Posttraumatic Stress Disorder

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Posttraumatic Stress Disorder
(Posttraumatische Belastungsstörung)
Fachbereichsarbeit zur schriftlichen Reifeprüfung
im Fach Psychologie und Philosophie
am Bundesgymnasium Gänserndorf
Marianne Zier, 8a
Schuljahr 2000/01
Inhaltsverzeichnis
Teil 1 - Stress
1 GRUNDLAGEN
9
2 DIE STRESSOREN
13
2.1 Arbeitsdefinition von „Stressor“
13
2.2 Ablauf der Stressreaktion
17
2.3 Stressformen
2.3.1 Psychischer Stress
2.3.2 Chronischer Stress
2.3.3 Akuter Stress
18
18
18
19
3 STRESSREAKTION DES ORGANISMUS
20
3.1 Biochemische Stressvorgänge
21
3.2 Was geschieht nach dem Einsetzen der Notfall-Reaktion?
22
3.3 Wann wird die Stressbewältigung problematisch?
23
3.4 Stress macht krank
24
Teil 2 Posttraumatic Stress Disorder
4 BESCHREIBUNG DES STÖRUNGSBILDES PTSD
28
4.1 Entwicklung des Begriffes ‘PTSD’ - Historischer Hintergrund
4.1.1 Zeitraum ohne Definition des PTSD
4.1.2 Das erste Auftauchen der Symptombeschreibung und Einordnung des PTSD in einer
Klassifikation
4.1.3 Der Begriff ‘Posttraumatic stress disorder’ wird im DSM aufgenommen
28
29
4.2 Definiton ‘Psychisches Trauma’
36
4.3 Symptome des PTSD
36
4.4 Was macht einen Stressor traumatisch ?
37
4.5 Diagnostische Kriterien nach ICD-10 bzw. DSM-IV
39
4.6 Auffällige, psychische Symptome des PTSD
4.6.1 Autonome Übererregbarkeit und intensives Wiedererleben
4.6.2 Emotionale Überreaktionen und Schlafprobleme
41
41
41
31
33
Seite 1
4.6.3 Lernstörungen
4.6.4 Erinnerungsstörungen und Dissoziation
4.6.5 Aggressionen und Autoaggressionen
4.6.6 Betäubung der psychischen Reaktivität
4.6.7 Abhängigkeit der psychischen und biologischen Reaktion auf das Trauma vom
Entwicklungsstand
41
42
42
43
43
4.7 Stressreaktion und die Psychobiologie von PTSD
4.7.1 Aktivierung und Reaktion auf Gefahrensignale
4.7.2 Betäubtsein
4.7.3 Psychosoziale Folgen
44
44
45
45
5 SITUATIONEN, IN DENEN PTSD ENTSTEHEN KANN
47
5.1 Gefährdete Personen
47
5.2 Der Krieg, die Quelle posttraumatischer Belastungsstörungen für die gesamte Bevölkerung48
5.2.1 Vorbemerkung
48
5.2.2 Auswirkungen des Krieges auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung
49
5.2.3 Psychische Krankheiten, die durch Kriegshandlungen entstehen und ihre Häufigkeit in
einem Kriegsgebiet
50
5.2.4 Todeszahlen in den einzelnen Kriegen
50
5.2.5 Neue Betrachtungen zu den psychischen Folgen von Kriegshandlungen
52
6 EPIDEMIOLOGIE DES PTSD
56
6.1 Bevölkerung
56
6.2 Die Helfer
57
7 PRÄVENTION DES PTSD
54
7.1 Grundsätzliches
Fehler! Textmarke nicht definiert.
7.2 Gemeinsame Ziele aller CISM - Maßnahmen
60
7.3 Übersicht über die einzelnen Interventionen des CSIM
62
8 DIE THERAPIE DES PTSD
63
8.1 Implikationen für die Behandlung von PTSD
63
8.2 Pharmakologische Behandlung
8.2.1 Vorbemerkungen
8.2.2 Psychopharmaka und Nebenwirkungen
8.2.3 Wirkung der Psychopharmaka auf das PTSD
8.2.4 Antidepressiva
8.2.5 Antiepileptika
8.2.6 Benzodiazepine
64
64
66
67
68
69
69
8.3 Psychotherapie
8.3.1 Allgemeines
8.3.2 Psychotherapie des PTSD
70
70
71
9 FALLGESCHICHTE
86
9.1 Zusammenfassung
86
Seite 2
9.2 Einleitung
86
9.3 Kasuistik
9.3.1 Aktuelle Symptomatik zu Therapiebeginn
9.3.2 Biographische Vorgeschichte
9.3.3 Krankheitsentwicklung
87
87
87
87
9.4 Behandlungsplan
9.4.1 Therapieverlauf
9.4.2 Katamnese
89
89
91
9.5 Diskussion
92
10 ZUSAMMENFASSUNG
94
Anhang
11 DEFINITION DES PTSD NACH INTERNATIONALEN KLASSIFIKATIONSSYSTEMEN98
11.1 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM)
99
11.2 Allgemeines zum DSM
11.2.1 Geschichte:
11.2.2 Merkmale
99
99
99
11.3 Kriterien der Stress-Erscheinungen nach DMS III-R
100
11.4 DMS-IV
11.4.1 Einfaches PTSD (DSM IV)
11.4.2 Kompliziertes PTSD
101
101
102
11.5 Das Klassifikationssystem ICD10
11.5.1 Internationale Klassifikation der Krankheiten 10. Revision
11.5.2 Die Beschreibung des Störungsbildes im ICD10
104
104
104
Seite 3
Einleitung
Seite 4
Einleitung zur Fachbereichsarbeit
Fast alle Menschen kennen aus eigener Erfahrung Situationen, in denen sie sich beruflich
oder privat überfordert fühlen; wo sie überlastet, gereizt, hektisch oder nervös sind. Das
Gleichgewicht zwischen An- und Entspannung, Aktivität und Ruhe, Stress und Erholung ist
heute allzu oft gestört.1
Stress entsteht überall: im Beruf, in der Gesellschaft, in der Familie - ja, er verfolgt uns
sogar noch bis in den Schlaf! Klagen über Stress am Arbeitsplatz nehmen ständig zu.
Sowohl die Jobs am Fließband als auch die Positionen in der Chefetage sind mit Stress
verbunden.
Weil jeder schon einmal Stress erfahren hat, meinen die meisten auch zu wissen, was
Stress ist. Aber Stress ist nicht gleich Stress. Viele Menschen betrachten Stress als einen
rein negativen Einfluss, der ihre Energie und Entscheidungsfähigkeit schwächt, ihre
Leistung mindert und sie anfälliger für Krankheiten macht. Es kommt darauf an, wie die
Person den Stress selbst sieht und bewertet. Stress ist keine objektive Größe, Stress ist,
was man dafür hält.
Was den einen stresst und ihn womöglich handlungsunfähig macht, kann auf den anderen
wie ein belebendes Elixier wirken, seine Geister erst recht wecken und zu neuen Taten
anspornen. Wissenschaftlich wurde jedoch nachgewiesen, dass Stress auch positive
Auswirkungen hat — mehr noch, dass ein gewisses Maß an Stress notwendig ist, um ein
glückliches und erfülltes Leben führen zu können. Ob Stress einen Menschen aber
vorwiegend positiv oder negativ beeinflusst, hängt in erster Linie davon ab, wie er StressSituationen aufnimmt und verarbeitet. Beides, das Erkennen und die erfolgreiche
Bewältigung von Stress, sind Dinge, die man erlernen kann.2
An ständigen, übermäßigen Stress kann man sich nicht gewöhnen. Kein Feuerwehrmann
wird irgendwann resistent gegen solche Stressoren, wie die Gefahr für das eigene Leben im
Einsatz oder den Anblick von schweren Verletzungen oder Verstümmelungen.
3
Seiner vielfältigen, körperlichen Auswirkungen wegen, ist Stress ein bedeutsamer
Risikofaktor für unterschiedlichste Erkrankungen. Doch wird bei weitem nicht jeder krank,
der starker Belastung ausgesetzt ist.4
Lebende Systeme verfügen über Mechanismen, sich an ungünstige Veränderungen ihrer
Umwelt anzupassen - schließlich ist dies auch eine Voraussetzung, damit Lebewesen sich
neu organisieren und nach dem Prinzip der Evolution weiterentwickeln können. Auch für das
Individuum kann Stress eine Herausforderung sein; es kann Erfahrungen im Umgang mit
ihm speichern und Wege finden, um neue Belastungen zu bewältigen.5
1
WAGNER-LINK, Angelika: Verhaltenstraining zur Streßbewältigung. Pfeiffer, München,
1995. S. 0.
2
TIME LIFFE: „Wie erkennt man Stress“. Stress-Bewältigung. Amsterdam, 1990. S. 6.
3
BESTE, Dieter: „Editorial“. Spektrum der Wissenschaft. Dossier 3/1999. S. 3.
4
KALUZA, Gert: „Stressbewältigung und Gesundheit“. Spektrum der Wissenschaft. Dossier
1999/3. S. 54.
5
HÜTHER, Gerald: „Der Traum vom stressfreien Leben“. Spektrum der Wissenschaft.
Dossier 1999/3. S. 6.
Seite 5
Einleitung zur Fachbereichsarbeit
Menschen können in Situationen hineinschlittern, die weit über das gewohnte Maß einer
Belastung hinausgehen. Unfälle, Krankheiten oder Gewalttaten sind nur eine kleine Auswahl
an schrecklichen Erlebnissen, die über manche Menschen hereinbrechen. Sie sind
außergewöhnliche Ereignisse mit einem besonders hohen Stress-Potential. „Es werden
Ereignisse erlebt, die außerhalb jeder normalen menschlichen Erfahrung liegen und bei fast
jedem Menschen enormen Streß auslösen würden.“6
Körperliche Verletzungen durch Unfälle, Opfer von Straftaten, schwere Krankheiten und
Begegnungen mit Sterbenden sind zwar Teil des menschlichen Daseins, aber der einzelne
Mensch empfindet solche Lebenssituationen — auch und gerade weil sie eher selten
auftreten — als sehr belastend. Sie führen bei vielen Menschen, über die aktuelle
Bedrohung
und Belastung hinaus, häufig zu gravierenden Einschränkungen der
Lebensqualität.7
Bei den Betroffenen dieser schrecklichen Ereignisse wird zunächst grob zwischen zwei
Personengruppen unterschieden: Da sind zunächst jene Personen, die selbst das Ereignis
erlebt haben, bzw. selbst die Verletzungen oder Gewalttaten erleiden mussten. Die andere
Personengruppe besteht aus jenen Menschen, die aus verschiedenen Gründen das Unglück
ansehen mussten; zum einen, weil sie zufällig am Ort des Geschehens waren, zum
anderen, weil sie den verletzten und/oder bedrohten Menschen geholfen haben. Das sind
die Retter oder Helfer bei diesen schrecklichen Ereignissen. Beide Personengruppen, die
Geschädigten und die Helfer, können von besonders stark stressenden Erlebnissen einen
bleibenden,
psychischen
Schaden
davontragen.
Man
nennt
dieses
Phänomen
‘Posttraumatische Belastungsstörung’ oder engl. ‘Posttraumatic Stress Disorder’ (Abk.:
PTSD).
„Feuerwehrleute, Sanitäter, Notärzte und Polizisten - oft riskieren sie ihr eigenes Leben,
um das anderer zu retten. Die Leiden und Schrecken, die ihnen dabei begegnen,
übersteht weniger als ein Viertel der Helfer unversehrt: Über 75 % entwickeln im Laufe
ihres Lebens psychische Auffälligkeiten. 40 % leiden unter depressiven Verstimmungen,
und 60 % zeigen Defizite im sozialen Kontakt. Die Hälfte klagt häufiger über körperliche
Beschwerden als der Rest der Bevölkerung, und 20 % haben Probleme mit Alkohol,
Medikamenten und anderen Drogen. Jeder fünfte Feuerwehrmann entwickelt eine
sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung.“8
Grob skizziert ist diese Posttraumatische Belastungsstörung ein wiederholtes, intensives
Erinnern im Wachen und auch im Traum an das Ereignis. Auch wird das eigene
Gefühlsleben eingeschränkt und das Interesse und die Beteiligung am Alltagsgeschehen
lässt nach. Zusätzlich sind noch Gedächtnisstörungen, Konzentrationsstörungen und
Schlafstörungen vorhanden. Des Weiteren führt es zur Vermeidung von Situationen ähnlich
6
KORITTKO, Alexander: „Trauma: Wenn nichts mehr ist, wie es war“, Psychologie heute.
20. Jhrg., 1993/4. S. 55.
7
STEPHAN, Egon: „Hilfe für Helfer: Prävention von Stress und Traumatisierung“. Spektrum
der Wissenschaft. Dossier 1999/3. S. 60.
8
MIESEN, Jana: „Viele Helfer brauchen selbst Hilfe“. Psychologie heute. 26. Jhg., 1999/8.
S. 12.
Seite 6
Einleitung zur Fachbereichsarbeit
des belastenden Ereignisses, was für Menschen in helfenden Berufen besonders
erschwerend ist, weil sie ihre meist ehrenamtliche Tätigkeit nicht mehr ausüben.
9
In den westlichen Zivilisationen sind meist Unfälle oder Naturkatastrophen der Anlass für
plötzlich auftretende, psychische und/oder physische Gewalteinwirkungen. Die Häufigkeit
dieser Ereignisse ist gering und im Grunde genommen, betrifft es einen eng begrenzten,
überschaubaren Teil der Bevölkerung. Trotzdem werden wir täglich mit Nachrichten
konfrontiert, in denen Menschen Opfer von Gewalt werden. Die Toten werden betrauert, und
die Überlebenden sind scheinbar mit einem Schock oder einem ‘blauen Auge’
davongekommen. „Ihr weiteres Schicksal ist schon am nächsten Tag kaum noch eine
Nachricht wert.“10 Die nicht betroffenen Menschen können schon nach der Rezeption der
Nachrichten zur Tagesordnung übergehen.
Völlig anders ist dies in Kriegsgebieten: In kriegsbelasteten Landstrichen wird fast die
gesamte Bevölkerung mit Gewalttaten konfrontiert. Weniger durch die kämpfenden
Truppen, als viel mehr durch Bombardements, Vertreibungen und extremen Mangel an
Lebensmitteln und Unterkünften.
Europa hat im vergangenen Jahrhundert zwei schreckliche Kriege erlebt, mit ca. 60
Millionen Toten. Man müsste meinen, dass diese Völker einen besonders hohen
Wissensstand über die psychischen Folgen der Bewohner von Krieg führenden Nationen
hätten, aber dem ist nicht so.
Europa hat sich nach den Kriegen mit dem Aufbau beschäftigen müssen und deshalb keine
Ressourcen für die Erforschung der psychischen Kriegsfolgen bereitstellen können. Brigitte
LUEGER-SCHUSTER, Ass. Professorin des Institutes für Psychologie der Universität Wien,
sieht die Erforschung der Kriegstraumata in der Nachkriegszeit folgendermaßen:
„Bedenkt man, dass die traumatisierte Nachkriegsgesellschaft in Deutschland und in
Osterreich primär damit beschäftigt war, den Wiederaufbau des Landes zu tätigen (...)
nimmt es nicht Wunder, dass die psychotraumalologische Forschung in Europa bis zu den
80er Jahren brach lag und eher widerwillig die Erkenntnisse aus USA zur Kenntnis
genommen wurden (...). Auch die USA taten sich mit der Thematik schwer, doch konnte
speziell nach Vietnam das Ausmaß traumatisierter Männer nicht mehr übersehen
werden.“11
In den letzten 10 - 15 Jahren kamen die humanitären Hilfseinsätze hinzu, bei denen die
Helfer aus ihrer gewohnten Lebenssituation von einem Tag auf den anderen in
Kriegsgebiete kamen und mit schrecklichen Gräueltaten konfrontiert wurden, die die
psychische Gesundheit der Helfer massiv beeinträchtigten. Das Fallbeispiel dieser Arbeit
beschreibt die Lebensgeschichte einer Krankenschwester. Sie war beim internationalen
Hilfseinsatz in mehreren Krisengebieten tätig, so auch in Afghanistan und Tschetschenien.
Ihr engagierter Einsatz wurde wegen massiver psychischer Probleme (als PTSD
9
KORITTKO, Alexander: „Trauma: Wenn nichts mehr ist, wie es war“, Psychologie heute.
20. Jhrg., 1993/4. S. 54.
10
a. a. O.
11
LUEGER-SCHUSTER, Brigitte: „Psychotraumatologie“. Psychologie in Österreich.20.
Jhrg. 12/2000. S. 276.
Seite 7
Einleitung zur Fachbereichsarbeit
diagnostiziert) beendet. In der Heimat konnte das PTSD erfolgreich mit Psychotherapie
behandelt werden.
Es entsteht der Eindruck, dass die psychischen Folgen von Kriegshandlungen lange Zeit
unterschätzt wurden. Auch heute noch werden die Folgen von Bombardements der
Zivilbevölkerung verzerrt eingeschätzt. Der deutsche Psychoanalytiker SCHMIDBAUER
sieht dies sogar optimistisch:
„Der Luftkrieg schien selbst in einer so massiv betroffenen Bevölkerung wie der deutschen
nur in extremen Fallen dauerhafte psychische Schaden ausgelöst zu haben. Daher ist
davon auszugehen, dass auch in Jugoslawien (=Ex-Jugoslawien, Serbien, Anmerk. d.
Verfasserin) bleibende seelische Schäden in der breiten Bevölkerung eher die Ausnahme
sein werden. Betroffen sind vorwiegend die, welche verschüttet oder verletzt wurden,
Kameraden oder Angehörige verloren haben.“12
Ganz anders stellt sich die Situation der Vertriebenen dar:
„Einige Wochen Flucht in einem Kriegsgebiet reichen aus, um Menschen vollständig zu
demoralisieren. Sie werden aus jeder Sicherheit herausgerissen. Ihre sozialen Strukturen
sind oft völlig zerstört, Unbewaffnete sind Freiwild für jeden Bewaffneten, Mütter werden
vor ihren Kindern vergewaltigt. Was die Vertreiber nicht raubten, wird von Banditen
geplündert. Die Heimat und oft jede Hoffnung auf Rückkehr sind verloren; die Wehrlosen
fühlen sich extrem gedemütigt. Wer wochenlang in seinen Kleidern geschlafen hat nur
noch besitzt, was er tragen kann, und erschöpft einem ungewissen Schicksal entgegengeht, trägt zeitlebens an den seelischen Folgen dieser Situation, auch wenn er sie überlebt
und materielle Sicherheit gefunden hat.“13
Aber nicht nur, dass die Betroffenen für ihr ganzes Leben mit psychischen Schäden
weiterleben müssen, sogar ihre eigenen Kinder erleben die Folgen der schrecklichen
Lebensereignisse noch lange nach der Katastrophe:
„Während die Erwachsenen das Durchlittene meist verdrängen und verbissen ein neues
Leben aufbauen, fühlen sich die Kinder Vertriebener oft ihrer Kindheit beraubt. Sie
stecken in einem Käfig, dessen Stäbe die negative und defensive Sicht der Welt bilden,
die ein unverarbeitetes Flüchtlingsschicksal mit sich bringt. Diese Kinder schwanken
zwischen Rebellion und depressiver Anpassung und enttäuschen zwangsläufig ihre Eltern,
die nie verstehen, weshalb ihre Erben so undankbar sind.“14
Der amerikanischer Psychologe Richard F. MOLLICA, Professor für Psychiatrie an der
Harvard Medical School in Cambridge, konnte erkennen, dass bisher die psychischen
Kriegsfolgen unterschätzt wurden. Die große Mehrheit der Bevölkerung in einem
Kriegsgebiet erfährt länger anhaltende seelische Probleme. Damit eine Gesellschaft
gesunden kann, darf diese Mehrheit keinesfalls übersehen werden. In dieser Arbeit werden
die wichtigsten Erkenntnisse von MOLLICA und sein Resumé dargestellt.
Das PTSD wird jetzt als Krankheit anerkannt. Erstmals wurde es 1980 in das diagnostic and
statistical manual of mental disorders der AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION (Abk.:
APA) aufgenommen. In den darauffolgenden Revisionen, bis zur jetzt aktuellen Version IV,
12
SCHMIDBAUER, Wolfgang: „Unter Bomben, auf der Flucht“. Psychologie heute. 26. Jhg.,
1999/9. S. 36.
13
a. a. O.
14
a. a. O.
Seite 8
Einleitung zur Fachbereichsarbeit
wurde die Klassifikation PTSD angepasst und erweitert. Die Diskussion der Klassifikation ist
noch im Laufen. Außerdem gibt es einen ähnlichen Katalog von psychischen Störungen, die
ICD-10 der WORLD HEALTH ORGANISATION, in dem das Störungsbild einer
Posttraumatischen Belastungsstörung beschrieben wird, sich aber nicht mit der Definition
der APA vollständig deckt.
Als Therapiemöglichkeiten bieten sich die medikamentöse Therapie und die Psychotherapie
an. Von den Psychopharmaka sind es vor allem die Antidepressiva, die vielversprechende
Forschungsergebnisse vorweisen. Aus dem breit gefächerten Gebiet der Psychotherapien
zeigt besonders der behaviorale-kognitive Therapieansatz gute Erfolgschancen, hingegen
die psychodynamischen Therapien sind eher weniger von Erfolg gekrönt. Im Kapitel ‘Die
Therapie des PTSD’ werden die wichtigsten Behandlungschancen von Psychopharmaka
gegen das PTSD beschrieben. Ebenfalls, aber etwas breiter, wird die Psychotherapie
skizziert. Auch in der Fallgeschichte wird die Heilung eines PTSD mittels Psychotherapie
dargestellt und diskutiert.
Viel wichtiger sind jedoch jene Ansätze, die ein umfassendes Versorgungsystem gegen das
PTSD darstellen. In den USA hat sich vor allem das critical incident stress management von
MITCHELL
bewährt. Es zielt darauf ab, ziemlich bald nach dem belastenden Ereignis
mittels Gruppensitzungen die Festigung des PTSD zu verhindern. In Österreich wird es zum
Teil schon eingesetzt. Beim Roten Kreuz ist eine ensprechende Organisation schon weit
entwickelt.15 Für die österreichischen Freiwilligen Feuerwehren wird das critical incident
stress management derzeit aufgebaut.16 Wie critical incident stress management abläuft,
wird in einem Teil dieser Arbeit beschrieben.
Teil 1
Stress
1
Grundlagen
Begriffsklärung
15
BINDER-KRIEGELSTEIN, Cornel: „Stessbearbeitung nach belastenden Ereignissen
(SbE) und Krisenintervention (KIT) in österreichischen Einsatzorganisationen“. 20. Jhg.,
5/2000, S. 258.
16
WEISSGÄRBER, Wilfried, Landesbranddirektor: „Zum Thema“. BRAND AUS. 1/2001,
S. 5.
Seite 9
Stress
Unter den Laien wird Stress häufig mit Arbeitsüberlastung, Hektik, wachsendem Zeit- und
Termindruck
gleichgesetzt.
Häufig
versteht
man
darunter
auch
eine
psychische
Anspannung. Das Duden Fremdwörterbuch beschreibt Stress als eine „den Körper
belastende, angreifende, stärkere Leistungsanforderung“17. Mittlerweile ist Stress unser
ständiger Begleiter geworden. Er taucht im Beruf, in der Gesellschaft, in der Familie und
auch im Schlaf auf. „Es ist sogar zu vermuten, dass man, ohne es zu wissen, gestresst
ist.“18
Ursprünglich stammt der Begriff „Stress“ aus der Physik.
„Das Hooksche Gesetz aus dem Jahre 1676 beschreibt ein Phänomen aus der Physik:
Eine »Last« oder physischer »Stress« übt eine physische Belastung auf anderes Material
aus. 1926 entdeckte der österreichische Endokrinologe Hans Selye (Selye, 1974, S.14)19
etwas, das seiner Meinung nach ein starres Muster von Geist-Körper-Reaktion war. Er
nannte Streß eine »unspezifische Reaktion des Körpers auf jegliche Anforderung«. Später
bezog sich Selye auf dieses Reaktionsmuster und beschrieb es als den totalen
»Verschleiß des Körpers« (Selye, 1976)20. Am Anfang seiner beruflichen Laufbahn wurde
Selye einmal zu einer Diskussion über das Thema an das Collège de France21
eingeladen. Auf der Suche nach einem Wort, das die genannten Gedanken am besten
beschreiben könnte, lieh er sich das Wort Stress aus der Physik. So wird das Wort Stress
— dank Selye — heute noch definiert als »unspezifische Reaktion des Körpers auf
jegliche Anforderung, der er ausgesetzt wird«.“22
Der Auslöser und die Kraft, die diese unspezifische Reaktion auslösen, werden als
„Stressoren“ bezeichnet.23 Schematisch wird dieser Zusammenhang in folgender Grafik
dargestellt:
Stressor
(Anforderungsreiz)
Reiz-ReaktionsMechanismus
Stress
(Reaktion)
17
DUDEN: Das Fremdwörterbuch. Band 5, Mannheim, 1982. S. 730.
18
SCHULZ, Peter: „Wenn Stress chronisch wird“. Spektrum der Wissenschaft, hrsg. von
Schulz Peter, Dossier 3/1999. S. 13.
19
SELYE, H.: Stress without distress. Philadelphia: Lipincott, 1974.
20
SELYE, H.: Stress in health and disease. Boston: Butterworth, 1976.
21
Collège de France: wissenschaftliches Institut in Paris mit einem Lehrkörper von (1995)
52 Gelehrten aller Fachrichtungen.
22
MITCHELL, Jeffrey, T.; EVERLY, George, S.: „Streßbearbeitung nach belastenden
Ereignissen“. Hrsg.: Andreas Igl; Joachim Müller-Lange, Susanne Fassmann (Übers.),
Ingeborg Schiwek (Textbearb.). - Edewecht; Wien: Stumpf und Kossendey, 1998. S. 33.
23
KROHNE, Heinz Walter: „Streß und Streßbewätligung“. Gesundheitspsychologie, hrsg.
Von Ralph Scharzer. 2. Aufl., Göttingen: Bern; Toronto, Seattle: Hogrefe, Verl. für
Psychologie, 1997. S. 267.
Seite 10
Stress
Bei den Stressreaktionen gibt es verschiedene Erlebnisweisen. Manche Stressreaktionen
werden als angenehm, andere als unangenehm erlebt. Daher wird zwischen „Eustress“ und
„Distress“ unterschieden. Eustress bezeichnet im Großen und Ganzen erwünschte
Auswirkungen eines Stressors, z. B.: Leichter, angenehmer Sport und auch Spiel. Eustress
Eustress
niedrig
Distress
hoch
Stresserregung
Quelle: MITCHELL, Jeffrey, T., EVERLY, George, S.: Streßbearbeitung nach
belastenden Ereignissen, Hrsg.: Andreas Igl; Joachim Müller-Lange. Susanne
Fassmann (Übers.). Ingeborg Schiwek (Textbearb.). - Edewecht ; Wien: Stumpf
und Kossendey, 1998, S.33
ist auch notwendig um ein Mindestmaß an Aktivierung des Körpers zu gewährleisten und
wird größtenteils als angenehm erlebt. Distress beschreibt im Wesentlichen krankmachende
Ereignisse, unangenehme Erlebnisse und führt zu Leistungsminderung. Die oben stehende
Grafik (Seite 11) stellt den Zusammenhang schematisch dar.
Die
Grafik
zeigt
den
Zusammenhang
zwischen
Stressbelastung,
-erregung
und
Leistungsfähigkeit. Daraus ist ersichtlich, dass bei einer mittleren Stressbelastung die
Leistungsfähigkeit am höchsten ist. Dies wird auch angenehm erlebt. In dieser
Belastungssituation ist einerseits eine sehr hohe Kreativität möglich und anderseits wird die
auszuführende Tätigkeit als angenehm erlebt.
Ist die Stresserregung gering und damit der Anreiz auch sehr schwach, entsteht Langeweile,
Müdigkeit und Unzufriedenheit. Andererseits entwickelt sich bei einer zu hohen
Stressbelastung ein starker Einbruch der Leistungsfähigkeit. Eine Problemlösung gelingt nur
unzureichend und dadurch kann sich als langfristige Folge ein geringes Selbstwertgefühl
entwickeln. Eine langandauernde Stressbelastung, die noch dazu wenig Erholungsphasen
erlaubt, fördert die Entstehung von Krankheiten, wie z. B. Herz-Kreislaufschäden oder auch
Magen-Darmprobleme.
Kognitive Bewertung als Bindeglied zwischen Stressor und Stress
„Epiket, ein Philosoph des Altertums (um das Jahr 50 n. Chr.), prägte den Satz: »die
Menschheit wird nicht von Dingen gestört, sondern von der Meinung, die sie dazu hat.«
Seite 11
Stress
Ähnliches erklärt Hans Selye: »Es kommt nicht darauf an, was einem Menschen zustößt,
sondern darauf, wie er damit umgeht.«“ 24
Stressreaktionen laufen trotz gleicher Situation bei verschiedenen Menschen recht
unterschiedlich ab. Es ist die kognitive Bewertung der Situation, die hier als vermittelnde
Variable auftaucht.
LAZARUS, ein amerikanischer Mediziner, hat dies erkannt und diesen Zusammenhang in
seinem transaktionalen Stressmodell vorgestellt. Darin wird eine bestimmte Beziehung
zwischen Person und Umwelt beschrieben:
„Psychologischer Stress bezieht sich auf eine bestimmte Beziehung mit der Umwelt, die
vom Individuum im Hinblick auf sein Wohlergehen als bedeutsam bewertet wird, aber
zugleich Anforderungen an das Individuum stellt, die dessen Bewältigungsmöglichkeiten
beanspruchen oder überfordern.“25
Der
jeweilige
Stressprozess
wird
durch
ein
spezifisches
Muster
kognitiver
Bewertungsvorgänge erzeugt und gesteuert. Es gibt im Prinzip eine Primärbewertung und
eine Sekundärbewertung.
Bei der Primärbewertung wird der Stressor anhand der eigenen Einstellungen, Normen
und Werthaltungen beurteilt. Es wird mittels dieser Konzepte entschieden, ob eine
Beeinträchtigung entstehen könnte.
In der Sekundärbewertung vollzieht das Individuum eine Abschätzung seiner Ressourcen
und Möglichkeiten die stressende Situation positiv zu bewältingen.
Resultieren aus beiden Bewertungen negative Ergebnisse, entstehen Stressreaktionen.
Gerade in diesen Bewertungsmechanismen liegen einerseits die Ursachen für heftige
Stressreaktionen,
aber
auch
die
Chancen
zu
einer
positiven
Stressbewältigung.
Außerordentlich belastende Erlebnisse, wie sie im Kapitel „Postraumatic Stress Disorder“,
Seite 28, beschrieben werden, können diese kognitiven Bewertungsmechanismen
verändern.
24
MITCHELL, Jeffrey, T.; EVERLY, George, S.: „Streßbearbeitung nach belastenden
Ereignissen“. Hrsg.: Andreas Igl; Joachim Müller-Lange, Susanne Fassmann (Übers.),
Ingeborg Schiwek (Textbearb.). - Edewecht; Wien: Stumpf und Kossendey, 1998. S. 37.
25
LAZARUS, R.S. & FOLKMAN, S.: Stress, appraisal, and coping. New York: Springer,
1984. S. 268.
Seite 12
Stress
Das transaktionale Stressmodell
(nach Lazarus)
2. Sekundäre Bewertung:
Beurteilung der
Bewältigungskompetenz und
Ressourcen.
Vorhanden?
1. Primäre Bewertung des
Stressor
Stressors (Einstellungen,
Normen, Werthaltungen)
Beeinträchtigung?
Ja!
Nein!
Nein!
Ja!
Keine
Stressreaktion
Stress
Quelle: Seminarunterlagen zu „Critical Incident Stress Management (CISM)“ von WILLKOMM,
Bernd; Dipl.-Psychologe; Unveröffentlichtes Manuskript, 1999
2
Die Stressoren
2.1
Arbeitsdefinition von „Stressor“
Innerhalb dieser Arbeit wird für ‘Stressor’ folgende Arbeitsdefinition gewählt: Ein Stressor ist
eine Umweltbedingung, die eine Stressreaktion auslöst.
Wobei beachtet werden muss, dass die Stressreaktion individuell unterschiedlich erlebt
werden kann. Ein und der selbe Stressor kann von einem Menschen als positiv, angenehm
erlebt werden. Hingegen kann ein anderer Mensch denselben Stressor negativ empfinden.
Es kommt besonders auf die kognitive Verarbeitung des Stressors an. (Siehe Seite 11,
„Kognitive Bewertung als Bindeglied zwischen Stressor und Stress“)
Stressverursacher werden in zwei Kategorien eingeteilt:
26
1. biochemische Stressoren
Beispiele von biochemischen Stressoren:
Drogen (z. B.: Koffein, Alkohol, Amphetamine, Nikotin, Phenylpropanolamin)
Umwelt (Hitze, Kälte, Wind, Lärm, Sonnenstrahlen, Radioaktivität)
2. psychosoziale Stressoren
Beispiele von psychosozialen Stressoren
Familiensituation, zwischenmenschliche Situation
Einsamkeit
Beruf, Situation am Arbeitsplatz, am Weg zum Arbeitsplatz, Konkurrenz mit den
26
MITCHELL, Jeffrey, T.; EVERLY, George, S.: „Streßbearbeitung nach belastenden
Ereignissen“. Hrsg.: Andreas Igl; Joachim Müller-Lange, Susanne Fassmann (Übers.),
Ingeborg Schiwek (Textbearb.). - Edewecht; Wien: Stumpf und Kossendey, 1998. S. 36.
Seite 13
Stress
Kollegen, etc.
politische Situation
finanzielle Situation
Viele psychosoziale Situationen können potentiell Stress verursachen, aber nur wenn sie als
herausfordernd, bedrohlich oder aggressiv wahrgenommen werden, entwickeln sie sich zu
psychosozialen, negativen Stressoren. Die wichtigsten psychosozialen Stressoren sind in
einer Grafik auf Seite 15 dargestellt.
Inwieweit eine psychosoziale Situation als Stressor wirkt und tatsächlich eine Stressreaktion
auslöst, hängt vor allem von der kognitiven Bewertung der Situation ab. Ein und dieselbe
psychosoziale Situation kann bei verschiedenen Menschen die gesamte Bandbreite der
Stresssreaktionen auslösen. Beginnend von unangenehmen, bis hin zu besonders
angenehmen Erlebnisformen des Stressors sind möglich. Allein auf der körperlichen,
endokrinen Ebene betrachtet, ist nicht zu unterscheiden, ob ein Stressor positiv oder negativ
erlebt wird.
Im Gegensatz dazu wirken die biochemischen Stressoren in den meisten Fällen als
Stressauslöser und bewirken deutliche Stresssymptome.27
Obwohl die individuelle Erlebnisweise eines psychosozialen Stressors breit gestreut ist, gibt
es eine Übereinstimmung der Forschungsgemeinschaft über die Verschiedenartigkeit in
puncto Stresspotential von unterschiedlichen Lebenssituationen. Die nachstehende Tabelle
(auf Seite 16)
bietet eine Übersicht über die subjektiv erlebte Belastung diverser
Situationen. Die Spalte ‘Mittlerer Wert’ gibt den Mittelwert des Ratings der Fachleute an.
Durch eine Normierung wurden die Werte so gesetzt, dass dem höchsten Stresspotential
der Wert ‘100’ zugeordnet wurden und einem Ereignis, das keinerlei Stressqualität enthält,
wurde der Wert ‘0’ zugeteilt.
27
MITCHELL, Jeffrey, T.; EVERLY, George, S.: „Streßbearbeitung nach belastenden
Ereignissen“. Hrsg.: Andreas Igl; Joachim Müller-Lange, Susanne Fassmann (Übers.),
Ingeborg Schiwek (Textbearb.). - Edewecht; Wien: Stumpf und Kossendey, 1998. S. 33.
Seite 14
Stress
Quelle: Gerald HÜTHER: „Der Traum vom stressfreien Leben“, Spektrum
der Wissenschaft, Dossier Stress, Nr.3/1999 S. 9.
Seite 15
Stress
Bewertung lebensverändernder Ereignisse28
(Social Readjustment Rating Scale)
Lebensereignis
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
28
Tod des Ehepartners
Scheidung
Trennung vom Ehepartner
Gefängnisstrafe
Tod eines nahen Angehörigen
Eigene Verletzung oder Krankheit
Eheschließung
Verlust des Arbeitsplatzes
Versöhnung mit dem Ehepartner
Rückzug aus dem Arbeitsleben
Verschlechterung des Gesundheitszustandes eines Angehörigen
Schwangerschaft
Sexuelle Schwierigkeiten
Hinzukommen eines neuen Familienmitgliedes
Geschäftliche Veränderung
Änderung der finanziellen Verhältnisse
Tod eins guten Freundes
Wechsel der Branche
Häufigkeit der Auseinandersetzungen mit dem Ehepartner nimmt zu
Hypothek über 10.000 Dollar
Verfallserklärung Hypothek/Darlehen
Andere Aufgaben am Arbeitsplatz
Sohn oder Tochter verlässt das Haus
Schwierigkeiten mit der Schwiegerfamilie
Herausragende eigene Leistung
Ehefrau nimmt Arbeit auf / gibt Arbeit auf
Schulbeginn oder -abschluss
Änderung der Lebensverhältnisse
Änderung der persönlichen Gewohnheiten
Ärger mit dem Vorgesetzten
Geänderte Arbeitszeiten oder -bedingungen
Wohnungswechsel
Schulwechsel
Neue Freizeitgewohnheiten
Vermehrte/verminderte Beteiligung am kirchlichen Leben
Veränderungen in den sozialen Aktivitäten
Hypothek oder Darlehen von weniger als 10.000 Dollar
Änderung der Schlafgewohnheiten
Änderung der Häufigkeit der Familienzusammenkünfte
Änderung der Essgewohnheiten
Urlaub
Weihnachten
Geringfügige Gesetzesübertretungen
mittlerer
Wert
100
73
65
63
63
53
50
47
45
45
44
40
39
39
39
38
37
36
35
31
30
29
29
29
28
26
26
25
24
23
20
20
20
19
19
18
17
16
15
15
13
12
11
HOLMES, T. H.; RAHE, R. H: „The Social Readjustment Rating Scale“. Journal of
Psychosomatic Research 11, 1967. S. 213-218.
Seite 16
Stress
2.2
Ablauf der Stressreaktion
Obwohl die Umstände oder Ereignisse, die zu Stressreaktionen führen, von Mensch zu
Mensch verschieden sind, ist man in der Psychologie der Meinung, dass der Organismus
auf Stress im Wesentlichen stets gleich reagiert. Lange Zeit sah man Stress als körperliche
Reaktion, als eine den Körper bedrohende Gefahr. Einer der ersten Erforscher der StressPhysiologie „Hans Selye
(...) hat dieses Verhalten als Allgemeines Adaptionssyndrom
29
bezeichnet“ . Dieses Syndrom, das von fast jedem Stressor ausgelöst wird, lässt sich in
drei Abschnitte gliedern:
1. Alarm
2. Widerstand
3. Erschöpfung
ad 1: Die Alarmphase ruft Veränderungen im Gehirn und in den endokrinen Drüsen hervor.
Die stärkste dieser physiologischen Reaktionen ist die sogenannte Notfall-Reaktion, die den
Körper zum Angriff oder zur Flucht mobilisiert. Diese Notfall-Reaktion regt den Körper an,
sich auf die Gefahr einzustellen, ihr zu entfliehen oder Verletzungen zu heilen. Dies kostet
viel Energie und ist eine große Belastung für den Organismus
ad 2: Währt ein Stressor über längere Zeit, so passt sich der Körper an und tritt in die
Widerstandsphase ein. In diesem Stadium normalisiert sich der Organismus, bleibt aber in
Alarmbereitschaft, um gegebenenfalls auf den Stressor zu reagieren.
ad 3: Ist der Stressor sehr intensiv oder lange wirksam, kommt es schließlich zur
Erschöpfungsphase. In diesem Stadium kann sich der Organismus nicht mehr gegen den
Stressor zur Wehr setzen und wird anfällig für Fehlverhalten und Krankheiten. Zusätzlich zu
der Bedrohung muss der Körper auch seine Kraftressourcen, die mehr oder minder in
Mitleidenschaft gezogen wurden, wieder auftanken. Dies geht aber nicht, weil der
Organismus sich gegen die Bedrohung wehren oder Verletzungen, bzw. Krankheiten, heilen
muss — es werden weiterhin viele Energiereserven verbraucht. Ein Teufelskreis beginnt.
Wenn sich daran nichts ändert, bzw. nichts ändern lässt, erlahmt der körperliche und
geistige Widerstand und es folgt die totale Erschöpfung.
Die Notfall-Reaktion ist in einer Gefahrensituation eindeutig von großem Nutzen. Sie hilft
aber auch bei weniger bedrohlichen Herausforderungen, etwa bei einem sportlichen
Wettkampf oder bei Termindruck.
Es gibt aber durchaus ungünstige Effekte der Notfall-Reaktion: Wenn es nicht auf
irgendeine Art gelingt, den Stressor zu bewältigen, kann das Unterdrücken der AlarmReaktion zu physischen und psychischen Schäden führen.
30
29
TIME LIFE: „Wie erkennt man Stress“. Stress-Bewältigung. Amsterdam, 1988. S. 13.
30
a. a. O. S. 13.
Seite 17
Stress
2.3
Stressformen
2.3.1
Psychischer Stress
Menschen reagieren auf verschiedene Belastungen mit den unterschiedlichsten Gefühlen.
Angst vor Verletzung, Angst vor Versagen oder Angst sich zu blamieren sind fast immer
Auslöser von starkem Stress. Gefühle von Überforderung, Hilflosigkeit und Einsamkeit
münden ziemlich sicher in Angst. Aus diesen, meist alltäglichen Ängsten entstehen
Gedanken und Gefühle. Diese werden als psychischer Stress bezeichnet. Wie sehr der oder
die Betroffene darunter leidet, ist von Fall zu Fall verschieden. So meinen die Autoren des
Buches ‘TIME LIFE’ Dr. Med. Christian RAAB, Herbert BENSON (M.D.), Ann GRANDJEAN
(M.S), Paul J. ROSCH (M.D.), Kenneth R. PELLETIER (Ph.D.; M.D.), John WHITE (Ph.D.)
und Myron WINICK:
„Das Stress-Potential (...) hängt von mehreren Faktoren ab: von der Art, wie jemand mit
solchen Problemen fertig wird, von der Persönlichkeit, vom sonstigen Tagesverlauf und
letztlich auch vom Zwischenfall selbst.“31
In manchen Fällen lässt sich dieser Stress durch Planung vermeiden. Beispielsweise sollte
jemand, der an Höhenangst leidet, nicht unbedingt auf die Drehleiter geschickt werden oder
jemand, der vor kurzer Zeit einen ihm nahestehenden Menschen verloren hat, zur Bergung
eines Toten eingesetzt werden. Diese Punkte lassen sich beliebig um weitere Beispiele
erweitern.
2.3.2
Chronischer Stress
„Der eigentliche, durch Alltagsärger verursachte Stress liegt jedoch in seiner Anhäufung.
Im Gegensatz zu einschneidenden Ereignissen, die meist in größeren Abständen
auftreten und durch die Zeit gemildert werden, handelt es sich bei kleinen Ärgernissen, um
täglich wiederkehrende Stressoren, die chronisch werden und dadurch einen
Langzeiteffekt haben.“32,
Die große Gefahr entsteht dadurch, dass der menschliche Körper diesen ununterbrochenen
Stress verdrängt. Der Körper reagiert mit körperlichen Störungen, die auch unter dem
33
Begriff psychosomatische Beschwerden bekannt sind.
31
a. a. O. S. 10.
32
a. a. O. S. 10.
33
„Psychosomatik, psychosomatische Medizin: [gr. psyche Seele, soma Körper],
medizinisch-ps. Krankheitslehre, die psychischen Prozessen bei der Entstehung
körperlicher Leiden wesentliche Bedeutung beimißt.“ Quelle: DORSCH, Friedrich:
Psychologisches Wörterbuch / Dorsch. Hrsg. von Friedrich Dorsch. Red.: Horst RIES. 11., erg. Aufl.; Bern, Stuttgart, Toronto: Huber, 1987.
Seite 18
Stress
Eine ganz besondere Art von Stressbelastung
stellen viele kleine Stressoren dar. Laut
Wissenschaftlern der University of California34 hat
sich gezeigt,
„daß
eine
Anhäufung
von
lästigen
Kleinigkeiten (...) weit mehr Stress erzeugen
kann als ein einziges großes Ereignis.“35
Gründe, die chronischen Stress hervorrufen:36
1. Arbeitsüberlastung
2. Unzufriedenheit mit der Alltagsarbeit
3. Soziale Belastung
4. Mangel an sozialer Anerkennung
5. belastende Erinnerung
6. Sorgen und Besorgnis
2.3.3
Akuter Stress
Quelle: Time Life: „Wie erkennt man
Stress?“. Stress-Bewältigung,
Amsterdam, 1988. S. 11.
Peter SCHULZ, ein Psychologie-Professor der Universität Trier, definiert akuten Stress
folgendermaßen:
„Als akuten Stress bezeichnet man Belastungen, die einmalig sind, distinkte Ereignisse
darstellen, abrupt beginnen, ein erkennbares Ende haben mit neuen Anforderungen
verbunden sind und einen Anlaß bieten, besondere Bewältigungsreaktionen zu initiieren.“37
Der Verfasser dieser Definition will damit eine Abgrenzung zum chronischen Stress
herstellen. Er meint:
„Die Stressforschung hat sich seit ihren Anfängen in den dreißiger Jahren dieses
Jahrhunderts vorrangig mit den Auswirkungen von akutem Stress beschäftigt. Vermutlich
ist dies ein Grund dafür, warum die in empirischen Untersuchungen ermittelten
Zusammenhänge zwischen Stress und Gesundheit relativ inkonsistent und wenig
aussagekräftig sind.“38
Deshalb wurden Kriterien entwickelt, um chronischen Stress von akutem Stress
unterscheiden zu können.
Üblicherweise wird zwischen akutem und chronischem Stress aufgrund der Häufigkeit des
Wirkens von Stressoren unterschieden: Häufiger Stress gilt als chronischer Stress. Peter
SCHULZ meint, dass dies aber eine zu einfache Kategorisierung sei. Er gibt zwei wichtige
Gründe an:
34
nicht näher genannt, zit. in TIME LIFE:„Wie erkennt man Stress“. Stress-Bewältigung,
Amsterdam, 1988. S. 11.
35
TIME LIFE: „Wie erkennt man Stress?“. Stress-Bewältigung. Amsterdam, 1988. S. 11.
36
SCHULZ, Peter: „Wenn Stress chronisch wird“. Spektrum der Wissenschaft. Heidelberg:
Scientific American, Dossier 3/1999. S. 13.
37
a. a. S. 12.
38
a. a. O.
Seite 19
Stress
1. „Zum einen wird nicht berücksichtigt, dass man sich an wiederkehrenden Stress
gewöhnen kann.“39
2. „Zum anderen können auch einmalige, aber außergewöhnliche Ereignisse noch
Stressreaktionen auslösen, obwohl der Stressor nicht mehr wirksam ist (zum Beispiel die
wiederkehrenden Folgebelastungen traumatischer Ereignisse)“.40
Die Unterscheidung von chronischem und akutem Stress ist auch deshalb sehr wichtig, weil
zur Bewältigung dieser verschiedenen Stressformen andere Strategien notwendig sind. Bei
chronischen Stresssituationen sind von vornherein „wegen ihres schleichenden Beginns
keine Tendenzen zur Aktivierung besonderer Bewältigungsmaßnahmen (zu) erkennen“.41
3
Stressreaktion des Organismus
Stress und Angst haben zum Ziel, den Organismus für die bevorstehende Belastung
vorzubereiten und sie erfolgreich zu bewältigen. Dies kann entweder durch Kampf mit der
Bedrohung oder Flucht geschehen. Es werden im Organismus alle zur Verfügung stehenden
Ressourcen aktiviert, die eine positive Bewältigung der Bedrohung ermöglichen. Diese
Reaktionsform wird auch als „Stressreaktion“ bezeichnet.
39
a. a. O.
40
a. a. O.
41
a. a. O.
Seite 20
Stress
Es lassen sich die Stressreaktionen auf außergewöhnliche Belastungen in vier Bereichen
des Menschen beobachten: 42
Im kognitiven Bereich:
- gedankliche Verwirrung
- reduzierte Entscheidungsfähigkeit
- Konzentrationsschwierigkeiten
- Gedächtnisschwierigkeiten
- Reduzierung der höheren kognitiven Funktionen
Im körperlichen Bereich:
- starkes Schwitzen
- Sprachstörungen
- Herzrasen
- erhöhter Blutdruck
- schnelles Atmen
Im emotionalen Bereich:
- emotionaler Schock
- Wut
- Trauer
- Depression
- Gefühl, überwältigt zu sein
Im verhaltensmäßigen Bereich
- Änderungen der vertrauten Verhaltensmuster
- verändertes Essverhalten
- Vernachlässigung der Körperhygiene
- Distanz zu anderen Menschen
- längeres Schweigen
3.1
Biochemische Stressvorgänge
Bei allen möglichen Stressoren laufen im Körper dieselben biochemischen Vorgänge ab. Es
ist an Hand dieser Vorgänge nicht möglich, die verschiedenen Stressoren zu identifizieren.
Der einzige Unterschied der biochemischen Vorgänge, hinsichtlich der Stressoren, besteht
lediglich in einer verschieden hohen Ausschüttung der Stresshormone. (Stresshormone
sind: Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol) Nachstehende Grafik (Seite 23) stellt diese
Vorgänge schematisch dar.
„Praktisch jedes Stress-Ereignis löst eine Kette von neuralen und biochemischen
Reaktionen aus, die Kräfte zur Stress-Bewältigung mobilisieren. Zunächst aktiviert das
Gehirn den Hypothalamus. Dieser scheidet das sogenannte CRF 43 aus, ein
Neuronensekret, das über zwei Bahnen Informationen an den Organismus weiterleitet.
Entlang der einen Bahn werden durch Nervenzellen im Hirnstamm und im Rückenmark
42
MITCHELL, Jeffrey, T.; EVERLY, George, S.: „Streßbearbeitung nach belastenden
Ereignissen“. Hrsg.: Andreas Igl; Joachim Müller-Lange, Susanne Fassmann (Übers.),
Ingeborg Schiwek (Textbearb.). - Edewecht; Wien: Stumpf und Kossendey, 1998. S. 33.
43
CRF: Abkürzung für Corticotropin Releasing Faktor (Neurosekret des Hypothalamus:
identisch mit CRH: Corticotropin Releasing Hormon. Quelle: PSCHYREMBEL, Willibald
[Begr.]; Zink, Christoph [Bearb]; Dornblüth, Otto [Begr.]: Klinisches Wörterbuch, 255.
Aufl. Berlin, New York: de Gruyter, 1986. S. 314.
Seite 21
Stress
Impulse an die Nebennierenrinde übermittelt, die die Ausschüttung von Adrenalin und
Noradrenalin bewirken, die den Körper aufs Handeln vorbereiten: Sie verstärken den
Herzschlag und die Atmung, erhöhen den Muskeltonus und schärfen die Sinne. Man nennt
diese Kette neurologischer Abläufe Notfall-Reaktion, mitunter auch Angriffs- oder
Fluchtreaktion. Gleichzeitig regt das vom Hypothalamus abgesonderte CRF die
Hirnanhangdrüse, die an der Basis des Gehirns sitzt, zur Produktion von ACTH 44 an.
Dieses Hormon veranlaßt die Nebennierenrinde zur Ausschüttung von Cortisol in den
Blutstrom. Cortisol wiederum setzt die Reaktionen in Gang, die den Stoffwechsel des
Körpers beschleunigen. Beide Bahnen besitzen eine Rückkoppelung zur
Hirnanhangdrüse, so dass die Stress-Reaktion auch weiterhin gesteuert wird. Zwar kann
dieser biochemische Prozeß die Stress-Bewältigung unterstützen; zu häufig ausgelöst, hat
er jedoch physische und psychische Schäden zur Folge.“45
3.2
Was geschieht nach dem Einsetzen der NotfallReaktion?
Ein längerdauernder Stressreiz bewirkt, dass sich der Körper an diese Stressreaktion
anpasst und in die Widerstandsphase eintritt. Zwar normalisiert sich der Organismus, bleibt
aber in Alarmbereitschaft um gegebenenfalls auf den Stressor zu reagieren. Diese Phase
kann nicht allzu lange dauern, ohne bleibende Schäden mit sich zu tragen. Ist der Stressor
sehr intensiv und lange wirksam, kommt es schließlich zur Erschöpfungsphase. Es wird für
den Organismus schwierig, sich adäquat gegen den Stressor zu schützen und er wird
anfällig
für
Fehlverhalten
und
Krankheiten.
Die
Notfall-Reaktion
ist
in
einer
Gefahrensituation sehr wichtig und hilft auch bei weniger bedrohlichen Herausforderungen,
etwa bei einem sportlichen Wettkampf oder bei Termindruck. Leider kommt es heutzutage
immer öfter vor, dass die Notfall-Reaktion ausgelöst wird, wenn sie weder erforderlich noch
sinnvoll ist, z. B. im Stau auf der Autobahn oder in einer Warteschlange vor einer Kassa in
einem Supermarkt. Der Körper befindet sich dann in einem ständigen Alarmzustand, hat
aber keine Möglichkeit die aufgeladenen Energien bei einem entsprechenden Verhalten (wie
Kampf oder Flucht) abzubauen. Langfristig kann dieses Unterdrücken zu physischen und
44
ACTH: Abkürzung für Adrenocorticotropes Hormon, Quelle: a. a. O. S. 14.
45
TIME LIFE: „Wie erkennt man Stress“. Stress-Bewältigung. Amsterdam, 1988. S. 12.
Seite 22
Stress
psychischen Schäden führen. Einige dieser möglichen physischen Schäden, zum Teil auch
psychisch bedingt, sind: Kopfschmerzen, Hautprobleme, Herzerkrankungen, geschwächtes
Immunsystem, Rückenschmerzen, Magen- und Darmbeschwerden, Bluthochdruck und
Potenzstörungen.
Psychische Schäden, die durch ungünstige Stressbewältigung verursacht werden, können
z. B. sein: Depressionen, Angst- und Panik-Attacken, Chronisches Müdigkeitssyndrom und
Schlafstörungen.
3.3
Wann wird die Stressbewältigung problematisch?
Quelle: Time Life: “Wie erkennt man Stress?“. Stress-Bewältigung,
Amsterdam, 1988. S. 12.
Die Belastungsintensität, die von Stressoren ausgeht, hängt in hohem Maße von Häufigkeit
und Dauer ab. Ein kurzer akuter Stressreiz, z. B. ein Zahnarztbesuch oder eine wichtige
Rede halten, dauert nur kurze Zeit an. Wird er überwunden, gibt es dann anschließend
Gelegenheit sich zu entspannen. Gelingt die Entspannung hinterher, kann sich der
Betroffene neuen Belastungen zuwenden und sie erfolgreich meistern. Solange es also
gelingt, akute Stressreize sofort zu verarbeiten, bleibt ihre Wirkung begrenzt und sie richten
vermutlich kaum Schaden an.
Seite 23
Stress
Es ist durchaus möglich, dass einzelne, akute Stresssituationen rasch hintereinander
auftreten und dazwischen keine Gelegenheit zur Entspannung besteht. Oder ein Stressreiz,
der schlecht vermeidbar ist, wiederholt sich in regelmäßigen Abständen, wie beispielsweise
die Fahrt zur Arbeit während des Stoßverkehrs. Es gibt dann auch noch chronische
Stresssituationen, die als konstante Stressoren auftreten, wie etwa ständige Spannungen zu
Hause und/oder am Arbeitsplatz. Unter diesen Bedingungen summieren sich die einzelnen
Stressreaktionen und können sich zu
einem
massiven, krankmachenden Faktor
aufschaukeln.
3.4
Stress macht krank
Stress scheint Krankheiten und körperliche Beschwerden
zu begünstigen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei
vielleicht
die
stressbedingte
Beeinträchtigung
des
Immunsystems. So ergab eine Forschung mit Studenten,
die unter Examensdruck standen, dass ihr Blut weniger
Antikörper enthielt als in Normalzeiten — dass sie also
infektanfälliger waren.46
Wissenschaftlich bestätigt ist inzwischen auch der enge
Zusammenhang zwischen Stress und Herzerkrankungen.
Viele Beschwerden des Magens und Verdauungstraktes
sind eine Folge von Nervosität und Erregungszuständen.
Auch Kopf- und Rückenschmerzen gehen oft auf Stress
zurück. Bei einem Vergleich von Testpersonen, die häufig
über
Kopfschmerzen
Kontrollgruppe,
wesentlich
klagten,
wiesen
stärkere
die
mit
einer
gesunden
Kopfschmerzpatienten
Stressreaktionen
auf.
Ähnliche
Ergebnisse zeigten sich bei Menschen mit chronischen
Rückenschmerzen. Sie hatten gegenüber den Gesunden
in allen Bereichen erhöhte Stresswerte.47
Auf Stress gehen vermutlich auch viele Hautprobleme
zurück. So fand man heraus, dass Psoriasispatienten48 unter starkem Leistungsdruck einen sehr viel höheren
Stress-Hormonspiegel hatten als gesunde Testpersonen.
Quelle: Time Life: „Wie erkennt man
Stress“. Stress-Bewältigung, Amsterdam
1988. S. 15.
46
a. a. O. S.15.
47
a. a. O.
48
„Psoriasis [zu gr
= Krätze, Räude] w; -; ...ia|sen (in fachspr. Fügungen; ... iases):
‘Schuppenflechte’, chronisches Hautleiden mit Bildung silberweißer, geschichteter
Schuppen, bei deren Entfernung es zu punktformigen Blutungen kommt.“ Quelle:
DUDEN: Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke. hrsg. u. bearb. von d. Red.
Naturwiss. u. Medizin d. Bibliograph.; 3., vollst, überarb. u. erg. Aufl.; Mannheim, Wien,
Zürich: Bibliographisches Institut; Stuttgart: Thieme, 1979. S. 580.
Seite 24
Stress
Stress
ist
auch
ein
ernstzunehmender
Risikofaktor
für
Leute
mit
chronischem
Bluthochdruck. So war bei einem schwierigen Wortzuordnungstest der Stresshormonspiegel
von Patienten mit hohem oder labilem Blutdruck höher als der von Versuchspersonen mit
normalem Blutdruck.
Selbst Potenzstörungen können mit Stress in Verbindung stehen. Als man einer Reihe von
männlichen Testpersonen erotische Filme vorführte, wiesen die Männer, die dabei kaum
sexuelle Erregung spürten, den höchsten Spiegel des Stress-Hormons Cortisol auf.49
Eine Reihe von Krankheitsbildern ist im Laufe der Jahrzehnte, in denen der Begriff
‘psychosomatische Krankheiten’ vermehrt diskutiert wird, als besonders typisch für
psychosomatische Zusammenhänge in den Vordergrund getreten.50 SCHAEFER u.
BLOHMKE haben bei ihrer Analyse Stress als Entstehungsursachen des Herzinfarktes
erkannt. Sie schreiben:51
„Die emotional wirksamen Faktoren mag man unter dem Schlagwort des
psychosozialen Stress zusammenfassen. Man darf nicht vergessen, wie vielfältige
Aspekte solch ein Stress-Konzept liefert. Sie reichen von den emotionalen
Reaktionen auf eine sich wandelnde soziale Welt bis zu den Reaktionen auf die
alltägliche Umwelt in Beruf und Familie. In dieser Auseinandersetzung ist die
Persönlichkeit deshalb der dominierende Faktor, weil von ihr der Grad der
Emotionalität dieser Reaktionen abhängt."
49
TIME LIFE: „Wie erkennt man Stress“. Stress-Bewältigung. Amsterdam, 1988. S. 15.
50
STROTZKA, Hans: Tiefenpsychologie und Psychotherapie. Wien, New York: Springer,
1982. S. 162.
51
SCHAEFER, H., BLOHMKE, M.: Herzkrank durch psychosozialen Streß. Heidelberg:
Hüthig. 1977. S. 176. zitiert in STROTZKA, 1982, S.167.
Seite 25
Stress
Psychosomatische Erkrankungen sind:52
Geschwürserkrankungen des Magens (Ulcus ventriculi und duodeni)
Geschwürserkrankungen des Darmes (Morbus Crohn und Colitis ulcerosa)
Koronarerkrankungen, Herzinfarkt, Hypertonie
Asthma bronchiale
Immunstörungen (Herpes, alle allergischen Erkrankungen)
Neurodermitis
Rheumatische Erkrankungen,
Anorexie
Fettsucht, Diabetes.
Die Ursachen von psychosomatischen Beschwerden werden erkannt und bestimmen die
Therapie. Aber wichtig ist, dass psychosomatische Beschwerden als ‘Krankheit’ anerkannt
werden und der Mensch nicht isoliert betrachtet wird, sondern als Wesen, das in einer
Umwelt mit Gefährten eingebettet ist. Walter BRÄUTIGAM, Paul CHRISTIAN und Michael
von RAD, Fachärzte für psychosomatische Medizin schreiben:
„Psychosomatik bedeutet, daß der kranke Mensch als erlebendes und handelndes Wesen
in seiner mitmenschlichen Umwelt und in Wechselwirkung mit dieser und mit den
kulturellen Werten und Normen der Zeit gesehen wird.“53
Korrekte Behandlung und fachmännische psychotherapeutische Betreuung werden gegen
oftmals sehr langwierige und schwierige Beschwerden eingesetzt:
„Bei der Behandlung psychosomatisch Kranker kommt die gesamte Breite
psychotherapeutischer Verfahren zu Anwendung, die bei den einzelnen Kranken in der
notwendigen Verbindung mit somatischen Behandlungsformen aber auch ohne diese
angewendet werden: Einzel-, Gruppen-, Familienpsychotherapie, aufdeckende,
supportive, übende Verfahren, körperzentrierte und bildhaft gestaltende Verfahren.
Spezifische Modifikationen, wie z.B. homogene oder gemischte langfristige
Gruppentherapie haben sich häufig als nützlich erwiesen, um dem körperlich Kranken mit
seiner zunächst organorientierten Krankheitsauffassung und seiner oft mangelnden
Selbstwahrnehmung und Schwierigkeit, sich emotional auszudrücken, eine Hilfe zu
geben.“54
52
STROTZKA, Hans: Tiefenpsychologie und Psychotherapie. Wien: New York: Springer,
1982. S. 162.
53
BRÄUTIGAM, Walter; CHRISTIAN, Paul; VON RAD, Michael: Psychosomatische
Medizin. 6. Aufl.; Stuttgart, New York: Thieme, 1992. S. 14.
54
a. a. O. S. 4.
Seite 26
Posttraumatic Stress Disorder (PTSD)
Teil 2
Posttraumatic Stress Disorder
Einleitung
Entsetzliche Ereignisse, die jäh unser Gefühl der Sicherheit und Unverwundbarkeit
durchbrechen, können den Umgang mit den eigenen Gefühlen und der Umwelt tiefgreifend
beeinträchtigen. Kriegstraumata, körperliche und sexuelle Übergriffe, Unfälle und andere
natürliche oder von Menschen verursachte Katastrophen können zum Auslöser des PTSD
genannten Syndroms werden (engl. 'Post Traumatic Stress Disorder', dt. 'Posttraumatische
Belastungsstörung'). Die Hilflosigkeit und Wut, die solche Erlebnisse in der Regel begleiten,
können den Umgang eines Menschen mit Stress nachhaltig beeinflussen, sein
Selbstwertgefühl beeinträchtigen und die Wahrnehmung von der Welt als einem im
Wesentlichen sicheren und verläßlichen Ort empfindlich stören.
Ein gewisses Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit ist Grundvoraussetzung für
zweckorientiertes, individuelles Handeln. Menschen scheinen Willkür und sinnlose
Zerstörung seelisch nicht hinnehmen zu können. Sie suchen nach einer Erklärung, um eine
erlebte Katastrophe verstehen zu können — normalerweise dadurch, dass sie jemanden
finden, dem die Schuld zu geben ist: sich selbst oder einem Täter.
55
Die meisten psychisch traumatisierenden Ereignisse treten plötzlich und unerwartet ein.
Egal, ob sie nur einmal kurz oder über Jahre hinweg immer wieder passieren, sie
überfordern unsere Kapazität, die erlebten Eindrücke zu verarbeiten und richtig in unseren
Erfahrungsschatz
einzugliedern.
Zu
psychischen
Traumatisierungen
können
alle
bedrohlichen Ereignisse führen, die außerhalb der normalen Erfahrung liegen und denen ein
Mensch wehr- und hilflos ausgeliefert ist.56
Erinnerungen an Ereignisse, die von uns Menschen innerlich nicht verarbeitet worden sind,
können ganz unvermittelt in die tägliche Gedanken- und nächtliche Traumwelt eindringen.
Diese plötzlichen Rückerinnerungen stören den Schlaf, die innere Ruhe und die
Konzentration. Oft sind sie mit Gefühlen von Niedergeschlagenheit, Angst und andauernder
innerer Spannung verbunden. Sind sie einmal aufgetreten, dann verschwinden sie ohne
Behandlung nicht so schnell. Sie können sich um so mehr verschlimmern, je öfter sie durch
neue traumatische Erfahrungen wachgerufen werden.57
55
VAN DER KOLK, Bessel A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
56
Quelle: http://traumatherapie.de/therapie.htm.
57
Quelle: http://traumatherapie.de/therapie.htm.
Seite 27
Posttraumatic Stress Disorder (PTSD)
Ist die Stresssituation überwältigend genug, konditioniert das resultierende Trauma eine
emotionale Reaktion, bei welcher der Körper schon beim geringfügigsten Reiz in Kampfoder Fluchtbereitschaft oder Erstarrung verfällt. Der Alltag traumatisierter Menschen steht
unter dem Vorzeichen des Traumas, gegenüber dem sie in ständiger Alarmbereitschaft
verharren. Selbst wenn sie später das Trauma bewusst verarbeitet haben, empfinden sie
auch weiterhin Angst. Bei den an das Trauma erinnernden Situationen oder auch nur lauten
Geräuschen stellt sich erhöhte körperliche Erregung ein. Sie reagieren mit Kampf- oder
Fluchtbereitschaft, oft ohne die Herkunft solcher extremen Reaktionen zu kennen. 58
4
Beschreibung des Störungsbildes PTSD
4.1 Entwicklung des Begriffes ‘PTSD’ - Historischer
Hintergrund
Einleitung
Schon
immer
wurden
Naturkatastrophen,
Menschen
Kriegen,
in
Krankheiten
ihrer
und
ca.
200.000-jährigen
anderen
Evolution
schrecklichen
mit
Ereignissen
konfrontiert. Aber die individuellen Erlebnisse und Nachwirkungen dieser Vorfälle wurden
auch sehr unterschiedlich beschrieben. Es dauerte bis in die 80er-Jahre, ehe eine brauchbar
einheitliche Klassifikation entstand. Phillip A. SAIGH, Professor der City University New
York, meint dazu:
„Insgesamt gesehen ist unverkennbar, daß traumatisierte Menschen häufig unter
weitreichenden und langanhaltenden emotionalen Problemen leiden. Offensichtlich ist
auch, daß im Laufe der Zeit verschiedene Bezeichnungen zur Beschreibung dieser
Pathologie benutzt wurden, was leider in beträchtlichem Umfang Verwirrung stiftete und
einem raschen Fortschritt von Wissenschaft und Praxis auf diesem Gebiet bisweilen im
Wege stand.“ 59
KARDINER beklagte diese Situationen mit den unklaren, verschiedenen Beschreibungen
der emotionalen Problemen mit den Worten, dass
„sich trotz der großen Menge an verfügbaren Daten (...) kaum ein weiteres Gebiet in der
Psychiatrie finden wird, auf dem es undisziplinierter zugeht als auf diesem. Es gibt
praktisch überhaupt keine Kontinuität, und die Literatur kann nur als anarchisch bezeichnet
werden. Jeder Autor hat seinen eigenen Bezugsrahmen, daran ändern auch noch so
umfangreiche Bibliographien nichts.“ 60
58
VAN DER KOLK, Bessel A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
59
SAIGH, Philip, A.: Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose und Behandlung
psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen. Aus dem Engl.
Übers. von Matthias Wengenroth; Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber, 1995. S.
17.
60
KARDINER, A.: Traumatic neurosis of war. In S. Arietie (Ed.) American handbook of
psychiatry. New York: Basic Books, 1969, zit. SAIGH, 1995. S. 11.
Seite 28
Posttraumatic Stress Disorder (PTSD)
4.1.1 Zeitraum ohne Definition des PTSD
Es wird schon Jahrhunderte über die Auswirkungen traumatischer Erlebnisse berichtet. Ein
anschauliches Beispiel findet sich im Tagebuch von Samuel PEPYS, der Zeuge des
Londoner Großbrandes des Jahres 1666 geworden war. Sechs Monate später schrieb er:
„Wie merkwürdig, daß ich bis zum heutigen Tag keine Nacht schlafen kann, ohne von
großer Angst vor dem Feuer erfaßt zu werden; und in dieser Nacht lag ich bis fast zwei
Uhr morgens wach, weil mich die Gedanken an das Feuer nicht losließen“.61
Anke EHLERS fand Beschreibungen des PTSD:
„Erste systematische Beschreibungen der Symptome, die nach traumatischen Erlebnissen
auftreten, wurden am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts anhand von
Überlebenden schwerer Eisenbahnunglücke, Soldaten der beiden Weltkriege und
Überlebenden des Holocausts vorgelegt. In diesen Beschreibungen finden sich die
typischen Symptome, wie wir sie auch heute noch als charakteristisch für Reaktionen auf
traumatische Erlebnisse betrachten:
ungewolltes Wiedererleben von Aspekten des Traumas, zum Beispiel in Form von
„Flashbacks" oder Albträumen;
Anzeichen einer erhöhten Erregung, zum Beispiel Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen;
Vermeidung von Situationen, Gesprächen und anderen Reizen, die an das Trauma
erinnern;
sowie Symptome einer emotionalen Taubheit, zum Beispiel Interesselosigkeit oder
Entfremdung von anderen Menschen.“ 62
Emil KRAEPELIN benutzte im 19. Jahrhundert
„den Begriff ‘Schreckneurose’ zur Bezeichnung eines bestimmten klinischen Zustandes,
bei dem es sich um ein aus mannigfaltigen nervösen und psychischen Erscheinungen
zusammengesetztes Krankheitsbild [handelt], welches sich in Folge von heftigen
Gemüthserschütterungen, plötzlichem Schreck, grosser Angst ausbildet und daher nach
schweren Unfällen und Verletzungen, besonders nach Feuersbrünsten, Explosionen,
Entgleisungen oder Zusammenstössen auf der Eisenbahn u. dergl. beobachtet wird.“63
(KRAEPELIN, 1899. S. 520)
Es wurde nicht immer vom PTSD gesprochen, sondern für die Symptome, die in der Folge
traumatischer
Erlebnisse
auftreten,
wurden
zunächst
viele
andere
diagnostische
Bezeichnungen vorgeschlagen, z. B. „Schreckneurose", „Kampf- oder Kriegsneurose"
(combat/war neurosis), „Granatenschock" (shell shock) oder „Überlebenden-Syndrom"
(survivor syndrome). 64
61
DALY, R. J.: „Samuel Pepys and posttraumatic stress disorder“. British Journal of
Psychiatry. 143, 64-68, 1983. S. 66. zit. SAIGH, 1995. S. 11.
62
EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle:
Hogrefe 1999. S. 2.
63
KRAEPELIN, E. Psychiatrie. Bd. 2 (6. Auflage). Leipzig: Barth. 1899. zitiert in SAIGH,
1995. S. 11.
64
EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle:
Hogrefe, 1999. S. 2.
Seite 29
Posttraumatic Stress Disorder (PTSD)
Lange wurde bezweifelt, dass das traumatische Ereignis die wesentliche Ursache für die
Symptome darstellt. Anke EHLERS, eine Psychologie-Professorin der Universität am
Department of Psychiatry der Universität Oxford, fand sogar ziemlich skurrile Ideen, wie
sich die Menschen früher das Entstehen eines PTSD vorstellten:
„So wurde zum Beispiel vorgeschlagen, dass eine Rückenmarksverletzung dem
‘Eisenbahn-Rückgrat-Syndrom’ (railway spine syndrome) zugrunde liegt oder dass ins
Gehirn gelangte kleinste Teile explodierter Bomben die Ursache des ‘Granatenschocks’
darstellen.“65
Es wurde auch die Echtheit der berichteten Symptome bezweifelt und man hielt in den
meisten Fällen Simulieren und den Wunsch nach anderen Vorteilen (wie z. B. das Einliefern
in ein Lazarett) für die wesentliche Ursache der Symptome.
Der Erste Weltkrieg war Anlass zu besonders häufigen Konfrontationen mit Zerstörung und
Leid. Bei MOTT (1919) findet sich der folgende autobiografische Bericht eines britischen
Oberleutnants, der sich in England erholte, nachdem er auf feindlichem Gebiet in der Falle
gesessen war:
„In den fünf Tagen in Rouex war ich ununterbrochen dem Granatenfeuer meiner eigenen
Leute ausgesetzt und schwebte ständig in der Gefahr, vom Feind entdeckt zu werden, der
ebenfalls den Ort besetzt hielt. Jede Nacht versuchte ich, durch die feindlichen Linien
hindurchzukommen, ohne dabei gesehen zu werden, schaffte es aber nicht. Am vierten
Tag wurde mein Sergeant direkt neben mir durch eine Granate getötet. Am fünften Tag
wurde ich bewußtlos von meinen Leuten gerettet. In der ganzen Zeit hatte ich nichts zu
trinken und zu essen außer etwa einem halben Liter Wasser. Heute werde ich von
Träumen verfolgt, in denen ich die Granaten explodieren und pfeifend durch die Luft
fliegen höre. Immer wieder sehe ich meinen Sergeant, tot und lebendig, und ich habe
deutlich die Bilder vor Augen, wie ich versuche, zu unseren Leuten zurückzukommen.
Manchmal spure ich in den Träumen den großen Hunger und Durst, den ich damals hatte.
Wenn ich aufwache, habe ich das Gefühl, als ob mir alle Kraft aus den Knochen gewichen
wäre, und bin schweißgebadet. Zuerst weiß ich gar nicht, wo ich bin, und meine
Umgebung nimmt die Form der Ruinen an, in denen ich mich so lange versteckt hielt.
Manchmal meine ich, gar nicht richtig aufzuwachen, und wieder einzudösen, und dann
denke ich manchmal, daß ich im Krankenhaus bin, und dann wieder, daß ich noch in
Frankreich bin. Den Tag über, wenn ich so dasitze und nichts besonderes mache und
merke, wie ich vor mich hindöse, kehre ich in Gedanken immer sofort nach Frankreich
zurück.“ 66
Einige Zeit später unterschied MYERS67 zwei Arten der Symptome:
Granatenkonkussion (shell concussion)
Granatenschock (shell shock).
65
EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle:
Hogrefe, 1999. S. 2.
66
MOTT, F. W.: War neurosis and shell schock. London: Oxford University Press, 1919. S.
126-127. zit. SAIGH, 1995, S. 11.
67
MYERS, C. S.: Shell Shock in France: 1914-1919. Cambridge University: 1940. zit. in
SAIGH, 1995.
Seite 30
Posttraumatic Stress Disorder (PTSD)
Granatenkonkussion betrachtete er als neurologische Störung in der Folge einer physischen
Verletzung, wohingegen Granatenschock in seinen Augen eine psychische Störung war,
hervorgerufen durch extreme Belastung.
Es wurde auch über psychische Störungen nach Naturkatastrophen berichtet. Im Jahr 1935
lieferte PRASAD68 eine allgemeine Beschreibung der emotionalen Probleme, unter denen
Menschen in Indien nach einem katastrophalen Erdbeben zu leiden hatten.
1943 schilderte A. ADLER69 die ‘post-traumatischen psychischen Komplikationen’ der
Überlebenden des Bostoner Coconut Grove-Brandes. In ADLER’s Artikel wird explizit auf
traumabedingte Vorstellungen, Albträume, Schlaflosigkeit und Vermeidungsverhalten
eingegangen.
Im Zweiten Weltkrieg wurden Tausende von Kriegsopfern mit psychiatrischen Störungen
von Klinikern behandelt. In ihrem einflussreichen Buch ‘Men under Stress’, zählten
GRINKLER und SPIEGEL70 die Symptome von zurückgekehrten Kriegsteilnehmern auf, die
unter ‘Gefechtsneurosen’ litten. Diese Symptome bestanden aus Unruhe, Aggressionen,
Depressionen, Gedächtnisstörungen, Überaktivität des Sympathikus, Konzentrationsstörungen, Alkoholismus, Albträumen, Phobien und Misstrauen.
4.1.2 Das erste Auftauchen der Symptombeschreibung und
Einordnung des PTSD in einer Klassifikation
Philip A. SAIGH meint, dass der Zweite Weltkrieg einen besonderen Impuls für die
Einordnung der Symptome nach dem Erleben von belastenden Ereignissen gab. Daraufhin
wurde 1952 das erste ‘Diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen’ (Abk.:
DSM-I)71 erstellt. SAIGH berichtet dazu:
„Aufgrund der Häufigkeit kriegsbedingter psychiatrischer Störungen in der Folge des
Zweiten Weltkrieges sah sich der Nomenklatur- und Statistikausschuß der Vereinigung
der amerikanischen Psychiater (American Psychiatric Association, Abk.: APA, Anmerk.
der Verfasserin) veranlaßt, die «schwere Belastungsreaktion» (gross stress reaction) als
psychiatrische Kategorie in ihr «Diagnostisches und statistisches Manual psychischer
Störungen» (DSM-I) aufzunehmen. Dieser Nosologie zufolge war die Diagnose
gerechtfertigt, wenn es zu »starken physischen Anforderungen oder extremen
Belastungssituationen wie etwa bei Kriegsgefechten oder Naturkatastrophen» (S. 40)
gekommen war.“72
68
PRASAD, J.: „Psychology of rumors: A study of the great Indian earthquake of 1934“.
British Journal of Psychology, 26, 1-15, 1934. zit. in SAIGH, 1995.
69
ADLER, A.: „Neuropsychiatric complications in victims of Boston’s Coconut Grove
disaster“. Journal of the American Medical Association, 123, 1098-1102, 1943. zit.
SAIGH, 1995.
70
GRINKER, R. R. & SPIEGEL, J. P.: Men under stress. Philadelphia: Blaksiton, 1945. zit.
SAIGH, 1995.
71
AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION: Diagnostic and statistical manual of mental
disorders. Washington, DC: American Psychiatric Association, 1952.
72
SAIGH, Philip, A.: Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose und Behandlung
psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen. Aus dem Engl.
Seite 31
Posttraumatic Stress Disorder (PTSD)
In diesem ersten Klassifikationssystem der APA wurde auch anerkannt, dass
„diese Diagnose in vielen Fällen auf vorher mehr oder weniger 'normale' Personen zutrifft,
die unerträglichen Belastungen ausgesetzt gewesen sind.“ 73
In den fünfziger und sechziger Jahren begann man auch mit der Erforschung der
psychischen Folgen von Natur- und Industriekatastrophen.74
Etwas später, 1968, trat der Nomenklatur- und Statistikausschuss der amerikanischen
Psychiatervereinigung erneut zusammen und brachte das DSM-II heraus. Philip A. SAIGH
sieht darin eine wichtige Marke. Er beschreibt folgende Entwicklung:
„Obwohl die 1952 eingeführte Kategorie der schweren Belastungsreaktion internationale
Anerkennung gefunden hatte, wurde sie aus der 1968er Nosologie wieder gestrichen, und
es wurde die Kategorie «vorübergehende situationsabhängige Störung» (transient
situational disturbance) in das DSM-II eingeführt. Diese Bezeichnung war reserviert für
«Störungen jeglichen Schweregrades (einschließlich solchen mit psychotischen Anteilen),
die bei Individuen ohne zugrundeliegende psychische Störungen auftraten und in denen
eine akute Reaktion auf überwältigende äußere Belastungen zum Ausdruck kommt»“75
BURGESS
und
HOLMSTROM76
beschäftigten
sich
mit
dem
‘Vergewaltigungstraumasyndrom’ und veröffentlichten im Jahr 1974 einen einflussreichen
Artikel. Ihr Bericht basierte auf Interviews, die sie innerhalb eines Jahres mit 146
Vergewaltigungsopfern geführt hatten. Ihre Analyse brachte sie zu dem Schluss, dass sich
die Folgen, unter denen die Vergewaltigungsopfer leiden, in eine akute Phase und eine
langfristige Phase einteilen lassen.
Die akute Phase wurde durch eine allgemeine physische Angegriffenheit durch den
Überfall,
Spannungskopfschmerzen, Schlafstörungen,
Albträume, gastrointestinale
Schmerzen, urogenitale Beschwerden, Ängste, Wut und Schuldgefühle charakterisiert.
Die langfristige Phase ging mit vergewaltigungsbezogenen Albträumen, Vorstellungen,
Vermeidungsverhalten (45,6 % zogen um), Ängsten und sexuellen Störungen einher.
Übers. von Matthias Wengenroth; Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber, 1995. S.
14.
73
AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION: Diagnostic and statistical manual of mental
disorders. Washington, DC: American Psychiatric Association, 1952. S. 40. zit SAIGH,
1995.
74
QUARANTELLI, E. L.: „An assessment of conflicting values on mental health: The
consequences of traumatic events“. in C. R. FIGLEY (Ed.): Trauma and its wake, New
York: Brunner / Mazel,1985. zit. SAIGH, 1995.
75
SAIGH, Philip, A.: Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose und Behandlung
psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen. Aus dem Engl.
Übers. von Matthias Wengenroth; Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber, 1995, S.
15.
76
BURGESS, A. W. & HOLSTROM, L. L.: „Rape trauma syndrome“. Amercan Journal of
Psychiatry, 133, 413-418, 1974. zit. SAIGH, 1995. S. 15.
Seite 32
Posttraumatic Stress Disorder (PTSD)
4.1.3 Der Begriff ‘Posttraumatic stress disorder’ wird im DSM
aufgenommen
Es wurde Ende der 70er Jahre ein DSM-III-Ausschuss ‘Reaktive Störungen’ gebildet, der
auf klinische Erfahrungen und die vorliegende Literatur zurückgriff, um diagnostische
Kriterien für diejenige Störung zu formulieren, die die Bezeichnung ‘posttraumatic stress
disorder (dt.: Posttraumatische Belastungsstörung, Abk.: PTBS) erhielt.77 Damit taucht
dieser Begriff erstmals in einem Klassifikationssystem auf.
Der 1980er Taxonomie zufolge liegt eine PTBS dann vor, wenn sich in der Folge eines
traumatischen
Ereignisses,
„das
im
allgemeinen
außerhalb
des
menschlichen
Erfahrungsbereiches liegt, bestimmte charakteristische Symptome entwickeln.“78 Des
Weiteren hieß es, dass
„der Stressor, der das Syndrom auslöst, bei den meisten Menschen schwere
Belastungssymptome hervorrufen würde, und außerhalb des Bereiches solch üblicher
Erfahrungen wie Trauer, chronische Krankheit, geschäftliche Verluste oder eheliche
Konflikte liegt.“79
SAIG betont in diesem Kontext die Auswirkungen von starken Stressoren auf die psychische
Gesundheit. Es wurde
„eindeutig anerkannt, daß starke Stressoren (z. B. Gefechte, Vergewaltigung und
Naturkatastrophen) sehr ähnliche psychopathologische Muster bedingen können.“80
Im Jahr 1983 wurde begonnen, an der Revision des DSM-III zu arbeiten, die dann im Jahr
1987 als ‘DSM-III-R’ veröffentlicht wurde. Wie schon im DSM-III wurde auch im DSM-III-R
davon ausgegangen, dass sich bei einem PTSD die Symptome in der Folge eines
„psychisch belastenden Ereignisses entwickeln, das außerhalb der üblichen menschlichen
Erfahrung liegt“.81
Anders als beim DMS-III, gab das DSM-III-R Beispiele für verschiedene Klassen von
Traumata, die ein PTSD verursachen können. Sie lassen sich in drei Kategorien einteilen:
82
77
AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION: Diagnostic and statistical manual of mental
disorders. (3rd ed), Washington, DC: American Psychiatric Association, 1980. zit.
SAIGH, 1995, S. 18.
78
AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION: Diagnostic and statistical manual of mental
disorders. (3rd ed), Washington, DC: American Psychiatric Association, 1980. Dt.
Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen: DMS-III, Weinheim:
Beltz 1984. S. 248.
79
a. a. O.
80
SAIGH, Philip, A.: Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose und Behandlung
psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen. Aus dem Engl.
Übers. von Matthias Wengenroth; Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber, 1995, S.
18.
81
AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION: Diagnostic and statistical manual of mental
disorders. (3rd ed), Washington, DC: American Psychiatric Association, 1980. S. 247.
82
SAIGH, Philip, A.: Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose und Behandlung
psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen. Aus dem Engl.
Übers. von Matthias Wengenroth; Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber, 1995, S.
18.
Seite 33
Posttraumatic Stress Disorder (PTSD)
Die direkte Konfrontation mit schweren Belastungssituationen, in der „das eigene Leben
oder die körperliche Integrität bedroht ist“.
83
Die Beobachtung bestimmter Ereignisse, wie etwa den „Anblick eines anderen
Menschen, der bei einem Unfall oder durch eine Gewalttat ernsthaft verletzt oder getötet
wird bzw. wurde“.84
Eine dritte Klasse von Traumata, bei der die verbale Vermittlung die ent-scheidende
Rolle spielt, etwa zu erfahren, dass „einem engen Freund oder Verwandten etwas
Schlimmes zugestoßen ist oder zuzustoßen droht (z. B. die Mitteilung zu bekommen,
daß das eigene Kind entführt oder mißhandelt worden ist.“85
Es stellte sich heraus, dass die Kriterien für das Auftreten eines PTSD im DSM-III-R zu
streng gefasst wurden. Anke EHLERS begründet dies wie folgt:
„Die Verfasser der revidierten dritten Auflage des Diagnostischen und Statistischen
Manuals psychischer Störungen forderten (...), dass ein traumatischer Stressor außerhalb
der normalen menschlichen Erfahrung liegen müsse (DSM-III-R; American Psychiatrie
Association, 1987. S. 250). Dieses Kriterium erwies sich jedoch als zu streng.
Epidemiologische Studien zeigten, dass einige der Stressoren, die zu einem PTSD
führen, weit verbreitet sind, wie z. B. Verkehrsunfälle (NORRIS, 1992) oder sexuelle
Gewalt (RESNICK et al., 1993).“86
Die Entwicklung des DSM ging weiter und 1994 kam eine weitere Version heraus. Die
Verfasser des DSM-IV87 versuchten, eine spezifischere Definition zu formulieren. 88 Sie
orientierten sich an Forschungsergebnissen, nach denen das Gefühl einer Lebensbedrohung
als einer der konsistentesten Prädiktoren des PTSD eingeordnet wurde.
PTSD nur für psychisch Labile?
Früher gab es die vorherrschende Meinung, dass psychische Reaktionen auf traumatische
Ereignisse normalerweise vorübergehend sind, und dass daher nur Personen mit labilen
Persönlichkeiten, mit bereits bestehenden, neurotischen Konflikten oder Geisteskrankheiten,
chronische Symptome entwickeln.
Heute wird das anders gesehen. Es hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass auch
Personen mit stabiler Persönlichkeit klinisch bedeutsame, psychische Symptome entwickeln
können, wenn sie außergewöhnlich schrecklichen Erlebnissen ausgesetzt sind. Hierzu hat
83
AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION: Diagnostic and statistical manual of mental
disorders. (3rd ed), Washington, DC: American Psychiatric Association, 1980. Dt.
Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen: DMS-III, Weinheim:
Beltz 1984. S. 247.
84
a. a. O. S. 247f.
85
a. a. O. S. 248.
86
EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle;
Hogrefe 1999. S. 4.
87
AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION: Diagnostic and statistical manual of mental
disorders. (4rd ed., Rev.), Washington, DC: American Psychiatric Association, 1994.
88
EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle:
Hogrefe, 1999. S. 4.
Seite 34
Posttraumatic Stress Disorder (PTSD)
unter anderem die Beobachtung beigetragen, dass viele Veteranen des Vietnam-Krieges
langwierige psychische Probleme entwickelten, und dass die psychischen Auswirkungen
sexueller Gewalt im Rahmen der Frauenbewegung verstärkt thematisiert wurden.
Die zehnte Auflage der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (Abk. ICD10)
bildete eine gesonderte Kategorie der ‘Reaktionen auf schwere Belastungen und
Anpassungsstörungen (F43)’. Es wird angenommen, dass die psychischen Symptome als
direkte Folge der akuten schweren Belastung oder des kontinuierlichen Traumas eintreten.
„Das belastende Ereignis ... (ist) der primäre und ausschlaggebende Kausalfaktor, und die
Störung wäre ohne seine Einwirkung nicht entstanden"89
Der wesentliche Effekt der Entwicklung des Begriffes ‘PTSD’ liegt in seiner Anerkennung
der Gesellschaft als Krankheit. Die Symptome eines PTSD werden nun von den Fachleuten
nicht mehr als Simulation abgetan, sondern als psychische Störung betrachtet und
behandelt. Betroffene Menschen, in helfenden Berufen tätig, werden eher weniger als
‘Schwächling’ oder als ‘unfähig, eine derartige Tätigkeit auszuüben’ diskreditiert. Alles in
allem ist die Klassifikation des PTSD ein deutliches Zeichen, dass unsere Gesellschaft
bereit ist, sich mit den psychischen Folgen von Gewalttaten auseinanderzusetzen.
89
DILLING, H.; MOMBOUR, W.; SCHMIDT, M. H. (Hrsg.): ‘Weltgesundheitsorganisation:
Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F) Klinischdiagnostische Richtlinien', Bern: Verlag Hans Huber, 1991. S. 155. zit. EHLERS, 1999,
S. 3.
Seite 35
Posttraumatic Stressdisorder (PTSD)
4.2 Definiton ‘Psychisches Trauma’
Im Brockhaus (Die Enzyklopädie des Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG)
findet sich folgende Definition:90
„Psychisches Trauma: Bez. für eine psych. >Verletzung< (griech. trauuma), verursacht
durch Erlebnisse, die weit außerhalb normaler seel. Belastungen liegen, z. B. Folterung,
Vergewaltigung, Krieg, Konzentrationslager, Geiselnahme, natürl. (Erdbeben) oder techn.
(Unfälle, Brände) Katastrophen. Wird ein psychisches Trauma nicht bewältigt (es wiegt i.
d. R. schwerer, wenn es von Menschen verursacht wurde, z. B. bei Folterungen, KZErlebnissen), spricht man von posttraumatischer Belastungsstörung (engl. post-traumatic
stress disorder, Abk. PTSD), die sich im Wiedererleben im Schlaf- (Albträume) oder
Wachzustand (Dissoziation), in Angst, Depression, Schreckhaftigkeit, Zerfall der
familiären und Arbeitsbeziehungen, Alkohol- und Drogenabhängigkeit äußern kann. Allg.
als behandlungsbedürftiger Zustand erkannt und anerkannt wurde die posttraumat.
Belastungsstörung am psych. und sozialen Zusammenbruch sehr vieler Vietnamveteranen
nach Kriegsende.“
4.3 Symptome des PTSD
Für das PTSD gibt es eine typische Erscheinungsform:
„Das charakteristischste Symptom der PTB ist das ungewollte Wiedererleben von
Aspekten des Traumas. Die Betroffenen haben die gleichen sensorischen Eindrücke (z.
B. Bilder, Geräusche, Geschmack, Körperempfindungen) und gefühlsmäßigen und
körperlichen Reaktionen wie während des Traumas.“91
Z. B. hörte eine Frau nach einem Autounfall immer wieder das Geräusch des Aufpralls. Bei
diesem Wiedererleben gibt es ein weiteres auffälliges Phänomen. Diesen Gedächtnisfetzen
fehlt eine Zeitperspektive:
„sie werden so erlebt, als ob sie im ‘Hier-und-Jetzt’ geschehen würden.“92
Situationen oder Personen, die an das traumatische Erlebnis erinnern, werden als sehr
belastend
erlebt
und
rufen
starke
körperliche
Reaktionen
hervor.
Sie
werden
dementsprechend vermieden. Auch dem Sprechen über das Ereignis wird möglicherweise
ausgewichen. Die Betroffenen versuchen, Erinnerungen an das Erlebnis aus dem Kopf zu
drängen und nicht an die schlimmsten Momente des Traumas zu denken.
93
Wenngleich der Erinnerung an das belastende Ereignis möglichst nicht nachgegangen wird,
so grübeln doch viele über das Zustandekommen und die Konsequenzen des Traumas
90
Brockhaus, Online Version: Buchvorlage: Auf Grundlage der 20., neu bearbeiteten
Auflage 1996-1999, Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG,
http://www.xipolis.de.
91
EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle:
Hogrefe, 1999. S. 3.
92
a. a. O. S. 3.
93
a. a. O. S. 3.
Seite 36
Posttraumatic Stressdisorder (PTSD)
nach, z. B. darüber, warum das Ereignis passiert ist, wie es hätte verhindert werden können,
wie sie sich rächen könnten oder inwiefern ihr Leben ruiniert ist.
94
Die Emotionen der Patienten reichen von intensiver Furcht, Ärger, Trauer, Schuld oder
Scham bis zu emotionaler Taubheit. Oft beschreiben sie, dass sie sich von anderen
Menschen entfremdet fühlen und geben Kontakte und Aktivitäten auf, die ihnen vorher
wichtig waren. Sie zeigen eine Reihe von Symptomen autonomer Übererregung, z. B. eine
erhöhte Vigilanz (Wachsamkeit), starke Schreckreaktionen, Reizbarkeit, Konzentrationsund Schlafstörungen.95
4.4 Was macht einen Stressor traumatisch ?
Es gibt viele Lebensereignisse, die als belastend erlebt werden, z. B. Scheidung, Verlust
des Arbeitsplatzes oder Durchfallen bei einer Prüfung. Ihr Schweregrad ist abgestuft. Eine
Liste der möglichen, belastenden Ereignisse findet sich im Teil ‘Stress’. Viele dieser
Ereignisse werden in der Umgangssprache als ‘traumatisch’ beschrieben. Eine Feldstudie96
fand jedoch, dass solche ‘schwachen’ Stressoren nur bei 0,4 % der Betreffenden zu den
charakteristischen Symptomen eines PTSD führen. Es erscheint daher notwendig, den
Begriff „Trauma" in der Diagnose der PTB relativ eng zu fassen.
Die Verfasser des DMS-III-R (revidierte 3. Auflage des Diagnostischen und statistischen
Manuals psychischer Störungen) forderten daher, dass ein traumatischer Stressor
außerhalb der normalen menschlichen Erfahrung liegen müsse97. Dieses Kriterium erwies
sich jedoch als zu streng. Epidemiologische Studien zeigten, dass einige der Stressoren, die
zu einem PTSD führen, weit verbreitet sind, wie z. B. Verkehrsunfälle98 oder sexuelle
Gewalt.99
Die ICD-10 benutzt eine breitere Definition:
94
a. a. O. S. 4.
95
a. a. O. S. 4.
96
KILPATRICK et al., 1991, zit. in: McNALLY, R.J. „Posttraumatic stress disorder“. In T.
MILLON, P. H. BLANEY & R. D. DAVIS (Eds.), Oxford textbook of psychopathology,
Oxford, UK: Oxford University Press, 1998. zit. in EHLERS, 1999.
97
AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION: Diagnostic and statistical manual of mental
disorders. (3rd ed), Washington, DC: American Psychiatric Association, 1980. Dt.
Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen: DMS-III-R: Weinheim:
Beltz, 1989. S. 250.
98
NORRIS, F.H.: „Epidemiology of trauma: Frequency and impact of different potentially
traumatic events on different demographic groups“. Journal of Consulting and Clinical
Psychology, 1992. 60,409-418. zit. EHLERS, 1999.
99
RESICK, P. A. & SCHNICKE, M. K. Cognitive processing therapy for rape victims.
Newbury Park, CA: Sage. 1993. zit. EHLERS, 1999.
Seite 37
Posttraumatic Stressdisorder (PTSD)
„ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder
katastrophenartigen Ausmaßes (kurz- oder langanhaltend), die bei fast jedem eine tiefe
Verstörung hervorrufen würde" 100
Die Verfasser des DSM-IV101 versuchten, eine spezifischere Definition zu formulieren. Sie
orientierten sich an Forschungsergebnissen, nach denen das Gefühl der Lebensbedrohung
einer der konsistentesten Prädiktoren der PTSD ist102. Um das PTSD nach dem DSM-IV
diagnostizieren zu können, muss der Betroffene eine Situation erlebt/beobachtet haben oder
damit auf andere Weise konfrontiert worden sein, die Tod, Lebensgefahr oder starke
Körperverletzung beinhaltet hat oder bei der die körperliche Unversehrtheit der eigenen
oder
einer
anderen
Person
bedroht
war.
Bei
Kindern
werden
Entwicklungsstand unangemessene sexuelle Erfahrungen eingeschlossen.
weiterhin
103
dem
Ein weiterer
wichtiger Schritt bestand darin, traumatische Stressoren nicht allein an Hand der Situation
zu definieren, sondern die subjektive Reaktion auf diese Situation als weiteres Kriterium
aufzunehmen. So muss der Betroffene mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen
reagiert haben (bei Kindern: chaotisches oder besonders unruhiges Verhalten)104.
Potentiell traumatische Erlebnisse nach DSM-IV wären also zum Beispiel Vergewaltigung,
sexueller
Missbrauch,
Geiselnahme,
körperlicher
Naturkatastrophen,
Angriff,
schwere
Kriegseinsatz,
Unfälle,
Folter,
Kriegsgefangenschaft,
aber
auch
körperliche
Krankheiten oder belastende medizinische Eingriffe (z. B. Herzinfarkt, Operation unter
unvollständiger Narkose oder gefährlich verlaufende Kindesgeburt).
105
Anke EHLERS106 berichtet, dass die Stressor-Kriterien des DSM-IV weiter diskutiert werden
und die Definition erweitert werden sollte. Sie schlägt vor, dass verstärkt die subjektive
Wahrnehmung als Auslöser eines PTSD anerkannt werden sollten:
Die Bedrohung der
Wahrnehmung, ein autonom handelnder und denkender Mensch zu sein, wirkt ebenfalls
traumatisierend. Ein Sich-Aufgeben und der wahrgenommene Verlust jeglicher Autonomie,
hat genauso einen starken Effekt, ein PTSD auszulösen.
100
DILLING, H., MOMBOUR, W., SCHMIDT, M.H. (Hrsg.) ‘Weltgesundheitsorganisation:
Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F) Klinischdiagnostische Richtlinien’. Bern: Verlag Hans Huber. 1991. S. 157. zit. EHLERS, 1999.
101
AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION: Diagnostic and statistical manual of mental
disorders. (4rd ed., Rev.), Washington, DC: American Psychiatric Association, 1994. S.
427.
102
MARCH, J. S.: „What constitutes a Stressor? The ‘Critenrion A’ issue“. in J.R.T.
DAVIDSON & E.B. FOA (Eds.), Post-traumatic stress disorder: DSM-IV and beyond (pp.
37-56). American Psychiatrie Press, Washington, 1993. zit. in EHLERS, 1999. S. 4.
103
EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle:
Hogrefe, 1999. S. 5.
104
a. a. O. S. 5.
105
a. a. O. S. 5.
106
a. a. O. S. 5.
Seite 38
Posttraumatic Stressdisorder (PTSD)
4.5 Diagnostische Kriterien nach ICD-10 bzw. DSM-IV
Das DSM-IV stimmt mit der ICD-10 hinsichtlich der Kernsymptomgruppen des PTSD
überein: Wiedererleben, Vermeidung, emotionale Taubheit und Übererregung. Um die
Diagnose zu stellen, sollte also eine Kombination dieser Symptome vorliegen. Die
diagnostischen Systeme unterscheiden sich hinsichtlich der Gewichtung der Symptome.
Während die ICD-10 den Schwerpunkt auf die Symptome des Wiedererlebens legt, betont
das DSM-IV die Vermeidungs- und Taubheits-Symptome, da mindestens drei dieser
Symptome für eine Diagnose vorliegen müssen.
Insgesamt sind die DSM-IV-Kriterien strenger. Das zeigen auch die Ergebnisse von
ANDREWS et al. (1999)107. In einer großen Stichprobe fanden sie eine PTB-Prävalenz nach
ICD-10 von 7 % und nach DSM-IV von 3 %. Die Übereinstimmung zwischen den beiden
diagnostischen Systemen betrug nur 35 %.
Anke EHLERS bedient sich der ICD-10 zur Darstellung der diagnostischen Richtlinien des
PTSD. Die nachstehende Tabelle (Seite 40) zeigt eine Kopie dieser Richtlinien. 108
Im Anhang (Seite 97) wird ein Auszug aus der ICD-10 angeführt. Es handelt sich um eine
Kopie des Deutschen Institutes für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI).
Auch werden auszugsweise Texte aus dem DSM-IV im Anhang dargestellt.
107
ANDREWS, G.; SLADE, T. & PETERS, L.: „Classification in psychiatry: ICD-10 versus
DSM-IV“. British Journal of Psychiatry, 1999, 174,3-5. zit. EHLERS, 1999.
108
EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle:
Hogrefe, 1999. S. 6.
Seite 39
Posttraumatic Stressdisorder (PTSD)
Tabelle 1
Kriterien für die Posttraumatische Belastungsstörung nach den ICD-10
diagnostischen Leitlinien: 109
Kriterien
Stressor
1. Ereignis oder Situation außergewöhnlicher
Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes
2. würde bei fast jedem eine tiefe Verstörung
hervorrrufen
Symptome
Notwendige Symptome:
1. Wiederholte unausweichliche Erinnerung oder
Wiederinszenierung des Ereignisses in Gedächtnis,
Tagträumen oder Träumen
Andere typische Symptome:
2. Andauerndes Gefühl von Betäubtsein und
emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber
anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit gegenüber
der Umgebung, Anhedonie (Fehlen des sexuellen
Lustgefühls)
3. Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die
Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten
Gewöhnliche Symptome:
4. Vegetative Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung110,
übermäßiger Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit
5. Angst und Depression
Seltene Symptome:
6. Dramatische, akute Ausbrüche von Angst, Panik
oder Aggression
Zeitlicher Rahmen
Symptome treten üblicherweise innerhalb von 6
Monaten nach dem belastenden Ereignis auf
109
a. a. O. S. 6.
110
„Vigilanz [zu lat. vigil=wach, munter] w; -: a) Aufmerksamkeit; b) Zustand erhöhter
Reaktionsbereitschaft (Psychol.)“. Quelle: DUDEN: Wörterbuch medizinischer
Fachausdrücke. hrsg. u. bearb. von d. Red. Naturwiss. u. Medizin d. Bibliograph.; 3.,
vollst, überarb. u. erg. Aufl.; Mannheim, Wien, Zürich: Bibliographisches Institut;
Stuttgart: Thieme, 1979. S. 733.
Seite 40
Posttraumatic Stressdisorder (PTSD)
4.6 Auffällige, psychische Symptome des PTSD
Unabhängig von der Angstursache antwortet das Zentralnervensystem (ZNS) auf
überwältigende, erschreckende und nicht kontrollierbare Erlebnisse mit konditionierten,
emotionalen Reaktionen. Z. B. können Vergewaltigungsopfer auf konditionierte Stimuli,
etwa das Herannahen eines unbekannten Mannes, mit Panik reagieren, als ob sie wieder
vergewaltigt werden würden.
4.6.1 Autonome Übererregbarkeit und intensives Wiedererleben
Während Menschen mit PTSD gegenüber ihrer Umwelt zu einem emotional gehemmten
Verhalten neigen, reagiert ihr Körper auf bestimmte physische und emotionale Stimuli so,
als ob die Vernichtungsdrohung noch immer präsent wäre. Die mit dem Trauma assoziierten
Stimuli verursachen eine konditionierte, autonome Erregung. (Normalerweise hat diese
Erregung die überlebenswichtige Funktion, den Organismus auf potentielle Gefahren
aufmerksam zu machen.) Die herabgesetzte Auslöseschwelle somatischer Stressreaktionen
bewirkt jedoch auch, dass Menschen mit PTSD ihren Körperempfindungen als Maß für
drohende Gefahr nicht mehr vertrauen können. So verlieren die Empfindungen ihre
Funktion
als
vorzubereiten.
Warnsignale,
um
den
Organismus
auf
angemessenes
Handeln
111
4.6.2 Emotionale Überreaktionen und Schlafprobleme
Personen mit PTSD haben Probleme, ihre eigenen Affekte zu regulieren. Traumatisierte
Menschen gehen unmittelbar vom Reiz zur Reaktion über, ohne zuvor zu merken, was sie
so erregt. Auch bei kleineren Stimuli neigen sie zu heftigen Empfindungen von Furcht,
Angst, Wut oder Panik. Das lässt sie entweder überreagieren und andere einschüchtern
oder sich verschließen und erstarren.
Sowohl Kinder als auch Erwachsene mit einer solchen Übererregbarkeit haben häufig unter
Schlafproblemen zu leiden. Entweder sind sie unfähig, sich vor dem Einschlafen zu
entspannen, oder sie fürchten, Albträume zu bekommen. Viele traumatisierte Menschen
berichten von ‘Traumabbruchsschlaflosigkeit’. Sobald sie anfangen zu träumen, wachen sie
auf — aus Angst, der Traum werde sich zu einem traumatischen Albtraum entwickeln.
Außerdem neigen sie zu Überwachsamkeit, erhöhter Schreckhaftigkeit und Ruhelosigkeit.
4.6.3 Lernstörungen
Physiologische Übererregung stört die Fähigkeit, sich zu konzentrieren und aus Erfahrungen
zu lernen. Neben Amnesien112, die sich auf Aspekte des Traumas beziehen, haben
111
VAN DER KOLK, Bessel A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
112
Amnesie: Störungen der Gedächtnisleistung, Erinnerungslücke. Quelle:
PSCHYREMBEL, Willibald [Begr.]; Zink, Christoph [Bearb]; Dornblüth, Otto [Begr.]:
Klinisches Wörterbuch, 255. Aufl.; Berlin, New York: de Gruyter, 1986. S. 62.
Seite 41
Posttraumatic Stressdisorder (PTSD)
traumatisierte Menschen auch Schwierigkeiten, sich an gewöhnliche Ereignisse zu erinnern.
Durch traumabedingte Auslösereize leicht in einen Zustand der Übererregtheit versetzt und
von Konzentrationsschwierigkeiten geplagt, können sie Symptome einer pathologisch
verminderten Aufmerksamkeit entwickeln. Nach einer traumatischen Erfahrung verlieren
viele der traumatisierten Menschen entwicklungsgemäße Fertigkeiten und regredieren auf
frühere Formen der Stressbewältigung. Bei Kindern können bereits erlernte Fähigkeiten
wieder verschwinden, etwa bei der Nahrungsaufnahme oder bei der Körperhygiene. Bei
Erwachsenen drückt sich die Regression eher in übermäßiger Abhängigkeit und dem Verlust
der Fähigkeit aus, überlegte und autonome Entscheidungen zu treffen.
113
4.6.4 Erinnerungsstörungen und Dissoziation
Die erhöhte autonome Erregbarkeit beeinträchtigt nicht nur das psychische Wohlbefinden.
Jede erregende Situation kann Erinnerungen an lange zurückliegende traumatische
Erlebnisse auslösen und Reaktionen provozieren, die in der Gegenwart unangemessen
sind.
Neben Übererregung und aufdringlichen Erinnerungen können chronisch traumatisierte
Menschen, vor allem Kinder, Amnesiesyndrome bezüglich des traumatischen Ereignisses
entwickeln.
Werden
Kinder
in
einer
Lebensphase,
während
der
sie
ihrem
Entwicklungsstadium entsprechend unterschiedliche Identitäten in ihrem täglichen Spiel
erproben, Opfer eines nachwirkenden und schweren Traumas, können sie manchmal ganze
Persönlichkeitsanteile abspalten, um mit den traumatischen Erlebnissen fertig zu werden.
Langfristig kann das zu einer multiplen Persönlichkeitsstörung (Multiple Identity Disorder)
führen. (In den USA bei etwa 4 % der Patienten in stationärer, psychiatrischer Behandlung
zu beobachten) Bei manchen Erlebnissen entwickeln diese Opfer eine Amnesie: Auf das
Gefühl der Bedrohung reagieren sie mit Kampf oder Flucht — später vergisst die Person die
Bedrohung und kann sich auch nicht mehr an Kampf oder Flucht bewusst erinnern. 114
4.6.5 Aggressionen und Autoaggressionen
Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass traumatisierte Kinder und Erwachsene
dazu neigen, ihre Aggression gegen andere oder sich selbst zu wenden. Missbrauch im
Kindesalter erhöht erheblich die spätere Wahrscheinlichkeit von Delinquenz115 und
kriminellem
Verhalten.
Probleme
mit
Fremdaggression
sind
besonders
gut
bei
Kriegsveteranen, traumatisierten Kindern und Häftlingen mit einer frühen Traumatisierung
dokumentiert.116
113
VAN DER KOLK, Bessel A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
114
VAN DER KOLK, Bessel A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
115
Delinquenz: Straffälligkeit. Quelle: DUDEN: Fremdwörterbuch. Bearb. v. Marion Müller,
4. Auflage; Mannheim, Wien, Zürich. Bibligraphisches Institut 1982; S. 170
116
VAN DER KOLK, Bessel A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
Seite 42
Posttraumatic Stressdisorder (PTSD)
4.6.6 Betäubung der psychischen Reaktivität
Da traumatisierte Menschen sich ihrer Schwierigkeiten bewusst sind, ihre Emotionen unter
Kontrolle zu halten, scheinen sie ihre Energien eher darauf zu verwenden, quälenden
inneren Empfindungen aus dem Weg zu gehen, als auf die Anforderungen ihrer Umwelt
einzugehen. Hinzu kommt, dass sie den Gefallen an Dingen verlieren, die ihnen früher ein
Gefühl von Befriedigung verschafft haben und sie fühlen sich, als ob sie ‘der Welt abhanden
gekommen’ wären. Dieses emotionale Betäubtsein kann sich als Depression, als
Lustlosigkeit und Antriebsschwäche, in psychosomatischen Reaktionen und dissoziativen
Zuständen117 äußern. Unter Schulkindern, die von einem Heckenschützen angegriffen
worden waren und unter Opfern von physischer Misshandlung und sexuellem Missbrauch,
waren derartige Betäubungsmechanismen zu beobachten. Diese Kinder sind weniger an
spielerischer, sozialer Interaktion beteiligt, ziehen sich häufig zurück und werden isoliert. 118
Psychosomatische Reaktionen, chronische Angst und emotionale Taubheit behindern auch
das Lernen, Gefühle und Wünsche zu identifizieren und zu artikulieren. In ihrer Kindheit
traumatisierte
Menschen
leiden
häufig
an
Alexithymie119.
Diese
Unfähigkeit,
Körperempfindungen in Worte und Symbole zu fassen, hat zur Folge, dass sie Emotionen
lediglich als physische Probleme erleben. Dies richtet vor allem in intimer und vertrauter
zwischenmenschlicher Kommunikation verheerende Schäden an. Solche Menschen leiden
an psychosomatischen Störungen und sind mit der Welt in erster Linie durch ihren Körper
verbunden: Kommunikation verläuft eher über Körperorgane als über emotionale
Bindungen.120
4.6.7 Abhängigkeit der psychischen und biologischen Reaktion
auf das Trauma vom Entwicklungsstand
Die moderne Psychiatrie hat allmählich begonnen, die unterschiedlichen Traumafolgen für
verschiedene Altersstufen zu bestimmen. So hat man neu überdacht, wie fehlende
Zuwendung
oder
traumatische
Trennungserfahrungen
den
Entwicklung stören können. Ein günstiges Bindungsverhalten
Organismus
in
seiner
hat zu allererst eine
überlebenswichtige biologische Funktion, die für Fortpflanzung und Überleben in gleicher
Weise unverzichtbar ist. In verschiedenen Forschungen konnte aufgezeigt werden, dass
117
dissoziative Reaktionen: Es gibt vier Arten von dissoziativen Reaktionen:
Gedächtnisstörungen (Ort, Zeit, Raum), Nicht an einen Ort gebunden sein,
Schlafwandeln, Multiple Persönlichkeit, Quelle: DAVISON, Gerald C. u. NEALE, John
M.: Klinische Psychologie, München, Wien, Baltimore: Urban und Schwarzenberg, 1979.
S. 156.
118
VAN DER KOLK, Bessel A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
119
„Alexithymie, [gr. a..., lexis Sprechen, thymos Gemüt, Gefühl], Unvermögen, Gefühle
angemessen wahrnehmen und beschreiben zu können. Alexithymie wird besonders von
einer frz. Schule als wichtiger Faktor für die Entwicklung psychosomatischer. Störungen
betrachtet.“ Quelle: FREYBERGER, H.: Psychosomatik des Kindesalters und des
erwachsenen Patienten. München 1977. zit. nach RIES. H: in DORSCH, Friedrich:
Psychologisches Wörterbuch / Dorsch. Hrsg. von Friedrich Dorsch, Red.: Horst Ries,11.,
erg. Aufl., Bern, Stuttgart, Toronto: Huber, 1987.
120
VAN DER KOLK, Bessel, A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
Seite 43
Posttraumatic Stressdisorder (PTSD)
gestörte Bindungen in der Kindheit langfristige neurophysiologische Folgen haben können.
Misshandlung, Vernachlässigung und Trennung in der Kindheit können weitreichende biopsycho-soziale Folgen haben. Dazu gehören anhaltende biologische Veränderungen
(werden im nachfolgenden Text beschrieben), die die Gefühlsmodulation beeinträchtigen
können und Schwierigkeiten, neue Verarbeitungsstrategien zu entwickeln. Des Weiteren
kann die Immunkompetenz herabgesetzt werden; auch die Fähigkeit, sinnvolle soziale
Bindungen einzugehen, kann reduziert werden.
121
Es gibt kritische Entwicklungsphasen des Zentralnervensystems, während derer Kinder
besonders anfällig für die Entwicklung bleibender Störungen infolge von Missbrauch,
Vernachlässigung und Trennung sind.
Traumata in frühem Alter haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Affektregulation und
Bewusstseinszustände. Traumata beeinflussten ungünstig, wie Erfahrungen auf der
somatischen Ebene organisiert werden und wie sich die Persönlichkeit an das chronische
Erleben von Gefahr und Furcht anpasst. (Deshalb wurde auch von der PTSDGutachterkommission im Rahmen der Vorbereitung von DSM IV eine erweiterte Definition
von PTSD empfohlen und eine Definition von ‘Schwerem PTSD’ vorgeschlagen). 122
4.7 Stressreaktion und die Psychobiologie von PTSD
Die biologische Grundlage der Reaktion auf Traumata ist zwar äußerst komplex. In den
letzten vierzig Jahren haben jedoch Forschungen an Menschen und Säugetieren gezeigt,
dass
insbesondere
frühe
Stressreaktion haben —
Traumata
u.a. auf
langfristige
Folgen
für
die
neurochemische
die Ausschüttung von Katecholaminen, auf
Cortisolausschüttung und auf eine Reihe anderer biologischer Systeme wie die Regulation
von Serotonin und endogenen opioiden Peptiden. Hier ein kurzer Überblick über einige
dieser traumatisch bedingten, biologischen Veränderungen:
4.7.1 Aktivierung und Reaktion auf Gefahrensignale
Der Körper reagiert auf erhöhte physische oder psychische Anforderungen mit der
Freisetzung von Noradrenalin aus dem Locus Coeruleus und von Corticotropin (ACTH) aus
dem Hypophysenvorderlappen. Zwar hat man viele Details der Wechselwirkung zwischen
den Hormonen der Achse Hypothalamus- Hypophyse-Nebennierenrinde (HHN-Achse) und
den Katecholaminen in der Stressantwort noch kaum völlig verstanden. Dennoch helfen
diese unterschiedlichen Hormone dem Körper, die nötige Energie für die Antwort auf
Stressoren zu mobilisieren. Das reicht von einer erhöhten Freisetzung von Glukose bis zur
Stimulierung des Immunsystems. In einem gut funktionierenden Organismus führt Stress zu
schnellen und ausgeprägten hormonellen Reaktionen. Chronisch anhaltender Stress jedoch
reduziert die Wirksamkeit der Stressreaktion und führt zur Desensibilisierung.
121
a. a. O.
122
VAN DER KOLK, Bessel, A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
123
a. a. O.
123
Seite 44
Posttraumatic Stressdisorder (PTSD)
Es ist daher nicht verwunderlich, dass bei Patienten mit PTSD viele Abnormalitäten der
Stress-Hormonregulation beobachtet worden sind . So war bei Kriegsveteranen im 24Stunden-Mittel eine erhöhte Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin oder ein erhöhter
Cortisolspiegel im Urin zu beobachten.124
4.7.2 Betäubtsein
Gegenwärtig orientiert sich die Forschung an drei Hypothesen, um die biologischen
Grundlagen, für die bei PTSD beobachtete Betäubung der psychischen Reaktivität, zu
erklären:
125
A. Dämpfung des noradrenergen Systems und der HHN-Achse: Nach einer exzessiven,
noradrenergen
Stimulation
zeigen
Menschen
eine
verminderte
adrenerge
Rezeptoraktivität.
B. Opioid vermittelte, stressinduzierte Analgesie126 (SIA) ist bei Stress ausgesetzten Tieren
und bei Menschen mit PTSD beschrieben worden.
C. Das Serotonin-System: Es gibt ziemlich sichere Hinweise auf eine reduzierte
Serotoninaktivität bei PTSD, die das Funktionieren des Hippokampus stört und die auch
Ursache dafür sein könnte, dass ankommende Sinneseindrücke als bedrohliche und
nicht als neutrale Stimuli interpretiert werden. Das stört die Aufmerksamkeit auf
ankommende Eindrücke. Diese werden nicht als Anforderungen erkannt, denen es
gerecht zu werden gilt, sondern statt dessen als traumatische Stimuli interpretiert, die zu
vermeiden sind.
4.7.3 Psychosoziale Folgen
Bedrängende Erinnerungen an das Trauma, Schuld- und Schamgefühle wegen einer
(vermeintlichen) persönlichen Schuld an dem Geschehenen beeinträchtigen die sozialen
Beziehungen.
Wut über Verlassenwordensein, sowie die veränderte, biologische
Stressreaktion beeinträchtigen die Gestaltung familiärer und beruflicher Beziehungen.
Die Mehrheit traumatisierter Menschen leidet:
127
1. an dem anhaltenden Gefühl von Niedergeschlagenheit und Hilflosigkeit,
2. an einer niedrigen Affekttoleranz, Impulsivität und einem primär somatischen Erleben
von Emotionen,
3. an der zwanghaften Neigung, sich immer wieder in gefährliche Situationen zu begeben,
124
a. a. O.
125
a. a. O.
126
Analgesie: Aufhebung der Schmerzempfindung. Quelle: PSCHYREMBEL, Willibald
[Begr.]; Zink, Christoph [Bearb]; Dornblüth, Otto [Begr.]: Klinisches Wörterbuch, 255.
Aufl. Berlin, New York: de Gruyter, 1986. S. 71.
127
VAN DER KOLK, Bessel, A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
Seite 45
Posttraumatic Stressdisorder (PTSD)
4. an Hilflosigkeit und dem Verlust persönlicher Initiative mit der Folge, dass sich die
Abhängigkeit von der Gesellschaft und/oder der Familie verstärkt;
5. außerdem kann der Mangel an Affekttoleranz dazu führen, dass sich traumatisierte
Menschen von komplexen und differenzierten interpersonalen Beziehungen abwenden
und statt dessen in exzessive Arbeit stürzen.
Der Mangel an emotionaler Anteilnahme an konkreten Beziehungen lässt das Leben nach
dem Trauma sinnlos werden und setzt die zentrale Rolle des Traumas im Leben der
Betroffenen fort. Sie können in einen Zustand generalisierter Hoffnungslosigkeit versinken
oder einfach Schwierigkeiten haben, gerechtfertigte Forderungen von nicht gerechtfertigten
zu unterscheiden. Unfähig, die eigene Rolle und die Rolle anderer in zwischenmenschlichen
Konflikten richtig einzuschätzen, sehen sie sich häufig in vielen sozialen Kontakten wieder
zum Opfer gemacht. Da Traumatisierte dazu neigen, spätere Stresssituationen primär als
Körperempfindungen zu erfahren und nicht als genau umrissene Probleme, die spezielle
Lösungen erfordern, sind sie häufig unfähig, wirksam zu handeln. Sie begreifen nicht die
Ursache der Intensität ihrer Reaktionen, die in keinem Verhältnis zu der Schwere aktueller
Stressoren steht und sie sind daher nicht in der Lage, rational zu überlegen, was zu tun
ist.128
Für viele traumatisierte Menschen bleibt die Beschäftigung mit dem Trauma auf Kosten
anderer Erfahrungen ein zentraler Bestandteil ihres Lebens. Dies kann auch zu einer
Änderung der Lebensvollzüge führen, wie z. B. Beistand für andere Opfer anbieten — eine
gesellschaftlich akzeptierte Form der Bewältigung. Hingegen andere Traumaopfer finden
eine eher weniger akzeptierte Lösung: sie reproduzieren das Trauma in irgendeiner Weise
für sich oder andere. Es gibt Kriegsveteranen, die sich als Söldner anwerben lassen, auch
Inzestopfer, die später zu Prostituierte werden. Kinder, die im zarten Kindesalter
misshandelt wurden, können dazu neigen, sich als Heranwachsende selbst verstümmeln.129
128
VAN DER KOLK, Bessel, A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
129
VAN DER KOLK, Bessel, A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
Seite 46
Posttraumatic Stressdisorder (PTSD)
5
Situationen, in denen PTSD entstehen kann
Es sind nicht alle Lebenssituationen, in denen sich ein Mensch befinden kann, potentiell
geeignet ein PTSD auszulösen. Es gibt aber einige Situationen, die von manchen
Menschen als sehr belastend erlebt werden und in der Folge ein PTSD erzeugen.
Die nachfolgende Tabelle listet zunächst die typischen Situationen, mit hoher Tendenz zum
PTSD, auf. Es sind längst nicht alle denkbaren Ereignisse, bzw. Situationen angeführt,
sondern stellen nur einen Ausschnitt dar. Es ist zugleich ein Versuch, die Ereignisse zu
ordnen.
Einmalig / plötzlich
menschengemacht
Unfälle
Atomunfall
Autounfall
Brandverletzung
Fährenunglück
Flugzeugabsturz
Zugunglück
Arbeitsunfälle
Verbrechen /
Vergehen
Amoklauf
Einbruch
Geiselnahme
Gewalt i.d. Familie
Körperverletzung
Mordanschlag
Raubüberfall
Vergewaltigung
nicht
menschengemacht
Krankheit
Naturkatastrophen
Plötzlicher Kindestod Erdbeben
Flut
Hochwasser
Tornado
Brand
Lawinen
Fortdauernd / wiederholend
nicht
menschengemacht
Krankheit
menschengemacht
Verbrechen /
Vergehen
Folter
Sekten
Sexueller Missbrauch
Körperliche und
seelische
Misshandlung
Kriege / Terrorismus
1. Weltkrieg
2. Weltkrieg
Holocaust
Vietnam
AIDS
Krebs
Israelische Kriege
Golfkrieg
Quelle: http://www.trauma-informations-zentrum.de/listen/ltraumat.htm
5.1 Gefährdete Personen
Es gibt in unserer Gesellschaft unterschiedliche Personengruppen mit einer verschiedenen
Prävalenz an einem PTSD zu erkranken. Es hängt sehr stark von der Intensität und auch
von der Häufigkeit von belastenden Ereignissen ab, ob jemand ein PTSD entwickelt.
Außerdem wird zwischen ‘Betroffenen’ (‘primär Traumatisierte’) und ‘Helfern’ (‘sekundär
Seite 47
Posttraumatic Stressdisorder (PTSD)
Traumatisierte’)
unterschieden.
Nachfolgende
Tabelle
stellt
eine
Übersicht
der
Personengruppen mit besonderer Gefährdung zu einem PTSD dar.
Betroffene Personen
Primär Traumatisierte
Altersgruppe
Kinder
Jugendliche
Erwachsene
Senioren
Gemeinsames
Ereignis
Hinterbliebene
Suizidale Personen
Strafgefangene
Helfer
Sekundär Traumatisierte
Feuerwehr
Polizei
Rettungsdienst / Notärzte
Laienhelfer
Psychotherapeuten
Quelle: http://www.trauma-informations-zentrum.de/listen/ltraumat.htm
5.2 Der Krieg, die Quelle posttraumatischer
Belastungsstörungen für die gesamte Bevölkerung
5.2.1 Vorbemerkung
Der Krieg ist ein soziales Ereignis, das die meisten ethischen Werte, wie z. B. das
Tötungsverbot, auflöst. Viele Menschen werden sogar per Gesetz von der Allgemeinheit
dazu gezwungen, andere Menschen zu töten, auszurauben und deren Hab und Gut zu
zerstören.
Durch die außerordentliche Destruktivität des Krieges sind extrem traumatisierende
Ereignisse an der Tagesordnung und durch die moderne Kriegsführung ist die
Zivilbevölkerung wesentlich stärker betroffen als Soldaten (Siehe Grafik Seite 53). Die
besonders häufige Traumatisierung der Bevölkerung im Krieg wurde erst in den letzten
Jahren entdeckt und beobachtet. Nachstehende Grafik (Seite 50) zeigt, dass fast alle
Bewohner eines Krieg führenden Landstriches mit psychischen Problemen belastet sind.
Die Folgen des Krieges auf die Zivilbevölkerung sieht man jetzt wesentlich anders. Es wird
auch erkannt, dass die Folgen des Krieges für die Zivilbevölkerung wesentlich schlimmer
sind, als früher angenommen wurde. Dies kann zum einen auch deshalb sein, weil die
‘beobachtende Zivilisation’ jetzt eher weniger durch eigene Kriege belastet ist. Noch vor 50
Jahren konnten Europa und die USA eher nicht aus der notwendigen Distanz die
psychischen Folgen des Krieges beurteilen. Viele Völker mussten zunächst materielle
Probleme meistern — für die Beobachtung und Bewertung der psychischen Schäden des
Krieges waren weder Ressourcen noch ausreichende Grundlagen der Traumaforschung
vorhanden.
Zum anderen gibt es viele Menschen, die aus ihrer sicheren Umgebung der Zivilisation
aussteigen und in ein Krieg führendes, zerstörtes Land reisten. Von einem Tag auf den
anderen werden die Helfer mit der Zerstörung und dem Leid der Bevölkerung konfrontiert.
Erst mit dem Hintergrund der sicheren, zurückgelassenen Heimat kann das wahre Ausmaß
der Traumatisierung durch Krieg erfasst werden.
Seite 48
Der Krieg, die Quelle posttraumatischer Belastungsstörungen für die gesamte Bevölkerung
Ein weiterer Punkt ist die ethische Verpflichtung, den notleidenden Menschen in anderen
Ländern zu helfen. Hierzu braucht es besonders bei psychischen Problemen ein fundiertes
Rüstzeug. Vieles davon wurde erst in den letzten Jahren geschaffen.
5.2.2 Auswirkungen des Krieges auf die psychische Gesundheit
der Bevölkerung
Nachfolgendes Kapitel stellt im Wesentlichen die Arbeit von Richard F. MOLLICA dar, die
im Spektrum der Wissenschaften, 9.2000, veröfftentlicht wurde. Der Autor ist Professor für
Psychiatrie an der Harvard Medical School in Cambridge (Massachussetts). 1981 gehörte er
zu den Gründern des Harvard-Programms zur Behandlung von Flüchtlingstraumata, einem
der ersten klinischen Zentren in den USA für die Überlebenden von Massengewalt und
Folter.
„Die Roten Khmer hatten ihre ganze Familie ermordet, sie selbst bewusstlos geschlagen
und inmitten der Leichname ihrer Liebsten zurückgelassen. Als meine erste
kambodschanische Patientin mir ihre Leidensgeschichte erzählte, war meine erste
Reaktion, dass das einfach nicht wahr sein könne. Alles erschien so irreal - wie eine
Szene aus einem Horrorfilm. Mein Instinkt sagte mir: Das darfst du nicht glauben.“130
Schilderungen wie diese machen es Politikern, Mitarbeitern von Hilfsorganisationen und
sogar Psychiatern schwer, die Tiefen von kriegsbedingten Traumata richtig einzuschätzen.
Es gibt auch eine Einstellung, die eine realistische Wahrnehmung der Kriegsfolgen verzerrt.
Richard F. Mollica beschreibt sie folgendermaßen:131
„Krieg ist zwar die Hölle, aber die Betroffenen werden schon wieder in den Alltag
zurückfinden, wenn der Konflikt erst einmal beigelegt ist. Körperliche Verletzungen
bestehen zwar fort, aber Beklemmung und Angst, Begleiter aller lebensbedrohlichen
Ereignisse, werden verschwinden, sobald die unmittelbare Gefahr vorüber ist.“
Die breite Öffentlichkeit sieht das im Großen und Ganzen einheitlich und
„unterm Strich lautet Parole an die Kriegsopfer: ‘Seid hart! Das steht ihr schon durch!’“132
Langsam wird zu den Kriegsopfern eine andere Sichtweise eingenommen. In den letzten
zwanzig Jahren haben Wissenschaftler damit begonnen, die sozialen und emotionalen
Folgen von Krieg für die Zivilbevölkerung in ihrer Gesamtheit zu erforschen.
Bis vor kurzem hatten die internationalen Behörden, die für Schutz und die Versorgung des
Lagers zuständig waren, keine auch noch so einfache Vorkehrung für die psychische
Versorgung der Opfer getroffen. Solche Versäumnisse kennzeichnen die meisten anderen
Flüchtlingshilfe-Projekte weltweit.
Richard F. MOLLICA kann die Gründe erkennen und meint, dass die seelischen
Verletzungen ganzer Gesellschaftsteile unsichtbar sind. Es ist leichter Leichen und
verlorene Extremitäten zu zählen als verwundete Seelen. Physisch Verwundete suchen aus
130
MOLLICA, Richard, F.: „Unsichtbare Wunden“. Spektrum der Wissenschaft. 2000/9. S.
42.
131
a. a. O.
132
a. a. O.
Seite 49
Der Krieg, die Quelle posttraumatischer Belastungsstörungen für die gesamte Bevölkerung
eigenem Antrieb einen Arzt auf, aber seelische Defekte sind so stark tabuisiert, dass die
Betroffenen es meist um jeden Preis verhindern wollen, einen Psychiater aufzusuchen.
Als internationale Organisationen in den letzten Jahren begannen, sich mit der psychischen
Gesundheit von Kriegsopfern auseinander zu setzen, suchten sie zunächst nach einfachen
Maßnahmen. Aber die seelische Gesundheit zu versorgen, ist weitaus schwerer als Straßen
wieder aufzubauen oder Malaria zu behandeln.
5.2.3 Psychische Krankheiten, die durch Kriegshandlungen
entstehen
und ihre Häufigkeit in einem Kriegsgebiet
Nahezu jedes Mitglied einer von Kriegswirren heimgesuchten Gesellschaft ist zu einem
gewissen Grad traumatisiert, angefangen von schweren psychischen Störungen (wie etwa
Psychose) bis hin zu klinischer Depression und posttraumatischen Belastungsstörungen
(PTSD). Den Statistiken aus jüngeren Bürgerkriegen zufolge sind die meisten Zivilisten
erschöpft, verzweifelt und misstrauisch — was das Sozialgefüge für eine ganze Generation
oder noch länger zugrunde richtet.133 Nachstehende Grafik (Seite 50) stellt die Häufigkeit
der einzelnen psychischen Belastungen in der Bevölkerung dar.
Psychische Belastung der Bevölkerung in Krieg führenden Gebieten
Quelle: Spektrum der Wissenschaften, 9/2000. S. 42
5.2.4 Todeszahlen in den einzelnen Kriegen
Das Leid der Menschen lässt sich nicht quantifizieren. Es lassen sich jedoch Statistiken über
die Kriegsopfer aufstellen. Zumindest wird dadurch deutlich, wie viele Menschen den Krieg
in seiner Unmenschlichkeit erleben mussten. Außerdem wird ein Vergleich der relativen
Härte der schwersten internationalen Konflikte der letzten zwei Jahrhunderte anhand der
Zahl der Opfer schätzbar. Die nachstehende Grafik (Seite 53) stellt die Ergebnisse grafisch
dar.
Seite 50
Der Krieg, die Quelle posttraumatischer Belastungsstörungen für die gesamte Bevölkerung
Die beiden Weltkriege sind mit Abstand die verheerendsten militärischen Konflikte der
Menschheitsgeschichte — sowohl hinsichtlich der Gefallenen im engeren Sinne (Soldaten,
die im Kampf getötet wurden) und auch der Gesamtanzahl der Todesfälle.
Allerdings bedürfen die Daten einer Interpretation. Erstens beruhen die Todeszahlangaben
nur auf groben Schätzungen. Zweitens spiegeln sie die Folgen eines Krieges für ein Land
oder eine Region nicht so treffend wider wie die Todesfallrate pro Einwohner — und über
die Auswirkungen auf Angehörige und Freunde sagen sie fast gar nichts aus. Es wird aber
sichtbar, dass sehr viele Menschen, auch in Europa, durch die vergangenen Kriege
schreckliche Situationen erlebt haben und höchstwahrscheinlich psychische Traumata
erleiden mussten — lange bevor die Kategorie ‘PTSD’ in den diagnostischen Manualen
aufgenommen wurde. Die Grafik verdeutlicht auch, dass im Laufe der Zeit die
Zivilbevölkerung immer öfter durch Kriegsereignisse geschädigt wurde und damit PTSD
immer häufiger in der Bevölkerung auftritt. Es besteht durch diesen massiven Ansturm von
traumatisierenden Erlebnissen durchaus die Möglichkeit, dass die Gestaltung unseres
gesamten sozialen Systems von dieser außerordenlichen Häufung betroffen ist.
Früher bekriegten sich hauptsächlich Soldaten im Feld (nicht die Zivilbevölkerung).
Während des Zeitraums vom Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 bis zur Französischen
Revolution 1789 bekämpften sich die europäischen Fürsten mit relativ
kleinen
Söldnerheeren. Später bekam dann immer mehr die Zivilbevölkerung den Krieg zu spüren
und wurde vertrieben, gefoltert und ermordet. Die industrielle Revolution machte dann
Städte und Fabriken zu wichtigen Kriegszielen. In den Konflikten des 20. Jahrhunderts
übertraf schließlich die Anzahl der zivilen Opfer zumeist die der Soldaten. Manche Staaten
verloren in einem einzigen Krieg mehr als 10 %
ihrer Bevölkerung — so etwa die
Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Nach 1945 verlagerten sich die Kriegsschauplätze nach
Asien, Afrika und in den Mittleren Osten. Viele der internationalen Konflikte — wie etwa in
Korea, Vietnam und Afghanistan — entstanden aus Bürgerkriegen. Deshalb stieg der Anteil
ziviler Opfer stark an. In Angola und Mosambik waren mehr als 75 % der Opfer Zivilisten.
Auch Kinder trifft es immer häufiger: Zwischen 1985 und 1995 starben rund zwei Millionen
Minderjährige in Folge von Kriegshandlungen; weitere 10 bis 15 Millionen wurden
verstümmelt oder traumatisiert.
Die jüngsten Konflikte, wie etwa in Jugoslawien, wurden zunehmend von irregulären
Einheiten ausgetragen, die aus Loyalität, Beutegier oder Rachedurst zur Waffe griffen.
Unterdessen verbuchten reguläre Streitkräfte weniger Kampf-, aber mehr Friedenseinsätze.
Im Golfkrieg 1991 und im Kosovokrieg 1999 verstanden es die Alliierten, eigene Verluste zu
minimieren.134
133
MOLLICA, Richard, F.: „Unsichtbare Wunden“. Spektrum der Wissenschaft. 2000/9. S.
42.
134
WALTER C. Clemens jr; SINGER, J. David: „Millionenfache Tragödien“. Spektrum der
Wissenschaft. 2000/9. S. 44.
Seite 51
Der Krieg, die Quelle posttraumatischer Belastungsstörungen für die gesamte Bevölkerung
5.2.5 Neue Betrachtungen zu den psychischen Folgen von
Kriegshandlungen
Sechs grundsätzliche Erfahrungen konnte Richard F. MOLLICA135 erleben. Er meint, sie
wären für zukünftiges Handeln von Helfern und internationalen Hilfsorganisationen
wegbereitend.
5.2.5.1 Häufigkeit von psychischen Störungen unter Überlebenden von Kriegen
Mittels Stichproben aus repräsentativen Gruppen, Einsatz von Laienbefragungen und der
Entwicklung von standardisierte Diagnosekriterien — auch kulturübergreifend — wurden
zuverlässige Daten gewonnen. Eine Studie über kambodschanische Flüchtlinge offenbarte
akute klinische Depression in verschiedenen Graden bei 68 % und PTSD bei 37 % aller
Untersuchungen. Ähnliche Werte wurden bei Flüchtlingen aus Bhuta, Nepal, Bosnien und
Kroatien gefunden. Zum Vergleich: in nichttraumatisierten Gruppen würde schon eine Rate
von 10 %
bei Depressiven und 8 %
PTSD (jeweils über die gesamte Lebenszeit
gemessen) als sehr hoch eingestuft. — Dies lässt den Schluss zu, dass Kriegsereignisse die
Überlebenden massiv in ihrer seelischen Verfassung schädigen.
135
MOLLICA, Richard, F.: „Unsichtbare Wunden“. Spektrum der Wissenschaft. 2000/9. S.
43ff.
Seite 52
Der Krieg, die Quelle posttraumatischer Belastungsstörungen für die gesamte Bevölkerung
Quelle: CLEMENS, C., Walter & SINGER, J., David:
„Millionenfache Tragödien“, Spektrum der
Wissenschaften, 2000/9. S. 44
Seite 53
Der Krieg, die Quelle posttraumatischer Belastungsstörungen für die gesamte Bevölkerung
5.2.5.2 Die Art der Traumata sind schwer zu erfassen
Zunächst dachten Psychiater, dass das Herantasten an die traumatische Erfahrung eine zu
große seelische Belastung der Patienten wäre. Daneben befürchteten sie, die Patienten
könnten unrichtige Informationen liefern — bestenfalls Übertreibungen, schlimmstenfalls
krasse Unwahrheiten. Anfang der 80er - Jahre wurde diese Sichtweise durch Gruppen, wie
Amnestiy
International
korrigiert.
Experten
für
Menschenrechte
entwickelten
ein
systematisches Verfahren, die Richtigkeit der Angaben zu überprüfen — inklusive einer
Erhebung der klinischen Befunde. Seit den 50ern gibt es die Hopkins Sypmtom Checklist,
ein einfacher Raster, mit dem verschiedenen Posttraumatische Stresssymptome rasch
abgefragt werden können. Dieses Instrument wurde weiterentwickelt und liegt jetzt als
‘Harvard-Traumata-Fragebogen’ vor. Er zielt speziell auf traumatische Ereignisse und
Symptome ab. Es gibt ihn mittlerweile in 25 Sprachen, angepasst an kulturelle Kontexte und
empirisch getestet.
5.2.5.3 Nicht-westliche Konzeptionen psychischer Störungen wurden kodifiziert
In vielen Ländern mit Kriegen sind traditionelle Heiler oder Stammesälteste die wichtigsten
medizinischen Therapeuten und verantwortlich für die seelsorgerische und psychologische
Versorgung der Menschen. Es gibt aber eine große Diskrepanz in der Beschreibung von
Krankheiten
zwischen
ortsansässigen
Helfern
und
den
Fachärzten
westlichen
Verständnisses. Daher fallen viele Patienten durch die Systemlücken: Traditionelle Heiler
können ihnen nicht helfen und die Fachärzte vermögen es nicht, ihre vagen somatischen
Beschwerden als Symptome einer unterschwelligen, psychischen Krankheit zu erkennen.
Mit extensiver Feldarbeit in Kambodscha, Uganda und Simbabwe gelang es nun, das breite
Spektrum von Volkskrankheiten, die mit seelischem Leiden einhergehen, systematisch zu
erfassen.
5.2.5.4 Bestimmte traumatische Erlebnisse führen eher zu Depressionen und zu
PTSD als andere
Bei Flüchtlingen in Kambodscha, Lager Zwei, zählten Schläge gegen den Kopf, andere
Folterungen, Kerkerhaft und das Mit-Ansehen-Müssen des Mordes oder des Hungertodes
eines Kindes zu den schlimmsten Erfahrungen und lösten Depression und PTSD aus.
Hingegen hatten fehlendes Obdach und das Beobachten von Gewalt gegen andere
Erwachsene keine derart gravierenden Auswirkungen.
5.2.5.5 Einige extreme Erfahrungen verursachen dauerhafte Veränderungen im
Gehirn
Anfang der 60-er Jahre entdeckte der norwegische Forscher Leo EITINGER
Kollegen
bei
Überlebenden
von
NS-Konzentrationslagern
eine
136
und seine
Verbindung
von
Kopfverletzungen und psychiatrischen Symptomen. Jüngeren Studien zufolge führten
Schläge, die amerikanische Kriegsgefangene im Zeiten Weltkrieg, sowie im Korea- und
136
nicht näher benannt, zit. MOLLICA, Richard, F.: „Unsichtbare Wunden“. Spektrum der
Wissenschaft. 2000/9. S. 45.
Seite 54
Der Krieg, die Quelle posttraumatischer Belastungsstörungen für die gesamte Bevölkerung
Vietnamkrieg erlitten, in vielen Fällen zu bleibenden Gehirnschäden. Ole RASMUSSEN137,
ein dänischer Forscher, fand bei 64 % von 200 überlebenden Folteropfern neurologische
Defekte. Bei diesen Befunden ist dies durchaus verständlich, weil ja eine direkte
mechanische Einwirkung im Kopfbereich stattfand.
Aber
auch
ohne
direkte
physische
Ursachen
können
seelische
Störungen
zu
Gehirnveränderungen führen. In den wenigen, verfügbaren Untersuchungen stellte sich
heraus, dass bei Patienten mit PTSD Teile des Gehirns, beispielweise der Hippocampus,
infolge von Traumata geschrumpft sind.
5.2.5.6 Beziehung zwischen psychischer Störung und sozialer Dysfunktion
Es konnten bei bosnischen Flüchtlingen in Kroatien Schäden beobachtet werden; schwere
soziale Beeinträchtigungen gingen mit psychiatrischen Störungen einher: 25 %
der
Personen waren nicht mehr in der Lage einer geregelten Arbeit nachzugehen, ihre Familie
zu versorgen oder andere sozial produktive Tätigkeiten auszuüben.
Es ist aber auch anzunehmen, dass es dauerhafte Auswirkungen gibt. Sie sind nur im
Ansatz und nur aus einigen wenigen Langzeitstudien zu erkennen. Eine neue Untersuchung
mit einer niederländischen Gruppe138 zeigt, dass Opfer der nationalsozialistischen
Verfolgung noch nach 50 Jahren eine deutlich erhöhte PTSD-Rate aufwiesen. Es gibt sogar
generationenübergreifende Auswirkungen: Noch bei Kindern von Holocaust-Opfern wurden
höhere PTSD-Raten gefunden als in einer jüdischen Vergleichsgruppe.
5.2.5.7 Konklusion
Richard F. MOLLICA kommt zu folgender Konklusion:
„Obwohl nur ein geringer Prozentsatz der Überlebenden von Massengewalt (wie Krieg)
ernste psychische Erkrankungen aufweist, die einer sofortige Behandlung erfordern,
erfährt die große Mehrheit weniger intensive, dafür aber lang anhaltende seelische
Probleme. (Siehe Grafik auf Seite 50) Damit eine Gesellschaft gesunden kann, darf diese
Mehrheit keinesfalls übersehen werden.“ 139
Es
wird
versucht,
diese
neuere
Sichtweise
von
psychischen
Schäden
durch
Kriegsereignisse, in verschiedenen Anpassungen der Hilfeeinsätze umzusetzen. In
Kambodscha und Ost-Timor haben internationale Hilfsorganisationen psychiatrische
Kliniken eingerichtet. In Südafrika und Bosnien machten ortsansässige Ärzte im Fernsehen
auf die einschlägigen Probleme und Hilfsmöglichkeiten aufmerksam. Die Harvard Medical
School (Cambridge, Massachussets) richtet im Rahmen eines eigenen Programms kleine,
betriebliche Projekte ein, um Menschen mit Depressionen ins Arbeitsleben zurückzuführen.
Solche Anstrengungen sind sehr wichtig, um den Teufelskreis von Lethargie und
Rachegefühlen bei den Opfern zu durchbrechen.
137
RASUMSSEN, O.: Quelle nicht näher benannt, zitiert nach MOLLICA, Richard, F.:
„Unsichtbare Wunden“, Spektrum der Wissenschaft. 2000/9. S. 45.
138
nicht näher benannt, zit. MOLLICA, Richard, F.: „Unsichtbare Wunden“. Spektrum der
Wissenschaft, 2000/9. S. 45.
139
MOLLICA, Richard, F.: „Unsichtbare Wunden“. Spektrum der Wissenschaft, 2000/9. S.
45.
Seite 55
Epidemologie des PTSD
6 Epidemiologie des PTSD
(‘Epidemiologie’= Lehre von der Entstehung, Verbreitung u. Bekämpfung von
Krankheiten140)
6.1 Bevölkerung
Übersicht über die unterschiedlichen PTSD - Erkrankungen, für einige verschiedene
traumatisierende Lebensereignisse
Trauma erlebt
PTSD ausgebildet
100 % KZ-Haft
50 - 65 %
100 % Vergewaltigung, sexueller Missbrauch
50 - 55 %
100 % Verkehrsunfälle
3 - 11 %
100 % Brand/ Feuer/ Naturereignisse
100 % Zeuge-Sein von Unfällen/ Gewalt
5%
2-7%
Quelle: LUEGER-SCHUSTER, Brigitte: „Psychotraumatologie“. Psychologie in
Österreich, 20. Jhrg. 12/2000. S. 277
Brigitte LUEGER-SCHUSTER, vom Institut für Psychologie der Universität Wien, meint
zum Auftreten eines PTSD innerhalb des Lebens (=Lebenszeitprävalenz):
„Die Lebenszeitprävalenz für beide Geschlechter liegt bei 7,8 % bis 12,3 % , wobei ca.
doppelt so viele Frauen wie Männer betroffen sind (vgl. Kessler, 1995141)“142
Nach KESSLER143 entwickeln (je nach Art des Traumas) Männer von 22,3 % bis 38,8 %
und Frauen von 21,3 %
bis 48,5 %
ein PTSD. Es gibt auch Unterschiede zwischen
Männern und Frauen, aber Vergewaltigung ist bei Frauen als auch bei Männern das am
meisten belastende Trauma. Bei Frauen sind es weiterhin sexuelle Belästigung, körperlicher
Angriff, Bedrohung durch eine Waffe und körperlicher Missbrauch in der Kindheit. Bei
Männern sind es Beteiligung an Kampfgeschehen, Vernachlässigung und körperlicher
Missbrauch in der Kindheit.
140
DUDEN: Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke, hrsg. u. bearb. von d. Red.
Naturwiss. u. Medizin d. Bibliograph.; 3., vollst, überarb. u. erg. Aufl.; Mannheim, Wien,
Zürich: Bibliographisches Institut; Stuttgart: Thieme, 1979. S. 242
141
KESSLER, R.C., SONNEGA, A.; BROMET, E.; HUGHES, M.; NELSON, C. B.:
„Posttraumatic stress disorder in the National Comorbitdity Survey“. Archives of General
Psychiatry; 52, (1995). S. 1048-1060, zit. in LUEGER-SCHUSTER, 2000
142
LUEGER-SCHUSTER, Brigitte: „Psychotraumatologie“, Psychologie in Österreich, 20.
Jhrg. 2000/12. S. 277
143
KESSLER, R.C., SONNEGA, A.; BROMET, E.; HUGHES, M.; NELSON, C. B.:
„Posttraumatic stress disorder in the National Comorbitdity Survey“, Archives of General
Psychiatry; 52, (1995). S. 1048-1060, zit. in LUEGER-SCHUSTER, 2000
Seite 56
Epidemiologie des PTSD
Werden die Wahrscheinlichkeiten, nach einer traumatischen Belastung ein PTSD zu
entwickeln, zwischen den Geschlechtern verglichen, so zeigt sich bei Frauen eine etwa
doppelt so große Häufigkeit (20,4 % ) wie bei Männern (8,2 % ).144
6.2 Die Helfer
Es liegt auch eine Studie aus dem Bereich der Helfer vor. Stefanie RÖSCH verfasste an der
Universität Konstanz eine Diplomarbeit. Sie untersuchte die Häufigkeit des PTSD unter
Feuerwehrleute in Baden-Württemberg.145
„Die 119 Feuerwehrleute, die an dieser Befragung teilnahmen, haben routinemäßig mit
Einsätzen zu tun, in denen sie mit Schwerverletzten und Toten umgehen müssen. (...) In
der vorliegenden Arbeit wurden mit vergleichbaren Kriterien folgende Prävalenzen
gefunden: 8,25 % der Feuerwehrleute qualifizieren für eine chronische PTBS, Fälle von
akuter PTBS gibt es nicht, weitere 21,09 % haben eine subsyndromale chronische PTBS
und 0,92 % eine subsyndromale akute PTBS.“146
Dies deckt sich ungefähr mit anderen Forschungen in diesem Gebiet. 9 % der deutschen
Berufsfeuerwehrleuten haben eine PTBS.147
Bei australischen Buschfeuern stieg das PTSD unter den Feuerwehrleuten stark an. 36 %
der Feuerwehrleute entwickelten nach einem Buschfeuer in Australien ein PTSD. 148
144
KESSLER, R.C., SONNEGA, A.; BROMET, E.; HUGHES, M.; NELSON, C. B.:
„Posttraumatic stress disorder in the National Comorbitdity Survey“, Archives of General
Psychiatry; 52, (1995). S. 1048-1060, zit. in LUEGER-SCHUSTER, 2000
145
RÖSCH, Stefanie; ‘Wie traumtisch ist die Feuerwehrarbeit? Welche Folgen ergeben sich
daraus für die Gesundheit von Feuerwehrleuten’, Diplomarbeit der Universität Konstanz,
1998.
146
a. a. O. S. 51
147
TEEGEN, F., DOMNICK, A., & HEERDEGEN, M.: „Hochbelastende Erfahrungen im
Berufsalltag von Polizei und Feuerwehr: Traumaexposition, Belastungsstörungen,
Bewältigungsstrategien“, Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 29(4) (1997).,
583-599. zit. http://www.trauma-informationszentrum.de/listen/betroff/feuer.htm#epidemiologie
148
MCFARLANE, A. C. & PAPAY, P.: „Multiple diagnoses in posttraumatic stress disorder in
the victims of a natural disaster“, Journal of Nervous and Mental Disease, 180(8), 498504. 1992, zit. http://www.trauma-informationszentrum.de/listen/betroff/feuer.htm#epidemiologie
Seite 57
Präventivmaßnahmen gegen das PTSD
7 Prävention des PTSD
Critical Incident Stress Management (CISM)
Maßnahmen
zur
akuten
Krisenintervention
und zur
Prävention
posttraumatischer
Belastungsstörungen.
7.1 Grundsätzliches
Von
Soldaten,
Angehörigen
von
Polizei,
Feuerwehr
und
Rettungsdiensten
und
vergleichbaren Personengruppen wird allgemein erwartet, dass sie mit außergewöhnlichen
Situationen besser umgehen und diese besser bewältigen können als Menschen, die nicht
Mitglieder einer dieser Gruppen sind. In der Regel ist dieser Personenkreis aufgrund seiner
besonderen Persönlichkeitsstruktur, seiner Ausbildung und Erfahrung in der Lage, dieser
Erwartungshaltung gerecht zu werden.149
Aus dem gewohnten Einsatzspektrum herausragende Ereignisse (Critical Incidents), wie
zum Beispiel Ereignisse mit vielen Toten oder Schwerstverletzten, Tod oder schwere
Verletzung von Kindern oder Kollegen, Schusswaffengebrauch mit Verletzungs- oder
Todesfolge, Bedrohung von Leib und Leben oder die Erfahrung von Geiselnahme oder
Gefangenschaft, bieten selbst für diesen Personenkreis ein erhebliches traumatisierendes
Potential. Massive posttraumatische Stressreaktionen bis hin zur Entwicklung eines PostTraumatischen-Stress-Disorder (PTSD; gem. DSM IV u. ICD 10) können die Folgen solcher
Ereignisse oder Einsätze sein.150
Dieser Entwicklung kann mit einer rechtzeitigen Intervention durch ein entsprechend
psychologisch entsprechend geschultes Personal entgegengewirkt werden. Die Betroffenen
werden möglichst schnell wieder ihrer eigentlichen Aufgabenerfüllung zugeführt. Genau dies
ist das Ziel der verschiedenen, abgestuften Maßnahmen des CISM - Modells von
MITCHELL. 151
WILLKOMM führt einige Kriterien, die ein erhebliches traumatisierendes Potenzial in sich
bergen, an:
„das Gefühl der Hilflosigkeit / Machtlosigkeit der Situation und den eigenen
Reaktionen gegenüber
berechtigte oder irrationale Schuldgefühle
außergewöhnliche Dimension und/oder Intensität von Ereignissen
hoher Grad der Identifikation und/oder persönlichen Betroffenheit
149
WILLKOMM, Bernd: „Critical Incident Stress Management (CISM) nach Mitchell“,
Psychologie in Österreich, 20. Jhrg., 2000/5. S. 251.
150
a. a. O.
151
a. a. O.
Seite 58
Präventivmaßnahmen gegen das PTSD
Bedrohung von Leib und Leben (des eigenen und dessen anderer)“ 152
WILLKOMM meint, dass eine präzise Vorhersage der persönlichen Reaktionen auf eine
oder mehrere dieser Ereignisse sehr schwierig ist:
„Hinzu kommt, daß insbesondere die genannten Personengruppen aufgrund eines in
solchen Situationen unangemessenen beruflichen Selbstverständnisses mehr oder
weniger erfolgreich alles versuchen, ihre natürlichen Reaktionen zu unterdrücken, zu
verbergen oder abzuleugnen. Daher reichen die unterschiedlichen Reaktionsverläufe von
sofortigen und heftigen affektiv - emotionalen Reaktionen über verzögerte Reaktionen mit
unterschiedlicher Intensität und Vielfalt bis hin zu überhaupt keinen berichteten oder
beobachtbaren Reaktionen. Die Erfahrung und eine Vielzahl von Berichten belegen
jedoch, daß ohne rechtzeitige Krisenintervention unabhängig vom vorherigen
Reaktionsverlauf bei durchschnittlich etwa einem Drittel (zwischen 15 % und 65 % ) der
Betroffenen nach Wochen, Monaten oder gar Jahren, psychische und / oder
psychosomatische / somatoforme Spätfolgen aus dem Symptomkreis der
posttraumatischen Belastungsstörung auftreten können.“153
Das Critical Incident Stress Management (MITCHELL154) kann dieser unerwünschten
Entwicklung
entgegenwirken. Es ist eine mehrstufige und integrative Methode. Dabei
handelt es sich mit Ausnahme der vorbeugenden Unterrichts- und Trainingsmaßnahmen
durchwegs um Maßnahmen der Sekundärprävention. Durch nachsorgende Betreuung, nach
besonders belastenden Ereignissen, in strukturierten Einzel- oder Gruppengesprächen wird
gleichzeitig der Entwicklung möglicher Spätfolgen vorgebeugt. Es handelt sich bei keiner
der Techniken um therapeutische Maßnahmen.155
Im Einzelnen umfasst das CISM - Modell folgende Maßnahmen: (nach WILLKOM156)
1. Vorbeugende Unterrichts- und Trainingsmaßnahmen
- je nach Zielgruppe unterschiedlich umfangreiche Module
- je nach Umfang und Zielgruppe Durchführung durch entsprechend geschulte
Angehörige von Einsatzkräften (‘peers’) oder Psychologen / Ärzte mit CISMAusbildung.
2. Individuelle Krisenintervention
- psychologische Selbst- und Kameradenhilfe vor Ort oder unmittelbar nach
Einsatzende für einzelne Traumatisierte durch entsprechend geschultes
Personal (‘peers’) oder später durch Psychologen / Ärzte mit CISM-Ausbildung
3. Critical Incident Stress Defusing
- strukturiertes Gruppengespräch mit kleinen Gruppen (ca. 5 - 8 Teilnehmer)
- Durchführung möglichst innerhalb von 12 bis 24 Stunden nach Ende des Ein152
WILLKOMM, Bernd: „Critical Incident Stress Management (CISM) nach Mitchell“,
Psychologie in Österreich, 20. Jhrg., 2000/5. S. 251.
153
a. a. O.
154
Prof. MITCHELL ist Professor für Emergency Health Services an der Universität in
Maryland
155
WILLKOMM, Bernd: „Critical Incident Stress Management (CISM) nach Mitchell“,
Psychologie in Österreich, 20. Jhrg., 2000/5. S. 251.
156
WILLKOMM, Bernd: „Critical Incident Stress Management (CISM) nach Mitchell“,
Psychologie in Österreich, 20. Jhrg., 2000/5. S. 252
Seite 59
Präventivmaßnahmen gegen das PTSD
satzes/ Ereignisses
- Dauer ca. 30 - 60 Minuten
- Durchführung durch ‘peers’ oder, falls verfügbar, Psychologen / Ärzte mit
entsprechender Ausbildung
4. Critical Incident Stress Debriefing (CISD )
- strukturiertes Gruppengespräch mit in der Regel ca. 4-20 Teilnehmern
- Durchführung frühestens 72 Stunden und spätestens ca. 4 Wochen nach Ende des
Einsatzes / Ereignisses
- Dauer ca. 3 Stunden
- Durchführung ausschließlich unter Leitung eines ClSM-geschulten Psychologen
oder Arztes unter obligatorischer Mitwirkung von ‘peers’
5. Demobilisierung / (Groß-)Gruppen-lnformation
- Großgruppen - Briefing unmittelbar nach Ende eines Einsatzes / Ereignisses zur
Information über mögliche Reaktionen und Folgen sowie über Möglichkeiten /
Angebote für weitere Unterstützung
- psychologisches Briefing eines erweiterten Personenkreises (z. B. ganzer
Organisationen / Einheiten) vor der Durchführung von Critical Incident Stress
Debriefings mit den potentiell Traumatisierten
- Durchführung durch CISM - geschulte ‘peers’, Psychologen oder Ärzte
6. Familien- / Organisations - Unterstützung
- Unterstützung, Beratung und Schulung der Familien von besonders gefährdeten
Personengruppen oder Betroffenen
- Unterstützung, Beratung und Schulung von besonders gefährdeten Organisationen
/ Einheiten
- Durchführung durch CISM - geschultes Personal oder Psychologen / Arzt
Nachsorge / Überweisung (Follow-up)
- falls erforderlich weitere Kontakte bzw. Angebot, Vermittlung und Durchführung
weiterführender Maßnahmen (z. B. Therapie)
- bei Fortbestehen deutlicher Symptome nach Durchführung einzelner oder mehrerer der o.g. Maßnahmen
- Durchführung durch Fachärzte und / oder klinische Psychologen
7.2 Gemeinsame Ziele aller CISM - Maßnahmen
zitiert nach B. WILLKOMM157
„schnelle Reduktion
Reaktionen
der
sich
aufschaukelnden,
heftigen
affektiv-emotionalen
allen Betroffenen das häufig empfundene Gefühl der ‘Einzigartigkeit’ ihrer Situation zu
nehmen
157
WILLKOMM, Bernd: „Critical Incident Stress Management (CISM) nach Mitchell“,
Psychologie in Österreich, 20. Jhrg., 2000/5. S. 253
Seite 60
Präventivmaßnahmen gegen das PTSD
‘Normalisierung’ der als außergewöhnlich (‘nicht normal’) empfundenen Erfahrung,
Empfindungen und Reaktionen
Herstellung des gleichen, möglichst vollständigen Informations- und Wissensstandes
bei allen Beteiligten
Reaktivierung durch das Ereignis beeinträchtigter kognitiver Funktionen und Prozesse
Informationsvermittlung über Maßnahmen zur Streßbewältigung
möglicherweise noch zu erwartende Reaktionen und Symptome
und
über
Einschätzung der Notwendigkeit weiterer Unterstützung / Maßnahmen
Herstellung persönlicher Kontakte zu geschultem Personal und der Bereitschaft zur
Inanspruchnahme weiterer Unterstützung
schnellstmögliche Wiederherstellung der Einsatz- und Funktionsfähigkeit“
Bei der Durchführung von Stress Debriefing und Stress Defusing gelten wichtige
Grundregeln:
„Generell gilt für die Durchführung aller Maßnahmen (mit Ausnahme der individuellen
Krisenintervention vor Ort), daß als Leiter einer Maßnahme oder ‘peer’ nur eingesetzt
werden kann, wer nicht selbst zu den ‘unmittelbar’ Betroffenen gehört.“158
Bei
der
Durchführung
des
Critical
Incident
Stress
Debriefings
sind
folgende
Rahmenbedingungen einzuhalten:159
„Der richtige Zeitpunkt (z. B. wegen einer möglichen Retraumatisierung frühestens 2-3
Tage nach einer Trauerfeier bzw. Beerdigung)
Überprüfung, ob die Kriterien für eine potentielle Traumatisierung bei allen
Teilnehmern erfüllt sind
Leitung eines Debriefings ausschließlich durch einen entsprechend ausgebildeten
Psychologen oder Arzt unter obligatorischer Mitwirkung von ‘peers’ (optimales
Verhältnis Teammitglieder : Betroffene = 1:3, mindestens aber 1:5)
Gruppengröße in der Regel zwischen 4 und maximal 20 Betroffenen
Gruppenzusammensetzung
möglichst
homogen
(unterschiedliche
Kriterien)
Durchführung ohne Unterbrechung und niemals unter Zeitdruck (Zeitansatz für ein
Debriefing mit Vor- und Nachbereitung ca. 5 Std.)
Im Anschluss an ein Debriefing unbedingt Möglichkeit zu informellen Gesprächen
anbieten (z. B. bei Imbiss und Getränken). Allen Betroffenen Telefonnummern bzw.
Kontaktadressen für Fragen oder weitere Hilfe aushändigen.“
158
WILLKOMM, Bernd: „Critical Incident Stress Management (CISM) nach Mitchell“,
Psychologie in Österreich, 20. Jhrg., 2000/5. S. 253
159
WILLKOMM, Bernd: Seminarunterlagen zum Seminar ‘Aufbaulehrgang Posttraumatische
Stressbewältigung’, unveröffentliches Manuskript, 2000.
Seite 61
Präventivmaßnahmen gegen das PTSD
7.3 Übersicht über die einzelnen Interventionen des
CSIM
Defusing
Demobilisierung
Debriefing
Zeitpunkt
Innerhalb 8 h nach dem
kritischen Ereignis
Gleich nach dem
kritischen Ereignis
Ziele
Auswirkungen
vermindern
wiederherstellen der
Einsatzbereitschaft
emotionale
Belastungen
verringern
Anliegen der Gruppe
erfassen
die Notwendigkeit
eines Debriefings
ausloten
Debriefing
unterstützen, falls
eines gebraucht wird
20-45 min
Innerhalb 24 (12) - 72 h
nach dem kritischem
Ereignis
Stressreaktionen
mildern und
verstehen
die eigenen
Verarbeitungsfähigkei
ten aktivieren
Erholung
beschleunigen
Selbstsicherheit für
den nächsten Einsatz
geben
Dauer
Inhalte
Teilnehmer
Gruppengröße
Räumlich
Anforderung
Einführung
Exploration
Information
CISM - trainiertes,
psychologisches
Personal
Einsatzkräfte eines
begrenzten
Einsatzabschnittes
max. 8 Personen
abgeschlossen, in
sicherer Entfernung des
Einsatzortes
Den mit dem
kritischen Ereignis
zusammenhängenden Stress
verringern
Erholung des
Personals
unterstützen
keine
Psychotherapie
10 min Vortrag
20 min Essen /
Ausruhen
Stressinformation
Entspannung
Nahrung
2 - 3 Stunden
7 Phasen:
Einführung
Fakten
Gedanken
Reaktionen
(Emotionen)
Symptome
Unterweisung,
Informationen
Wiedereingliederung
CISM - trainiertes,
CISM - trainiertes,
psychologisches
psychologisches
Personal
Personal
Einsatzkräfte eines
Einsatzkräfte
eines
begrenzten
begrenzten
Einsatzabschnittes
Einsatzabschnittes
bis zur Großgruppe von 4-28 Personen
mehreren Hundert
leicht zugänglich, nahe abgeschlossen, keine
Störungen, in weitaus
am Ort des
größerer Entfernung des
Geschehens
Einsatzortes.
Quelle: APPEL-SCHUHMACHER, T. „Stressmanagement nach traumatischen Ereignissen“.
Psychologie in Notfallmedizin und Rettungsdienst. Hrsg.: BENGEL, Jürgen; Berlin,
Heidelberg, New York: Springer, 1997. S. 254.
Seite 62
Therapie des PTSD
8 Die Therapie des PTSD
8.1 Implikationen für die Behandlung von PTSD
Auch wenn Menschen ein schreckliches Trauma erlitten haben, müssen sie irgendwie
diesen Schicksalsschlag in ihr Leben integrieren. Traumatisierte Menschen sind hin- und
hergerissen zwischen der exzessiven Beschäftigung mit der Vergangenheit und einem
Gefühl emotionaler Betäubung gegenüber ihrer gegenwärtigen Umgebung.160
Der Versuch, das Trauma einfach zu vergessen, ist wohl selten eine hilfreiche
psychologische Strategie, um es langfristig zu bewältigen. Die Fähigkeit nach einem akuten
Trauma das Erlebte in vielen Details zu verbalisieren, verhindert sehr wirksam die
Entstehung von PTSD. In einem späteren Stadium neigen diese Menschen allerdings zu
einem Gefühl von Betäubung und Langeweile, wenn sie nicht in Aktivitäten verwickelt sind,
die mit dem Trauma zusammenhängen.
Das Entscheidende an der Traumatisierung liegt in einem Verlust von Sicherheit und in
einer Festigung von psychischen und physiologischen Gefahrenreaktionen. Eine vorrangige
Aufgabe von Interventionen ist es daher, dem Leben des Patienten Sicherheit und
Vorhersehbarkeit zu geben.
Es ist also besonders wichtig, dass der Helfer dem Opfer in physischer, sozialer und
emotionaler Hinsicht beisteht; der Tendenz ‘dem Opfer die Schuld zu geben’ darf der Helfer
nicht nachgeben. Eine geeignete psychopharmakologische Unterstützung kann die
autonome Übererregbarkeit, die emotionale Betäubung und die extrem intensive
Wiedererinnerung drastisch vermindern.161
Angesichts schrecklicher Tragödien ist die Reaktion von Helfern tendenziell problematisch.
Helfer können die Wirkung des Traumas auf das Opfer lindern, aber können das Trauma
auch verstärken. Sie können dem Opfer die Schuld geben oder umgekehrt das Opfer
entwürdigen, indem sie es infantilisieren oder fälschlich romantisieren.
162
Nachdem ein Trauma einen Menschen vollkommen mit seiner existentiellen Hilflosigkeit
und Verwundbarkeit konfrontiert hat, kann das Leben nie mehr genau das gleiche wie zuvor
werden: Das traumatische Erlebnis wird in jedem Fall zum Bestandteil des Daseins einer
Person. Sich genau darüber klar zu werden, was geschehen ist und die eigenen Reaktionen
mit denen anderer Opfer zu teilen und zu vergleichen, hat sich als ungemein hilfreich
erwiesen. Die mit dem Trauma verbundenen Gefühle und Ereignisse in Worte zu fassen, ist
entscheidend für die Behandlung posttraumatischer Reaktionen.
Der Patient strengt sich sehr an, ein Wiedererleben des Traumas zu verhindern. Deshalb
darf der Therapeut nicht erwarten, dass die Widerstände gegen das Erinnern so einfach
zusammenschmelzen. Aber eine sichere Beziehung zum Therapeuten kann helfen das
Trauma durchzuarbeiten. Dies unterstützt die Psyche zusammenzuhalten, wenn die
160
VAN DER KOLK, Bessel, A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
161
a. a. O.
162
a. a. O.
Seite 63
Therapie des PTSD
physischee
Desintegration
wieder
droht.163
(Siehe
auch
‘Psychotherapeutische
Grundhaltung’, Seite 70)
Das Vermeiden der Bearbeitung des Traumaerlebnisses kann Probleme bringen: Es führt
ganz allmählich zu einer Intensivierung der mit dem Trauma verbundenen unangenehmen
Gefühle und körperlichen Zustände. Dies kann ein verstärktes somatisches, visuelles oder
verhaltensmäßiges Wiedererleben des Traumas zur Folge haben. Sind die traumatischen
Erlebnisse einmal räumlich und zeitlich lokalisiert, kann eine Person anfangen, zwischen
gegenwärtigen Stresssituationen und dem zurückliegenden Trauma zu differenzieren und so
die Bedeutung des Traumas für das aktuelle Erleben zu vermindern. 164
Es reicht jedoch nicht, nur über das Trauma zu sprechen! Die Überlebenden von Traumata
brauchen Handlungen, die den Triumph über Hilflosigkeit und Verzweiflung symbolisieren.
Die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und das Vietnam Memorial in
Washington D.C. sind gute Beispiele für Symbole für Opfer, welche die Toten betrauern und
traumatischen Ereignissen eine historische und kulturelle Bedeutung geben. Vor allem
können sie den Überlebenden vor Augen führen, welche Hilfe das gemeinsame Erinnern
sein kann. Das gilt ebenso für andere Überlebende, auch wenn sie vielleicht nicht ebenso
sichtbare Denkmäler und gemeinsame Symbole errichten können, um sich um diese zu
versammeln, um zu trauern und um ihre Scham über ihre eigene Wehrlosigkeit
auszudrücken. Das kann in vielen Formen geschehen: z. B. im Schreiben eines Buches, in
politischer Aktion oder in der Hilfe für andere Opfer. 165
Das PTSD ist eine psychische Störung, die einer therapeutischen Behandlung bedarf. Im
Grunde bieten sich dazu an: Medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka und die
Psychotherapie.
8.2 Pharmakologische Behandlung
8.2.1 Vorbemerkungen
Gerd LAUX meint zu Psychopharmaka166:
„Seit ihrer (Psychopharmaka, Anm. der. Verfasserin) Entdeckung vor über 30 Jahren
haben Psychopharmaka entscheidend dazu beigetragen, daß viele seelische Krankheiten
- auch durch Nicht-Nervenärzte (Allgemeinärzte) — behandelt werden können. In der
Therapie psychischer Erkrankungen sind deshalb heute Psychopharmaka unentbehrlich.
Die Weltgesundheits-Organsation hat 6 Substanzen aus dieser Gruppe in die Liste der
unentbehrlichen Medikamente aufgenommen.“
Gleichzeit warnt der Autor auch über möglichen Substanzmissbrauch und dass die Therapie
mit Psychopharmaka alleine, nicht ausschließlich zum Erfolg führt. Er meint:
167
163
a. a. O.
164
a. a. O.
165
a. a. O.
166
LAUX, Gerd: Pharmakopsychiatrie. Unter Mitarb. von O. DIETMAIER und W. KÖNIG;
Stuttgart, New York: G. Fischer, 1992. S. 3.
Seite 64
Therapie des PTSD
„Mit Entdeckung der modernen Psychopharmaka setzte eine gewisse Psychopharmaka Euphorie ein, und es kam zu unkritischer und unkontrollierter Verwendung dieser
Medikamente. So wurden z. B. Neuroleptika ohne begleitende psycho- und
soziotherapeutische Maßnahmen eingesetzt oder Tranquilizer als medikamentöse
Konfliktlöser angesehen.“
Psychopharmaka werden auch sehr häufig unrichtig eingesetzt, Gerd LAUX führt dies an:168
„30—50 % der Verordnungen von Psychopharmaka erfolgen bei Patienten ohne
psychiatrische, nur mit rein somatischer Diagnose. Dies laßt zum einen Mangel in der
psychopathologisch - psychiatrischen Diagnostik vermuten (z. B. Nichterkennen
somatisierter Depressionen oder Angsterkrankungen).“169
Daraus ergibt sich für Gerd LAUX folgende Forderung:
„Will man Psychopharmaka einsetzen, so ist stets eine kritische, sorgfältige Auswahl und
ein richtiger Umgang (...) mit ihnen erforderlich.“
Üblicherweise werden die Psychopharmaka in folgende Gruppen eingeteilt:170
1. Tranquilizer
2. Hypnotika
3. Antidepressiva
4. Lithium
5. Neuroleptika
Es gibt dann noch andere Substanzen mit psychischer Wirkung.
„Jeweils eine eigene Gruppe stellen außerdem Psychostimulantien, Nootropika,
Parkinsonmittel, Betablocker und Antiepileptika dar. Letztere haben wie Analgetika zwar
wichtige psychische Wirkungen, gehören aber nicht mehr in den engeren Rahmen der
Psychopharmaka.“171
Psychopharmaka sind nicht voll in der Wirkungsweise zu unterscheiden. Es gibt große
Ähnlichkeiten:
„Untersuchungen zur Überprüfung der Wirkeigenschaften sowie die Entwicklung neuerer
Substanzen weisen darauf hin, daß die Übergänge zwischen Neuroleptika, Antidepressiva
und Tranquilizern fließend sein können und zum Teil dosisabhängig sind.“172
8.2.2 Psychopharmaka und Nebenwirkungen
Psychopharmaka haben nicht nur die beabsichtigte Wirkung gegen die psychische
Krankheit, sondern auch zum Teil sehr unangenehme Nebenwirkungen. Gerd LAUX warnt
davor:
173
167
a. a. O. S. 4.
168
a. a. O. S. 4.
169
a. a. O. S. 4.
170
a. a. O. S. 4.
171
a. a. O., S. 27.
172
a. a. O. S. 27.
173
a. a. O., S. 102.
Seite 65
Therapie des PTSD
„Psychopharmaka zeigen neben den gewünschten Wirkungen (...) auch eine Reihe
unerwünschter Begleitwirkungen wie z. B. Beeinträchtigung von Reaktionsvermögen,
Aufmerksamkeit und Konzentration. Derartige Nebenwirkungen können den Patienten in
seinen gewohnten Alltagstätigkeiten beeinträchtigen“.
Außerdem gibt es in Kombination mit vielen anderen Genussmitteln unkontrollierbare
Wirkungsveränderungen. Deshalb sollte beachtet werden:
„Auf den Konsum der Genußmittel Nikotin und Alkohol sollte wahrend einer Behandlung
mit Psychopharmaka vollständig verzichtet, der Konsum von Tee, Kaffee und
koffeinhaltigen Getränken in der Regel eingeschränkt werden. (...) Bei Neuroleptika und
Antidepressiva sind besonders Wirkungen auf die Kreislaufregulation zu beachten.“174
Weiters nimmt LAUX zu anderen Psychopharmaka Bezug:
„Tranquilizer und Hypnotika können durch übermäßige Sedierung175
Tagesrestwirkung176 Konzentration und Aufmerksamkeit beeinträchtigen.“177
bzw.
Psychopharmaka haben auch gefährliche Nebenwirkungen auf das ungeborene Kind
während der Schwangerschaft. Gerd LAUX führt einige wichtige Argumente an und zieht
folgendes Resumé:
„Zusammenfassend kann gesagt werden, daß ein eindeutiger Nachweis teratogener
Wirkungen178 bislang nur für Lithium, nicht für Neuroleptika, Antidepressiva,
Benzodiazepine und Clomethiazol erbracht worden ist. Trotzdem sollten diese
Psychopharmaka nur bei sehr strenger Indikation nach sorgfältiger Nutzen - Risiko Abwägung Schwangeren verordnet werden, im ersten Trimenon179 möglichst gar nicht.“180
8.2.3 Wirkung der Psychopharmaka auf das PTSD
Anke EHLERS, Forschungsprofessorin am Department for Psychiatry der Universität
Oxford, stellt eine Übersicht über den Einsatz von Psychopharmaka zur Behandlung des
PTSD dar. Psychopharmaka haben keine vollkommen abgrenzbare Wirkung (Siehe Seite
174
a. a. O., S. 102.
175
‘sedieren’: [lat. n-lat.] dämpfen, beruhigen. Quelle: DUDEN: Fremdwörterbuch. Bearb. v.
Marion MÜLLER, 4. Auflage; Mannheim, Wien, Zürich: Bibligraphisches Institut 1982. S.
622.
176
‘Tagesrestwirkung’ (auch ‘Hang-Over’) Nachwirkung von Psychopharmaka, die über die
eigentlichen Wirkungszeitraum hinausgeht, z. B. bei Schlafmittel, die noch am
nachfolgenden Tag leichte Wirkungen haben können. Quelle: LAUX, Gerd:
Pharmakopsychiatrie. Unter Mitarb. von O. DIETMAIER und W. KÖNIG; Stuttgart, New
York: G. Fischer, 1992. S. 104.
177
LAUX, Gerd: Pharmakopsychiatrie. Unter Mitarb. von O. DIETMAIER und W. KÖNIG. Stuttgart ; New York : G. Fischer, 1992. S. 103.
178
‘teratogene Wirkungen’, „Teratogenität f: Eigenschaft best. ehem. Substanzen (z. B.
Pharmaka), Mikroorganismen od. v. Strahlen, in d. Embryonalzeit Mißbildungen
hervorzurufen.“ Quelle: PSCHYREMBEL, Willibald [Begr.]; Zink, Christoph [Bearb];
Dornblüth, Otto [Begr.]: Klinisches Wörterbuch, 255. Aufl. Berlin, New York: de Gruyter,
1986. S. 1647.
179
Trimenon: „Zeitrum von drei Monaten; v. a. auf Schwangerschaft u. Säuglingsalter
bezogen.“ Quelle: PSCHYREMBEL, Willibald [Begr.]; Zink, Christoph [Bearb];
Dornblüth, Otto [Begr.]: Klinisches Wörterbuch, 255. Aufl. Berlin, New York: de Gruyter,
1986.
180
LAUX, Gerd: Pharmakopsychiatrie. Unter Mitarb. von O. DIETMAIER und W. KÖNIG;
Stuttgart, New York: G. Fischer, 1992. S. 107.
Seite 66
Therapie des PTSD
65), sondern die einzelnen Stoffgruppen zeigen sehr ähnliche Wirkungen und sind meist
dosisabhängig. Im nachfolgenden Text werden die
Wirkungen der verschiedenen
Substanzen auf das PTSD beschrieben.
Das PTSD ist ein Syndrom 181, bei dem viele einzelne Symptome gleichzeitig auftreten
können.
Depressionen,
Ängste
und
Wahrnehmungsverzerrungen,
ähnlich
einer
Halluzination, kommen in Begleitung des PTSD vor.
Für die Depressionen, die sehr häufig in Begleitung des PTSD auftreten, können
Antidepressiva hilfreich sein. Sie mildern die Beschwerden der Depression, wie die
miserable Befindlichkeit, Schlafstörungen und auch Denkhemmungen. Antidepressiva
können auch die psychotischen Wahnideen, die u. U. auch im PTSD enthalten sind,
bekämpfen.182
PTSD enthält auch massive Ängste und Panikattacken. Gegen diese Symptome lassen sich
im Akutstadium sehr gut Tranquilizer, aus der Benzodiazepin-Gruppe einsetzen. Obwohl es
langfristig Probleme mit der Abhängigkeit geben kann, sind sie doch kurzfristig sehr gut
gegen auftretende Ängste wirksam. LAUX beschreibt den Einsatzbereich der Tranquilizer
folgendermaßen:
„Als wichtigste Zielsymptome gelten Angstzustände. Pathologische Ängste, die ein
adäquates Konfliktverhalten blockieren, können gemindert und der Weg zu einer
Psychotherapie - falls erforderlich - geebnet werden. Tranquilizer bieten die Möglichkeit,
psychovegetative Krisen, den «psychovegetativen Störkreis» zu durchbrechen (hierbei
verstärkt Angst psychovegetative, somatische Störungen, die ihrerseits zu neuen Ängsten
führen).“183
Gegen
die
Schlafstörungen,
die
im
Zuge
eines PTSD
auftreten,
eignen
sich
Benzodiazepine, mit einer besonders kurzen Wirkdauer, als Schlafmittel. Damit lassen sich
Einschlaf- und Durchschlafstörungen behandeln.
Länger anhaltende Formen des PTSD können auch von Substanzmissbrauch, wie
Drogenkonsum, und/oder hohem Alkoholmissbrauch begleitet werden. Eine diagnostizierte
Sucht wäre für Benzodiazepine ein Ausschließungsgrund:
„Patienten mit einer Suchtanamnese sollten keine Benzodiazepin-Tranquilizer erhalten.
Als medikamentöse Alternative bieten sich hier niedrigdosierte Neuroleptika,
Antidepressiva oder Beta-Blocker an“.184
181
„Syndrom (gr. Dromos Lauf) n: Symptomenkomplex: Gruppe von gleichzeitig
zusammen auftretenden Krankheitszeichen“, Quelle: PSCHYREMBEL, Willibald [Begr.];
Zink, Christoph [Bearb]; Dornblüth, Otto [Begr.]: Klinisches Wörterbuch, 255. Aufl.
Berlin, New York: de Gruyter, 1986. S. 1629.
182
LAUX, Gerd: Pharmakopsychiatrie. Unter Mitarb. von O. DIETMAIER und W. KÖNIG. Stuttgart ; New York : G. Fischer, 1992. S. 203.
183
a. a. O. S. 139.
184
a. a. O.
Seite 67
Therapie des PTSD
8.2.4 Antidepressiva
8.2.4.1 Selektive Serotonin - Wiederaufnahme-Hemmer (SSRIs)
„Diese Medikamente (z. B. Sertralin, Fluvoxamin, Fluoxetin) sind wirksam in der
Behandlung der PTB (DAVIDSON, 1997185). (...) Die SSRIs waren - über die
verschiedenen Studien hinweg betrachtet - wirksamer als andere medikamentöse
Therapien und können als pharmakologische Behandlung der Wahl gelten. Trotz der
insgesamt guten Behandlungserfolge ist es möglich, dass SSRIs nicht bei allen Gruppen
von PTB-Patienten gleich wirksam sind. (...) Die langfristige Wirksamkeit der SSRI ist
nicht bekannt. Es ist nicht bekannt, ob eine Kombinationsbehandlung von psychologischer
Behandlung und SSRIs erfolgreicher oder weniger erfolgreich ist als die psychologische
Behandlung für sich allein.“186
VAN DER KOLK187 konnte jüngst in einer Studie darlegen, dass Fluoxetin188 (ein
Antidepressivum), das die Wiederaufnahme (reuptake) von Serotonin an präsynaptischen
Membranen blockiert, bei PTSD-Patienten eine besonders positive Wirkung auf die
Fähigkeit zur Erregungsmodulation zeigt. Die klinischen Versuche mit Serotonin-ReuptakeBlockern deuten an, dass sie gegenwärtig die mit Abstand beste pharmakologische
Behandlungsmöglichkeit für PTSD darstellen.
8.2.4.2 Monoamino-Oxidase-Hemmer (MAO-Hemmer)
„Nach van ETTEN und TAYLORS189 (1998) Meta-Analyse sind MAO-Hemmer nicht
wirksamer als Placebo oder Warten auf Therapie. (...) Es ist möglich, dass einige Studien
die Wirkung der MAO-Hemmer unterschätzten, weil die Behandlung nicht über einen
hinreichend langen Zeitraum stattfand. Trotzdem können sie nicht als pharmakologische
Behandlung der Wahl angesehen werden (Davidson, 1997)“.190
8.2.4.3 Trizyklische Antidepressiva
„Diese Medikamente scheinen, wenn überhaupt, nur bei weniger schweren Fällen der
PTSD zu wirken (...). Effektstärken waren im Allgemeinen nicht bedeutend größer als für
Placebo oder Warteliste (van Etten & Taylor, 1998; d = 0,54). DAVIDSON (1997)191 wies
daraufhin, dass möglicherweise bei einigen Studien keine Wirksamkeit dieser
Medikamente gefunden wurde, weil die Behandlungsdauer zu kurz war. Dennoch können
185
DAVIDSON, J. R. T.: „Biological therapies for posttraumatic stress disorder: an
overview“, Journal of Clinical Psychiatry, 58 (suppl 9), 29-32, 1997.
186
EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle:
Hogrefe, 1999. S. 76.
187
VAN DER KOLK, Bessel, A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
188
„FLUOXETIN (Fluctin®) Chemisch neuartiger selektiver Hemmer der Wiederaufnahme
von Serotonin ohne wesentliche Wirkung auf andere Neurotransmitter oder Rezeptoren.
(...) Leicht aktivierende Wirkeigenschaften.“ Quelle: LAUX, Gerd: Pharmakopsychiatrie.
Unter Mitarb. von O. DIETMAIER und W. KÖNIG; Stuttgart, New York: G. Fischer,
1992. S. 217.
189
VAN ETTEN, M. L. & TAYLOR, S.: „Comparative efficacy of treatments for
posttraumatic stress disorder: A meta-analysis“. Clinical Psychology and Psychotherapy,
5. 126-144. 1998.
190
EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle:
Hogrefe, 1999. S. 76.
191
DAVIDSON, J. R. T.: „Biological therapies vor posttraumatic stress disorder: an
overview“. Journal of Clinical Psychitatry. 58 (suppl ), 29 - 32. zit. EHLERS, 1999, S. 76.
Seite 68
Therapie des PTSD
die trizyklischen Antidepressiva nicht als pharmakologische Behandlung der Wahl
angesehen werden (DAVIDSON, 1997).“192
8.2.5 Antiepileptika
„Antiepileptika sind eine chemisch sehr heterogene Gruppe von Substanzen, die in
unterschiedlichem Maß das Auftreten bestimmter Formen epileptischer Anfälle verhindern
können. Sie zählen (...) nicht zu den Psychopharmaka im engeren Sinn.“193
Aber einige Substanzen aus der Gruppe der Antiepileptika wurden auch in der
psychiatrischen Therapie, zur Behandlung des PTSD,
eingesetzt. Dies erscheint
ungewöhnlich, weil epileptische Anfälle nicht im Syndrom des PTSD vorkommen.
„Antiepileptika (Carbamazepin, Valproat) sind möglicherweise wirksam (d - 0,93, van
Etten & Taylor, 1998), sind aber bisher noch nicht genügend untersucht worden
(Friedman, 1998). Davidson (1997) schätzte, dass ca. 65 % der PTB-Patienten auf
Antiepileptika ansprechen.“194
Aus all dem lässt sich schließen, dass Antiepileptika zu Behandlung des PTSD eher weniger
eingesetzt werden.
8.2.6 Benzodiazepine
In diese Gruppe fallen die meisten Tranquilizer, z. B. Lexotanil®, Librium®, Valium®,
Temesta®, Mogadon®, sowie auch das Schlafmittel Halcion®195
„Benzodiazepine scheinen bei der Behandlung von PTSD nicht wirksam zu sein. Nach der
Meta-Analyse von van Etten und Taylor (1998) waren sie nicht wirksamer als Placebo
oder Warten auf Behandlung (...). Sie können nicht empfohlen werden, zumal es bei
Absetzen von kurzzeitig wirkenden Benzodiazepinen, wie z. B. Alprazolam (Tafil®, Anm.
d. Verfasserin), bei PTSD-Patienten zu einem Rebound-Syndrom196 mit erhöhter
Ängstlichkeit, Schlafstörungen, Albträumen und Wutanfällen kommen kann (Davidson,
1997).“197
192
a. a. O., S. 76f.
193
LAUX, Gerd: Pharmakopsychiatrie. Unter Mitarb. von O. DIETMAIER und W. KÖNIG;
Stuttgart, New York: G. Fischer, 1992. S. 283.
194
EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle:
Hogrefe, 1999. S. 77.
195
a. a. O. S.
196
‘Rebound-Syndrom’: „Beim Absetzen von Benzodiazepinen kommen vor allem
vegetative Entzugssymptome als pathophysiologische Rebound-Phänomene vor.
Letztere stellen ein (verstärktes) Wiederauftreten der ursprünglichen Symptome dar.“
Quelle: LAUX, Gerd: Pharmakopsychiatrie. Unter Mitarb. von O. DIETMAIER und W.
KÖNIG; Stuttgart, New York: G. Fischer, 1992. S. 143.
197
EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle:
Hogrefe, 1999. S. 77.
Seite 69
Therapie des PTSD
8.3 Psychotherapie
8.3.1 Allgemeines
Hans STROTZKA, Professor für Tiefenpsychologie der Universität Wien, definiert
Psychotherapie folgendermaßen:
„Psychotherapie ist eine Interaktion zwischen einem oder mehreren Patienten und einem
oder mehreren Therapeuten (auf Grund einer standardisierten Ausbildung), zum Zwecke
der Behandlung von Verhaltensstörungen oder Leidenszuständen (vorwiegend
psychosozialer Verursachung) mit psychologischen Mitteln (oder vielleicht besser durch
Kommunikation, vorwiegend verbal oder auch averbal), mit einer lehrbaren Technik,
einem definierten Ziel und auf der Basis einer Theorie des normalen und abnormen
Verhaltens.“ 198
Es lassen sich nach STROTZKA einige verschiedene Theorien als Orientierungshintergrund
psychotherapeutischen Handelns erkennen:199
die Lerntheorien, (behaviorale, kognitive Ansätze)
die tiefenpsychologischen Konzepte (alle Psychologien des Unbewussten, also vor allem
die Psychoanalyse),
die Systemtheorie (vorwiegend für die Familientherapie),
eventuell sozialpsychologische Konzepte (für Gruppenpsychotherapien)
und philosophische Anthropologien (etwa die Existenzphilosophie für die Daseinsanalyse
oder FRANKLs Logotherapie oder eine humanistische Philosophie für die kognitive
Psychotherapie).
In diesem Rahmen wird auch ein wichtiges Element, die psychotherapeutische
Grundhaltung, angeführt:
„Man erwartet sich dabei eine Besserung von einem wertfreien Akzeptieren des Patienten,
dem Bemühen um eine sympathisierende Einfühlung (Empathie), einem indirekten
Beratungsstil und der Echtheit dieser Haltung (Kongruenz).“ 200
8.3.2 Psychotherapie des PTSD
8.3.2.1 Psychoanalytische Therapieformen
Barbara Olasov ROTHBAUM und Edna B. FOA erkennen in den psychoanalytisch
orientierten Therapieformen einige Probleme, sie zur Behandlung des PTBS einzusetzen.
Sie berichten:
„Verschiedene psychodynamisch orientierte Verfahren sind zur Behandlung von PTBSPatienten eingesetzt worden, und zwar als Einzel- oder Gruppentherapie und in
unterschiedlichen, institutionellen Settings. Kein erkennbarer roter Faden verbindet die
verschiedenen Interventionsformen miteinander, und es gibt kein in sich schlüssiges
198
STROTZKA, Hans: Tiefenpsychologie und Psychotherapie. Wien, New York: Springer,
1982. S. 1.
199
a. a. O. S. 2.
200
a. a. O. S. 2.
Seite 70
Therapie des PTSD
theoretisches Grundgerüst, das eine Beziehung zwischen gewähltem Vorgehen und der
PTBS herstellen würde.“201
8.3.2.2 Wirksamkeit der psychoanalytischen Therapieformen
Es wird über eine Therapie bei Vietnamveteranen berichtet:
„Eine psychodynamische Therapie erwies sich als ineffektiv bei der Behandlung eines
traumatisierten Vietnamveteranen (Grigsby, 1987 202). Nachdem es 19 Monate lang unter
der psychodynamischen Psychotherapie zu keinen Fortschritten gekommen war, wurden
[andere] (eingefügt v. Verfasserin) Techniken eingeführt.“203
Auf Grund dieses Berichtes kommen die Autoren zum Schluss, dass sich die rein gesprächs
- orientierten Therapieformen nicht günstig für die Behandlung von PTSD bei
Kriegsveteranen einsetzen lassen.
„Dieser Bericht legt - vorbehaltlich der Beschränkungen einer Einzelfallstudie und des
Fehlens systematischer Messungen - nahe, daß rein gesprächsorientierte Therapien nicht
zu einer Linderung einer PTBS beitragen, während verhaltensorientierte Techniken
anscheinend effektiv sind.“204
Verschiedene Gründe, wie das Fehlen einer Kontrollgruppe und genaue Beschreibung des
Therapieherganges, machen es schwierig, die Ergebnisse über die psychodynamischen
Therapien sinnvoll zu interpretieren. In einem Kommentar zu vielen Berichten über den
Einsatz von psychodynamischen Therapien stellen ROTHBAUM & FOA fest:
„Aus der vorstehenden Übersicht ist zu entnehmen, daß Angaben über die Wirksamkeit
traditioneller Interventionen bei Posttraumatischen Belastungsstörungen nur in relativ
begrenztem Umfang vorliegen und offen für unterschiedliche Interpretationen sind.“205
8.3.2.3 Therapien auf der Grundlage von Lerntheorien und behaviorale
Behandlungsmethoden
Zwei unterschiedliche Gruppen verhaltenstherapeutischer oder behavioraler Verfahren
werden
im
Allgemeinen
zur
Behandlung
von
Angststörungen
angewandt:
Expositionsverfahren und Angstbewältigungstechniken.
201
ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen,
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 103.
202
GRIGSBY, J. P.: „The use of imagery in the treatment of posttraumatic stress disorder“.
The Journal of Nervous and Mental Disease, 175, 55-59. 1987.
203
ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl.; Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 104.
204
a. a. O. S. 104.
205
a. a. O. S. 107.
Seite 71
Therapie des PTSD
Expositionsverfahren
Zu den Expositionsverfahren zählen eine Reihe von Techniken, deren Gemeinsamkeiten
die Konfrontation mit den gefürchteten Situationen sind. Diese Techniken lassen sich nach
zwei Gesichtspunkten gliedern:
dem Expositionsmedium (in sensu oder imaginativ vs. in vivo), der Expositionsdauer
(kurz vs. lang)
und dem dabei entstehenden Erregungsniveau (niedrig vs. hoch)
Barbara O. ROTHBAUM und Edna B. FOA206 fanden eine Planmäßigkeit der vielen
unterschiedlichen
Methoden
der
Verhaltenstherapien.
Die
verschiedenen
Expositionsverfahren lassen sich an Hand der oben beschriebenen Dimensionen auf einem
Kontinuum in eine Ordnung bringen:
Der eine Extrempunkt wird von der systematischen Desensibilisierung (WOLPE, 1958207)
gebildet, mit einer imaginativen, kurzen und minimal erregenden Exposition.
Am anderen Ende befindet sich die Reizüberflutung in vivo208 (‘flooding’, MARKS, 1972209),
bei der eine Konfrontation mit tatsächlichen Lebenssituationen stattfindet, die von längerer
Dauer ist und darauf abzielt, Angst in hohem Ausmaß auszulösen.
Die systematische Desensibilisierung besteht aus einer Konfrontation mit gefürchteten
Situationen oder Objekten auf der Vorstellungsebene. Der Therapeut beschreibt kurze
Szenarien, deren Fokus auf dem gefürchteten Stimulus liegt (z. B.: «Sie sind anderthalb
Meter von der Schlange entfernt»). Die Patienten sollen sich die Szenarien für kurze Zeit so
lebhaft wie möglich vorstellen. Zwar wird das Auftreten eines gewissen Ausmaßes an Furcht
für notwendig erachtet, es wird jedoch versucht, die Furcht während der Vorstellung so
gering wie möglich zu halten (im Allgemeinen durch Entspannung). Die am wenigsten
gefürchtete Szene wird zuerst vorgegeben. Wenn der Patient zu verstehen gibt, dass er
Angst hat, wird die Vorgabe der Szene unterbrochen, zur Entspannung zurückgekehrt und
die Szene dann erneut beschrieben. Jede Szene wird so lange vorgegeben, bis sie keine
Angst mehr auslöst. Im Anschluss daran wird eine nächst stärker ängstigende Szene
vorgegeben.
Varianten der systematischen Desensibilisierung sind abgestufte Konfrontationsverfahren in
210
vivo oder in sensu
ohne Entspannung. Beginnt die Exposition mit stark gefürchteten
206
a. a. O. S. 108.
207
WOLPE, J.: Psychotherapy by reciprocal inhibition. Stanford: Stanford University Press,
1958.
208
In-vivo-Exposition (od. Konfrontation, exposure): Der Patient wird Reizen, die an das
Trauma erinnern, aber bisher vermieden wurden (z. B. Ort des Geschehens, ähnliche
Situationen, Aktivitäten, Gefühle) ausgesetzt. Es ist eine wirkungsvolle Methode, um zu
erreichen, dass der Patient das traumatische Erlebnis als Teil der Vergangenheit
akzeptiert. Quelle: EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen,
Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe, 1999. S. 50.
209
MARKS, I. M.: „Flooding and allied treatments“. in W. AGRAS (Ed.), Behavior
modification: Principles and clinical applications. Boston: Little Brown, 1972.
210
In-sensu-Exposition (od. Konfrontation, exposure): Der Patient wird mit dem
angstmachenden oder traumatisierenden Ereignis in der Vorstellung konfrontiert.
Seite 72
Therapie des PTSD
Stimuli, ist sie langanhaltend und löst sie ein hohes Angstniveau aus, spricht man von
Reizüberflutung (flooding)211.
Auch das Flooding wird entweder in sensu oder in vivo angewendet und so lange
fortgeführt, bis eine Angstreduktion einsetzt.
Expositionstechniken (=Konfrontationstechniken) kommen vor allem dann zum Einsatz,
wenn ausgeprägtes Vermeidungsverhalten vorliegt. Die Behandlung zielt darauf ab, die
Furchtstruktur zu aktivieren und zu modifizieren.
ROTHBAUM & FOA berichten über Techniken, bei denen Patienten mit Material
konfrontiert wurden, das in Zusammenhang mit dem ursprünglichen traumatischen Ereignis
stand.212 In den meisten Fällen umfasste die Behandlung jedoch weitere Techniken wie
Ärgerkontrolle oder Entspannungstraining, weshalb es unklar ist, welcher Anteil am
gesamten Behandlungserfolg auf die Exposition zurückzuführen war. Die nachfolgenden
Beispiele stellen die Behandlungen kurz dar.
Mit der systematischen Desensibilisierung lassen sich Albträume reduzieren. Es wird von
ROTHBAUM u. FOA über die Behandlung eines wiederkehrenden Albtraums eines
29jährigen männlichen Vietnamveteranen berichtet:213
Der Patient träumte von einem Vorfall, der sich tatsächlich ereignet hatte und bei dem ein
Soldat durch eine Mine verletzt worden war. Etwa neun Jahre dauernd tauchte der Albtraum
mindestens einmal im Monat auf. Dabei entwickelte sich bei dem Veteran eine chronische
Furcht vor Schlafen und Träumen.
Die
Behandlung
bestand aus fünf
Sitzungen von dreißig Minuten Dauer.
Die
Expositionshierarchie richtete sich nach der zeitlichen Abfolge der Ereignisse im Traum.
Zwei Wochen später gab der Patient an, keine Albträume mehr gehabt zu haben und
weniger Angst in Zusammenhang mit Schlafen und Träumen zu haben.
ROTHBAUM & FOA berichten des Weiteren über die erfolgreiche Behandlung von
insgesamt 24 Vietnamveteranen.
Die
Expositionstherapien
214
werden
auch
zur
Heilung
von
Traumata,
die
durch
Vergewaltigungen ausgelöst wurden, eingesetzt. Über die erfolgreiche Therapie von
Quelle: FLIEGEL et al.: Verhaltenstherapeutische Standardmethoden; München, Wien,
Baltimore: Urban & Schwarzenberg, 1981. S. 214.
211
ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen,
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 108.
212
a. a. O. S. 108ff.
213
ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 108.
214
a. a. O. S. 110f.
Seite 73
Therapie des PTSD
Vergewaltigungsopfern berichten ROTHBAUM & FOA215: Eine 20-jährige Frau wurde im
Alter von 13 Jahren vergewaltigt. Die Klientin hatte seit dem Ereignis keine Nacht allein
verbringen können, da sie unter der Angst litt, der Täter könne zurückkehren. WOLFF
(1977)216 setzte die systematische Desensibilisierung217 erfolgreich zur Behandlung dieser
Ängste ein.
Weitere therapeutische Interventionen sind Techniken zur Bewältigung von Ängsten. Diese
Techniken werden im nachfolgenden Text beschrieben.
Angstbewältigungstechniken
Das Training von Angstbewältigungstechniken wird verwendet, wenn der gesamte Alltag des
Patienten durch das Auftreten von Angst geprägt ist. In diesem Fall besteht weniger die
Notwendigkeit, die Furcht zu aktivieren, als vielmehr, sie zu bewältigen. Zu den
charakteristischen Merkmalen des PDST gehören sowohl spezifische Furchtreaktionen als
auch eine chronisch erhöhte allgemeine Aktivierung (arousal). Daher sind sowohl
Expositionsverfahren als auch Angstbewältigungstechniken zur Behandlung der Störung
geeignet.218
Angstbewältigungstechniken zielen darauf ab, Ängste zu reduzieren, indem den Patienten
Fertigkeiten zu ihrer Kontrolle vermittelt werden. ROTHBAUM & FOA219 teilen diese
Techniken folgendermaßen ein:
Entspannungstraining (z. B. BERNSTEIN & BORKOVEC, 1973; JACOBSON, 1983)
Stressimpfungstraining (MEICHENBAUM, 1974),
kognitive Umstrukturierung (BECK, 1972; ELLIS, 1977),
Atmungstraining (CLARK, SALKOVSKIS & CHAUKLEY, 1985),
Training sozialer Kompetenz (BECKER, HEIMBERG & BELLACK, 1987)
Ablenkungstechniken (z. B. Gedankenstopp [WOLPE, 1973]).
215
a. a. O. S. 112.
216
WOLFF, R.: „Systematic desensitization and negative practice to alter the aftereffects of
a rape attempt“. Journal of Behavior Therapy and Experimental Psychiatry, 8, 423-425.
1977. zit. ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 112.
217
Systematische Desensibilisierung: Ein Verfahren zum schrittweisen Abbau von Ängsten.
Quelle: DORSCH, Friedrich: Psychologisches Wörterbuch / Dorsch. Hrsg. von Friedrich
Dorsch. Red.: Horst Ries. - 11., erg. Aufl. - Bern ; Stuttgart ; Toronto : Huber, 1987. S.
672.
218
ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“, Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen,
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. 114.
219
a. a. O.
Seite 74
Therapie des PTSD
Es gibt eine besonders wichtige, häufig angewandte Technik:
„Die am häufigsten verwendete Technik ist das Muskelentspannungstraining, von WOLPE
(1985) beschrieben als «Aktivität des Lösens tonischer Kontraktion der Muskelfasern»
(...). Die Muskelentspannung wirkt sich auf das autonome Nervensystem aus und bewirkt,
daß Reaktionen des Sympathikus220 abgeschwächt werden (d. h. sich der Herzschlag und
die Atmung verlangsamen und der Blutdruck sinkt).“221
HICKLING, SISON und VANDERPLOEG (1986)222 untersuchten die Wirksamkeit dieser
Angstbewältigungstechniken.
Sechs
Veteranen
mit
PTBS
erhielten
7
bis
14
Behandlungssitzungen über einen Zeitraum von 8 bis 16 Wochen. Eingebaut in die
genannten Techniken waren Elemente des Autogenen Trainings (z. B. die Suggestion von
Wärme oder eines ruhigen, regelmäßigen Herzschlages [SCHULTZ & LUTHE, 1969223]) und
stimuluskontrollierte Entspannung (cue-controlled relaxation). Es zeigten sich hinterher auf
allen diagnostischen Skalen Verbesserungen. Zwar sind die Resultate vielversprechend,
ihre Generalisierbarkeit ist jedoch begrenzt, da die überweisenden Ärzte nur solche
Patienten geschickt hatten, die ihrer Meinung nach von dieser Form der Behandlung
profitieren würden.224
220
Sympathikus: „(griech.), der (zuerst) entdeckte) Anteil des vegetativen Nervensystems,
der vorwiegend leistungssteigernde (ergotrope) Impulse auf die Organe überträgt.“
Quelle: DER GROSSE KNAUR: Lexikon in 20 Bänden; München: Lexigraphisches
Institut, 1983. S. 7823.
Wirkungen des Sympathikus sind z. B. Anstieg des Gesamtstoffwechsels, Durchblutungsdrosselung der Haut und der Verdauungsorgane, u. U. Durchblutungssteigerung
der arbeitenden Skelettmuskulatur, Steigerung der Herzdurchblutung, Entspeicherung
der Blutdepots, Anstieg des Herzminutenvolumens, Forderung der Schlagfolge,
Anregung der Adrenalinsekretion, Anregung der Hormonsekretion und
Pupillenerweiterung. Quelle: BIBILOGRAPHISCHES INSTITUT AG, MANNHEIM: Wie
funktioniert der Mensch?. Leitung: Karl-Heinz Ahlheim, 2. Aufl., Mannheim:
Bibilographisches Institut, 1977. S. 352.
221
ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 114.
222
HICKLING, E. J., SISON, G. F. P. & VANDERPLOEG, R. D.: „Treatment of
posttraumatic stress disorder with relaxation and biofeedback training“. Behavior
Therapy, 16, 406-416. 1986. zit. ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitivbehaviorale Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische
Belastungsstörung: Diagnose und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von
Gewalttaten und Katastrophen. SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias
Wengenroth, 1. Aufl., Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 114.
223
SCHULTZ, F. H. & de LUTHE, W.: Autogenic therapy. New York: Grune and Stratton,
1969. zit. ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 114.
224
ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 108.
Seite 75
Therapie des PTSD
Auch
bei
Vergewaltigungsopfern
wurden
Angstbewältigungstechniken
erfolgreich
angewandt. FRANK, ANDERSON, STEWART, DANCU, HUGHES & WEST (1988)225
stellten eine Arbeit vor, in denen Daten von 84 Versuchspersonen verwendet wurden. Die
Teilnehmerinnen
wurden
entweder
mit
kognitiver
Verhaltenstherapie
oder
mit
systematischer Desensibilisierung behandelt. Unabhängig von der Behandlungsmethode
hatte ein Teil der Teilnehmerinnen die Therapie kurze Zeit nach der Vergewaltigung
aufgenommen (im Durchschnitt nach 20 Tagen), während andere erst Monate (im Schnitt
129 Tage) nach der Tat behandelt wurden.
Die Ergebnisse dieser Therapien werden von ROTHBAUM & FOA folgendermaßen
interpretiert:
„Obwohl die Teilnehmerinnen, die erst spät in Behandlung kamen, von Anfang an unter
mehr Symptomen litten, zeigten die Ergebnisse der Messung nach Beendigung der
Behandlung, daß beide Gruppen gleich gut sowohl auf die systematische
Desensibilisierung als auch auf die kognitive Verhaltenstherapie ansprachen.“226
ROTHBAUM, O. B. & FOA227 zitieren HOLMES & St. LAWRENCE (1983). Sie stellen die
Wichtigkeit von alternativen Angstreaktionen heraus:
„daß «die am meisten versprechenden Behandlungsstrategien anscheinend darin
bestehen, die Opfer mit spezifischen Bewältigungsmechanismen und alternativen
Reaktionen auf Angst auszustatten».“228
225
FRANK, E.; ANDERSON, V. P., STEWART, B. D.; DANCU; D., HUGHES, C., & WEST,
D.: „Efficiacy of cognitive behavior therapy and systematic desensitiziation in the
treatment of rape trauma". Behavior Therapy, 19. 403-420.zit. ROTHBAUM, O. B. &
FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der Posttraumatischen
Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose und Behandlung
psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen. SAIGH, P.:
(Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern, Göttingen,
Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 116.
226
ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Gottingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 116.
227
a. a. O.
228
HOLMES, M. R. & St. LAWRENCE, J. S.: Treatment of rape-induced trauma. Proposed
behavioral conceptualization and review of the literature. Cinical Psychology Review, 3,
417-433. 1983. zit. ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale
Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische
Belastungsstörung: Diagnose und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von
Gewalttaten und Katastrophen. SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias
Wengenroth, 1. Aufl., Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 116.
Seite 76
Therapie des PTSD
Stressimpfungstraining
Das Stressimpfungstraining (SIT) wurde zur Behandlung von Opfern entwickelt, die drei
Monate nachdem sie vergewaltigt worden waren, immer noch unter starken Ängsten litten
(KILPATRICK, VERONEN & RESICK, 1982)229.
Das Programm hatte einen Umfang von 20 Therapiestunden, plus Hausaufgaben, und
bestand aus zwei Phasen:
einer edukativen Phase
und einer, in der Copingfertigkeiten 230 eingeübt wurden.
Die zweistündige, edukative Phase, mit der die Behandlung begonnen wurde, diente dazu,
das Vorgehen und das theoretische Konzept, das der Behandlung zugrunde lag, zu erklären.
In der zweiten Phase des Stressimpfungstrainings stand die Vermittlung und Anwendung
von
Copingfertigkeiten
Muskelentspannungstraining
im
Vordergrund.
und
dem
Begonnen
kontrollierten
wurde
mit
Atmen.
dem
Das
Muskelentspannungstraining beruhte auf der Methode des An- und Entspannens einzelner
Muskelgruppen nach JACOBSON (1938)231. Die Entspannungssitzungen wurden auf Band
aufgezeichnet und den Teilnehmerinnen mitgegeben, sodass sie zu Hause üben konnten.
Die Sitzungen wurden so lange durchgeführt, bis alle Patientinnen in der Lage waren, sich
selbst in kurzer Zeit und in einer Vielfalt von Situationen in einen entspannten Zustand zu
versetzen.
Bei den Atemübungen wurde, ähnlich wie bei Yoga oder Lamaze-
Geburtsvorbereitungskursen, vor allem auf langsame Zwerchfellatmung geachtet. Im
Anschluss daran wurden durch Rollenspiele Kommunikationsfertigkeiten trainiert. Auch
verdecktes Modelllernen wurde eingesetzt. Diese Technik ähnelt dem Rollenspiel. Statt Invivo-Übungen werden jedoch Szenen in der Vorstellung durchgespielt. Um Kontrolle über
die störenden Auswirkungen aufdringlicher Gedanken zu bekommen, wurden die
229
KILPATRICK, D. G; VERONEN, L. J. & RESICK, P. A.: „Psychological sequelae to rape:
Assessment and treatment strategies“. in D. M. DOLEYS & R. L. MEREDITH (Eds.),
Behavioral medicine: Assessment and treatment strategies. New York: Plenum
Publishing, 1982. zit. in ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale
Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische
Belastungsstörung: Diagnose und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von
Gewalttaten und Katastrophen. SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias
Wengenroth. 1. Aufl., Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 117.
230
„’coping’: [engl. cope handeln, kampfen mit], Auseinandersetzung, Bewältigung. Bez.
für vorwiegend kognitive Strategien der Auseinandersetzung mit Stressoren und
belastenden Situationen.“ Quelle: SCHMIDT, L.: in Psychologisches Wörterbuch /
Dorsch; Hrsg. von Friedrich DORSCH, Red.: Horst RIES, 11., erg. Aufl.; Bern, Stuttgart,
Toronto: Huber, 1987. S. 121.
231
JACOBSON, E.: Progressive relaxation. Chicago University of Chicago Press. 1938. zit.
in ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 117 .
Seite 77
Therapie des PTSD
Teilnehmerinnen auch mit den Instruktionen zum Gedankenstopp (WOLPE, 1958)232
vertraut gemacht.
Die letzte Technik, der gelenkte Selbstdialog, war in den Augen von KILPATRICK et al.
(1982)233 die wichtigste. Die Therapeutin leitete alle Teilnehmerinnen an, sich auf ihren
inneren
Dialog
zu
Selbstverbalisationen
konzentrieren
zu
und
identifizieren.
irrationale,
Gemäß
fehlerhafte
und
negative
(1974) 234
MEICHENBAUMS
Stressimpfungstraining und der Vorgehensweise zur kognitiven Umstrukturierung wurden
rationale und positive Aussagen generiert und an die Stelle der negativen gesetzt.
ROTHBAUM
&
FOA
beschreiben
die
Grundprinzipien
und
den
Ablauf
der
Stressimpfungstechniken im folgenden Text. Es ist auch zugleich ein konkretes Beispiel,
wie die Vergewaltigungsopfer durch diese Technik lernen, mit ihrem Trauma fertig zu
werden. Diese Technik lässt sich auch für alle anderen Opfer von Gewalttaten erfolgreich
anwenden.
„Alle Sitzungen, bei denen es um die Vermittlung von Copingfertigkeiten geht, laufen nach
dem gleichen Grundschema ab. Am Anfang steht jeweils ein Rückblick auf die Inhalte der
vergangenen Sitzung und eine Besprechung der zurückliegenden Versuche der Patientin,
die gelernten Fertigkeiten in ihrer natürlichen Umgebung anzuwenden, sowie der Hausaufgaben. Es folgen im weiteren eine Darstellung des allgemeinen Vorgehens bei der
Vermittlung einer Copingfertigkeit sowie detaillierte Anleitungen für die einzelnen
Fertigkeiten.
1. Definition der Fertigkeit. Die Fertigkeit wird definiert. Für welchen Kanal (z. B. den
kognitiven oder den autonomen) ist diese Copingfertigkeit geeignet? Warum ist sie wichtig
für die Patientin?
2. Grundprinzip und Mechanismus. Den Patientinnen wird erklärt, welche
Verhaltensweisen, Reaktionen oder Symptome durch die neue Copingfertigkeit
abgeschwächt oder gestärkt werden. Es wird auf Parallelen und Unterschiede zwischen
dieser Fertigkeit und anderen hingewiesen.
3. Demonstration. Der Patientin wird die Fertigkeit demonstriert oder ihr wird eine verbale
Erklärung über die praktische Umsetzung gegeben.
232
WOLPE, J.: Psychotherapy by reciprocal inhibition. Stanford: Stanford University Press.
1958. zit. in ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 117.
233
KILPATRICK, D. G, VERONEN, L. J. & RESICK, P. A.: „Psychological sequelae to rape:
Assessment and treatment strategies“. In D. M. DOLEYS & R. L. MEREDITH (Eds.),
Behavioral medicine: Assessment and treatment strategies; New York: Plenum
Publishing, 1982. zit. in ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale
Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische
Belastungsstörung: Diagnose und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von
Gewalttaten und Katastrophen. SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias
Wengenroth, 1. Aufl., Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 117.
234
MEICHENBAUM, D.: Cognitive behavior modification. Morristown. NJ: General Learning
Press. 1974. zit. in ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale
Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische
Belastungsstörung: Diagnose und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von
Gewalttaten und Katastrophen. SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias
Wengenroth, 1. Aufl., Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 118.
Seite 78
Therapie des PTSD
4. Anwendung 1. Die Patientin übt die Fertigkeit zuerst an einem Problem, das in keinem
Zusammenhang zur Vergewaltigung steht (z. B. berufliche Schwierigkeiten).
5. Nachbesprechung. Es wird überprüft, ob die Patientin erklären kann, was sie getan und
wie es funktioniert hat.
6. Anwendung 2. Die Patientin übt an einem ihrer vergewaltigungsbezogenen
Probleme.“235
Die einzelnen Elemente der Copingfertigkeiten sind: Atemtechniken, Muskelentspannung,
Gedankenstopp, kognitive Umstrukturierung, gelenkter Selbstdialog und verdecktes
Modelllernen (Rollenspiel). Sie werden im Einzelnen wie folgt beschrieben. Beispielhaft
werden
auch
Ausschnitte
aus
einer
tatsächlich
stattgefundenen
Therapie
mit
Vergewaltigungsopfern angeführt, deshalb wird der Begriff ‘Patientin’ für die Bezeichnung
der betroffenen Opfer benützt.
A) Atemtechnik
Zur Vermittlung des Grundgedankens wird die folgende Erklärung den Patientinnen
mitgeteilt:
„Den meisten Menschen ist klar, daß sich unsere Atmung darauf auswirkt, wie wir
uns fühlen. Wenn wir beispielsweise in Aufregung geraten, fordert man uns
manchmal auf, ‘erst mal tief durchzuatmen und uns zu beruhigen’. Nun ist es
allerdings gar nicht das tiefe Atmen, sondern das normale, und vor allem das
langsame Ausatmen, das in solchen Situationen hilfreich ist. (...)
Sie sollen sich gleich ganz auf das Ausatmen konzentrieren und es bewußt in die
Länge ziehen. Und beim Ausatmen sagen Sie bitte das Wort RUHIG leise zu sich
selbst, während ich es laut aussprechen werde. RUHIG eignet sich hier gut, weil es
in unserer Kultur schon mit angenehmen Dingen assoziiert -verbunden - ist. (...)
Außer, daß Sie sich darauf konzentrieren, langsam auszuatmen und dabei RUHIG
zu sich selbst sagen, möchten wir, daß Sie Ihre Atmung insgesamt verlangsamen.
Sehr oft passiert es, daß Leute, wenn sie Angst bekommen oder sich aufregen, das
Gefühl haben, mehr Luft zu brauchen und sie dann oft anfangen, zu
hyperventilieren. In Wirklichkeit ist es genau andersherum. Wenn wir uns nicht
gerade angesichts einer realen Gefahr auf eine Kampf-, Erstarrungs- oder
Fluchtreaktion vorbereiten, brauchen wir oft weniger Luft als wir aufnehmen. Wenn
wir hyperventilieren236 und mehr Luft in unsere Lungen lassen, ist das für unserem
Körper das Signal, sich für eine der genannten Reaktionen vorzubereiten und dafür
genügend Sauerstoff zur Verfügung zu stellen. (...)In den meisten Fällen, in denen
wir hyperventilieren, täuschen wir damit unseren Körper. Viel besser wäre es,
235
ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 121.
236
„Hyperventilation: (lat. ventilare: lüften) für übermäßige Steigerung der Atmung.“
Quelle: PSCHYREMBEL, Willibald [Begr.]; Zink, Christoph [Bearb]; Dornblüth, Otto
[Begr.]: Klinisches Wörterbuch, 255. Aufl. Berlin, New York: de Gruyter, 1986. S. 749.
Seite 79
Therapie des PTSD
unsere Atmung zu verlangsamen und weniger Luft aufzunehmen. Das können wir
tun, indem wir zwischen den Atemzügen eine kleine Pause machen und so die Abstände zwischen ihnen vergrößern. Nachdem Sie langsam ausgeatmet haben,
halten Sie bitte buchstäblich die Luft an und zählen bis vier [ggf. andere Zahl
einsetzen], bevor Sie das nächste Mal einatmen.“237
Die Patientinnen werden anschließend angewiesen, einen normalen Atemzug zu machen,
sehr, sehr langsam auszuatmen und dabei das Wort ‘RUHIG’ zu sich selbst zu sagen. Dann
sollen sie die Atmung kurz anhalten und erst bis vier zählen, ehe sie erneut einatmen. Diese
Atmungstechnik wird in der ersten Sitzung etwa 10 - 15 mal wiederholt. Als Hausaufgabe
soll diese Übung etwa zweimal am Tag ausgeführt werden.
B) Muskelentspannung
Das Training nach JACOBSON (1938)238, das auf dem Wechsel zwischen An- und
Entspannung beruht, wird ab der dritten Sitzung eingesetzt, um die Muskelentspannung zu
lernen.
Zum
Relaxationstraining
gehört
die
völlige
Entspannung
aller
wichtigen
Muskelgruppen. Die Klientinnen bekommen die Aufgabe, die Methode zwischen den
Sitzungen zweimal täglich zu üben. In der vierten Sitzung wird das Entspannungstraining in
Verbindung mit dem oben beschriebenen kontrollierten Atmen eingesetzt. Auch diese
Fertigkeit wird sowohl in der Therapie als auch zu Hause geübt.
C) Gedankenstopp
Die Technik des Gedankenstopps wird vermittelt, indem die Klientin ersucht wird, sich
bewusst auf ihre lästigen Gedanken zu besinnen. Nachdem sie dies 35 bis 45 Sekunden
lang getan hat, ruft der Therapeut im Befehlston: ‘STOPP!’ und klatscht dabei in die Hände
oder schlägt auf den Tisch. Dann fragt er die Klientin, was passiert ist. Die meisten
Patienten geben dann an, dass der Gedanke verschwunden sei. Die Übung wird einige Male
wiederholt. Im nächsten Schritt soll die Klientin ihre Gedanken selbst stoppen, indem sie
sich leise das Wort ‘STOPP’ sagt. Dann erhält sie die Anweisung, die Technik zuerst bei
mäßig schwierigen Gedanken und dann bei den stärker belastenden anzuwenden. Falls
notwendig, kann die Patientin ein Gummiband am Handgelenk tragen, dieses gegen die
Haut schnappen lassen und ‘STOPP!’ sagen, wenn sich ein aufdringlicher Gedanke
einstellt.
D) Kognitive Umstrukturierung
237
ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 122.
238
JACOBSON, E.: Progressive relaxation; Chicago University of Chicago Press, 1938. zit.
in ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 123.
Seite 80
Therapie des PTSD
Der Therapeut stellt der Klientin zuerst das ABC-Paradigma für automatische, irrationale
Gedanken (BECK, RUSH, SHAW & EMERY, 1979239) vor, wobei er vor allem darauf
eingeht, wie subjektive Gedanken das Gefühl und das Verhalten beeinflussen.
A = antecedent, vorausgehende Situation,
B = belief, persönliche Überzeugung,
C = consequences, Folgen
Beispielhaft wird gezeigt, wie dasselbe Ereignis (z. B. ein lautes Geräusch aus dem
Nachbarzimmer zu hören) zu völlig unterschiedlichen Reaktionen führen kann (z. B. sich
sehr zu fürchten und umgehend das Haus zu verlassen versus sich ein wenig zu ärgern und
das Zimmer zu betreten), je nachdem, wie die eigene Wahrnehmung interpretiert wird
(z. B.: «Ein Einbrecher ist im Haus. Ich bin in Gefahr» versus «Was, zum Kuckuck, hat die
dumme Katze denn jetzt schon wieder angestellt?»). Der Therapeut bittet die Klientin, eine
nicht im Zusammenhang mit der Vergewaltigung stehende Situation zu schildern, in der sie
aus der Fassung geraten ist (wie z. B. keine Gehaltserhöhung bekommen zu haben) und
analysiert diese dann nach dem ABC-Raster. Zuerst geht sie auf das A (die auslösende
Situation oder das Ereignis) und das C ein (die Folgen bzw. wie sich die Klientin gefühlt
hat). Dann bittet er die Klientin, ihm dabei zu helfen, das B zu erschließen (die Überzeugungen/die Sätze, die sie zu sich selbst gesagt hat und die sie in Unruhe versetzt haben).
ROTHBAUM
&
FOA
beschreiben
die
Abfolge
der
kognitiven
Umstrukturierung
folgendermaßen:
„Die kognitive Umstrukturierung erfolgt in den folgenden Schritten:
1. Benennen von A und C.
2. Benennen von B, Formulieren einer automatischen Annahme (z. B.: «Er hat mich
zurückgewiesen. Ich brauche Liebe und Anerkennung, um mich wertvoll zu fühlen» oder
«Er ist ein potentieller Vergewaltiger und geht gleich auf mich los»).
3. Überprüfen des Realitätsgehalts von B: Abwägen der Indizien, die für und gegen die
Annahme sprechen, etwa so, wie es vor Gericht geschieht.
4. Sind die Belege unzureichend, kann die Patientin die Annahme entweder zurückweisen
oder noch weitere Informationen einholen.
5. Wenn genügend Indizien vorliegen, rational und angemessen (zu) reagieren (z. B. «Mir
wäre lieber, er würde mich nicht zurückweisen, aber es sagt nichts über meinen Wert als
Person») oder versuchen, sich in Sicherheit zu bringen.“ 240
239
BECK, A. T.; RUSH, A. J.; SHAW, B. F. & EMERY, G.: Cognitive therapy of depression.
New York: Guilford Press, 1979. zit. in ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitivbehaviorale Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische
Belastungsstörung: Diagnose und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von
Gewalttaten und Katastrophen. SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias
Wengenroth, 1. Aufl., Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 123.
240
ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 124.
Seite 81
Therapie des PTSD
Der Therapeut unterstützt dabei die Klientin, ihre Überzeugungen auf Rationalität hin
einzuschätzen und sie durch rationalere Selbstverbalisationen zu ersetzen. Im Anschluss
daran wird das Vorgehen auf eine Erfahrung übertragen, die in Zusammenhang mit der
Vergewaltigung steht. Falls erforderlich, wird noch ein drittes Beispiel verwendet, bei dem
die Klientin die beschriebene Methode möglichst selbständig anwendet.
E) Gelenkter Selbstdialog
Im gelenkten Selbstdialog lehrt der Therapeut die Klientin, ihre Aufmerksamkeit auf ihren
inneren Dialog zu konzentrieren bzw. darauf, was sie zu sich selbst sagt. Irrationale,
unrichtige oder negative Aussagen werden als solche identifiziert und durch rationale,
förderliche oder aufgabenbezogene ersetzt. Die Klientin wird dann angewiesen, sich selbst
eine Reihe von Fragen zu stellen und zu beantworten oder auf eine Reihe von Aussagen zu
reagieren. Der gelenkte Selbstdialog lehnt sich an die Beispiele MEICHENBAUMS (1974)241
an.
Der gelenkte Selbstdialog enthält Aussagen, die sich jeweils einer von vier Kategorien
zuordnen lassen:
Vorbereitung,
Konfrontation und Umgang,
Bewältigung von Versagensängsten und
Verstärkung.
Für jede der genannten Kategorien stellen Klientin und Therapeut eine Reihe von Fragen
und Aussagen zusammen, die die Klientin dazu ermutigen,
(a) die tatsächliche Wahrscheinlichkeit eines negativen Ereignisses einzuschätzen,
(b) ihre Angst zu ‘managen’,
(c) Selbstkritik und selbstabwertende Aussagen in Grenzen zu halten,
(d) das gefürchtete Verhalten auszuführen und
(e) sich selbst dafür zu verstärken sowie dafür, nach dem vereinbarten Schema
vorgegangen zu sein.
Grundsätzlich werden speziell auf die individuellen Probleme der Klientin zugeschnittene
Aussagen formuliert. Die Selbstaussagen werden auf Karteikarten geschrieben, auf die die
Patientin in den Übungen außerhalb der Behandlungssitzungen zurückgreifen kann. Die
Klientin wird dazu ermutigt, sich dieser Copingfertigkeiten zu bedienen, um alltägliche
Probleme
241
und
Schwierigkeiten
zu
bewältigen.
Üblicherweise
drehen
sich
bei
MEICHENBAUM, D.: Cognitive behavior modification. Morristown, NJ: General Learning
Press. 1974. zit. in ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale
Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische
Belastungsstörung: Diagnose und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von
Gewalttaten und Katastrophen. SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias
Wengenroth, 1. Aufl., Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 125.
Seite 82
Therapie des PTSD
Vergewaltigungsopfern die meisten Selbstaussagen um die geringe Wahrscheinlichkeit,
dass erneut etwas Traumatisches passiert.
F) Verdecktes Modelllernen, Rollenspiel
Verdecktes Modelllernen ist ein Rollenspiel auf der Vorstellungsebene. Zuerst beschreibt
der Therapeut eine Szene, in der es eine für die Klientin schwierige Situation gibt. Der
Therapeut setzt sich mit der Situation auseinander und bewältigt sie erfolgreich. Im
Anschluss daran stellt sich die Klientin dieselbe Szene bildlich vor und malt sich aus, die
Situation erfolgreich zu bestehen. Wie bei allen Fertigkeiten wird auch das verdeckte
Modelllernen zuerst an einer Situation geübt, die nichts mit der Vergewaltigung zu tun hat.
Dann erst an einer Szene, in der es eine große Ähnlichkeit zur Tat gibt. Für das verdeckte
Modelllernen können dieselben Situationen verwendet werden, die später im Rollenspiel
geübt werden.242
Im Rollenspieltraining setzen Klientin und Therapeut gemeinsam Situationen in Szene, in
denen die Klientin Belastungen ausgesetzt ist. Der Therapeut erklärt, dass im Rollenspiel
Verhaltensweisen durchgespielt werden und Text und Handlung geprobt werden, wobei so
getan wird, als befände man sich in einer bestimmten Situation. Das Rollenspiel bietet die
Möglichkeit neue Verhaltens- und Ausdrucksweisen zu erlernen. Statt sich wie gewöhnt zu
verhalten, ist es eine Gelegenheit etwas zu üben, bevor die Situation tatsächlich eintritt.
Ähnlich wie Proben am Theater, verringert wiederholtes Üben die Angst und erhöht die
Wahrscheinlichkeit, dass ein neues Verhalten gezeigt werden kann.243
Der Therapeut dient zunächst als Verhaltensmodell, nimmt zuerst im Rollenspiel die Rolle
der Klientin ein und demonstriert das angemessene soziale Verhalten. Anschließend werden
die Rollen getauscht und die Klientin spielt sich selbst. Nach jedem Rollenspiel wird die
Klientin aufgefordert, die positiven Aspekte ihres Verhaltens im Spiel, sowie Bereiche, die
noch verbesserungsbedürftig sind, zu benennen. Der Therapeut tut dann das gleiche, wobei
er stets die positiven Aspekte stärker hervorhebt als die negativen. Die Rollenspiele werden
jeweils so oft wiederholt, bis die Patientin ein zufriedenstellendes Verhalten zeigt oder keine
weiteren Fortschritte mehr macht (selten öfter als fünfmal). 244
G) Expositionsbehandlung
Die Expositionsbehandlung besteht aus neun 90-minütigen Sitzungen, jeweils zwei in einer
Woche.
Die ersten beiden Sitzungen werden darauf verwendet, Informationen zu sammeln, das
Behandlungskonzept zu erklären und die Behandlung zu planen. Es wird eine Hierarchie
vermiedener Situationen für In-vivo-Expositionen erstellt. Die Hierarchie wird nach dem
242
ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 125.
243
a. a. O. S. 125.
244
a. a. O. S. 126.
Seite 83
Therapie des PTSD
Maß der Angstauslösung aufgebaut. Die In-vivo-Exposition beginnt bei Situationen, die ein
relativ geringes Maß an Angst auslösen. Die nächste präsentierte Situation wird so gewählt,
dass sie etwas mehr Angst erzeugt. Bei den weiteren Darbietungen wird das Angstpotential
immer stärker bis hin zu den am meisten gefürchtetsten Situationen.
In den nächsten sieben Sitzungen wird die Vergewaltigungsszene in der Vorstellung erneut
durchlebt. Die Patientinnen werden aufgefordert, zu versuchen, sich die Situation der
Vergewaltigung so lebhaft wie möglich vorzustellen und sie mit Worten so zu beschreiben,
als würde sie sich gerade ereignen. In den ersten beiden Expositionssitzungen wird den
Patientinnen gestattet, besonders schlimme, auch peinliche Details auszusparen. In den
verbleibenden Sitzungen sollen sie die Vergewaltigung in allen Einzelheiten schildern, und
zwar über 60 Minuten lang, in jeder Sitzung mehrere Male, so dass eine Habituation245
eintreten kann. Die Erzählungen werden auf Band aufgezeichnet und die Patientinnen
werden aufgefordert, sich diese zu Hause mindestens einmal am Tag anzuhören.246
In der letzten Sitzung werden die Patientinnen daran erinnert, dass es zu einer
Verschlimmerung der PTSD-Symptome kommen kann, wenn sie mit der Vergewaltigung in
Zusammenhang stehende Gedanken vermeiden. Es wird ihnen nahegelegt, in ihrem Alltag
weiterhin Expositionsübungen durchzuführen. Es geht um das Wiedererlangen des Gefühls
der Selbstkontrolle in alltäglichen Situationen:247
„Die Behandlung konzentriert sich darauf, die Patientinnen bei der Lösung alltäglicher vergewaltigungsbedingter oder anderer - Probleme zu unterstützen, und zielt somit darauf
ab, das Gefühl von Selbstkontrolle zu stärken.“248
8.3.2.4 Erfolge der Angstbewältigungstechniken
Das Stressimpfungstraining zeigt gute Wirkung gegen das PTSD nach Vergewaltigungen
und wirkt heilend.
„In den Ergebnissen bei Untersuchungen hat sich das Stressimpfungstrainings und die
Expositionsbehandlung gegenüber der Beratung und der Wartelistekontrollbedingung als
überlegen erwiesen.“249
245
„Habituation: Gewöhnung, das Absinken einer Reaktion (motorisch oder sensonsch) bei
wiederholter Einwirkung desselben Reizes in relativ kurzen Intervallen. Von der H.
abzusetzen ist die Auslöschung (Extinktion). H. ist der selektiven Wahrnehmung
insofern verwandt, als bedeutungslos gewordene (redundante) Reize ihre Wirkung
verlieren.“ BECKER-CARUS, C.: in Psychologisches Wörterbuch / Dorsch. Hrsg. von
Friedrich DORSCH, Red.: Horst RIES; 11., erg. Aufl.; Bern, Stuttgart, Toronto: Huber,
1987. S. 268.
246
ROTHBAUM, O. B. & FOA, Edna B.: „Kognitiv-behaviorale Behandlung der
Posttraumatischen Belastungsstörung“. Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose
und Behandlung psychischer Störungen bei Opfern von Gewalttaten und Katastrophen.
SAIGH, P.: (Hrsg). Aus dem Engl. übers. von Matthias Wengenroth, 1. Aufl., Bern,
Göttingen, Toronto, Seattle: Huber 1995. S. 126.
247
a. a. O. S. 127.
248
a. a. O.
249
a. a. O.
Seite 84
Falldarstellung
9
Fallgeschichte
Folgende Fallgeschichte (von KUNTZE, M.; BULLINGER, A.; MÜLLER-SPAHN, F., 1997250)
wurde aus der Zeitschrift ‘Verhaltenstherapie’ entnommen. Die Autoren der Publikation sind
Mitarbeiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel. Die Publikation wurde über die
Agentur KARGER251, Freiburg, per Internet bezogen. Der Text entspricht im Großen und
Ganzen der Originalarbeit, er wurde etwas gekürzt. Die übernommenen Texte wurden nur
unwesentlich abgeändert. Insofern es sinnvoll war wurde die Formatierung des Textes
weitestgehend belassen. Die Originalarbeit enthält einige spezifische Fachbegriffe aus
Psychotherapie und Psychopharmakologie. Zur Erläuterung dieser Fachtermini wurden
kurze Erklärungen in den Text eingefügt.
9.1
Zusammenfassung
Der folgende Fall einer 33jährigen Krankenschwester, die für eine weltweit arbeitende
Organisation tätig ist, stellt die Behandlung einer Posttraumatischen Belastungsstörung mit
Hilfe eines Expositionsverfahrens dar. Die angewandte Methode basiert auf einem Manual
von E. B. FOA et al. Dabei findet in insgesamt neun Sitzungen, die täglich erfolgen, eine
prolongierte In-sensu-Exposition mit anschließender kognitiver Restrukturierung statt. Der
günstige
Therapieverlauf
wird
einmal
deskriptiv,
zum
anderen
auch
mit
Hilfe
standardisierter Fragebögen veranschaulicht.
9.2
Einleitung
Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) wird im Diagnostic and Statistical Manual
of Mental Disorders (DSM-IV) unter den Angststörungen klassifiziert. Fünf diagnostische
Kriterien werden dabei
berücksichtigt:
ein traumatisch erlebtes Ereignis, dessen
sogenanntes «Wiedererleben», eine Vermeidung der traumaassoziierten Stimuli und
eventueller
anderer
Alltagssituationen,
emotionale
Taubheit
und
eine
vegetative
Hypererregbarkeit.
Die angewandte Methode (Cognitive Restructuring and Prolonged Exposure) zur
Behandlung einer PTSD wurde von Prof. Dr. E. B. FOA entwickelt und wird in Philadelphia
(USA) wissenschaftlich überprüft.
Dieses vor allem bei Vergewaltigungsopfern erprobte Verfahren wurde im vorliegenden Fall
zur Behandlung einer PTSD angewandt, die ihre Auslösung in gänzlich anderen Umständen
hatte. In der Diskussion soll darauf näher eingegangen werden.
250
KUNTZE, M.; BULLINGER, A.; MÜLLER-SPAHN, F.: „Die Behandlung einer
Posttraumatischen Belastungsstörunge (PTSD) durch die Insensu-Exposition und
kognitive Restrukturierung: ein Fallbericht“, Verhaltenstherapie, 1997; 7; 161-167
251
http://www.karger.ch
Seite 85
Falldarstellung
9.3
Kasuistik
(=Beschreibung von Krankheitsfällen)
9.3.1
Aktuelle Symptomatik zu Therapiebeginn
Die Patientin erschien zur ersten Exploration sehr verhärmt, wirkte angespannt und platzte
sofort mit ihren Beschwerden heraus. Sie wisse ja, dass dies alles nur eine PTSD sei, aber
sie sei am Rande ihrer physischen Kräfte. Im Vordergrund der Psychopathologie standen
beängstigende Gedanken, Träume und Tagbilder aus den verschiedenen Kampfgebieten,
die die Patientin in ihrer Karriere gesehen hatte. Sie könne nicht mehr schlafen, neben den
Albträumen würde sie auch tagsüber von schrecklichen Bildern aus ihrem Diensteinsatz
verfolgt. Diese kamen unkontrollierbar und die Patientin konnte sie auch nicht «zur Seite
schieben». Die Gefühle von Trauer, Wut und Zorn, Schuldgefühle – wegen ihrer
überstürzten Abreise aus Grosny – und Angst plagten die Patientin. Sie versuchte
Gedanken, Gefühle und Gespräche über ihre Arbeit zu vermeiden. Zu Mitmenschen fühle
sie sich emotional distanziert.
9.3.2
Biographische Vorgeschichte
Die Patientin wurde 1963 geboren. Nach regulärem Schulbesuch schloss sie eine
landwirtschaftliche Lehre an, die jedoch nach 2 Jahren von der Patientin wegen fehlender
Zukunftsaussichten abgebrochen wurde. 1983 begann sie statt dessen eine Lehre als
Krankenschwester, welche sie abschloss. Sie ging 1990 erstmals für eine internationale
Organisation in den Südsudan. Sie war sich ihrer Berufswahl nicht sicher, weshalb sie
wieder nach Hause zurückkehrte und zunächst für 2 Jahre als Pflegedienstleiterin arbeitete.
Sie war dann für die internationale Organisation in Somalia, Sri Lanka und Ruanda
tätig.1995 wurde die Patientin nach Afghanistan geschickt und wechselte ein Jahr später
nach Tschetschenien.
In einer ersten Liebesbeziehung wurde die Patientin 1980 schwanger und ließ die
Schwangerschaft abbrechen. Sie hat aktuell eine Partnerschaft seit zirka Februar 1996, die
für sie auch eine Zukunftsperspektive bietet. Das Paar verliebte sich in Afghanistan, und die
Patientin wurde ein zweites Mal schwanger. Die Schwangerschaft wurde vor allem wegen
der schwierigen beruflichen Situation (Auslandseinsätze) in gegenseitigem Einvernehmen
Anfang August 1996 abgebrochen.
9.3.3
Krankheitsentwicklung
Zu den relevanten Entstehungsbedingungen gehören vermutlich die vielen Einzelerlebnisse
der Patientin über die vergangenen 4 Jahre in unterschiedlichen Krisengebieten. Ihr erster
Einsatz im Sudan beinhaltete sofort die Triage252 von Verletzten nach Bombenangriffen in
252
„Triage (frz): Auslese, Selektion, Auswahl v. Fällen; i. e. S. Einteilen d. Verletzten im
Katastrophenfall nach zunehmender Verletzungsschwere als (negatives)
Behandlungskriterium“. Quelle: PSCHYREMBEL, Willibald [Begr.]; Zink, Christoph
Seite 86
Falldarstellung
einzelnen Dörfern – und dies eigenverantwortlich und allein. Eine regelmäßige Reflexion
der Arbeit fand nicht statt. Sie entwickelte eine professionelle Grundhaltung, vor allem in
Ambivalenzkonflikten: «Soll ich mich schützen und weglaufen oder soll ich den Opfern
helfen? – Ich bin zum Helfen hier.»
Zwei spezielle Einzelerlebnisse in Ruanda und Afghanistan gingen der akuten Störung
unmittelbar voraus und werden von der Patientin damit in Verbindung gebracht. In Ruanda
1995 war sie zuständig für die Betreuung eines Gefängnisses und schildert wiederkehrende,
albtraumhafte Erinnerungen von toten Menschenleibern, Folterwunden, Fäkalien und
Unterernährung. In Afghanistan erlebte sie dann im November 1995 erstmals einen für sie
wahrnehmbaren
Kontrollverlust,
als
sie
während
einer
Besprechung
von
einem
Bombenabwurf überrascht wurde und im Sitzungssaal die Glasfront zerbarst. Sie dachte
dabei: «Oh Gott, nicht bei einer sterbenslangweiligen Sitzung sterben.» Sie berichtet auch
von psychovegetativen Reaktionen ihrerseits, die aber rasch abklangen.
Im Juni 1996 wurde sie dann erstmals in ihrer Laufbahn zur Versorgung eines Kollegen
gerufen, der von einer Patrouille mehrfach angeschossen worden war. Zu dieser Zeit hatte
sie mit ihrem neuen Partner eine intime Beziehung aufgenommen und stellte ihre eigene
Lebensplanung in Frage (bei der Organisation bleiben, weggehen, heiraten?). Der verletzte
Kollege habe an einer unbehandelten PTSD gelitten und deshalb in einer heiklen Situation
fehlreagiert, überlebte aber die Verletzungen. Bei ihr tauchten hier erstmals Ängste vor
Verstümmelungen auf und der Gedanke: «Ja, das kann auch uns (Helfern) passieren.»
Verstärkt wurde diese Erkenntnis durch eine zeitgleiche Meldung aus Burundi über drei
getötete Mitarbeiter, von denen sie einen gut kannte. In der Folge dieses Ereignisses blieb
die Patientin zunächst ruhig, distanziert und ging wie geplant in die Ferien.
Zur Auslösung des PTSD-Syndroms kam es dann Anfang September 1996 in Grosny. Die
Patientin wurde nach ihrem Urlaub in Tschetschenien eingesetzt. Bereits am Ankunftstag
wurde sie zu einem Verletzten gerufen, der versehentlich beim Waffenreinigen
angeschossen wurde. Während der Wundversorgung hatte die Patientin ein dissoziatives
Erlebnis: Sie sah sich selbst (von außerhalb ihres Körpers) handeln und sah sich
gleichzeitig in der Situation des Juni ’96 in Afghanistan. Die nachfolgenden Verrichtungen
seien «wie in Kabul» gewesen. Ihr ging durch den Kopf: «Soll das mein Job sein?» Der Tod
sei plötzlich sehr nahe gewesen, als ob sie ihn anziehen würde. Die Patientin fühlte sich
stark verunsichert. Ein starker Sturm begann, Glasscheiben zerbrachen, alle Mitarbeiter
sprangen auf (wie in Kabul während der oben erwähnten Sitzung: splitterndes Glas,
erschreckte Menschen, Klang von Detonationen), und die Patientin konnte sich in der Folge
nicht mehr beruhigen. Die Situation wurde für sie unkontrollierbar. Sie hatte Fluchtgedanken
und beschloss sehr energisch und rational: «Ich will nicht sterben, ich gehe morgen sobald
als möglich weg und ich schlafe heute Nacht nicht.» Auf einer visuellen Analogskala [von 0
(entspannt, funktionstüchtig) bis 10 (max. Anspannung, arbeitsunfähig)] schätzte sich die
Patientin nachträglich für diese Situation in Grosny an diesem Abend bei >10 ein.
[Bearb]; Dornblüth, Otto [Begr.]: Klinisches Wörterbuch, 255. Aufl. Berlin, New
York: de Gruyter, 1986. S. 1701.
Seite 87
Falldarstellung
Sie kehrte nach Hause zurück. Besonders belastend in der Folge erlebte die Patientin
dissoziative und paranoide Phänomene. Sie fühlte sich von Passanten bedroht, wollte ein
Baby im Kinderwagen «vor Bomben retten». Sie wurde für einige Wochen unter der
Diagnose einer PTSD stationär psychiatrisch behandelt. Mit einer Tagesdosis von 200 mg
Melleril®253 (Thioridazin) versuchte man vor allem die Schlafstörungen zu lindern.
Nach einer Selbsteinschätzung hat sich die allgemeine Anspannung im Laufe der
Hospitalisation um etwa ein Drittel gesenkt. Die aufrechterhaltenden Bedingungen umfassen
einerseits die konsequente Vermeidung aller Stimuli, die an Tod, Lärm und Szenen wie in
Ruanda, Afghanistan und Tschetschenien erinnern könnten. Die Patientin zog sich
andererseits von Mitmenschen zurück und litt unter den oben beschriebenen Symptomen
einer
PTSD.
Zugleich
(Übergeneralisierung,
war
sie
in
Katastrophisierung,
dysfunktionalen
All-Aussagen
Denkstrukturen
und
gefangen
Schwarzweißdenken).
Besonders relevant scheinen die Schlafstörungen zu sein, die einerseits Teil des Syndroms
sind, andererseits aber auch durch den inneren Entschluss «ich gehe nicht schlafen»
aufrechterhalten werden, da schlafen von der Patientin assoziiert wird mit: bewegungslos,
ausgeliefert, schutzlos; laufen hingegen stellte in der besagten Nacht in Grosny den Beweis
der Lebendigkeit dar.
9.4
Behandlungsplan
Die Patientin nahm an einer kognitiv-behavioralen Psychotherapie teil, die innerhalb von 2
Wochen mit 9 Terminen über 20 Therapiestunden durchgeführt wurde. Die Methode richtete
sich nach dem Manual «Cognitive Restructuring and Prolonged Exposure» [FOA et al.,
1994]254. Die Therapie diente zur Reduktion der affektiven und behavioralen Symptome der
PTSD. Die Therapie gliederte sich in folgende Einzelteile: Exposition in sensu und kognitive
Restrukturierung
nach
FOA
(Therapierationale
und
Programmablauf
erläutern,
psychoedukative Ergänzungen zur PTSD, Anleitung zur Protokollierung dysfunktionaler
Kognitionen, Tonbandaufnahmen der Exposition erklären und als Hausaufgaben mitgeben,
sechs Expositionen in sensu zu je 50 Minuten, begleitende kognitive Restrukturierung),
Erarbeitung einer Hierarchie aktuell vermiedener Tätigkeiten und Exposition in vivo (soweit
vertretbar), Beratung zur Schlafhygiene, Beendigung der Medikation und schließlich
Exploration weiterer Problemfelder.
9.4.1
Therapieverlauf
Die Patientin war sehr kooperativ und wollte am liebsten sofort mit der Therapie beginnen.
Sie war differenziert, bezüglich PTSD gut geschult, wie sie auch betonte. Sie schätzte es
253 Melleril®: Psychopharmaka aus der Gruppe der Neuroleptika, wirkt schwach
antipsychotisch, gut wirksam gegen Angst- und Spannungszuständen. Quelle: LAUX,
Gerd: Pharmakopsychiatrie. Unter Mitarb. von O. DIETMAIER und W. KÖNIG;
Stuttgart, New York: G. Fischer, 1992. S. 267
254
FOA E. B., HEARST-IKEDA D. E., DANCU C. V., HEMBREE E., JAYCOX L. H.:
Cognitive Restructuring and Prolonged Exposure (CR/PE) Manual. Medical College of
Pennsylvania and Hahnemann University at Eastern Pennsylvania Psychiatric Institute,
revised November 1994.
Seite 88
Falldarstellung
sehr, in diskursive Wortkämpfe zu geraten. Sie habe Mühe, sich etwas sagen zu lassen.
Dem Therapeuten fiel einerseits eine recht «bodenständige» Seite der Patientin auf,
andererseits auch der große innere Leidensdruck. Das hervorstechendste Merkmal ihrer
Persönlichkeit war eine starke Leistungsorientierung, der Wunsch, möglichst überall perfekt
zu sein. Die Patientin reflektierte ihr Handeln und Denken häufig auf einer anspruchsvollen
Metaebene, nannte es selbst «psychologisierend» und konnte trotzdem kritische
Anregungen im Gespräch annehmen.
Der erste Termin stand im Zeichen der gegenseitigen Information: von Seiten des
Therapeuten bezüglich der angebotenen Therapiestrategie, von Seiten der Patientin zu
ihren
Erwartungen
und
Beschwerden.
So
konnte
einerseits
ein
Therapievertrag
geschlossen, andererseits die Diagnose kritisch evaluiert werden. Bereits jetzt wurde mit ihr
die Schwierigkeit einer Expositionsbehandlung unter einer täglichen Einnahme von 200 mg
Melleril
besprochen, und sie war von sich aus bereit, ab sofort nur noch 100 mg zum
Schlafen einzunehmen. Beim zweiten Termin 6 Tage später (dazwischen lag ein
Wochenende) konnte mit der eigentlichen Exposition begonnen werden. Dabei war
eindrücklich, dass die Patientin zu Beginn auf einer visuellen Analogskala ein vierfach
höheres Angstniveau angab als während der Exposition und 45 Minuten danach. «Spitzen»
(hot spots) gab es keine. Am folgenden Tag dauerte die Exposition 50 Minuten und
erreichte gegen Ende den Wert von «knapp 100» (auf einer Skala von 0 bis 100). Dabei
stand als Thema zunächst die «auslösende» Situation in Tschetschenien im Mittelpunkt. Als
die Patientin sich jedoch an den konkreten Beginn der PTSD-Symptome erinnerte, kamen
zusätzlich Bilder aus Kabul und Burundi (wo sie zur Zeit des oben erwähnten Angriffs nicht
war). Diese Exposition soll beispielhaft näher geschildert werden:
Nach einleitender Entspannung beginnt die Patientin vom Flughafen im Heimatort zu
sprechen, schildert den «ungewohnten» Luxus eines Business-Class-Fluges via Moskau in
eine Nachbarrepublik Tschetscheniens. Sie imaginiert Gespräche mit Kollegen am
Vorabend ihrer Fahrt nach Grosny. Auf der Fahrt fällt ihr auf, dass diese Landschaft so ganz
anders aussieht als Afghanistan, das Ausmaß der Zerstörung sei jedoch wie in Kabul. Die
erste Nacht verläuft unruhig, die Patientin hört Schüsse, Hundegebell und wird dadurch auf
unangenehme Weise erneut an Kabul erinnert. Der nächste Tag beginnt mit Einarbeitung.
Am folgenden Tag wird die Patientin über Funk verständigt, sie solle einen Verletzten
versorgen. «Aha, schon wieder», denkt sie. Sie schildert diese Situation und wie sie sich
gleichzeitig nach Kabul zurückversetzt erlebt. An dieser Stelle geraten verschiedene
Szenen «durcheinander», einmal Grosny, dann auch Kabul, zudem von dritter Seite gehörte
Erzählungen aus Burundi und eine Beerdigungsszene einer Kollegin in der Heimat. Am
Ende steht die Erinnerung an den Abend des gleichen Tages in Grosny, als ein starker
Sturm Scherben bersten lässt, Schüsse in der Ferne erklingen und die Patientin sich nicht
mehr beruhigen kann. Fluchtgedanken treten auf, die Lage wird von ihr unkontrollierbar
erlebt, sie «beschließt», nicht sterben zu wollen.
Schon am nächsten Tag klang die «Geschichte» aus Tschetschenien deutlich geordneter
und löste eine maximale Angstspannung von 40 aus. Melleril
konnte an diesem Tag
gestoppt werden. In der nächsten Nacht trank die Patientin vermehrt Bier, um sicher
einzuschlafen. Dieses Verhalten konnte gut in seinem funktionalen Zusammenhang
Seite 89
Falldarstellung
diskutiert werden und wiederholte sich nicht. Am Ende dieser Sitzung brach die Patientin
von sich aus nach 40 Minuten ab, sie könne nicht mehr: «Es reicht mir heute», meinte sie.
Sie war zu dieser Zeit auf einem Niveau von 50, nachdem die Sitzung bei 20 begonnen
hatte. Sie beschrieb dabei auf die Frage, wann sie den größten Kontrollverlust erlebt habe,
eine Sitzung in Kabul, während der als Folge eines Bombenangriffs große Scheiben
zerbrachen. Am selben Abend sei dann auch eine Nachricht über getötete Mitarbeiter in
Burundi eingetroffen, die eine tiefe Betroffenheit auslöste. Am nächsten Therapietag
verweigerte sie die Exposition vollständig. Nach dem nächsten Wochenende hatte sich der
Zustand jedoch weiter verbessert. Die Patientin berichtete von einer ersten gut
durchgeschlafenen Nacht seit Grosny! Sie hatte auch eine Vernissage von Freunden
besucht und fühlte allgemein ein wiedererwachendes Selbstvertrauen. Während der
Exposition (Bilder aus Ruanda, Kabul und Tschetschenien) überschritt die innere
Anspannung nie den subjektiven Wert von 15, sondern lag meist bei 0. In der letzten
Sitzung kam keine innere Spannung mehr zustande, am Ende drängten sich Alltagsbilder in
die Imagination. Die Patientin meinte, was bisher wie ein Film vor ihr abgelaufen sei, habe
sich nun zu Diapositiven verändert, die einzeln vor ihr auftauchten, so als rutschten sie
einzeln durch den Projektor. Am Ende der Therapie wurden mit der Patientin allgemeine
Maßnahmen zur Angstbewältigung besprochen (vergleichbar denen bei der Therapie einer
agoraphoben Störung). Die kognitive Therapie fokussierte auf «Alles-oder-Nichts-Denken»
(«Entweder ist man ein Einheimischer, dann besteht Lebensgefahr, oder man ist eine
Helferin, dann geschieht einem schon nichts»), Übergeneralisierung («Alle dunkelhäutigen
Menschen sind brutale Mörder!»), absolut formulierte Aussagen mit «nie, immer, müssen»
(«Ich hätte meine Aufgaben nie im Stich lassen dürfen!») und Katastrophisierungen («Ich
werde nie wieder so gesund, wie ich einmal war»). Mit der Patientin wurden gedankliche
Alternativen gesucht, die dysfunktionale Überzeugungen relativieren konnten. Sie wurde
aufgefordert, im Sinn einer Realitätsprüfung, den Grad der Wahrscheinlichkeit der
automatischen Befürchtungen einzuschätzen. Bedrohlich erlebte Alltagssituationen wurden
gedanklich antizipiert, und verhaltensnahe Pläne zur Bewältigung wurden aufgestellt. Zu
diesem Zweck wurden Tagesprotokolle zur Identifizierung dysfunktionaler Gedanken und
zur Entwicklung rationaler Antworten hierauf geführt. Neben edukativen Erklärungen und
dem sokratischen Dialog wurde die Patientin auch zu einer funktionalen Einschätzung der
eigenen Bewältigungskompetenz angehalten. Zusammenfassungen am Schluss der
Therapiesitzungen durch die Patientin selbst ermöglichten einerseits, weiterbestehende
dysfunktionale Kognitionen zu erkennen, andererseits konnte die Patientin so in ihren
eigenen Worten den «therapeutischen Inhalt» wiedergeben.
9.4.2
Katamnese
(abschließender Krankheitsbericht)
Im Gespräch nach 4 Wochen erklärte die Patientin, dass sich der Zustand weiter stabilisiert
habe. Der Schlaf sei ungestört, sie fühle sich ausgeglichen und plane ihre weitere berufliche
und private Zukunft optimistisch. Nach einer subjektiven Einschätzung hatten sich die
PTSD-Symptome vollständig zurückgebildet. In einem Kontakt mit einem Vorgesetzten
traten anlässlich eines Berichts ihrerseits über den Krankheitsverlauf erneut ängstlichSeite 90
Falldarstellung
vermeidende Tendenzen auf. Diese konnten jedoch im Sinn der oben genannten
Therapiestrategie von der Patientin gut bewältigt werden. Nach 6 und 12 Monaten war der
Zustand weiterhin stabil.
9.5
Diskussion
Einerseits überraschte bei der beschriebenen Therapie, dass ein so rascher und deutlicher
Erfolg mit Hilfe des strukturierten Manuals auch bei einer PTSD gelang, die durch eine
andere Form des Traumas als Vergewaltigung oder andere Formen sexueller Gewalt
ausgelöst worden war. Andererseits ist «Exposition» als Therapiestrategie bisher auch z. B.
bei Vietnam-Veteranen, die – wie die Patientin – traumatisierende Kriegserlebnisse hatten,
erfolgreich erprobt worden. Hilfreich war, dass es sich bei der Patientin um eine sehr
differenzierte und gut vorinformierte Frau gehandelt hat. Die gute Patientin-TherapeutBeziehung, die sich relativ schnell aufbauen ließ, trug dazu bei, dass sich die Patientin auf
die Imaginationen einlassen konnte. Sie akzeptierte von Anfang an die Expertenrolle des
Therapeuten und hatte – wenn auch skeptische – optimistische Erwartungen bezüglich
eines Therapieeffekts.
Zu Beginn war unklar, welche der multiplen «Horrorszenen», die die Patientin in den vier
Jahren erlebt hatte, die entscheidende Auslösesituation darstellte. Eine kumulative
Belastung mit aufeianderfolgenden Belastungsreaktionen (eventuell auch in Form einer
ängstlich agitierten Depression) schien denkbar. Bei der Auswahl «der Bilder» diente der
Hinweis von E. B. FOA als Wegleitung: Das, was die Patientin als traumatisierend erlebte,
wird zunächst als relevante Information genutzt. Anders formuliert: Die gemiedenen
diskriminativen Hinweisreize stellen die signifikanten – und damit zu exponierenden –
Stimuli dar. Außerdem zeigte sich rasch, dass die Bedrohungssituation in Afghanistan von
den vielen vergleichbaren zuvor doch deutlich unterschieden war. Erstmals wurde die
Patientin
mit
einer
konkreten
Verletzung
der
körperlichen
Integrität
bei
einem
Berufskollegen konfrontiert, gleichzeitig erhielt sie die Nachricht, dass ein guter Bekannter
in Burundi gewaltsam zu Tode gekommen war. Diese Erlebnisse fanden vor dem
Hintergrund einer kritischen Lebensphase statt: Die Patientin hatte sich neu verliebt, dachte
über Ehe und Kinder nach, reflektierte in diesem Zusammenhang ihren Beruf kritisch. Sie
wurde schwanger und entschloss sich gemeinsam mit ihrem Partner zu einer – für sie
zweiten – Schwangerschaftsunterbrechung. Somit kann von einer besonders vulnerablen
affektiven Grundstimmung ausgegangen werden.
In der kognitiven Restrukturierung wurden die dysfunktionalen Schemata bezüglich der Welt
(«Alles ist schlecht und gefährlich») und bezüglich des eigenen Selbst («Ich bin
inkompetent») in ihren individuellen Ausgestaltungen modifiziert. Besonders auffällig in
diesem Zusammenhang war die Gewohnheit der Patientin, auch emotional extrem
belastende Ereignisse (Bombenangriffe, Todesfälle, Geiselnahme) mit «neutralen»
Begriffen zu benennen (unangenehm, unpraktisch, ungeschickt). Die Patientin diskutierte
aktiv Einwände von seiten des Therapeuten und war bald in der Lage, Veränderungen ihrer
Haltung und ihrer automatischen Gedanken sich selbst zu attribuieren. Die dabei
auftauchenden weiteren Problemkreise (Kinder bekommen, Beziehung zum aktuellen
Seite 91
Falldarstellung
Partner und zu den Eltern, Berufswahl) konnten problematisiert, strukturiert und beurteilt
werden. Am Ende der PTSD-Therapie zeigte sich kein Bedarf bezüglich einer
weitergehenden therapeutischen Bearbeitung dieser Problemfelder.
Besonderen Raum in den Gesprächen nahmen immer wieder Reflexionen zum Therapieziel
ein. Auch wenn primär eine Reduktion der Symptomatik angestrebt wurde, so stellte sich
doch die Frage, inwieweit es ethisch vertretbar sei, die Patientin für Kriegsgebiete mit realer
Lebensgefahr «fit zu machen». Eine Rückkehr zu den Einsatzgebieten war für die Patientin
zunächst unvorstellbar; sie wollte vor allem wieder «normal» leben können. Erst mit
zunehmender
Besserung
konnte
sie
sich
entspannt
und
realistisch
alternativen
Berufsplänen widmen. In der Literatur werden einige Faktoren genannt, die prognostisch
günstig für die Therapie sind [McFARLANE, 1988]255. In diesem Fallbeispiel war z. B.
vorteilhaft, dass prämorbide256 psychopathologische Auffälligkeiten fehlten. Die Patientin litt
an keinen komorbiden psychischen Störungen257, auch die Familienanamnese war
bezüglich psychischer Erkrankungen unauffällig. Auch die Tatsache, dass das Intervall
zwischen Beginn der PTSD und Anfang der Psychotherapie kurz war, erwies sich als
vorteilhaft. Darüber hinaus handelte es sich um eine motivierte und verbal differenzierte
Patientin mit einer bislang guten Lebensbewährung.
Der Verlauf dieser kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung entspricht einem
durchschnittlichen Therapieerfolg, wie er bei durch Vergewaltigungen traumatisierten
Frauen erreicht wird, die von E. B. FOA und ihren Mitarbeiterinnen nach dem von ihr
veröffentlichten Manual [FOA et al., 1994]258 therapiert werden. Eine Symptomreduktion
von etwa 60–70 %
und eine weitere Stabilisierung im anschließenden Intervall bis zur
Katamnese nach 3 bzw. 6 Monaten werden berichtet [ROTHBAUM und FOA, 1992]259.
255
MCFARLANE A. C.: „The longitudinal course of posttraumatic morbidity. The range of
outcomes and their predictors“, J. Nerv. Ment. Dis. 1988,176; 30–39.
256
„Prämorbidiät [zu —> prä... u. —> Morbus] w; -: Gesamtheit der
Krankheitserscheinungen, die sich bereits vor dem eigentlichen Ausbruch einer
Krankheit manifestieren (bes. bei Psychopathien)“. Quelle: DUDEN: Wörterbuch
medizinischer Fachausdrücke. hrsg. u. bearb. von d. Red. Naturwiss. u. Medizin
d. Bibliograph.; 3., vollst, überarb. u. erg. Aufl.; Mannheim, Wien, Zürich:
Bibliographisches Institut; Stuttgart: Thieme, 1979.
257
Komorbide psychische Störungen: Sind Krankheiten, die in Begleitung einer anderen
auftreten. „Das PTSD zeigt eine beträchtliche Komorbidität mit affektiven Störungen,
anderen Angststörungen, Substanzmissbrauch und Somatisierungen.“ Es treten gehäuft
auf: Ehe- u. Familienprobleme, gewalttätiges Verhalten, starkes Rauchen. Zitat und
Quelle: EHLERS, Anke: Posttraumatische Belastungsstörung, Göttingen, Bern,
Toronto, Seattle: Hogrefe, 1999. S. 10
258
FOA E. B., HEARST-IKEDA D. E., DANCU C. V., HEMBREE E., JAYCOX L. H.:
Cognitive Restructuring and Prolonged Exposure (CR/PE) Manual. Medical College of
Penn-sylvania and Hahnemann University at Eastern Pennsylvania Psychiatric Institute,
revised November 1994.
259
ROTHBAUM B.O., FOA E.B.: „Exposure therapy for rape victims with post-traumatic
stress disorder“, Behav. Therapist 1992,15; 219–222.
Seite 92
Klassifikationssysteme
10 Zusammenfassung
Stress
Stress wird definiert als unspezifische Reaktion des Körpers auf jegliche Anforderung, der er
ausgesetzt wird. ‘Stressor’ ist der Auslöser, der diese unspezifische Reaktion (nach SEYLE)
herbeiführt. Innerhalb dieser Arbeit wird für ‘Stressor’ folgende Definition gewählt: Ein
‘Stressor’ ist eine Umweltbedingung, die eine Stressreaktion auslöst.
Es wird zwischen ‘Eustress’ und ‘Distress’ unterschieden. Eustress bezeichnet im Großen
und Ganzen erwünschte Auswirkungen eines Stressors. Dies wird auch als angenehm
erlebt. Distress beschreibt im Wesentlichen unangenehme Erlebnisse und führt zu
Leistungsminderung.
Für das Erleben des Stress’ und seine Auswirkungen auf den Organismus ist auch die
gedankliche Verarbeitung des Stressors sehr wesentlich. Es laufen zwei kognitive
Bewertungsprozesse ab: Die Primärbewertung ergibt eine Beurteilung der Situation, ob eine
Beeinträchtigung entstehen könnte. In der Sekundärbewertung wird abgeschätzt, ob die
Bewältigungsressourcen ausreichen. Resultieren aus beiden Bewertungsprozesse ein
negative Ergebnisse, bewirkt das Ereignis eine Stressreaktion.
Stressablauf
Das Stressgeschehen läuft nach einem Schema ab: Zuerst erfolgt die Alarmreaktion, in
seiner heftigsten Form auch ‘Notfall-Reaktion’ genannt. In der weiteren Folge geht der
Organismus in die Widerstand-Phase über. In diesem Bereich normalisiert sich der
Organismus, bleibt aber in Alarmbereitschaft. Sollte der Stressor noch aufrecht bleiben,
kommt es zur Phase der Erschöpfung.
Posttraumatic Stress Disorder
Menschen können besonders schwere Belastungen erleben, wie z. B. schwere
Verletzungen, Bedrohung des eigenen Lebens, Vergewaltigung oder Naturkatastrophen, die
Hab und Gut zerstören. Diese Ereignisse können zu den ‘normalen’ Stressreaktionen auch
noch länger anhaltende, psychische Beeinträchtigungen nach sich ziehen. Noch nach
Monaten bzw. Jahren können sich betroffene Personen lebhaft an das belastende Ereignis
erinnern, werden von Albträumen geplagt und Gedächtnisstörungen erschweren das
Alltagsleben.
Diese
psychische
Beeinträchtigungen
‘Posttraumatische Belastungsstörung’ engl.
werden
mit
dem
Begriff
‘Posttraumatic Stress Disorder’ (PTSD)
zusammengefasst.
Entwicklung des Begriffes ‘PTSD’
Krankheitssymptome, die nach belastenden Ereignissen auftraten, wurden schon immer von
Menschen erlebt. Sie wurden auch in der Literatur beschrieben, aber früher noch nicht als
‘PTSD’ klassifiziert. Man dachte damals, diese Krankheitssymptome würden irgendwie
physisch durch das Ereignis ausgelöst, z. B. indem Bombensplitter in den Körper gelangten
Seite 93
Klassifikationssysteme
und so die Psyche irritierten. Erst spät, 1980, wurde das PTSD als psychische Störung in
eine Klassifikation der psychischen Störungen aufgenommen. Es wurde damals erstmals in
einer gesellschaftlich akzeptierten Form dokumentiert, dass die psychischen Symptome als
direkte Folge der akuten schweren Belastung oder des kontinuierlichen Traumas eintreten.
Im Anhang werden Kopien der derzeit gültigen Definitionen angeführt.
Primäre u. sekundäre Traumatisierung
Nicht nur jene Menschen, die das schrecklichen Ereignis selbst erleben mussten, d. h.
selbst verletzt und beinahe getötet worden wären, können ein PTSD ausbilden, sondern
auch die Helfer, wie Feuerwehrleute, Rot-Kreuz-Helfer, Sanitäter oder Krankenschwestern
(sie sind nicht unmittelbar vom Ereignis betroffen). Deshalb wird zwischen einer ‘Primären’
und einer ‘Sekundären Traumatisierung’ unterschieden.
Primär traumatisierte Menschen sind jene
Personen, die selbst vom Ereignis getroffen
wurden. Sekundär traumatisierte Menschen sind jene Personen, die irgendwie Zeuge des
Ereignisses geworden sind. Dies sind meistens Helfer, die den in Not geratenen Menschen
beistehen und sie retten bzw. heilen.
Der Krieg, ein Ereignis mit besonders hoch traumatisierendem
Potenzial für die gesamte Bevölkerung
Der amerikanische Psychiater Richard F. MOLLICA erforschte neuerlich die psychischen
Kriegsfolgen, revidierte die alte Anschauung ‘Krieg hätte eher weniger psychische Schäden
an der Bevölkerung ausgelöst’ und kam zum Schluss, dass ein Krieg der gesamten
Bevölkerung psychische Traumata in besonders hohem Maß zufügt und fast alle Bewohner
des Kriegsgebietes mit psychischen Schäden belastet sind.
Von diesem traumatisierenden Potenzial sind aber auch sehr stark die Helfer bedroht. Das
Fallbeispiel stellt das Schicksal einer Krankenschwester des Roten Kreuzes im humanitären
Hilfseinsatz in Tschetschenien dar, die wegen ihres PTSD aus dem Einsatz genommen
wurde. Durch eine Psychotherapie konnte sie in der Heimat geheilt werden.
Vorbeugende Maßnahmen gegen das PTSD
Für die in zivilisierten Ländern lebenden Menschen gibt es zur Prävention gegen das PTSD
eine Methode, das Critical Incident Stress Management. Es wurde von Jeffrey T.
MITCHELL und George S. EVERLY, zwei US-Amerikanern, entwickelt. Es zielt vor allem
auf die vorbeugende Abwehr des PTSD ab. Nach dem belastenden Ereignis werden mit den
Helfern Einsatz-Nachbesprechungen in Gruppensitzungen durchgeführt.
Therapie des PTSD
Weil starke Angst das Wiedererleben des belastenden Ereignisses begleitet, werden sehr
oft Tranquilizer angewendet. Diese Medikation hat aber eher ungünstige Effekte auf die
Heilung des PTSD. Gute Heilungschancen liegen in den Antidepressiva. Hier sind vor allem
die moderneren Formen, wie die selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRIs),
wirksam.
Seite 94
Klassifikationssysteme
Psychotherapie
Aus
der
Vielzahl
von
Therapieformen
sticht
mit
besonderer
Wirksamkeit
die
Verhaltenstherapie heraus. In Zusammenarbeit mit kognitiven Umstrukturierungen und
Entspannungstechniken lässt sich das PTSD erfolgreich behandeln. Das Fallbeispiel im
Anhang beschreibt eine gelungene Psychotherapie des PTSD.
Klassifikation des PTSD
Im Anhang wird die Klassifikation des PTSD dargestellt. Erst 1980 taucht das PTSD im
DSM-III auf. Es wurde dann laufend angepasst und liegt nun in der Version IV vor. Parallel
dazu ging die Entwicklung der Klassifikation des PTSD der World Health Organisation. Sie
wird in der ICD-10 festgelegt.
Seite 95
Klassifikationssysteme
Anhang
Seite 96
Klassifikationssysteme
11 Definition des PTSD nach internationalen
Klassifikationssystemen
1889 wurde das erste einheitliche Klassifikationschema psychischer Störungen auf einem
internationalen Kongress in Wien verabschiedet. Es war stark von KRAEPLINS Ansatz
beeinflusst, jedoch kam es in der Praxis fast nie zum Einsatz. 1939 wurde die in der Medizin
bereits gebräuchliche ‘International List of Causes of Death’ um eine Reihe psychiatrischer
Krankheiten erweitert. 1948 wurde dann dieses Verzeichnis in seiner sechsten Auflage von
der neugegründeten WHO zur International Classification of Diseases, Injuries and Causes
of Death erweitert (ICD-6), einschließlich einer Sektion V mit dem Titel Mental,
Psychoneurotic and Personality Disorders. Diese Klassifikation fand, obwohl von der
Konferenz einstimmig beschlossen, wenig Akzeptanz. Dies lag wohl vor allem daran, dass
man sich an unterschiedlichen Modellen des ätiologischen Verständnisses psychischer
Störungen orientierte. STENGEL (1959)260 schlug daher vor, operationale Definitionen zu
entwickeln, die nicht auf einem bestimmten psychopathologischen Verständnis fußen.
Des Weiteren ist der Versuch einer kategorialen Systematik nach klar voneinander
abgrenzbaren
Krankheitseinheiten
zu
Gunsten
einer
typologischen
Systematik
(Prototypenperspektive) aufgegeben worden (Mehrfachdiagnose möglich; nicht alle
Diagnosekriterien müssen erfüllt sein; Kriterien sollen qualitativ gewichtet sein - weder in der
ICD-10 noch im DSM-4; prototypische Merkmale sollen genannt werden).261
Das PTSD wird auch in den internationalen Klassifikationssystemen beschrieben. Es dient
dazu, dass Fachleute aus verschiedenen Kulturkreisen ein und dasselbe Störungsbild auch
einheitlich beschreiben. Dass dies trotz zweier, international anerkannter Manuale nicht so
einfach ist, wird auf Seite 54 kurz dargestellt.
Derzeit sind 2 Werke im Gebrauch:
‘Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders’ der American Psychatric
Association.
‘International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems’ (ICD10)
der World Health Organisation.
Beide Werke werden in den nachfolgenden Textteilen mit ihrer Klassifikation des PTSD
kurz dargestellt.
Obwohl schon Homer und Shakespeare in ihren Dichtungen um posttraumatischen Stress
wussten, wurde dessen Existenz von der Psychiatrie erst seit 1980 allgemein anerkannt und
als PTSD in das DSM III aufgenommen.262
260
keine näheren Angaben, zit. in http://www.uni-saarland.de/fak5/krause/kkol/dsmII5.htm.
261
Quelle: http://www.uni-saarland.de/fak5/krause/kkol/dsmII5.htm.
262
VAN DER KOLK, Bessel A.: http://traumatherapie.de/kolk.htm.
Seite 97
Klassifikationssysteme
11.1 Diagnostic and Statistical Manual of Mental
Disorders (DSM)
11.2 Allgemeines zum DSM
Name: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
Abkürzung: DSM**
Herausgeber: American Psychatric Association
11.2.1 Geschichte:
1. Auflage 1952 (der ‘Reaktionsbegriff’ von A. E. Meyer wird eingeführt)
DSM-II und ICD-8 1968 (‘Neurosenbegriff’ wird eingeführt)
DSM-III 1979 (‘Neurosenbegriff’ wird wieder aufgegeben)
DSM-III-R und ICD-9 1986 (Annäherung von DSM und ICD)
DSM-IV 1995 und ICD-10 1993 (ICD-Codes werden nun auch im DSM angegeben)
11.2.2 Merkmale
Der DSM-IV ist ein diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen, es ist
eine Diagnosenklassifikation der APA (American Psychiatric Association)263
Systematische Beschreibung (ohne Ätiologie) jeder Störung in folgenden Bereichen:
Diagnostische Merkmale, Subtypen, und/oder Zusatzcodierungen, Codierungsregeln,
zugehörige
Merkmale
Geschlechtsmerkmale,
und
Störungen,
Prävalenz,
besondere
Verlauf,
kulturelle,
Familiäres
Alters-
und
Verteilungsmuster,
Differentialdiagnose.
Das DSM zeigt eine multiaxiale Beurteilung in 5 Achsen:
1. Achse: alle psychischen Störungen (Ausnahmen: Persönlichkeitsstörungen,
spezifische Entwicklungsstörungen)
2. Achse: Persönlichkeitsstörungen, spezifische Entwicklungsstörungen
3. Achse: alle körperlichen Störungen und Zustände
4. Achse: Schwere der psychosozialen und umweltbedingten Belastungsfaktoren
5. Achse: globale Beurteilung der sozialen und beruflichen Anpassung
263
http://www.uni-saarland.de/fak5/krause/kkol/dsmII4.htm.
Seite 98
Klassifikationssysteme
11.3 Kriterien der Stress-Erscheinungen nach
DMS III-R264
A) Die Person ist von einem Ereignis betroffen, das außerhalb der üblichen menschlichen
Erfahrung liegt und das bei den meisten Menschen erhebliche Belastungssymptome
hervorrufen würde, z. B. Bedrohung des eigenen Lebens, Miterleben von Situationen in
denen die eigenen Kinder, der Ehepartner, Verwandte oder Freunde in Lebensgefahr
sind, Zerstörung des Heims und/oder Miterleben wie ein anderer Mensch verletzt oder
getötet wird.
B) Das traumatische Ereignis wird ständig wiedererlebt auf mindestens eine der folgenden
Weisen:
Wiederkehrende eindringliche und belastende Erinnerungen an das Ereignis (bei
Kindern auch spielerisches Wiederholen der traumatischen Situation).
Wiederholte und belastende Träume von dem Ereignis.
Plötzliches Handeln oder das Gefühl, als ob sich das traumatische Ereignis
gerade wiederholt (schließt Illusionen, Halluzinationen und "flash backs" ein,
auch solche, die beim Erwachen oder bei Intoxikation auftreten).
Erhebliche psychische Belastungen, wenn die Person Ereignissen ausgesetzt ist,
die die traumatische Situation symbolisieren oder ihr in bestimmten Aspekten
gleichen, einschließlich Jahrestage des traumatischen Ereignisses.
C) Ständiges Vermeiden von Stimuli, die in irgendeiner Weise mit dem Trauma
zusammenhängen oder Einengung der Reagibilität und verminderte Beteiligung an der
äußeren Welt (nicht vorhanden vor dem Trauma), was sich in mindestens drei der
folgenden Symptome zeigt:
Das Bemühen, mit dem Trauma zusammenhängende Gedanken und Gefühle zu
vermeiden.
Das Bemühen, Aktivitäten und Situationen zu vermeiden, die an das Trauma
erinnern.
Unfähigkeit, sich an bestimmte Aspekte des Traumas in Erinnerung zu rufen
(psychogene Amnesie).
Deutlich vermindertes Interesse an persönlich bedeutsamen Aktivitäten.
Gefühl der Lösung oder Entfremdung von anderen.
Eingeschränkter Affekt.
264
Quelle: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disordes. Third Edition, Revised.
Washington, D. C., American Psychiatric Association, 1987 (dt. Diagnostisches und
statistisches Manual psychischer Störunge: DSM III R. Weinheim: Beltz, 1989.
Seite 99
Klassifikationssysteme
Gefühl einer verkürzten persönlichen Zukunft, z. B. eine berufliche Karriere,
Heirat, langes Leben sind für den Betroffenen nicht vorstellbar.
D) Anzeichen eines gesteigerten Arousal (vor dem Trauma nicht vorhanden), nachgewiesen
durch mindestens zwei der folgenden Symptome:
Einschlaf- und Durchschlafstörungen.
gesteigerte Irritabilität oder Wutausbrüche.
Konzentrationsstörungen.
gesteigerte Wachsamkeit.
gesteigerte Schreckreaktion.
starke physiologische Reaktionen, wenn die Person Situationen ausgesetzt wird,
die dem Ereignis gleichen oder es symbolisieren. (z. B. bekommt ein Betroffener
Schweißausbrüche beim Betreten eines Fahrstuhls, wenn er vorher in einem
Fahrstuhl überfallen wurde.
E) Dauer der Störung (Symptome der Gruppen B,C,D ) für mindestens einen Monat. Ein
verzögerter Typus der PTSD liegt dann vor, wenn die Symptome frühestens sechs
Monate nach dem Trauma auftreten.
11.4 DMS-IV
11.4.1 Einfaches PTSD (DSM IV)265
A.
1. Lebensbedrohliches Erlebnis, gefolgt von
2. intensiver subjektiver Not.
B. Wiedererleben des Traumas:
1. wiederkehrende eindringliche Erinnerungen oder Wiederholung im Spiel;
2. wiederkehrende Albträume;
3. plötzliches Verhalten oder Empfinden, als ob das traumatische Ereignis
sich wiederholen würde;
4. intensive seelische Not, bedingt durch die wiederholte Konfrontation mit
Ereignissen, die an das Trauma erinnern;
5. physiologische Reaktionen bei erneuter Konfrontation.
265
SCHUBBE. O.: Institut für Traumtherapie, EMDRIA Deutschland e.V. Am Siebrassenhof
70, D- 33605 Bielefeld. Zusammengestellt 5/95 und aktualisiert 10/96: Quelle: VAN DER
KOLK Bessel A. van der Kolk, M.D, http://traumatherapie.de/pgkolk1.htm.
Seite 100
Klassifikationssysteme
C. Anhaltendes Vermeidungsverhalten oder Betäubtsein der allgemeinen
Ansprechbarkeit:
1. angestrengtes Vermeiden von mit dem Trauma verbundenen Gedanken
oder Gefühlen;
2. angestrengtes Vermeiden von Aktivitäten;
3. psychogene Amnesie;
4. vermindertes Interesse an vormals wichtigen Aktivitäten;
5. Gefühle von Distanziertheit und der Entfremdung;
6. Gefühl einer verstellten Zukunft.
D. Anhaltende Symptome erhöhter Erregbarkeit:
1. Ein- und/oder Durchschlafstörungen;
2. Gereiztheit oder Wutausbrüche;
3. Konzentrationsschwierigkeiten;
4. Überwachsamkeit;
5. übermäßige Schreckhaftigkeit.
11.4.2 Kompliziertes PTSD
Zur Erweiterung des Begriffes PTSD wird noch eine weitere, schwerere Form beschrieben.
Dies wird aber nur als Vorschlag der PTSD-Gutachterkommission beschrieben. VAN DER
KOLK meint dazu:
„Angesichts der Tatsache, daß Traumata in frühem Alter tiefgreifende Auswirkungen auf
die Affektregulation und Bewusstseinszustände haben und Einfluss darauf nehmen, wie
Erfahrungen auf der somatischen Ebene organisiert werden und wie die Persönlichkeit
sich an das chronische Erleben von Gefahr und Furcht anpaßt, hat die PTSDGutachterkommission im Rahmen der Vorbereitung von DSM IV eine erweiterte Definition
von PTSD empfohlen. Bislang hat nur das ICD-10 (das internationale Diagnosenglossar
der WHO), aber noch nicht die DSM-Klassifizierung die anhaltenden Folgen von Traumata
auf alle Persönlichkeitsfunktionen eines Menschen anerkannt. Nachfolgende Aufstellung
zeigt die einzelnen Elemente der für das DSM IV vorgeschlagenen Definition von
‘Schwerem PTSD’.“266
Die Definition des komplizierten PTSD267
1. Beeinträchtigte Regulation von Affekten und Impulsen:
266
VAN DER KOLK; Bessel, A.: http://traumatherapie.de/pgkolk2.htm.
267
Quelle: http://traumatherapie.de/pgkolk2.htm; Content & Design Schubbe 1994, letzte
Änderung am 22.05.00.
Seite 101
Klassifikationssysteme
a. Affektregulation
b. Modulation von Zorn
c. Selbstzerstörung
d. Suizidgedanken
e. Schwierigkeit, sexuelle Aktivität zu modulieren
f. exzessives Risikoverhalten
2. Aufmerksamkeitsstörungen oder Bewusstseinstrübungen:
a. Amnesie
b. vorübergehende dissoziative Episoden und Depersonalisation
3. Somatisierungen:
a. Verdauungsstörungen
b. chronische Schmerzen
c. kardiopulmonäre Symptome
d. Konversionssymptome
e. gestörte Sexualität
4. Störungen der Selbstwahrnehmung:
a. Hilflosigkeit
b. permanenter Schaden
c. Schuld und Verantwortlichkeit
d. Scham
e. Gefühl des Unverstandenseins
f. Herabsetzung der eigenen Person
5. Gestörte Wahrnehmung des Angreifers:
a. Übernahme verdrehter Ansichten
b. Idealisierung des Angreifers
c. exzessive Beschäftigung mit Rachephantasien
6. Gestörte Beziehungen zur Umwelt:
a. Unfähigkeit zu vertrauen
b. Wieder zum Opfer werden
c. Andere zu Opfern machen
7. Gestörte Motivation und Orientierung:
a. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit
b. Verlust früherer persönlichkeitsstabilisierender Überzeugungen
Seite 102
Klassifikationssysteme
Quelle: http://traumatherapie.de/pgkolk2.htm; Content & Design Schubbe 1994, letzte
Änderung am 22.05.00
11.5 Das Klassifikationssystem ICD10
11.5.1 Internationale Klassifikation der Krankheiten
10. Revision
Die Abkürzung ICD steht für "International Statistical Classification of Diseases and Related
Health Problems"; die Zahl 10 bezeichnet die 10. Revision. Diese Klassifikation wurde von
der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation) erstellt und vom Deutschen
Institut
für
übertragen.
Medizinische
268
Dokumentation
und
Information
(DIMDI)
ins
Deutsche
Die nachfolgenden Texte sind eine Kopie der SYSTEMATIK ONLINE, SGB-
V-Ausgabe V2.0, des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information,
Waisenhausgasse 36 - 38 a, D-50676 Köln269
Kernklassifikation der ICD-10 ist der dreistellige Schlüssel, der für die internationalen
Meldungen der Todesursachendaten an die WHO, sowie für allgemeine internationale
Vergleiche,
verbindlich
ist.
Die
vierstelligen
Subkategorien
sind
zwar
für
die
Berichterstattung auf internationaler Ebene nicht verbindlich, werden jedoch für viele
Anwendungszwecke empfohlen und sind ebenso wie die "Sonderverzeichnisse zur
Tabellierung der Mortalität und Morbidität" ein integraler Bestandteil der ICD.
11.5.2 Die Beschreibung des Störungsbildes im ICD10
F43.- Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen:
Die Zahl ‘F43’ ist innerhalb der ICD ein Index für die Kapitel-Nummerierung und ihre
Untergliederung: ‘F’ wird das Kapitel V ‘Psychische und Verhaltensstörungen’
benannt. Die zweite Indexzahl läuft von 00 bis 99. Die hier vorliegende Indexzahl
von 43 ordnet die Symptome in die Unterkapitel ‘Neurotische, Belastungs- und
somatoforme Störungen’ ein (F40 - F48). (Anmerkung der Verfasserin) Der
nachfolgende Text ist eine Kopie des DIMDI.
Die Störungen dieses Abschnittes unterscheiden sich von den übrigen nicht nur aufgrund
der Symptomatologie und des Verlaufs, sondern auch durch die Angabe von ein oder zwei
ursächlichen Faktoren: ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis, das eine akute
Belastungsreaktion hervorruft, oder eine besondere Veränderung im Leben, die zu einer
268
Das DIMDI ist im Rahmen seiner gesetzlichen Aufgaben für die Herausgabe
deutschsprachiger Fassungen amtlicher Klassifikationen im Auftrag des
Bundesministeriums für Gesundheit zuständig. Dazu gehören die Internationale
Klassifikation der Krankheiten (ICD-9, ICD-10), der Operationenschlüssel nach
Paragraph 301 Sozialgesetzbuch V (OPS-301) und die Nomenklatur für
Medizinprodukte (UMDNS). Darüberhinaus erstellt DIMDI die deutsche Übersetzung des
Thesaurus Medical Subject Headings (MeSH), der jährlich aktualisiert wird. Quelle:
http://www.dimdi.de.
269
http://www.dimdi.de/germ/klassi/icd10/htmlsgbv20/fr-icd.htm.
Seite 103
Klassifikationssysteme
anhaltend unangenehmen Situation geführt hat und eine Anpassungsstörung hervorruft.
Obwohl weniger schwere psychosoziale Belastungen ("life events") den Beginn und das
Erscheinungsbild auch zahlreicher anderer Störungen dieses Kapitels auslösen und
beeinflussen können, ist ihre ätiologische Bedeutung doch nicht immer ganz klar. In jedem
Fall hängt sie zusammen mit der individuellen, häufig idiosynkratischen Vulnerabilität 270,
das heißt, die Lebensereignisse sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten
und die Art der Krankheit zu erklären. Im Gegensatz dazu entstehen die hier aufgeführten
Störungen
immer
als direkte Folge der akuten schweren Belastung oder des
kontinuierlichen Traumas. Das belastende Ereignis oder die andauernden, unangenehmen
Umstände sind primäre und ausschlaggebende Kausalfaktoren, und die Störung wäre ohne
ihre Einwirkung nicht entstanden. Die Störungen dieses Abschnittes können insofern als
Anpassungsstörungen bei schwerer oder kontinuierlicher Belastung angesehen werden, als
sie erfolgreiche Bewältigungsstrategien behindern und aus diesem Grunde zu Problemen
der sozialen Funktionsfähigkeit führen.
F43.0 Akute Belastungsreaktion:
Eine vorübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten
Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung
entwickelt, und die im allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt. Die
individuelle Vulnerabilität und die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen
(Coping-Strategien)
spielen
bei
Auftreten
und
Schweregrad
der
akuten
Belastungsreaktionen eine Rolle. Die Symptomatik zeigt typischerweise ein gemischtes und
wechselndes Bild, beginnend mit einer Art von "Betäubung", mit einer gewissen
Bewusstseinseinengung und eingeschränkter Aufmerksamkeit, einer Unfähigkeit, Reize zu
verarbeiten und Desorientiertheit. Diesem Zustand kann ein weiteres Sichzurückziehen aus
der Umweltsituation folgen (bis hin zu dissoziativem Stupor, siehe F44.2) oder aber ein
Unruhezustand und Überaktivität (wie Fluchtreaktion oder Fugue). Vegetative Zeichen
panischer Angst wie Tachykardie, Schwitzen und Erröten treten zumeist auf. Die Symptome
erscheinen im allgemeinen innerhalb von Minuten nach dem belastenden Ereignis und
gehen innerhalb von zwei oder drei Tagen, oft innerhalb von Stunden zurück. Teilweise
oder vollständige Amnesie (siehe F44.0) bezüglich dieser Episode kann vorkommen. Wenn
die Symptome andauern, sollte eine Änderung der Diagnose in Erwägung gezogen werden.
Akut:
Belastungsreaktion
Krisenreaktion
Kriegsneurose
Krisenzustand
Psychischer Schock
F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung:
270
Vulnerabilität: Verwundbarkeit, Verletzbarkeit. Quelle: DUDEN: Wörterbuch
medizinischer Fachausdrücke. hrsg. u. bearb. von d. Red. Naturwiss. u. Medizin d.
Bibliograph.; 3., vollst, überarb. u. erg. Aufl.; Mannheim, Wien, Zürich:
Bibliographisches Institut; Stuttgart: Thieme, 1979. S. 737.
Seite 104
Klassifikationssysteme
Diese entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis
oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder
katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.
Prädisponierende
Faktoren
wie
bestimmte,
z. B.
zwanghafte
oder
asthenische
Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte können die
Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren, aber
die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der
Störung zu erklären. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich
aufdrängenden
Erinnerungen
(Nachhallerinnerungen,
Flashbacks),
Träumen
oder
Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und
emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen
Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung
von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist
tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen
Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den
genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten.
Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern
kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung
erwartet werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen
Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F62.0) über. In diese
Kategorie wird die Traumatische Neurose eingeordnet.
F43.2 Anpassungsstörungen:
Hierbei handelt es sich um Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotionaler
Beeinträchtigung, die im allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern und
während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder
nach belastenden Lebensereignissen auftreten. Die Belastung kann das soziale Netz des
Betroffenen beschädigt haben (wie bei einem Trauerfall oder Trennungserlebnissen) oder
das weitere Umfeld sozialer Unterstützung oder soziale Werte (wie bei Emigration oder
nach Flucht). Sie kann auch in einem größeren Entwicklungsschritt oder einer Krise
bestehen (wie Schulbesuch, Elternschaft, Misserfolg, Erreichen eines ersehnten Zieles und
Ruhestand). Die individuelle Prädisposition271 oder Vulnerabilität spielt bei dem möglichen
Auftreten und bei der Form der Anpassungsstörung eine bedeutsame Rolle; es ist aber
dennoch davon auszugehen, dass das Krankheitsbild ohne die Belastung nicht entstanden
wäre. Die Anzeichen sind unterschiedlich und umfassen depressive Stimmung, Angst oder
Sorge (oder eine Mischung von diesen). Außerdem kann ein Gefühl bestehen, mit den
alltäglichen Gegebenheiten nicht zurechtzukommen, diese nicht vorausplanen oder
fortsetzen zu können. Störungen des Sozialverhaltens können insbesondere bei
Jugendlichen ein zusätzliches Symptom sein.
271
Prädisposition: besonders ausgeprägte Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten. Quelle:
DUDEN: Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke. hrsg. u. bearb. von d. Red.
Naturwiss. u. Medizin d. Bibliograph.; 3., vollst, überarb. u. erg. Aufl.; Mannheim, Wien,
Zürich: Bibliographisches Institut; Stuttgart: Thieme, 1979. S. 566.
Seite 105
Klassifikationssysteme
Hervorstechendes Merkmal kann eine kurze oder längere depressive Reaktion oder eine
Störung anderer Gefühle und des Sozialverhaltens sein. In dieser Kategorie ist auch
Hospitalismus272 bei Kindern, Kulturschock, Trauerreaktion anzusiedeln
F43.8 Sonstige Reaktionen auf schwere Belastung
F43.9 Reaktion auf schwere Belastung, nicht näher bezeichnet
272
Hospitalismus: „Sammelbez. für alle körperlichen und seelischen Veränderungen, die ein
längerer Krankenhaus- oder Heimaufenthalt (bes. bei Kindern) mit sich bringt.“ Quelle:
DUDEN: Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke. hrsg. u. bearb. von d. Red.
Naturwiss. u. Medizin d. Bibliograph.; 3., vollst, überarb. u. erg. Aufl.; Mannheim, Wien,
Zürich: Bibliographisches Institut; Stuttgart: Thieme, 1979. S. 331.
Seite 106
Klassifikationssysteme
Seite 107
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