Quartenzirkel durchlaufen werden) besteht aus 5 (bzw. aus einer durch 5 teilbaren Anzahl) 7er-Zyklen, die sich auf zwei Arten
einordnen (siehe Figur 25):
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
63
5 × 259.2 = 1296
259.2
259.2
1296
259.2
259.2
259.2
Figur 25 Die Proportionierung des 5er-Zyklus
(aus insgesamt 2N × 5 × 1296 7er-Zyklen)
oder
(4 × 259) + (1 × 260) = 1296
Diese 3 im kosmologischen Modell der Weltseele verankerten Zahlen –
1. 12er-Zyklus: 288 (289− 1) numerus perfectus
2. 7er-Zyklus: 259.2
3. 5er-Zyklus: 2N × 5 × 1296
sind – jedenfalls als Taktanzahlen – für einen musikalischen Gesamtzyklus nicht geeignet
(zu groß oder zu klein). Bach verwendet daher - für Taktanzahlen - die durch 12 und 7
teilbare Kreislaufzahl
1008 = 12 × 84 = 7 × 122 = 28 × 36,
die sich aber gleichfalls aus dem kosmologischen Weltseelenmodell ableitet68.
Damit liegen die meisten der wesentlichsten Maßzahlen bereit, und ich kann mich wieder
Bach zuwenden.
Im folgenden geht es primär darum, zu zeigen, daß praktisch das gesamte Werk Bachs –
sein gesamter ‚musikalischer Kosmos‘ – nach diesen (und davon abgeleiteten) Maßzahlen aufgebaut und strukturiert ist. Dieser Nachweis kann hier natürlich wiederum nur sehr oberflächlich ausfallen, - was aber von seiner Überzeugungskraft nichts nimmt, da es auch bei oberflächlichem Hinsehen in Bachs Tonsätzen von diesen Zahlen nur so ‚wimmelt‘.
Zunächst stellt sich die Frage: Was soll in Bachs Musik überhaupt alles gemessen
werden bzw. nach welcher musikalischen Maßgröße? – Wie sich in Musikstücken zwei Ebenen
unterscheiden und, jede für sich, qualitativ beschreiben lassen – die ‚Mikroebene‘ der Töne,
Intervalle, Themen (Motive) und Rhythmen und die ‚Makroebene‘ der musikalischen
68
Siehe CHYRON, Principia Logica.
64
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
(Satz)formen - , so sind mit dieser Unterscheidung auch bereits die Ansätze für die ‚Messung‘ nahegelegt. Bei einer chorisch instrumentierten Musik wie der Bachs, bei der jede
Stimme im Zusammenhang mit der entsprechenden Instrumentierung symbolische Bedeutung hat (was sich z. B. im Partiturbild jeder Bachschen Kantate niederschlägt), liegt es
nahe, bei der ‚arithmetischen Erfassung‘ der ‚Makroebene‘ nicht nur – rein ‚linear-horizontal‘ – die Anzahl der Takte und deren zeitliches Maß zu berücksichtigen, sondern auch – entsprechend der so klar durchstrukturierten, vertikal gegliederten Partitur –
die Anzahl der (chorisch differenzierten) Stimmen in die Rechnung mit einzubeziehen. Jeder Tonsatz Bachs kann gewissermaßen als in eine bestimmte zweidimensionale (flächige)
‚Raum‘-Zeitmatrix – in ein ‚Raum‘-Zeitraster – eingebettet angesehen werden, deren arithmetische Struktur für den betreffenden Tonsatz jeweils typisch ist.
Das in Bachs Werken am häufigsten vorkommende ‚räumlich‘-zeitliche Raster ist die
288er- (bzw. 144er-) Matrix.
Die ideale Ordnungsstruktur der 288 ‚Ober‘- /‘Untertöne‘ jeder einzelnen der 148 Weltseelenmischungen (siehe oben) nimmt Bach als (‚mikrokosmisches‘) Strukturmodell – also
sozusagen als ‚idealen Ton‘ – und überträgt es auf die ‚Makrostruktur‘ eines Tonsatzes als
dessen Grundraster.
Eine überaus große Anzahl der im 3er-Takt stehenden Sonaten- und Suitensätze
Bachs weist dieses 288er-Grundraster69 auf, meist aufgeteilt in 144 (Teil A) : 144 (Teil B),
z. B. in den Solosuiten:
Teil A : 48 (Takte) × 3 (Viertel) = 144 (Viertel)
Teil B: 48 (Takte) × 3 (Viertel) = 144 (Viertel),
oft aber auch im Verhältnis 288 (Teil A) : 288 (Teil B), z. B. Orgelsonate 1, dritter Satz:
Teil A: 32 (Takte) × 3 (Stimmen) × 3 (Viertel) = 288 (Viertel)
Teil B: 32 (Takte) × 3 (Stimmen) × 3 (Viertel) = 288 (Viertel).
Selbstverständlich liegt dieses Grundraster auch unzähligen vokalen Werken Bachs zugrunde (ich werde darauf anhand einzelner Beispiele noch zurückkommen).
Die an diesen Beispielen exemplifizierte ‚makroskopische‘ Messung Bachscher Tonsätze – immer im Hinblick auf das kosmologische Maßsystem der Weltseele – wird uns in
diesem Exkurs primär beschäftigen. Was die ‚Mikroebene‘ seiner Musik betrifft – die
arithmetische Erfassung musikalischer Einzelstrukturen70 (Themen, Motive) - , so bietet
sich hier ein Meßverfahren an, das – wie die oben besprochene, ‚makroskopische‘ Messung
– sich ebenfalls aus der besonderen Kompositionsweise Bachs und des Barock vermittelt.
Es ist (zumindest) nicht unwahrscheinlich, daß das ‚musikstenografische‘ Verfahren, die gesamte harmonische (‚vertikale‘) Dimension eines Musikstücks mittels Zahlen (Tonstufen, Bezifferung) darzustellen, bei einem so besonderen Genius wie Bach sehr schnell dazu geführt
hat, daß er jedes musikalische Motiv oder Thema, ja überhaupt jede musikalische (tonale
und harmonische ) Struktur automatisch und unmittelbar als Zahlenstruktur begreifen
konnte. – Wenn wir – ähnlich der Bezifferung eines Generalbasses – die 7 Stufen eines Tonsatzes durchnumerieren (Tonika = 1 usw., erhöhte bzw. erniedrigte Stufen (Kreuze und B’s)
lassen die betreffende Stufenzahl unverändert), so ergeben sich z. B für das Urthema und das
69
Dieses Raster ist überhaupt typisch für bestimmte barocke Satzarten.
Das ‚notorische‘ Abzählen der gesamten Tonmenge eines Tonsatzes bedeutet die Vermischung der Mikro- mit
der Makroebene (ist also unsystematisch) und erscheint – wenn überhaupt – nur als zusätzliches Meßverfahren
sinnvoll (und auch nur bei Tonsätzen, die wenige Takte umfassen und eine besonders strenge, gesetzmäßige
Struktur aufweisen, z. B. bei Kanons).
70
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
65
7er-Thema der Kunst der Fuge folgende – im Zusammenhang mit dem kosmologischen
Grundmodell der Weltseele nicht uninteressante – Tonstufenzahlen:
12er-Thema

            
1
5
3
7
1
1
2 3
4 3 2 1
33
N A C H T

T A G
10
10
2 3
443 2
            
1
5
3
1
1
7
17
1
20
37
P
XII
15
22
37


7er-Thema

        
      
1
5
4
3 3
4
5
1
5
26
I N
1
2 33
2
1
5
22
48
R I
Mit diesen zwei Meßmethoden – anhand von einigen Beispielen demonstriert und verifiziert – und mit dem aus dem kosmologischen Gefüge der Weltseele (notdürftig, für die
Zwecke dieses Aufsatzes aber ausreichend) abgeleiteten musikalischen Maßsystem sind
wir bereit für den folgenden, gedrängten – gezwungenermaßen sehr unsystematischen und
oberflächlichen – ‚maßtheoretischen‘ Querschnitt durch Bachs Œuvre.
Beginnen wir (wieder) mit der Kunst der Fuge, - Bach weist im Originaldruck nicht nur
auf den 12er-Zyklus hin: „Contrapunctus in versus 12“, sondern er nennt – ebenso verklausuliert – zwei weitere Titel:
66
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
Damit spielt Bach auf die zwei fundamentalen Kreissysteme an, die wir aus dem Weltseelenmodell (des TIMAIOS) kennengelernt haben: Den Kreis des Selben und den Kreis des Verschiedenen, - jene beiden Sphären der Anima Mundi, deren Drehbewegungen ja erst die einzelnen (zeitlichen) Zyklen (12er-, 7er- und 5er-Zyklus) ergeben. Selbstverständlich sind auch
diese beiden, für alle (zeitlichen) Zyklen maßgebenden Kreissysteme – als die beiden göttlichen
Regenten der Zyklen – in der Kunst der Fuge enthalten (siehe Figuren 26 und 27).
DER KREIS DES SELBEN
ntrapunctus 2
Co 84 T.
ntrapunctus
Co
4
ntrapunctu
Co 78 T. s 1
Co
138 T.
3702
T.
ntrap. 3/3(A
)
72/70
G E S E T Z :
SPIEGELFUGE a 4
Figur 26 Die Contrapuncti 1 bis 4 als Kreis des Selben
(in zwei Varianten:: 370 / 372 Takte)
DER KREIS DES VERSCHIEDENEN
T.
Contrapunc
tu
s
370
61 T
.
7
unctus 7 Con
rap .
tra
t
o n 61 T
T
6
us
79
ct
us 6 Contrap
nct
un
u
p .
79
ntrapunctus 5
Co 90 T.
C
G E S E T Z :
SPIEGELFUGE a 3
Figur 27 Die Contrapuncti 5 bis 7 („Contrapunctur 5“)
als Kreis des Verschiedenen (370 Takte)
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
67
Entsprechend der Gleichmäßigkeit und Einheitlichkeit, mit der sich der Kreis des Selben herumdreht, enthalten die vier Contrapuncti das Thema in nur einer Geschwindigkeit. Der unterteilte Kreis des Verschiedenen dagegen dreht sich in (5) verschiedenen Schnelligkeiten: Demgemäß läßt Bach das Thema in (3) verschiedenen zeitlichen Größen erklingen (3 als Symbol für
viele)71. Aus 3 Contrapuncti stellt er eine „Contrapunctur 5“ zusammen – und gibt dazu auch
den passenden Hinweis:
Damit erinnert er – sinnbildlich – einerseits an die (eigentlich) 5 Geschwindigkeiten, andererseits – im Zusammenhang mit den 5 Tonstufenzahlen des B-A-C-H-(CIS)-Themas, die (wie
‚zufällig‘) genau den Nummern dieser 3 bzw. 5 Contrapuncti entsprechen72 – auf den mit der
Zahl 5 verbundenen stofflich-sinnlichen Bereich (der sogenannten ‚natürlichen‘ Intervalle)), mit
dem der Kreis des Verschiedenen zu tun hat73:
6
B
H
7
C
CIS
5
A
A
7
C
CIS
6
B
H
Die (verklausulierte) vollständige Überschrift für den 12er-Zyklus lautet im Originaldruck:
Genau in Übereinstimmung mit dem oben abgeleiteten kosmologischen Zyklussystem,
aufgrund dessen es 37 12er-Zyklen sind, die – 7 mal wiederholt – den 7er-Zyklus aufbauen, deutet Bach hier auf 37 Umläufe seines 12er-Supercontrapunctus. Da es ja die beiden
Kreislaufsysteme der Weltseele sind, die die Zyklen aufbauen (durchmessen), haben folglich beide
‚Contrapuncturen‘ – als symbolischer Hinweis – 370 Takte. Mittels der 372er-Variante kann
sogar der nächst höhere, der 7er-Zyklus, taktanzahlmäßig exakt aufgebaut werden:
(6 × 370) + (1 × 372) = 2592
Dem 12er-Thema der Kunst der Fuge (dem wahren Paradigma, dem Urthema aller
Bachschen Fugen, wenn man will) liegt nicht nur, wie wir gesehen haben, die Gestalt des
(in musikalischer Ausprägung) in sich verschränkten Weltseelenmodells zugrunde, son71
Das Thema innerhalb eines Satzes in 5 verschiedenen Geschwindigkeiten auftreten zu lassen, wäre praktisch ein sinnloses Unterfangen: Die taktanzahlmäßige Ausdehnung der längsten Themengestalt (32 Takte)
wäre als Ganzes rezeptionell nicht mehr erfaßbar.
72
Indem das B-A-C-H-(CIS)-Thema also gleichsam eine chromatische Vertauschung (Verdrehung) dieser
durch den Kreis des Verschiedenen vorgegebenen richtigen – diatonischen – Reihenfolge darstellt:
BCACB
oder
H CIS A CIS H,
wird symbolisch angedeutet, daß der dem B-A-C-H-(CIS)-Thema entsprechende harte Weg (passus duriusculus)
nichts anderes ist als eine Abweichung (Abirrung) vom richtigen Kreis des Verschiedenen (Abirren vom richtigen Weg).
73
TIMAIOS, 37 b
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
68
dern es repräsentiert – als Urgrund – natürlich auch die 288er-‚Raum‘-Zeitmatrix des ‚Weltseelentons‘. Die kürzeste Note in der Kunst der Fuge ist die 64stel. Wenn wir das Thema in diesen Notenwerten darstellen, so erhalten wir 288 64stel74:
32/64
32/64
32/64
32/64
32/64
16/64
16/64
40/64
8/64
8/64
8/64
32/64
16 16
144
144
288
Das Thema hat also einen (zeitlichen) Umfang von 9 Halben. Jede Halbe besteht aus 32
64steln (9 × 32 = 288). Die 9 Halben enthielten, würde man sie sich als Ganze vorstellen,
pro Ganze 32 32stel. Damit weist Bach auf die 6 Geschwindigkeiten bzw. Zeitrhythmen der
Weltseele hin:
1/32
1/16
1/8
1/2
1/4
(Rhythmus des
schnellsten
Kreislaufs)
1
(Rhythmus des
langsamsten
Kreislaufs)
Drei von diesen 6 Geschwindigkeiten entsprechen den drei taktanzahlmäßigen Ausdehnungen des Themas:
1
2
           
8
4
 


           

 
 

16

 

   
...
32
...
Der langsamste der 6 Kreisläufe vollendet seinen Kreislauf also erst nach
32 × 288 (289− 1)
75
(kleinsten) Zeitmomenten . Die für den 12er-Zyklus erforderliche 12er-Einteilung dieser
binären Zahl ergibt sich wie folgt:
74
Auch die Tonstufenzahlen der 84 Töne in den 6 Takten, in denen das Urthema (wieder)geboren wird, ergeben 288. - Auf die 288er-Matrix bezieht sich schließlich auch Spiegelfuge a 4 bzw. a 3 (Auftakt bis Pause):
SPIEGELFUGE a 4
56 T. × 3 (Viertel)
168
SPIEGELFUGE a 3
60 T. × 2 (Viertel)
120
288
Wenn wir das kleinste Zeitmomentum physikalisch durch die Plancksche Elementarzeit t* ≈ 1,351163003 ×
10-43 sec definieren, so besteht der 12er-Zyklus aus 32 × 288 (289− 1) solcher kleinsten Momente. Siehe dazu
ausführlicher: CHYRON, Principia Logica.
75
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
69
32 × 288 (289− 1) = 210 × 283(289− 1).
Als Ausgangspunkt für die 12er-Teilung steht also die Zahl
210 = 1024
1024 = (11 × 86) + (1 × 78).
Der 12. Teil des (realen) 12er-Zyklus ist also etwas kürzer (7876) als die übrigen 1177.
Während die Kunst der Fuge die beiden Kreislaufsysteme der Weltseele jeweils als Ganzes
musikalisch versinnbildlicht – und die aus den Umläufen dieser Kreissysteme sich ergebenden Zyklen -, reflektiert das Musikalische Opfer die Einzelkreise: insgesamt 8 Sphären,
davon 7 des Verschiedenen. Als klingendes Symbol für letztere, also für die (unaufhörlich
kreisenden) Sphären des Verschiedenen, komponiert Bach 7 entsprechende Kanons und gibt
auch hier den (unverdächtigen, da auch ganz trivial zu lesenden) Titel:
Den Gesamttitel für dieses kosmologische Modell der zwei Kreislaufsysteme, die – wie wir
gesehen haben - , wenn man sich auf den obersten, vernünftigen Seelenteil beschränkt, aus 37
Elementarsphären bestehen, zusammengefaßt zu 8 großen Kreislaufkomplexen, hat Bach auf
dem Deckblatt des Originaldrucks von 1747 in einem Akrostichon verschlüsselt:
(8 Majuskeln (bzw. 8 Wörter) stehen 37 Minuskeln vor.)
Ich kann hier – im Rahmen eines Exkurses – nicht näher auf die vielen symbolhaften
Strukturen und Beziehungen der Einzelsätze eingehen. Hier nur einige Hinweise im Zusammenhang mit dem Krebskanon:

   

   

1



3
5
6

 
7

 

 
5
4
4
3

  
3

2 2
1
                                       

  
23
10

 



  
7 5 1 4

3
26

33
2
()
1
    


  
 
29
35
40
                       


39
 
 



28


            
                            

  

     
76
77

 

 








Nicht von ungefähr hat die Fuga Canonica aus dem Musikalischen Opfer 78 Takte.
Die genauen realen (zeitlichen) Verhätnisse hat Bach in der Kunst der Fuge natürlich nicht abgebildet.
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
70
1. 288er-Mischung des ‚Weltseelentons‘:
18 (Takte) × 16 (16tel) = 288 (16tel)
2. 24er-Sequenz der Mischung:
24 (Töne des Themas78, einschließlich gehaltener Töne)
3. Goldene Proportion:
Takte:
Noten (24er-Thema):
6 : 9 = 12 : 18
16 : 24 = 32 : 48
4. Umlaufzahl 288(289− 1):
Insgesamt: 2 × 89 Noten (ohne gehaltene Noten, inklusive der themafremden Note ES)
bzw.:
Insgesamt: 2 × 88 Noten (ohne ES)
5. 37er-Weltseele:
Gesamttonstufenzahl:
2 × (69 (20er-Thema) + 263 + 1 (themafremder Ton ES)) = 66679 = (6+6+6) × 37
Auch die beiden Ricercars deuten in ihrer Taktanzahl auf die 288er-Mischung:
RICERCAR a 3
185 (T.)
RICERCAR a 6
103 (T.)
288
Außerdem:
RICERCAR a 3:
185 (T.) × 2 (Notensysteme) × 4 (Viertel) = 4 × 37 = 148 (Viertel)
78
Das Thema der Kunst der Fuge verhält sich zum Thema des Musikalischen Opfers wie der ideale Quinten-/Quartenzirkel (also ohne Tritonus) zum ‚realen‘ (also inklusive diabolus in musica).
79
Auf folgende – doch sehr bemerkenswerte – Übereinstimmung (Isopsephie) der ‚zahlenalphabetischen‘
Struktur (wenn man beide Zahlenalphabete, das milesische und das einfach durchgezählte, anwendet) des Wortes
RICERCAR mit diesen Tonstufenzahlen des Krebskanons sei hier noch hingewiesen:
80
R
17
9
I
9
3
C
3
5
E
5
80
R
17
3
C
3
1
A
1
80
R
17
261 (milesisch) + 72 (natürliche Ordnung) = 333
2 × 333 = 666
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
71
Der zweite Teil der h-moll-Messe wird durch jene Weltenuhr, den die beiden Kreislaufsysteme der Weltseele darstellen, eröffnet: 7 Stimmen, die das 7-tönige Thema Credo80 in
unum Deum (entsprechend den 7 Kreisen des Verschiedenen) intonieren, werden durch das
‚Continuo‘ einer 8. Stimme (entsprechend dem Kreis des Selben) regiert bzw. gemessen81. Dieses ‚Continuo‘ hat dabei folgende ‚Raum‘-Zeit-Matrix:
45 (T.) × 8 (Achtel) = 360 (Achtel)
Diese Taktanzahl unterstreicht den Kreislaufcharakter dieser Fuge. Außerdem verweist Bach
wieder auf die fundamentale kosmologische Struktur:
45 (T.) × 8 (Achtel) × 8 (Stimmen) = 2880 (Achtel)
Die Tonstufenzahlen82 des Themas auf allen 6 vorkommenden Stufen signifizieren, daß mit
dieser Präsentation der Weltenuhr der Zyklus selbst eröffnet ist.
Denn sie erstellen das für den Zyklus maßgebende und ihn proportionierende Maßdreieck
(siehe Figur 28).
C R E D O
7
(Töne / Stimmen)
3. Stufe:
4. Stufe:
2. Stufe:
5. Stufe:
6. Stufe:
7. Stufe:
80

 



 







3
1
2
1
7
3
4
4


3

2


4

5






7
1
7
6
2
3






2
5
6






3
6

2
5

 



6
7
2
3
4
4
5
3
4



5
6
5
1
4
= 21 = 3
7
= 21 = 3
7
= 28 = 4
7
= 28 = 4
7
7
= 35 = 5
7


7
1
= 35 = 5
7
Nach TIMAIOS, 37 b, bezieht sich dasjenige Erkenntnisvermögen, dem die 7 Vernunftsphären des Kreises des
Verschiednenen entsprechen, auf die Doxa (Glauben, „Credo“), - im Gegensatz zum Kreis des Selben, der sich auf
Wissen (Ideenerkenntnis) bezieht.
81
TIMAIOS 39 d
82
Bezogen auf D-Dur, wie von Bach notiert (auch wenn die Tonart des Cantus firmus Mixolydisch ist).
72
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
SYMBOLUM NICENUM
C
R
E D
O
840
80 T.
T
PE
C
23
T.
123 T.
T.
C
E
5
4
RN A
TU
S
49 T
.
2
3
4
14
UM
IT
IR
T.
I
UNUM NCA
IN
1
CR
T.
5
I
II
45 T.
O
T.
106
84
FITEOR E
CON
XS
P
XS
D
O
IE
II
O II CRED O
EC T
84
R
O
D
E
5
XU
IFI
UC
.
CR
3T
Maßdreieck
133 T.
S RESU RREXIT
IN
SP
28 = 7
4
5
84
7 = 35
Orthe
Doxa
3
7 = 21
21 + 28 + 35 = 84
C R E D O - S A N C T U S
84 =
420
10
133 T
.
T.
144
12
3T
.
R
5.
888 T.
O II
CT
PE
.
EX
6T
M RESURR
RITU
EX
IT
SPI
8 9 10
1
12
11
PLENI
SAN
C
IN
2
DO I
CRE
4 3
II
5
6
7
84 =
588
T
45 T. 120 T. 48 US
T.
7.
T
53
O
ED
RNATUS IN
NCA
UN
S I
UM
U
X
80
CR
49 T.
FI
I
T.
C
.
T.
84
CR
U
1008
EXPECTO I C
O
NF
IT
EO
23 T.
Figur 28 und 29 Das Credo (Symbolum Nicenum) als 5er- (10er-)83Zyklus
(10 × 84 = 840) und das Credo-Sanctus als 12er-Zyklus (12 × 84 = 1008)84
83
Die (von vielen Autoren schon häufig erwähnte) symmetrische 9er-Struktur dieses 3. Teils der Messe:
CREDO I CREDO II In Unum INCARN. CRUCIFIX. RESURR. In Spiritum CONFITEOR EXPECTO
bleibt durch diese (latente) 10er-Struktur natürlich unberührt. Siehe dazu CHYRON, Pincipia Logica.
84
Die 133er-Zählung des Resurrexit (statt 131 T.) erklärt sich wie folgt: Finis (im Text) bedeutet stets, daß
hier ein scheinbares Ende erreicht ist, das aber in Wirklichkeit einen neuen Anfang bezeichnet. Daher jeweils
– Takt 92 und Takt 111 - ein Überlappungstakt, also zwei Takte doppelt gezählt.
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
73
Der in Figur 29 abgebildete 1008er-Kreis formiert sich auch als 7er-Kreis85 (7 × 144 =
1008) (Siehe Figur 30).
C R E D O - S A N C T U S
1008
T.
10
5
4
7
2
3
. 144
432
C
5
3
T.
576
6
53
144 .
T.
84
1
7
C
UM INCA
R
N UN
N
AT
II I
US
49
80 T.
TEOR EXPECTO
NFI
I E
CO
XP
23 T.
.
T
3
M
E
2
1
U
5T
.
DO
RE
CT
CTUS PLENI CR
ED
SAN
O
II
121 T.
I
O
4
48 T.
4
T.
RESURREXIT
IN
US
SP
FIX
133 T.
IR
CI
14 IT
RU
T.
4
Figur 30 Das Credo-Sanctus als 7er-Zyklus (7 × 144 = 1008)
Was für das Musikalische Opfer gilt, bezieht sich natürlich auch auf dieses Werk (überhaupt auf jedes Werk
aus Bachs reichhaltigem Œuvre): Jeder einzelne Tonsatz enthält – von seiner ‚Arithmetik‘ und Proportionierung her – eine (unbegreifliche) Fülle von symbolischen Bezügen86. Vier Beispiele aus der h-moll-Messe –
beliebig herausgegriffen – seien hier noch kurz aufgezeigt: Das 1. Kyrie korrespondiert – in seiner ‚linear-zeitlichen‘ Abmessung – genau mit dem oben anhand des Credo-Sanctus dargestellten 7er-Zyklus:
K Y R I E
126 (T.) × 8 (Achtel) =
1008
Teil A
72 (T.) × 8 (Achtel)
576 (Achtel)
4 × 144
Teil B
54 (T.) × 8 (Achtel)
432 (Achtel)
3 × 144
Im Crucifixus wird die 288er-Matrix der Weltseele wie ein ehernes Gesetz - in 12 × 24 Schlägen (wenn man die
letzten 5 Takte gesondert sieht) des Ostinato-Basses - (in den Stamm des Kreuzes) eingehauen:
85
Diese Proportionierung (432 ( = 3 × 144) : 576 ( = 4 × 144)) ergibt sich ohne Doppelzählung des 1. Takts
(Überlappungstakts) von Expecto II, dafür aber mit Doppelzählung des Überlappungstakts zwischen Sanctus
und Pleni.
86
Hinzu kommt noch die tonsymbolische Ebene, die in diesem Aufsatz völlig unberücksichtigt bleiben
mußte.
74
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
C R U C I F I X U S87
48 (T.)
48 (T.) × 6 (Viertel) = 12 × 24 (Ostinato-Motiv) = 288
Die arithmetische Struktur der übrigen 9 Stimmen hat folgendes Aussehen:
C R U C I F I X U S
48 (T.) × 9 (St.) × 6 (Viertel) = 2592 (Viertel)
Die 6 Vokalstimmen des Sanctus vergegenwärtigen (neben den vielen anderen symbolischen Beziehungen,
die in diesem Tonsatz von Bedeutung sind und auf die z. T. schon von anderen Autoren hingewiesen wurde) den Gesang der 288 Sänger Davids, deren Stimmen als Zusammenklang einen Ton ergeben:
S A N C T U S
48 (T.) × 6 (Vokalst.) = 288 (T.)
Das nachfolgende Osanna spricht in seiner arithmetischen Struktur dieselbe eindeutige Sprache:
O S A N N A88
148 (T.)
148 (T.) × 20 (St.) × 3 (Achtel) = 8880
ΧΡΙΣΤΟΣ
ΙΗΣΟΥΣ
Einen weiteren Zyklus in 1008 Takten hat Bach im III. Teil der Clavierübung (der
„Orgelmesse“) geschrieben, wiederum sowohl als 12er- als auch als 7er-Kreis proportioniert
(siehe Figuren 31 und 32).
87
Zum arithmetischen Aufbau des gesamten Kyrie:
KYRIE
126
CHRISTE
85
KYRIE
59
85 + 59 = 144
126 + 59 = 185 = 5 × 37
126 + 85 + 59 = 270 = 10 × 33
88
Zum arithmetischen Aufbau der gesamten h-moll-Messe: Es bestehen vielfältige arithmetische bzw. symbolische Querverbindungen, die sich in den Taktanzahlen zu erkennen geben, z. B.:
Kyrie:
270
Credo:
840
111(0) = 30 × 37
Gloria:
773 (inklus. Auftakte und mit Doppelzählung der Überlappungstakte)
Osanna etc.: 448 (mit Osanna-Satz zweifach):
111 + 773 + 448 = 1332 = 36 × 37
1332 + 148 (Osanna-Satz) = 1480 Χ Ρ Ι Σ Τ Ο Σ
oder:
270 (Kyrie) + 840 (Credo) + 773 (Gloria) + 448 (Osanna etc.) = 3 × 777 = 3 × (7 + 7 + 7) × 37
773 (Gloria) + 448 (Osanna etc.) = 1221 = 33 × 37
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
7 C H O R Ä L E
(Orgelmesse)
1008
Dies si
nd
die
hl.
+3
5
gläuben all Vat
e
r
u
Wir
nse
r i.
G.
00 + 15
1
9
1
+
24
Christus, u.Heil
and
Jesus
118 + 67
Al
l
60
10
der H.
tt in
o
G
0
+2
ein
27 uft.)
1
+ A
66 (inkl.
3 Choräle 4 Choräle
7 1
2
6
3
5 4
3432.
4
576
144
(433-1)
(575+1)
+
.
mel
im
H
81 + 27
, unser Herr
Christ
10
2
ot
rN
144 .
Au
s ti
efe
75
Zyklusgesetze:
4 Duette
7 C H O R Ä L E
(Orgelmesse)
1008
(inkl. Auft.)
5
7
6
1
12
7
lr.
me
2
8
9
5
12
11
10
Herr
nser
t, u
ris
1
Ch 27 + 8
Ouvertüre
3
4
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fer N
ot
102
+7
5
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W ir
s sin
dd
15 100
ie
35
+
60
ein Gott in der
. All
H.
20 + 127 +
Jes
66
l.
s, u. H
ristu
Ch
18
us
+1
67
G
10
hl.
Vater u
n
s
e
r
i. H
24
im
+9
1
593 - 5 = 588 = 7
415 + 5 = 420 = 5
84
84
Zyklusgesetze:
4 Duette
Figur 31 und 32 Die 7 Choräle ( = 15 Choralbearbeitungen) der „Orgelmesse“ (ohne die Gruppe der
3 (6) einleitenden stile-antico-Choräle) als 7er-Zyklus (7 × 144 = 1008)
und als 12er-Zyklus (12 × 84 = 1008)
75
76
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
Die kompositorische Relation zwischen den 4 Duetten der „Orgelmesse“ und den 4 Canons
der Kunst der Fuge – beide 4er-Gruppen symbolisieren das Gesetz der 4 Umläufe des
12er-Zyklus’ (und des 7er-Zyklus’, siehe Teil IV dieses Aufsatzes) – reflektiert in etwa das
Verhältnis in puncto polyphoner Strenge und Genauigkeit, mit der Bach diesen kosmologischen Kreislauf jeweils – in „Orgelmesse“ und Kunst der Fuge – musikalisch-symbolisch
abbildet89.
Für die Beschreibung der vielen kosmologischen Bezüge, die das folgende hier zu
nennende Werk, die Aria mit verschiedenen Veränderungen (Goldbergvariationen) – im großen
wie im kleinen – enthält, wäre ( wie bei allen genannten Werken) eine umfangreiche Monographie erforderlich. Ich möchte mich hier wieder auf einige Hinweise beschränken:
2 (Wiederholung) × 32 (Fundament.-Töne) × 32 (Sätze) − 32 (Aria am Schluß ohne Whlg.)
= 2016 = 2 × 1008 (Fundament.-Töne)
Die 9 Canones – als Gesetze dieses Zyklus’ – summieren
9 × 32 (Fundament.-Töne) = 288 (Fundament.-Töne).
Die beiden g-moll-Kanons – Canone alla Quinta (5) und Canone alla Settima (7) – kennzeichnen, sowohl durch ihr Intervall als auch durch ihre numerische Stellung, das Verhältnis 5 : 7
des 12er-Zyklus’, hier bezogen auf die 288er-Matrix:
5
Canone alla Quinta
Variatio 15
15 × 8 (Fundament.-Töne)
= 120
7
Canone alla Settima
Variatio 21
21 × 8 (Fundament.-Töne)
= 168
288
Mit geradezu bestürzender Eindringlichkeit und Aktualität versinnbildlicht der Quintkanon
– dieser einzigartige Tonsatz – das unverrückbare, nicht zu korrumpierende Gesetz der
‚Weltennacht‘ (5): das Gesetz, das die zwei Wege (bzw. den Gang (Andante) dieser Wege) beherrscht. Der Weg nach ‚unten‘, der absteigende (ES und B, Takt 1 und 2) Weg, der aber der
Weg der Selbsterhöhung (FIS, Takt 4) ist – verkörpert durch die vorausgehende, absteigende
Kanonstimme (guida) -, führt nach diesem göttlichen Gesetz am Ende in die Erniedrigung
(unteres G). Der Weg nach ‚oben‘, der aufsteigende (FIS, Takt 2) Weg, der auch der Weg der
Selbsterniedrigung (ES und B, Takt 5 und 6) ist – verkörpert durch die später eintretende,
genau entgegengesetzt gehende (reflektierende) Kanonstimme (conseguente) -, bringt, nach
demselben kanonischen Gesetz, am Schluß die Krönung (hohes D).90
89
Diese Relation bezieht sich auch auf die Genauigkeit der jeweiligen Taktanzahlen: Während in der Kunst
der Fuge das Verhältnis der beiden Teile des 1008er-Kreises exakt gezirkelt ist, differiert es in der „Orgelmesse“
um +/− 1 bzw. +/− 5 (siehe Figuren 31 und 32).
90
Bachs Musik ist in ihrer Symbolstruktur mehrschichtig (und mehrdeutig). Eine andere Interpretationsebene
läßt folgende Deutung zu: Die vorausgehende Stimme (guida) versinnbildlicht den Gang des Menschen (der
Menschheit) durch die ‚Weltennacht‘. Die folgende (conseguenta) symbolisiert – als ihr Schatten – das Gesetz (die
Wahrheit), die ‚Konsequenz‘: Jeder (Selbst)erniedrigung entspricht (in Wahrheit) eine Erhöhung und umgekehrt.
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
77
Die folgende Beispielauswahl füge ich ohne (größeren) Kommentar bei.
Kantate BWV 43
Gott fähret auf mit Jauchzen
Einleitungschor (Adagio + alla breve)
13291 T.
Teil A
Teil B
84 (T.)
48 (T.)
Der alla-breve-Teil allein:
126 (T.) × 8 (Achtel) = 1008 (Achtel) = 12 × 84
Die 6 Adagio-Takte (6 × 8 = 48) erfüllen quasi die Funktion einer Vorbereitung, einer inneren Einstimmung
zur Himmelfahrt (vgl. auch Takt 87 ff. von Contrapunctus 4 der Kunst der Fuge): Zur Rückkehr und Wiedereinreihung in den (zeitlosen) Seins- oder Aionkreis des Selben.
Kantate BWV 56
Ich will den Kreuzstab gerne tragen
Eingangsarie
Teil A
Teil B
Ich will den X-Stab gerne
er führet mich nach meinen
tragen, er kommt von Gottes
Plagen zu Gott, in das gelobte
lieber Hand;
Land. Da leg’ ich den Kummer
auf einmal in’s Grab, da wischt
mir mein Heiland die Tränen
selbst ab.
70 (T.) × 6 (Achtel) =
98 (T.) × 6 (Achtel) =
420 (Achtel)
588 (Achtel)
5 × 84
7 × 84
168 (der 70. = Überlappungstakt zählt doppelt) × 6 (Achtel) =
1008
Motette BWV 227
Jesu, meine Freude
2. Satz: Es ist nun nichts Verdammliches
Teil A
Teil B
36 (T.) × 12 (Achtel) =
48 (T.) × 12 (Achtel) =
432 (Achtel)
576 (Achtel)
3 × 144
4 × 144
7 × 144 = 1008
91
Vgl. das Resurrexit der h-moll-Messe (siehe S. 72): 133 Takte (131+ 2 Überlappungstakte), der erste Takt als
‚Einschwingungstakt‘ in die Auferstehung; ohne diesen:
84 (T.) + 48 (T.)
Diese 84 Takte (bis mortuos, Takt 85) beziehen sich auf die Auferstehung und die Himmelfahrt, d. h. (symbolisch): nach dem 1. Takt ( = Aufstieg) kehrt Jesus in den (zeitlosen) Seinskreislauf des Selben zurück:
84 × 12 (16tel) = 1008
Nimmt man nur den Abschnitt vor dem Baßsolo, also Takt 1 bis 74, so ergibt sich:
74 × 12 (16tel) = 888
78
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
Im Verhältnis des 12er-Zyklus’ (5 : 7):
Teil A
Teil B (ab: Geist)
35 (T.) × 12 (Achtel) =
49 (T.) × 12 (Achtel) =
420 (Achtel)
588 (Achtel)
5 × 84
7 × 84
12 × 84 = 1008
Kantate BWV 140
Wachet auf, ruft uns die Stimme
4. Satz: Zion hört die Wächter singen92
74 (T.) × 3 (St.) × 4 (Viertel) = 888 (Viertel)
Der Eingangschor dieser Kantate stimmt nicht nur von seinem geistigen Gehalt her und in der Tonart,
sondern auch in der zugrunde liegenden arithmetischen Matrix genau mit dem Präludium der „Orgelmesse“
überein:
204 (T.) + 1 (Endtakt) =
289 × 36 × 4 + 1 = 1 + (17 × 12 )
Weihnachtsoratoium
III. Teil
Einleitungschor: Herrscher des Himmels
96 (T.) × 3 (Achtel) = 288 (Achtel)
Die vollständige Matrix:
288 (Achtel) × 16 (St.) = 4608 (Achtel)
Teil A
Teil B
893 × 288
8 × 288
IV. Teil
Einleitungschor: Fallt mit Danken
240 (T.) × 12 (St.) = 2880 (T.)
2880 (T.) × 3 (Achtel) = 8640 (Achtel)
Von den 240 Takten bilden immer exakt 4 Takte eine geschlossene Einheit, also:
4 (T.) × 3 (Achtel) × 12 (St.) = 144 (Achtel pro Einheit)
Im ganzen also:
60 solcher 144er-Einheiten
Der PHAIDROS94 verwendet die Metapher des (Welt)seelengespanns: Die Aufgabe des obersten Seelenteils (des
‚vernünftigen‘ Teils der Seele) ist es, die Seelenrosse zu zügeln. – Bach setzt dieses Bild im Abschlußchoralsatz
Jesus richte mein Beginnen wunderbar in Töne um. Auch die arithmetischen Strukturen stimmen:
92
Die Charakterisierung, die z. B. Albert Schweitzer diesem herrlichen Satz gibt, geht an dem wirklichen
Ausdrucksgehalt völlig vorbei. Die Zeile: das Herz tut ihr vor Freuden springen gibt den Hinweis: Der selige
Reigen, den hier die Geigen anstimmen, drückt den selig-verzückten Tanz des Herzens der Tochter Zion (der Braut
des Lammes) aus.
93
Die Weltseele (Himmel) hat 8 Hauptsphären.
94
PHAIDROS, 246a ff.
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
Teil A
(ohne Whlg.)
16 (T.)
Teil B
21 (T.)
WELTSEELE
1
2
3
4
9
16
21
27
37
P
XII
8
37 (T.) × 12 (St.) × 3 (Viertel) = 1332 (Viertel) = 2 × 666 (Viertel)
Die Instrumente allein (also ohne Vokalstimmen):
37 (T.) × 8 (St.) × 3 (Viertel) = (8+8+8) × 37 =
888
ΙΗΣΟΥΣ
VI. Teil
Eingangschor: Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben
240 (T.) × 14 (St.) × 3 (Achtel) = 10080 (Achtel)
Orchestereinleitung (Ritornell):
48 (T.) × 14 (St.) × 3 (Achtel) =
2016
Teil A
Teil B
24 (T.) × 14 (St.) × 3 (Achtel) =
24 (T.) × 14 (St.) × 3 (Achtel) =
24 × 42
24 × 42
1008
1008
Matthäus-Passion
Eingangschor: Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen
24 (St. ohne Choralst.) × 12 (Achtel) pro Takt = 288 (Achtel) pro Takt
Gesamtstruktur:
90 (T.) × 288 (Achtel) = 25920 (Achtel)
Teil A
Teil B
O Lamm Gottes, unschuldig am Stamm des
All Sünd hast du getragen, sonst müßten wir
Kreuzes geschlachtet, allzeit erfunden geduldig,
verzagen. Erbarm dich unser, o Jesu!
wiewohl du warest verachtet.
51 (T.) × 288 (Achtel) + 112 (Achtel)
39 (T.) × 288 (Achtel) − 132 (Achtel)
CHRISTUS
39 (T.) × 288 (Achtel) − 32 (Achtel)
11100
14800
11200
C
H
R
ISTUS
ΧΡΙΣΤΟΣ
4 × 3700
3 × 3700 + 20
(6 × 3700) + (1 × 3720) =
25920
79
80
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
Diese Beispielsammlung, die die Zahlen und Proportionen des kosmologischen Modells in Bachs Musik eindeutig und eindringlich belegt, ließe sich – bei diesem riesigen und
äußerst vielschichtigen Œuvre – praktisch unbegrenzt fortsetzen. Dieses Werk hat neben
der rein musikalischen Ebene eine kosmologische, besser gesagt: Die besondere Qualität dieser Musik – die Wahrheit, die in jedem Bachschen Tonsatz zum Ausdruck kommt – fußt
gerade darauf, daß die in dieser Musik verwirklichten Strukturen eben dieselben sind, nach
denen das Sein aufgebaut und geordnet ist95. In den Goldbergvariationen, den Canonischen
Veränderungen, dem Musikalischen Opfer und der Kunst der Fuge hat Bach dieses kosmologische System noch einmal – quasi in Form einer musikalischen ‚Axiomatik‘ – systematisch-musikalisch, d. h. von den symmetrischen Elementarstrukturen (Mikrostrukturen) der
14 Kanons bis zur Makrostruktur des 12-teiligen Fugenkosmos’ der Kunst der Fuge, abschließend und mustergültig zusammengefaßt96.
Daß neben den bisher hier vorgeführten natürlich auch andere Zahlen und Proportionen (Strukturen) – die ebenfalls im kosmologischen Modell verankert sind97 - in Bachs
Werken Bedeutung haben, möchte ich an zwei Beispielen noch demonstrieren.
Die musikalische Ausformung der Weltseele (siehe S. 57) baut sich – entsprechend der
idealen Quinten-/Quartenreihe – aus 11 verschiedenen Tönen auf (also ohne den Tritonus-Ton
AS/GIS). Indem die Weltseele (‚Psyche Gottes‘) mit Christus (‚148(0)‘ bzw. ‚888‘) identisch ist,
gewinnen auch diese 11 Töne (ohne Tritonus) – versinnbildlicht auch durch die 11 Jünger
(ohne Judas) – hohe Symbolik. Die arithmetische Gesamtstruktur der Motette Jesu, meine
Freude besteht aus 11 symmetrisch angeordneten Teilen mit folgenden Taktanzahlen:
11
19 84 19 24 63 48 19 23 106 41 19
209
208
Wenn man den Zentraltakt des gesamten Werkes, also den 24. Takt des 48-taktigen Zentralsatzes Ihr aber seid nicht fleischlich, als Symmetrieachse und den Anfangs- und den Endtakt der
Motette als die äußersten (bilateralen) Symmetriepunkte gesondert betrachtet, so verbleiben:
462 (T.) = 42 × 11 (T.)
Die für die Zahl 11 typischen zahlensymmetrischen Eigenschaften führen weiter zur folgenden – symbolträchtigen - Beziehung:
462
264
11 × 42
×
24 × 11
1008
95
Die Auseinandersetzung mit diesen kosmologisch begründeten Ordnungsstrukturen bestand für Bach
daher nicht etwa in der Anerkennung und Anwendung von Normen, denen er sich in seiner Musik verpflichtet
fühlte, sondern im Gegenteil: Sie bedeutete für ihn (letztlich) nichts anderes als die andauernde Bestätigung
seines eigenen (einmaligen) musikalischen Ordnungssinns.
96
Näheres dazu in CHYRON, Principia Logica.
97
Letztlich ist jede Zahl – als jeweils ganz spezifische Ordnungsstruktur bzw. -funktion – im kosmologischen
Modell vordefiniert und verankert.
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
81
Addiert man nun diese Taktanzahl 462 mit seinem Spiegelbild 264 und nimmt die drei
‚Symmetrietakte‘ wieder hinzu, so ergibt das die ‚Tritonuszahl‘98
729 = 36.
Bachs Motette unterstreicht es also mit diesen Zahlen noch einmal: Christus umfaßt – musikalisch – den ganzen, symmetrischen Quinten-/Quartenzirkel, bis zum Tritonus (siehe Figur 33).
A
G
E
C
H
F
FIS
B
ES
CIS
AS/ GIS
729
Figur 33 Christus als 11-teiliger (idealer) Quinten-/Quartenzirkel
bis zum Tritonus (729) bzw. ohne diesen
Diese wichtige – musikalisch-kosmologisch verankerte – Symmetriezahl 11 ist es auch,
durch die Bach sich veranlaßt sah, das Symbolum Nicenum der h-moll-Messe, sein Credo, in
einer zweiten, um 48 Takte kürzeren, Fassung zu hinterlassen: Nimmt man für das Duett
Et in unum nicht – wie sonst üblich - die Variante, sondern das an dieser Stelle im Autograph sich befindende und auch das Et incarnatus enthaltende Original und läßt den entsprechenden Chorsatz dafür weg, so erhält man die in Figur 34 abgebildete Taktanzahlstruktur mit der Gesamttaktzahl 79299.
792
US
REXIT
SU R
RE
.
133 T
14
IN S
4
T.
PIR
M
T.
U
IN UNUM CRU
CI
FI
8 0 T.
X
TEOR EXPE
N FI
CT
O
T.
24
2
I
1 3
T.
OI
CR
45 T
.
53
CO
CRED
II
O
ED T .
84
II
CTO
PE
T.
EX
6
10
IT
Figur 34 Das Symbolum Nicenum als 792er-Struktur (mit dem Et-in-unum-Original
und dafür ohne den Incarnatus-Chorsatz)
(792 = 36 × 22 = 72 × 11)
98
99
Zur ‚Tritonuszahl‘ 729 vgl. POLITEIA, 587e.
Mit Doppelzählung des Überlappungstakts zwischen Confiteor und Expecto I.
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
82
Diese Zahl 792, die eine Umstellung der Tritonuszahl ist und damit symbolisch auf das dahinter stehende, für
Christus und den Diabolus in Musica gemeinsame Gesetz zielt, ist in der Idealumlaufzahl 1008, deren besondere Ordnung stiftende Eigenschaften sich u. a. auch zahlengeometrisch ausdrücken, auf folgende Weise enthalten:
Dreieckszahl 6
= Vollkommene Zahl
6 6 6 = 216
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36
36 = 792
22
36
36
36
36
36
D r e i e c k s z a h l 28
= Vollkommene Zahl
insgesamt :
28
36 = 1008
Diese Zahl 792 zerlegt sich auch in
24 × 33.
Außerdem: Die 792 als Kreislaufzahl steht mit der 1008 als Kreislaufzahl in folgender Beziehung: Mit jedem
Viertel des 1008er-Kreislaufs (also nach jedem 252. Takt) ist der 792er-Kreis durchmessen:
1008
792
2 52
252
792/252 = 22/7 ≈ π
Abschließend möchte ich noch ein Werk zu Wort kommen lassen, bei dem es Bach
nicht um die musikalische Ausgestaltung der (kosmologischen) Kreisläufe (und deren Umlaufzahlen und Proportionen) geht, sondern – analog dem Urthema der Kunst der Fuge, das,
im Original und im Spiegel, die beiden symmetrischen, ineinander verschränkten Teile der
musikalischen Weltseele nachbildet – um die Versinnbildlichung des in phrygischer Tonart sich musikalisch ausprägenden tonalen Gesamtbildes der Weltseele, und zwar der eigentlichen, der Rectogestalt: Die Tokkata und Fuge BWV 538.
Selbstverständlich wählt Bach für dieses Werk die entsprechende Tonart bzw. Notation, also (kirchentonartliches) Dorisch, das dem antiken Phrygisch entspricht.
Nach der 99 Takte zählenden Tokkata – Symbol der kosmologischen 11er-Struktur
(der 11 verschiedenen ‚Töne‘ der Weltseele) – folgt jenes weitgespannte Tongebilde (Thema)
der Fuge:
1
   
1
2
2
  
3
1 4
3
  
4 3 6
37
4
  
6
5 1
  
5
1
7
6
6
  
6
5
37
4
7
  
4
3
2
8

1
BACHS MASS - UND ORDNUNGSSYSTEM
83
Wie der linke Schenkel des Lambdas der Weltseele über drei Quinten aufsteigt und sein rechter Schenkel als Tonleiter (D – D – D – D) wieder herabführt, so spannt sich hier das Thema von links nach rechts über drei Quarten nach oben, um dann in seinem rechten Teil in
Tonleiterschritten (D – D) wieder herabzusteigen. Es umfaßt 16 Töne oder, wenn man die
gehaltenen Noten mitzählt, 21, - also wieder der Hinweis:
WELTSEELE
1
2
3
4
9
16
21
27
37
IP
X
I
8
Die Tonstufenzahlen der in Quarten aufsteigenden linken Hälfte (bis zum oberen D) ergeben als Summe (einschließlich der gehaltenen Noten) die Zahl
37.
Ebenso summieren sich die Tonstufenzahlen der in Tonleiter absteigenden rechten Hälfte
des Themas (ohne dessen letzten Ton, D) zur 37. Das ganze Thema verläuft in 8 Takten:
8 Hauptsphären (eine Sphäre des Selben, 7 Sphären des Verschiedenen) umfaßt die Weltseele des
TIMAIOS und der POLITEIA. Wie die 37 Einzelsphären, entsprechend den vier Seelenteilen,
4-fach sind, jeweils in den Abständen der Goldenen Proportion, so ist auch hier das Thema in
vier Stimmen expo(sitio)niert, - natürlich (wie in den meisten Bachschen Fugen) ebenfalls
gemäß der Goldenen Proportion.
Aus der Weltseelenstruktur des TIMAIOS (im Zusammenhang mit dem Alten Testament) ergab sich die Zahl 888 ( Ι Η Σ Ο Υ Σ ): Die Fuge hat 222 Takte.
222 (T.) × 4 (St.) = 888 = 37 × (8 + 8 + 8)
IV
D
IE Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit (trotz großer Präzision) musikalischer Strukturen
ermöglichen es, Entwicklungsprozesse verschiedener Ebenen auf ein und denselben musikalischen Kontext zurückzuführen, - analog dem kosmologischen Grundprinzip des
Seins, das Mannigfaltige in Einem zu begründen. Durch diese Reduktion (Widerspiegelung
des Großen im Kleinen, des einen im anderen) werden die Integration und Vollkommenheit um ein Vielfaches erhöht.
Bachs Supercontrapunctus (Contrapunctus in versus 12) erfüllt, entsprechend diesem
kosmologischen Vereinheitlichungsgesetz, als tönendes Abbild (Symbol) des (geistigen)
Seins, Werdens und Vergehens, mehrere Funktionen: Wie im Exkurs angedeutet, versinnbildlichen die Contrapuncti 1 bis 7 die beiden Kreislaufsysteme (Seinskreise) der Weltseele (des
84
DER 7er- UND DER 5er-ZYKLUS
TIMAIOS): Contrapunctus 1 bis 4 den Kreis des Selben, - Contrapunctus 5 bis 7
(„Contrapunctur 5“) den Kreis des Verschiedenen. Im TIMAIOS wird erörtert, daß das Kreisen
dieser beiden Seinssphären (im speziellen der des Verschiedenen) die Zyklen der Zeit: des
Werdens und Vergehens konstituieren. Konsequenterweise läßt Bach diesen zeitlichen (zyklischen) Prozeß der Weltseele durch dieselben (7) Contrapuncti repräsentieren – sofern sie sich
auf den ersten Teil dieses (zeitlichen) Prozesses, auf das Werden (der Wahrheit), beziehen
(das Sein und das Werden sind also durch dieselben musikalischen Strukturen symbolisiert)100.
Hinsichtlich des Vergehens (der Wahrheit = des Themas) bedarf es 5 zusätzlicher Fugen,
die diesem Vorgang des Abweichens, des Auflösens und Zurückfindens symbolhaft Ausdruck
verleihen. Zusammen sind es also diese 12 Fugen („Verse“), in denen Bach den zeitlichen
Entfaltungsprozeß der Weltseele musikalisch nachbildet.
Die unterste Stufe dieses Werdens und Vergehens, den 12er-Zyklus – analog den 12
Quinten und Quarten eines Quinten-/Quartenzirkels -, wurde von mir in den Teilen II
und III dieses Aufsatzes behandelt. Analog den 7 Oktaven des Quintenzirkels und den 5
Oktaven des Quartenzirkels existieren – wie bereits mehrfach erwähnt und z. T. beschrieben
(siehe Exkurs) – noch zwei hierarchisch höhere Zeitzyklen – der 7er-Zyklus und der
5er-Zyklus -, die natürlich bei Bach durch denselben Supercontrapunctus musikalisch abgebildet werden. Mit einem kurzen Ausblick auf diese beiden, einen vollständigen kosmologischen Zeitkreis des Seins erfüllenden und vollendenden Zyklen möchte ich diesen Aufsatz
beschließen. – Zunächst der 7er-Zyklus.
Höre denn. Dieses Ganze hilft auf seiner Bahn bisweilen Gott selbst mitführen und drehen, bisweilen läßt er es wieder los, wenn seine Umläufe das ihm gebührende Zeitmaß schon erlangt haben.101 Der
Quintenzirkel – diesmal von links nach rechts gelesen – beschreibt einen, sich über 7
Oktaven erstreckenden, im Verlauf seiner zweiten Hälfte ‚ausufernden‘ Kreis (siehe Figur 35).
I n itiu m
F
F
F
F
F
F
F
Figur 35 Die 7 Oktaven des Quintenzirkels als Wegweiser durch den 7er-Zyklus
Wie für den 12er-Zyklus, d. h. für dessen Idealgestalt, das 12er-(Ur)thema Paradigma ist,
analog ist für den 7er-Zyklus – für dessen Idealbild – das 7er-Thema (M-Thema) paradigmatisch (siehe Figuren 36 und 37).
100
Dieses hermetische Prinzip: in Einem Vieles auszudrücken liegt der redaktionellen Struktur vieler antiker (mythologischer) Texte zugrunde, z. B. dem POLITIKOS-Mythos und dem Alten Testament (Texteinheit aus vier
verschiedenen ‚Fäden‘). Mehr dazu siehe in CHYRON, Principia Logica.
101
POLITIKOS, 269c
DER 7er- UND DER 5er-ZYKLUS



85






Figur 36 Die 7 Töne des M-Themas
als Widerpiegelung des 7er-Zyklus’
Dieser Zyklus proportioniert sich bezüglich seiner beiden Teile im Verhältnis 4 : 3 (vgl.
Exkurs S. 62, 63, 73 und 75 , 77 und 79). Wie aus dem POLITIKOS-Zitat hervorgeht, ist es
‚Gott selbst‘, der am Beginn dieses Zyklus’ steht und diesen einleitet: Das 7-fältige Prinzip des
Seins selbst setzt diesen ‚Zeiger der Weltuhr‘, quasi in persona, in Bewegung. Dieses Prinzip ist
auch das 7er-Gesetz des Bundes, den Gott im Alten (und Neuen) Testament mit seinem Volk
schließt (4 Teile des Zyklus’ umfassen den alten, 3 den neuen Bund). Dementsprechend gestaltet sich dieser 7er-Kreislauf (7 × 144 = 1008) des Bachschen Supercontrapunctus
hinsichtlich der Variantenauswahl und -anordnung folgendermaßen (siehe dazu wieder die
Nomenklatur auf S. 10):
Siehe dazu die folgende Kreislauffigur (Figur 37, S. 86).
1. Teil
4 x 144 = 576
1. Contrapunctus 12
2. Contrapunctus 2
(238 : 2 (T.- Erweiterung) +1) = ) 120 Takte
(84 – 4 (überlappte) = )
80 Takte
(ohne Punktierung)
3.
4.
5.
6.
Contrapunctus 1
Contrapunctus 3(A) (2 x 35 = )
Contrapunctus 4
Contrapunctus 5
78 Takte
70 Takte
138 Takte
90 Takte
2. Teil
3 x 144 = 432
7. Contrapunctus 6
79 Takte
8. Contrapunctus 7
61 Takte
9. Contrapunctus 9
(130 : 2 (T.- Erweiterung) = )
65 Takte
10.Contrapunctus 102 (98 : 2 (T.- Erweiterung) = )
49 Takte
11.Contrapunctus 8
(188 : 2 (T.- Erweiterung) = )
94 Takte
12.Contrapunctus 11 ( (184 – 17102) : 2 (T.- Erweiterung) =)84 Takte
Insgesamt: 7 x 144 = 1008
102
Siehe S. 87.
DER 7er- UND DER 5er-ZYKLUS
86
DER 7er-ZYKLUS
1008
Initium & Finis
Con
Co
80
n tr
a
T.
Contrap
. 10
49 T.
.
65 T
576
( A)
4
13
n
4
p.
tra
T.
8
61
Co
90 T.
C on
trap. 5
79 T.
.7
rap
T.
Con
3
Contrap
.3
5
144
70 T.
432
3 7 4.
2
6
trap 1
.
144
C on
1
7
78 T.
trap. 9
2
p.)
94
T.
nt
r
.
84 T
Contrap
. 12
120 T
.
(s.
Co
11
2
p.
.8
ap
trap.
Co
nt
C o ntr a
p. 6
Ouvertüre
GSETZE DES ZYKLUS’:
CANON in Hypodiapason
CANON alla Duodecima
CANON alla Decima
CANON in Hypodiatessaron (A)
SPIEGELFUGE a 4
SPIEGELFUGE a 3
SPIEGELFUGE a 3
1
1
2
Figur 37 Der Umlauf des 7er-Zyklus’
Kann man sich eine musikalische Form vorstellen, die dieses 7-fältige kosmologische Entfaltungsgesetz besser, d. h. überzeugender und endgültiger, verkörpert als jenes M-Thema
von Contrapunctus 12 ? Nicht wie ein einfacher Vortrag eines Fugenthemas, sondern wie
die gesetzeshafte Darlegung des Grundprinzips, des Logos selbst, nach dem das Ganze geschaffen
und aufgebaut ist, erklingen die 6 den 7er-Zyklus eröffnenden Takte von Contrapunctus 12:
In diesen 6 Takten dieses 7-fältigen Themas ist alles (Folgende) nach unverrückbarem Gesetz
und ein für allemal zusammengefaßt und vorweggenommen, - erst nach diesen 6 Takten
beginnt die eigentliche Fuge103.
103
Dem wäre auch bei der künstlerischen Interpretation Rechnung zu tragen, so wie etwa Helmut Walcha, auf
seiner Schallplatteneinspielung der Kunst der Fuge, mit sicherem musikalischen Instinkt, nach der
Themavostellung eine deutliche Zäsur setzt.
DER 7er- UND DER 5er-ZYKLUS
87
Daß die einzelnen Contrapuncti (auch) in diesem Zyklus an der jeweils richtigen Stelle
stehen, - darauf weist Bach durch folgende Besonderheiten hin:
Cp. 5 schließt 6-stimmig: er steht an 6. Stelle des Zyklus’.
Cp. 6 schließt 7-stimmig: er steht an 7. Stelle des Zyklus’.
Cp. 6 steht im fr. Ouvertürerhythmus: er eröffnet den 2. Teil des Zyklus’.104
Der (für den 12er-Zyklus) eingeschobene, 8½ (17) Takte umfassende Auftritt des
Inverso-‚Ur’themas in Contrapunctus 11 (Takt 36II (72) bis 44 (88)) zertrennt diese Fuge in
zwei Teile, die im selben taktanzahlmäßigen Verhältnis zueinander stehen wie die beiden
Teile des gesamten 7er-Zyklus’:
1008
432 (T.) : 576 (T.)
3 × 122 : 4 × 122
Denn nimmt man (für den 7er-Zyklus) diese 8½ (17) Takte (wieder) heraus, so verbleiben
für diesen Contrapunctus 11 84 (167) Takte, in folgender Proportion seiner beiden Teile:
84
36 (T.) : 48 (T.)
3 × 12 : 4 × 12
Der erste Teil von Contrapunctus 11 geht also in diesem Zyklus unmittelbar – also ohne den
8½ - (17-)taktigen Einschub des Inverso-‚Ur’themas – in den zweiten über:
Teil 2:
Teil 1:
36
     
     
        




35
(69)
I
T a k t e
48



   
T a k t e


 
  
        







 
 
              
       
    


35
(70)
II
36 45
(71) (89)
I
I
45
(90)
II
46
(91)
I
Diese Trennlinie kann aber auch folgendermaßen gezogen werden, so daß sich eine Proportionierung nach dem 12er-Zyklus (5 : 7) ergibt – Hinweis darauf, daß der 7er-Zyklus –
als hierarchisch nächsthöherer Zyklus – den 12er-Zyklus regiert105:
104
Für den 7er-Zyklus, den mittleren der drei Zyklustypen, ist diese 7-Stimmigkeit kurz nach der Mitte sehr
folgerichtig.
105
Zu dieser zweifachen Proportionierung (3 : 4 und 5 : 7) vgl. den Chorsatz Es ist nun nichts Verdammliches
aus der Motette Jesu, meine Freude (BWV 227), siehe Exkurs S. 77.
DER 7er- UND DER 5er-ZYKLUS
88
Teil 1:
35
T a k t e
     
     
        

Teil 2:



35
(69)
I


   
49
T a k t e



 
  
        





 
   
              
       
    


35
(70)
II
36 45
(71) (89)
I
I
45
(90)
II
46
(91)
I
84
35 (T.) : 49 (T.)
5 × 7 : 7 × 7
Die Taktanzahlproportionierung der beiden Teile des 7er-Zyklus’ (3 × 144 : 4 × 144)
ist auch durch die Spiegelfuge a 3 – im Zusammenhang mit seiner 4-stimmigen Bearbeitung
(für zwei Klaviere) – gekennzeichnet:
SPIEGELFUGE a 31
Recto
Inverso
72 106(T.) × 3 (St.)
SPIEGELFUGE a 32
Recto
Inverso
72 (T.) × 3 (St.)
3 × 144
432
72 (T.) × 4 (St.)
:
:
72 (T.) × 4 (St.)
4 × 144
576
Auf die kosmologische (Be)deutung dieses 7er-Zyklus’ möchte ich hier nicht näher
eingehen. Im POLITIKOS-Mythos wird – in symbolisch-verschlüsselter Form – eingehend
geschildert, wie zwischen beiden Teilen ein Umlaufwechsel stattfindet: vom paradiesischen
Zustand des ersten Teils (‚Alter Bund‘) zum ‚gegenwärtigen‘ des zweiten (‚Neuer Bund‘)107. Im Zusammenhang mit diesem Umlaufwechsel bietet sich für die Aufführung – neben dem Normalschluß nach den 1008 Takten, mit Ende von Contrapunctus 11 – eine weitere sinnvolle und
für den Zuhörer beeindruckende Möglichkeit: Der Kreis wird über den 1008. Takt weitergeführt, d h. ein neuer Kreis beginnt, und erst am Ende des ersten Teils dieses neu beschrittenen Kreises wird, mit dem 6-stimmigen Schlußakkord von Contrapunctus 5, nachdem sich
in dessen letzten Takten die beiden Formen des Urthemas (also recto und inverso) zum
sinnbildlichen Zusammenschluß als Weltseele übereinander geschichtet haben, geendet. Als
kennzeichnende Taktanzahl – unterstreichend, daß (auch) dieser Schluß Bachs Intention
entspricht – ergibt sich:
1008 + 576 = 1584 = 2 × 792108
1584/504 = 22/7 ≈ π
106
Inklusive Auftakt
Die beiden Bünde der Bibel beschreiben (in ihrer zeitlichen Dimension) – ebenfalls rein symbolisch und nicht
etwa real-historisch verstanden – dieselbe kosmologische Struktur.
108
Zu dieser Zahl siehe Exkurs, S. 81 f.
107
DER 7er- UND DER 5er-ZYKLUS
89
Das Besondere, Beeindruckende bei der Aufführung dieses 1½-Kreises ist, daß der
Hörer nicht nur den Wechsel vom 1. zum 2. Teil, sondern den noch viel gravierenderen
vom 2. wieder zurück zum 1., musikalisch miterlebt: Je weiter aber die Zeit vorrückt und Vergeßlichkeit sich einschleicht bei ihr [der Welt], umso mehr nimmt auch überhand der Zustand der alten
Verwirrung, welcher am Ende der Zeit vollkommen aufblüht, so daß sie, nur aus wenig Gutem und
einem großen Anteil des Entgegengesetzten jede Mischung zusammensetzend, in Gefahr des Verderbens
gerät, sie selbst und alles in ihr. Weshalb denn alsdann schon der Gott, welcher sie eingerichtet hat, wenn
er sie in diesen Nöten erblickt, aus Besorgnis, daß sie nicht zertrümmere und durch die Zerrüttung gänzlich aufgelöst in der Unähnlichkeit unbegrenztes Meer versinke, sich selbst wiederum an das Ruder stellend, alles, was erkrankt und aufgelöst ist, durch Umwendung in den früheren, ihm selber gemäßen Umlauf wieder in Ordnung bringt und so alles wieder ausbessernd die Welt unsterblich und alterslos herstellt.109
Die Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten im Text des gesamten POLITIKOSMythos110 resultieren – auch wenn man das bewußt Kryptogrammartige berücksichtigt – daraus, daß hier der 7er-Zyklus mit dem nächst höheren, dem 5er-Zyklus, (absichtlich) vermengt wurde. Der Topos der ‚Zeitumkehr‘111, von dem im Text die Rede ist, hat zu tun mit
jenem umfassenden, unendlichen, alles einschließenden kosmologischen Gesamtzeitkreis
(Weltenjahr), nach dessen Vollendung alles neu ‚beginnt‘ und die Zeit in entgegengesetzter Richtung läuft. Es betrifft den schweren Weg der Menschheit: Passus Duriusculus Generis Hominum112,
in Töne gefaßt durch das B-A-C-H-Thema und gemäß den 5 Oktaven, die der
Quartenzirkel durchmißt, in (2N ×) 5 Abschnitte113 unterteilt (siehe Figuren 38 und 39).
Passus Duriusculus Generis Hominum





 

 


 
Figur 38 Die 5 (10) Töne des B-A-C-H-Themas
als Widerspiegelung des 5er-Zyklus’
109
POLITIKOS, 273c − e
POLITIKOS, 269c − 274e
111
POLITIKOS, 270 b ff.
112
Im 5er-Zyklus gewinnen alle musikalischen Charakteristika rein vordergründige Bedeutung: (d-)moll als Tonart des Schmerzes; Chromatik (auch in den Contrapuncti 1 bis 7) – Ausdruck der Sünde, des Leidens etc.
113
Als 5er-Zyklus – der hierarchisch ‚letzte‘ der drei Zyklen – endet er bei Bach folgerichtig 5-stimmig
(Contrapunctus 11).
110
DER 7er- UND DER 5er-ZYKLUS
90
DER 5er-UMLAUF
Passus Duriusculus Generis Hominum
Initium & Finis
2
98 T.
.
130 T
2
T.
p.4
12
T.
r
n
tra
2
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p. 3
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3
5
27
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p. 10
Contra
5
4
(A)
trap. 1
1
5
13 9
trap. 9
Co n
2000
147 T.
Co n
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(s.p
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Contrap
trap. 11
. 12
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1
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16 7 T I S
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T.
18
trap. 5
C on
.
17 9 T
158 T
.
C o n t ra
Co
nt
p. 6
GESETZE DES ZYKLUS’:
CANON in Hypodiatessaron
SPIEGELFUGE a 4
Figur 39 Der Umlauf des 5er-Zyklus’
Dieser kosmologische Gesamtkreislauf beträgt – nach den erwähnten Schriften – :
259,2
(32 × (288(289− 1) ) × ((6 × 37) + (1 × 37,2)) × (200000) =
12er-Zyklus
7er-Zyklus
5er-Zyklus
200000 × 259,2 × 12er-Zyklus =
2000 × 25920 × 12er-Zyklus =
51.840.000 12er-Zyklen
Bachs 5er-Zyklus umfaßt dementsprechend 2000 Takte, d. h. 11 Contrapuncti haben sich
bei diesem Zyklus – durch Takthalbierung (=Taktanzahlerweiterung) – dem (zeit)maßgebenden
DER 7er- UND DER 5er-ZYKLUS
91
Contrapunctus 11 bzw. dessen (normaler) Taktierung anzupassen. Die Anpassung (die zu
dieser Gesamttaktanzahl von 2000 führt) erzwingt Bach durch die ersten 6 Takte von
Contrapunctus 12. Denn es ist wohl klar, daß es nicht 3 (wie bei Takterweiterung
(=Taktanzahlhalbierung)), sondern 6 Takte sein müssen, in denen das 7-fältige Thema (Dux)
erscheint und sich im 6. Takt dann sein Ebenbild (Comes) erschafft.
Mit der Zahl
2000 × 25920 = 51.840.000
harmonisiert auch die Taktanzahl des diesen Gesamtkreislauf (passus duriusculus) repräsentierenden und gesetzmäßig regierenden Quartkanons:
51.840.000 = 108 × 480.000
Passus Duriusculus Generis Hominum

 

108
+

1 (Endtakt)

 
  


 
    
51.840.000 = 108
480.000
Figur 40 Der CANON in Hypodiatessaron
als Gesetz des 5er-Zyklus’
Der Canon enthält in seinen beiden Themengestalten - also recto und (augmentiert) inverso
– alle 4 ‚chromatischen‘ Töne der Weltseele, er reflektiert letztere daher nicht nur in seiner (äußeren) Form, sonder auch direkt tonal.
Die Themenparadigmen aller drei Zyklen, stellvertretend für die Zyklen selbst, ergeben zusammengespannt (als vereinheitlichendes Symbol aller drei Kreislauftypen) jene
unendliche Tonkreislauffigur (der Nahtstelle). Siehe Figur 41.
DER 7er- UND DER 5er-ZYKLUS
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84
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
92
KREISLAUF
Töne: 56 / Tonstufenzahl: 179
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12er-Z Y K L U S



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



Töne: 12 / Tonstufenzahl: 33
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
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7er-Z Y K L U S

Töne: 6 / Tonstufenzahl: 23

(Initium = Finis)

 



5er-Z Y K L U S
Töne: 10 / Tonstufenzahl 53





 

 
INSGESAMT:
TÖNE : 84 / TONSTUFENZAHL : 288
Figur 41 Die Themenkombination der Nahtstelle als symbolische
Vereinigung der Zyklustypen zu einem einzigen ewigen Kreislauf
Was ist aber mit all den anderen, schönen Themenkombinationsmöglichkeiten, die
Nottebohm (und andere) herausgefunden haben? Sind sie ohne Bedeutung? – Nein. Es
genügt, daß diese Kombinationen potentiell existieren. Ihre potentielle Existenz bedeutet:
daß sie bzw. die durch sie symbolisierten kosmologischen Strukturen alle denselben (göttlichen) Gesetzen unterstellt sind (d. h. also: alle 4 eine göttliche Harmonie bilden), - auch
wenn sie – zeitlich – niemals (außer in diesen 5 Takten) miteinander verbunden sind, sondern sich die Regentschaft teilen (daher konnte und kann mit allen 4 Themen niemals eine
überzeugende (wahre) Fuge (Quadrupelfuge) komponiert werden; jeder Versuch war und ist
von vornherein zum Scheitern verurteilt. – Der Themenkanon auf der Buchrückseite möge
dieses gemeinsame kosmologische Verankertsein aller 4 Themen in ein und demselben Prinzip
(Gesetz) zum Abschluß dieses Aufsatzes sinnbildlich (musikalisch) zum Ausdruck bringen.
DER 7er- UND DER 5er-ZYKLUS
93
NACHWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE 1997
Mit diesem einführenen Aufsatz über Bachs Kunst der Fuge ist natürlich nur ein Bruchteil der Struktur dieses musikalischen Wunderwerkes berührt. Wie in den 4 (5) Abschnitten offenbar geworden ist, stellt diese Komposition das Nonplusultra eines musikalischen
Kunstwerks dar, ein Werk, das nicht seinesgleichen hat: ein Opus Perfectum et Absolutum.
Bach wußte, warum er es Kunst der Fuge nannte – abgesehen von der ‚sinnigen‘ Zahlenstruktur dieses Titels:
144
KUNST DER FUGE
5
3
4
die anderen Werke (die er drucken ließ) dagegen Übungen (Clavierübung): So überragend
diese Werke dieses wunderbaren Komponisten – unerreichbare Muster ihrer jeweiligen Gattung – auch sind, - im Vergleich zu diesem erscheinen sie tatsächlich wie ‚Vorübungen‘ (‚Studien‘). Die Kunst der Fuge ist insofern quasi Bachs OPUS PRIMUM – das Opus Primum der
(gesamten) Musik überhaupt und schlechthin (Anfang und Ende der Musik). Es ist uns – Gott sei
Dank – vollständig erhalten.
____________
Um den Inhalt dieses Aufsatzes in eine ihm angemessene Form zu bringen, wäre eigentlich eine mehrere hundert Seiten umfassende Abhandlung erforderlich, zu der ich
aber gegenwärtig – ich wies schon darauf hin – aus Zeitmangel nicht in der Lage bin. Ich
war daher gezwungen, viele der für das Verständnis notwendigen Nebengedanken, die
ansonsten eigene Abschnitte füllen würden, durch eine große Anzahl von Klammerbildungen und Parenthesen ‚komprimiert‘, sozusagen ‚zwischen den Zeilen‘, unterzubringen. Dadurch ist der Text z. T. schwer lesbar geworden, und ich bitte den Leser dafür hiermit
nachträglich um Entschuldigung, - mit der ich aber wohl rechnen darf, da er für diese
Mühe durch die sorgfältig gestalteten Abbildungen sicherlich weitgehend entschädigt wurde.
Berlin den 7. Juli
1997
Chyron
94
THEMENKANON
(Canticum Canticorum)
Moll - Dur




 
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Der sich ewig
bewegende Kreislauf
von Tag und Nacht
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 

    
Wahrheit (verborgen)
in der Nacht
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Der Teufel (verborgen)
am Tage
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



Regierung des Teufels
in der Nacht
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Das 7-fältige Prinzip
als Grundlage des Seins
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
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



DER 7er- UND DER 5er-ZYKLUS

Regierung
der Wahrheit am Tage
(Licht der Wahrheit)
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