Drogenpolitik in Europa und Deutschland

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Titel
Drogenpolitik
Drogenpolitik in Europa und Deutschland
Institutionen, Befugnisse, Aufgaben und Ziele
Politik und Drogen – ein
schwieriges Feld. Drogenpolitik regelt den Umgang
mit Drogen in einer Gesellschaft. Konkret bedeutet dies in Deutschland,
Einfluss darauf zu nehmen,
dass weniger Drogen
angeboten und nachgefragt werden. Dabei kann
die Definition von „Droge“
bereits die erste Falle sein.
Sind mit Drogen lediglich
die Substanzen gemeint,
die im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) in den Anlagen
Rolf Hüllinghorst
1 bis 3 aufgeführt sind
und damit nicht frei gehandelt werden dürfen? Oder sind alle
Substanzen, die psychotrope Wirkungen haben und zur Abhängigkeit führen können, gemeint? Geht es „nur“ um Heroin,
Kokain, Cannabis, Ecstasy und Designerdrogen – oder auch
um die Volksdrogen Tabak, Alkohol und abhängig machende
Medikamente? In diesem Artikel steht die Drogenpolitik im
Sinne des Umgangs mit illegalen Drogen im Mittelpunkt. Es
sollen die Fragen beantwortet werden, ob es aktuell so etwas
wie eine Drogenpolitik gibt, wer die Akteure sind, auf welcher
Ebene gehandelt oder nicht gehandelt wird. In der Zusammenfassung wird aufgezeigt, was drogenpolitisch zu tun bleibt.
Drogenpolitik weltweit
Der Umgang mit psychotrop wirkenden Drogen in fast allen Staaten
der Welt beruht auf den Suchtstoffübereinkommen von 1961, 1971
und 1988. Bei den Vereinten Nationen wurden zur Kontrolle dieser
Übereinkommen das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und
Verbrechensbekämpfung (UNODC) bzw. der Internationale Suchtstoffkontrollrat (INCB) gegründet. Diese Internationalen Behörden
wachen weltweit über die Einhaltung der Vereinbarung. Das geschieht
auf der einen Seite durch eine genaue Beobachtung des Drogenanbaus,
auf der anderen Seite aber auch durch Überwachung der nationalen
Drogenpolitiken. So gibt es nach wie vor unterschiedliche Auffassungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, anderen europäischen
Staaten und dem INCB, ob der Betrieb von Drogenkonsumräumen
mit den geltenden Übereinkommen vereinbar ist.
Vom Produzenten zum Konsumenten
Seit ungefähr 20 Jahren ändert sich das Bild. Gab es bis dahin auf der
einen Seite Staaten, in denen Drogen produziert und auf der anderen
Seite Staaten, in denen diese konsumiert wur­den, so berichten jetzt
auch die Erzeugerstaaten über wachsen­de drogenbezogene Probleme
in ihren Ländern. Auch des­halb verschieben sich die Schwerpunkte
der Drogenpolitik in fast allen Ländern. Auf der einen Seite stehen die
Beeinflussung des Angebots und die Bekämpfung des Drogenmarktes
durch die Polizei, auf der anderen Seite verstärkte Bemühungen, Drogenabhängigen zu helfen.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Drogen produzierenden
Länder in der Regel Staaten sind, in denen die Menschen so gut wie
keine Alternative zum Anbau von Drogenpflanzen haben. Es gibt es
kaum Infrastruktur, die für die Vermarktung anderer landwirtschaftlicher Produkte erforderlich wäre. Deshalb hat die Entwicklungszusammenarbeit gerade mit Drogen produzierenden Staaten einen hohen
Stellenwert. Weniger Drogenanbau in Asien und Südamerika bedeutet
weniger Angebotsdruck in Europa.
Drogenpolitik in Europa
Eine der Aufgaben der Europäischen Union (EU) ist es, dafür zu sorgen, dass die Bewohner Europas in den jeweiligen Mitgliedsstaaten
die gleichen Lebensbedingungen vorfinden. Das betrifft sowohl das
Angebot von Drogen – das es nach Auffassung der EU zu reduzieren
gilt – als auch das Angebot der Hilfen für Menschen mit Drogenproblemen. Um dies zu erreichen, werden die politischen Werkzeuge
der EU eingesetzt. Die Europäische Kommission in Brüssel ist quasi
die Regierung der EU, jedes Land stellt einen Kommissar. Beschlüsse
werden vorbereitet, sowohl für das Europäische Parlament als auch für
die Konferenzen der Mitgliedsstaaten.
Abläufe in der Europäischen Politik
Die Europäische Politik verläuft langfristig und ist zielorientiert. Bei
Vorlagen fällt auf, dass die bisher zu einem Thema gefassten Beschlüsse
immer wieder aufgeführt werden. Daraus wird abgeleitet, was bisher getan wurde und was zukünftig zu tun ist. In der Regel wird bei
Problemen oder Aufgaben zunächst ein so genanntes „Grünbuch“
erarbeitet. In diesem Papier wird das Problem umfassend beschrieben
und erste Lösungsansätze werden aufgezeigt. Im Wesentlichen ist es
aber eine Grundlage, zu der die Mitgliedsstaaten, europäische und
nationale Interessenverbände sowie Bürgerinnen und Bürger Stellung
nehmen können. Unter Einbeziehung all dieser Stellungnahmen – gewichtet und bewertet durch die Europäische Kommission unter Einbeziehung der Kompetenz der Mitgliedsstaaten – wird das Grünbuch
zum „Weißbuch“, welches die politisch zu ergreifenden Maßnahmen
auflistet und beschreibt.
Die nächste Stufe der Themenbehandlung ist eine „Strategie“, in der
konkret beschrieben wird, wer was zu tun hat. Die Strategie ist für die
Mitglieder verpflichtend. Aktuell gültig ist die EU-Drogenstrategie
von 2005 bis 2012.
Auf der Basis der Strategie legte die Kommission einen Drogenaktionsplan (2005-2008) vor. Dieser wurde inzwischen evaluiert und für die
Jahre 2009 bis 2012 fortgeschrieben.
Um die Europäische Drogenstrategie zu unterstützen und allen Staa-
Erschienen in: KONTUREN. Fachzeitschrift zu Sucht und sozialen Fragen; Ausgabe 1-2010, S.14-18.
Ko–NTUREN 14
1-2010
ten die Möglichkeit der Beteiligung zu geben, wird aufbauend auf der
Strategie bzw. dem Aktionsplan ein Programm erarbeitet, für dessen
Umsetzung Geld im Haushalt bereitgestellt wird. So haben die Mitgliedsstaaten bzw. interessierte Bewerber die Möglichkeit, europaweit
oder zumindest im Zusammenspiel mit Partnern aus anderen EULändern Projekte zu entwickeln und durchzuführen, um Hilfen zu
verbessern und anzugleichen. Eines der letzten und wichtigen Projekte
war eine umfangreiche Studie zum Vergleich der Drogenforschung in
der EU, die federführend vom Institut für Therapieforschung (IFT) in
München durchgeführt wurde (www.ift.de bzw. www.dbdd.de).
Begleitet wird die Arbeit der Europäischen Kommission durch Foren.
So gibt es im Bereich der Drogenpolitik in der Generaldirektion Justice, Freedom and Security das Forum „Drogen und Zivilgesellschaft“.
Aus Deutschland vertritt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen
(DHS) als Dachverband der meisten Nicht-Regierungsorganisationen
(NGOs) auf diesem Arbeitsfeld die Zivilgesellschaft. Die Foren, die es
auch in anderen Generaldirektionen gibt, sind ein Werkzeug der Kommission, um auf den unterschiedlichen Arbeitsfeldern ausreichend und
aktuell informiert zu sein.
Alle Beschlüsse, Maßnahmen, Strategien usw. sind öffentlich und im
Internet auch in deutscher Sprache zu verfolgen unter:
http://ec.europa.eu/justice.
Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht
(EBDD)
Neben der Erarbeitung und Umsetzung von Strategien sind die Europäischen Agenturen ein wichtiges Instrument der Problembeschreibung, der Berichterstattung und der Politikberatung. Die Europäische
Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht mit Sitz in Lissabon
wurde 1993 gegründet und verfügt aktuell über knapp 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Am Anfang stand in erster Linie die Dokumentation der Angebotssituation in den Mitgliedsstaaten, inzwischen
stehen zusätzlich die Weiterentwicklung der Hilfen für Menschen mit
Drogenproblemen sowie die Prävention auf der Tagesordnung.
Eine wichtige Rolle spielen dabei die Publikationen. Auf der einen Seite die regelmäßig erscheinenden Berichte über die Drogensituation in
Europa (der Bericht für das Jahr 2009 ist im Internet – auch in deutscher Sprache – nachzulesen unter www.emcdda.europa.eu). Auf der
anderen Seite sind es immer mehr Beiträge über Forschungsprojekte
oder über besondere Vergleichsstudien, wie z. B. von schwer erreichbaren Abhängigen. Ziel ist es, Praxis, Wissenschaft und Politik über den
Stand zu informieren und eine weitere Entwicklung hin zur Reduzierung der Drogenprobleme als Voraussetzung für die Chancengleichheit der Bürgerinnen und Bürger in allen Mitgliedsstaaten anzuregen.
Die Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht
(DBDD)
Ohne die Zuarbeit aus den Mitgliedsstaaten wäre eine Europäische
Agentur wie die EBDD in Lissabon kaum denkbar. So wurden in allen
Mitgliedsstaaten, aber auch in der Schweiz, in Norwegen und Staaten,
die eine Aufnahme in die EU beantragt haben, Knotenpunkte (im
Englischen wird von „National focal points“ gesprochen) gegründet.
Diese sind sehr unterschiedlich organisiert. Allein ein Blick auf die
Organisation und Ausstattung der Knotenpunkte lässt erkennen, wie
unterschiedlich die Staaten das Drogenproblem angehen und wo sie
ihre Schwerpunkte setzen. In manchen Ländern sind die Knotenpunkte Abteilungen des Gesundheitsministeriums, in anderen gehört der
Knotenpunkt zur Polizei. Manchmal sind es eigenständige Einheiten,
manchmal unterstehen sie direkt der Regierung.
Die Situation in Deutschland unterscheidet sich von allen anderen
Staaten und ist ein gutes Beispiel für die Zuständigkeiten und die notwendige Interdisziplinarität der Arbeit.
Die Federführung liegt beim IFT in München. Dieses Institut ist vom
Gesundheitsministerium mit der jährlichen Zusammenfassung der
Deutschen Suchthilfestatistik auf der einen Seite und der Repräsentativerhebung zum Konsum von Suchtmitteln, die alle drei bis vier Jahre
erhoben wird, auf der anderen Seite beauftragt. Dies sind Basisdaten
für die Berichterstattung an die EBDD.
Der zweite Partner ist die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Sie deckt auf der einen Seite die (Drogen-)Prävention
im Rahmen des Knotenpunktes ab, auf der anderen Seite stellt sie die
Ergebnisse der alle vier Jahre durchgeführten Drogenaffinitätsstudie
zur Verfügung, einer Umfrage unter 12- bis 25-Jährigen in Deutschland zu ihrem Konsumverhalten.
Der dritte Partner ist die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen
(DHS), die in Deutschland – neben anderen Trägerverbänden – vor
allen Dingen die Nicht-Regierungsorganisa­tio­nen in der Hilfe für
Drogenabhängige vertritt.
Gemeinsam vertreten die Partner die EBDD in Deutschland, und
gemeinsam werden auch die entsprechenden Berichte für die europäische Ebene erstellt. Sie können eingesehen werden sowohl unter www.
dbdd.de als auch unter www.emcdda.­europa.eu.
Die Datenbank EDDRA
Ein wichtiges Werkzeug zur Weiterentwicklung von Hilfeangeboten
und Präventionsprogrammen sind Datenbanken erfolgreicher Projekte, die zur allgemeinen Einsicht und Verwendung zur Verfügung
gestellt werden. In diese Datenbanken werden Projekte eingestellt,
die wissenschaftlich überprüft wurden und deren Wirksamkeit im
Hinblick auf eine definierte Zielgruppe erwiesen ist. Es ist – natürlich
unter Berücksichtigung der kulturellen Besonderheiten der Anwender
– möglich, auf Erfahrungen zurück zu greifen, ohne Aufwand für
Entwicklungsarbeit einsetzen zu müssen.
EDDRA ist ein mehrsprachiges Informations- und Datenbanksystem
für evaluierte Suchthilfe-Programme. Die Abkürzung steht für „Exchange on Drug Demand Reduction Action“. Die EDDRA wurde
zunächst für Präventionsprojekte entwickelt, bietet nun aber auch eine
große Auswahl an Projekten, die der besseren Erreichbarkeit von Drogenkonsumenten und Drogenabhängigen dienen. Informationen in
deutscher Sprache gibt es im Internet unter www.dbdd.de und www.
dhs.de.
Eine entsprechende Datenbank für Präventionsprojekte in Deutschland bietet die BZgA unter www.prevnet.de an.
Drogenpolitik in Deutschland
Ungefähr seit 1970 ging es immer dann, wenn von Sucht die Rede
war, um die illegalen Drogen. Jeder wusste, dass die Probleme mit
den legalen Suchtmitteln Tabak, Alkohol und Medikamenten zwar
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15 Ko–NTUREN
Titel
Drogenpolitik
weitaus größer waren – aber das Drogenproblem war neu, für viele
Menschen faszinierend, und der Drogenkonsum betraf in erster Linie
junge Menschen. Das verursachte Betroffenheit und förderte die Bereitschaft, etwas zu tun. Dominierend war das Bild der „Drogenwelle“.
Es vermittelte das Gefühl, dass bei entsprechendem Einsatz die Wellen
kleiner werden, zumindest aber ein Wellental erreicht werden könnte.
All das hat sich nicht bewahrheitet – der Umgang mit Drogen wurde
Normalität. Die Hilfe für Drogenabhängige geschah nicht mehr nach
den Prinzipien von Versuch und Irrtum. Inzwischen gibt es Standards,
die in der Behandlung ihren Platz haben und dazu führten, dass der
Behandlungspessimismus einem realistischen Bild Platz machte, dass
Erfolge erzielt werden können.
Seit ca. vier bis fünf Jahren hat sich das Bild wieder gewandelt. Jetzt
stehen die legalen Suchtmittel wieder im Fokus. Auf der einen Seite,
weil sie zahlenmäßig eine wesentlich höhere Bedeutung haben, auf der
anderen Seite aber auch, weil es in erster Linie um Kinder und Jugendliche geht. Koma-Saufen sei hier nur als Stichwort genannt.
Drogenpolitik und Drogenhilfe
Stellt sich also die Frage, warum es im Arbeitsfeld der Drogenhilfe
einen so großen Einfluss der Politik gibt. Der Grund liegt wieder in
den internationalen Absprachen. Wenn Deutschland unterschrieben
hat, dass zum Beispiel Heroin nicht verkehrsfähig ist und auch nicht
mit Sondergenehmigungen gehandelt, ja nicht einmal verschrieben
werden darf, dann ist es gehalten, diese Übereinkommen in nationales
Recht umzusetzen. Den gesetzlichen Rahmen für Verordnungen dieser
Art bildet das Betäubungsmittelgesetz. Da dieses Gesetz den Umgang
mit Substanzen auf unterschiedlichen Stufen regelt, muss es bei veränderten Bewertungen oder neuen Maßnahmen entsprechend geändert
werden.
Das Betäubungsmittelgesetz
Die große Diskussion der 80er Jahre über die Substitution, also die
Behandlung von Drogenabhängigen mit einem Ersatzstoff, wurde
über das Betäubungsmittelgesetz geführt. Hier musste – durch den
Gesetzgeber – geregelt werden, welcher Stoff, welches Betäubungsmittel, verschrieben werden darf. Mit diesem Hebel wurde eine politische
Diskussion über eine therapeutische Maßnahme geführt. Das ist eine
Situation, wie sie sich in keinem anderen Bereich im Umgang mit
kranken Menschen stellt. Unvorstellbar, dass der Bundestag darüber
debattieren würde, wie Menschen mit Diabetes – auch wenn diese
Krankheit durch falsche Lebensweise mit verursacht werden kann – zu
behandeln sind. Und was mit ihnen passiert, wenn sie sich nicht an
die mit dem Arzt vereinbarten Regeln halten.
Es gibt eine weitere Möglichkeit der politischen Einflussnahme: Die
Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV). Hier wird
politisch festgelegt, wie und in welcher Art und Weise ein Betäubungsmittel abgegeben werden kann.
Während der Name des BtMG vermuten lässt, dass es lediglich den
Umgang mit Stoffen regelt, so wurden weitere Vorschriften in das Gesetz integriert und damit eine umfassendere politische Zuständigkeit
abgesichert. Zum Beispiel der § 35. Er regelt, dass es unter bestimmten Bedingungen möglich ist, im Falle einer Therapie die Strafvollstreckung zurück zu stellen.
Ko–NTUREN 16
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Die Philosophie der Drogenhilfe
Schritt für Schritt hat sich vor dem Hintergrund der gesetzlichen
Vorschriften die Drogenhilfe in Deutschland entwickelt. Am Anfang
stand die stationäre Langzeittherapie. Das bot sich an, da sich Rentenund Krankenversicherungen 1978 gerade geeinigt hatten, wie sie die
stationäre medizinische Rehabilitation bei Alkoholabhängigen regeln
würden. Diese Regelung konnte nun problemlos auf die Behandlung
von Drogenabhängigen übertragen werden. Es entstanden kleine,
überschaubare Einrichtungen, in denen das Prinzip der „Therapeutischen Gemeinschaften“ die Grundlage für therapeutische Prozesse mit
dem Ziel der Drogenfreiheit war und ist.
Im Verlauf der Zeit wurde deutlich, dass nicht alle Abhängigen für
eine stationäre Therapie mit dem Ziel der Drogenfreiheit gewonnen werden konnten bzw. diese wieder abbrachen. Da auch nicht
genügend Plätze zur Verfügung standen, um sofort eine Entwöhnungsbehandlung anbieten zu können, ergab sich die Frage, was man
zusätzlich tun könnte, um die negativen Folgen der Abhängigkeit
abzumindern. So entwickelten sich – häufig vor dem Hintergrund
kontroverser Diskussionen in der Fachöffentlichkeit und der Politik
‑ eine Reihe von niedrigschwelligen Hilfen und Maßnahmen der Schadensreduzierung. Es setzte sich die Einsicht durch, dass grundsätzliche
Veränderungen des Lebensstils kaum zu erwarten seien, wenn nicht
Grundbedürfnisse wie Schlafen, Waschen und Unterkunft angeboten
werden würden. So entstanden „Drogenhilfezentren“, in denen vom
Spritzentausch bis zur Waschmaschine lebenspraktische Hilfen angeboten wurden und werden. Selbstverständlich wird keines dieser Zentren betrieben, um den Drogenkonsum zu stabilisieren, sondern das
Ziel ist und bleibt der Ausstieg.
Die Therapie mit Heroin
Die Hilfe für Menschen mit drogenbezogenen Problemen ist breit
gefächert. Man kann es auch einfacher ausdrücken: Lediglich ein Drittel der Drogenabhängigen ist willens und in der Lage, in eine Therapie
mit dem Ziel der Drogenfreiheit zu gehen. Deshalb bekommen aktuell
mehr als 75.000 Menschen eine medikamentöse Behandlung mit einem
Ersatzstoff, um die negativen Folgen der Drogenabhängigkeit zu lindern
und um zu verhindern, dass weiterhin Stoff auf dem illegalen Markt
erworben werden muss. Zusätzlich zur Vergabe des Substituts wird eine
psychosoziale Betreuung gefordert, um den Aspekt der umfänglichen
Hilfen, die in fast allen Fällen erforderlich sind, zu entsprechen.
Die Erfahrung hat gezeigt, dass auch nach Einführung dieser Maßnahmen nicht alle Menschen für eine Behandlung erreichbar waren. Deshalb wurde in einem wissenschaftlich begleiteten Programm erforscht,
ob durch die Vergabe von synthetischem Heroin, von Diamorphin,
eine Stabilisierung Drogenabhängiger möglich sei. Die Ergebnisse des
Modellvorhabens waren eindeutig: Es ist eine weitere Option der Hilfe, um entweder die allgemeinen Lebensumstände zu verbessern oder
aber einen weiteren Schritt in Richtung Schadensbegrenzung gehen
zu können. Danach kommt dann allerdings nichts mehr – eine freie
Heroinvergabe ist nicht vorstellbar.
Auch dieser letzte Entwicklungsschritt war sowohl fachlich als auch
politisch umkämpft, und nur ein politischer Kompromiss ermöglichte
es, dass sich der Bundestag damit befasste. Dann konnte die Heroinverordnung mehrheitlich beschlossen werden.
Allerdings bedeutet das noch nicht, dass jeder oder jede Drogenabhängige in den „Genuss“ dieser Behandlung kommen kann. Davor
steht die Bürokratie – wieder sind es zwei Ebenen, die zu beschreiben sind. Auf der einen Seite stehen die Kosten für die Verordnung
des Mittels. Das ist eine ärztliche Leistung, die von den Krankenkassen übernommen werden müsste, um entsprechende Akzeptanz
zu finden. Neue Behandlungsmethoden müssen im Gemeinsamen
Bundesausschuss (G-BA), dem höchsten Gremium der gemeinsamen
Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, genehmigt werden. Dies
ist bis jetzt jedoch noch nicht geschehen. Obwohl es ein von Ärzten
dominierter Arbeitskreis ist, findet hauptsächlich eine Verteilungsdiskussion statt. Jede neue Leistung erhöht die Ausgaben der Krankenversicherung und das soll vermieden werden. Auf der anderen
Seite sind es die Ausgaben für die Abgabe und die zusätzliche soziale
Betreuung. Insbesondere die Bundesländer, die (im Stillen) gegen
eine Heroinvergabe waren, haben die Anforderungen in der BtMVV
– als Preis für eine Zustimmung zur Gesetzesänderung ‑ so hoch
geschraubt, dass es sich bei der gegenwärtigen Haushaltslage kaum
eine Kommune leisten kann, ein entsprechendes Angebot mit Ärzten
rund um die Uhr, Praxen, die als Hochsicherheitstrakte ausgebaut
sind, usw. vorzuhalten.
Regelversorgung vor Sonderversorgung
Die Forderung aus Sicht der Drogenhilfe kann deshalb nur lauten,
dass möglichst jede Sonderregel für die Behandlung von Menschen
mit Drogenproblemen aufgehoben wird. Abhängigkeit, so definiert es
auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO), ist eine in der Klassifikation der Krankheiten gut beschriebene (chronische) Erkrankung.
In § 27 des Sozialgesetzbuches (SGB) V ist eindeutig beschrieben, dass
es darum geht „eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern“. Das
muss ohne Wenn und Aber auch für die Abhängigkeit gelten. Niedrigschwellig lindern, durch Medikamentenvergabe bessern und durch
Therapie heilen – dafür bedarf es keiner Sonderregelungen.
Der Kampf um die Klientel
Bei der Forderung nach einer Regelversorgung wird schnell deutlich,
dass das bedeutet, sich noch stärker an den Regelungen der Kostenund Leistungsträger zu orientieren. Bereits in seinem Urteil von 1968
wies das Bundessozialgericht (BSG) darauf hin, dass die (Alkohol)Abhängigkeit „wie jede andere Sucht ein regelwidriger Körper- oder
Geisteszustand (sei) und der ärztlichen Behandlung bedürfe“. Zu
diesem Zeitpunkt überließ die Psychiatrie die Suchtpatienten gerne
Sonderdiensten. Es bestand anscheinend kein Interesse, diese psychiatrische Klientel zu behandeln. Erst nachdem die Erkenntnisse der
Psychiatrie-Enquete von 1975 (Bericht über die Lage der Psychiatrie
in der Bundesrepublik Deutschland) langsam in die Praxis umgesetzt
wurden, erwuchs neues Interesse an den Suchtpatienten. Heute, so
lässt es sich zusammenfassen, hat jede Psychiatrie ihre in der Regel
gut ausgestattete Sucht-Abteilung. Mehr und mehr wird nicht nur im
Notfall entgiftet, sondern es wird eine Entgiftung in Kombination mit
Motivationstraining angeboten und im regionalen Netzwerk wird das
Angebot weiter differenziert. So konkurrieren inzwischen Beratungsstellen mit Klinikambulanzen; das Betreute Wohnen wird sowohl von
der ambulanten als auch von der stationären Seite her angeboten.
Darum muss man sich vor Ort verständigen, wie das Hilfenetz weiter
ausgebaut oder aktuell betrieben werden soll. Ärzte haben ebenso ihre
Aufgaben wie Sozialarbeiter, Sozialpädagogen und Psychologen. Die
Nachfrage ist nach wie vor groß, und es geht darum, mit evidenzbasierten Methoden, die nachweislich wirken, auf der Basis von in der
Zwischenzeit entwickelten Leitlinien, zu handeln, und nicht mehr
nach eigenem Ermessen aus dem individuellen Therapie-Reper­toire.
Alle Leitlinien zur Behandlung Abhängigkeitskranker finden sich unter www.dg-sucht.de.
Medizinische Rehabilitation oder Therapeutische Gemeinschaft?
Die medizinische Rehabilitation, die Entwöhnungsbehandlung, spielt
in der Therapie Drogenabhängiger eine zentrale Rolle. Hintergrund
dieser Situation sind die Vorschriften des SGB VI (Recht der Rentenversicherung). Danach geht es nicht in erster Linie um die nachhaltige
Behandlung der Abhängigkeit, sondern es geht um die Drogenfreiheit
als Voraussetzung der Verbesserung und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Das muss immer wieder als Folie vor dem Hintergrund
des Umgangs mit der Rentenversicherung als Leistungsträger gesehen
werden. Es ist anzuerkennen, dass viel inhaltliche Entwicklung in der
Hilfe nur in der engen Zusammenarbeit zwischen dem Drogenhilfesystem und der Deutschen Rentenversicherung möglich war. Aber es
gibt Grenzen. So werden zum Beispiel aktuell immer wieder größere
Häuser gefordert, weil nur dann alle medizinisch notwendigen Dienste
zu vertretbaren Preisen angeboten werden könnten. Das mag sicherlich
bei einigen Indikationen der Rehabilitation der Fall sein, und gerade
private Anbieter kommen den Wünschen nach größeren Einrichtungen gerne nach, denn mehr Betten bedeuten auch mehr Umsatz.
In der Drogenhilfe geht es in erster Linie darum, das Prinzip der
Therapeutischen Gemeinschaft aufrecht zu erhalten. Auch in der
medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger geht es um eine indikationsspezifische Behandlung, gerade dann, wenn Doppeldiagnosen
gestellt und behandelt werden müssen. Aber in erster Linie geht es
darum, lebensweltbezogen zu therapieren, die Realität des Lebens in
der Gruppe, in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen, bereits
in der Therapie anbieten zu können. Dazu ist es wichtig, überschaubare Belegungen zu haben. Man kennt sich, man hat miteinander
zu tun und man muss sich auseinandersetzen. Da geht es nicht um
Klinikatmosphäre, sondern um Normalsituationen. Und die Aufgabe
der Therapeuten ist es, diese Situationen zu nutzen oder entsprechend
therapeutisch aufzuladen.
Akzeptierende Hilfe oder Drogenfreiheit?
Im Sommer dieses Jahres wird in Schweden wieder einer der zahlreichen Kongresse zur Drogenpolitik stattfinden. Und aus der Liste der
Redner ist bereits jetzt zu folgern, dass es ein Kongress sein wird, in
dem es darum geht, das Ziel der Drogenfreiheit als das wichtigste, vielleicht auch das einzige, Ziel der Politik zu formulieren. In Rumänien
habe ich erlebt, dass sich Nicht-Regierungsorganisationen bekämpfen,
wer denn nun das niedrigschwelligste Hilfeangebot hat. Kein Wort,
kein Ansatz von Behandlung mit dem Ziel der Drogenfreiheit. Und
im Forum Drogen und Zivilgesellschaft der EU sind es insbesondere
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Drogenpolitik
die Vertreter der akzeptierenden Drogenhilfe die versuchen, auf diesem
Wege ihre Interessen durchzusetzen.
Wenn wir uns vor diesem Hintergrund die Situation in Deutschland anschauen, dann können wir froh sein, dass es diesen Kampf
kaum mehr gibt. Alle Verbände der Suchtkrankenhilfe haben sich
auf 34 Thesen geeinigt, in der sie die Zielsetzung der Drogenhilfe in
Deutschland beschreiben. Es wäre gut, wenn diese Thesen auch in
Europa gegenseitig akzeptiert werden würden, um die Schärfe aus der
Auseinandersetzung zu nehmen.
Das Dokument mit dem Titel „Ziele, Grundlagen und Prinzipien der
Sucht- und Drogenhilfe“ ist im Internet unter www.dhs.de/web/
arbeitsfelder/suchthilfe.php zu finden.
Drogenhilfe vor Ort
Während auf allen politischen Ebenen über Drogenpolitik beraten
und die Drogenhilfe geregelt wird, ist sie vor Ort umzusetzen. Hier
treten die Probleme vor die Augen, hier muss interveniert werden.
Deshalb haben fast alle Kommunen ein umfangreiches Hilfesystem
entwickelt. Auf der Basis von Beratungsstellen und/oder Drogenhilfezentren wurden die Hilfen immer weiter differenziert, um in
jedem Einzelfall helfen zu können. Kurz zusammengefasst geht es
um das gesamte Spektrum der Hilfen: Beginnend mit der Schadensminimierung werden Betreuung, Beratung und Behandlung
angeboten. Ein wichtiger Bestandteil dieser Hilfen sind tagesstrukturierende Maßnahmen und Projekte zur Eingliederung in den
Arbeitsmarkt.
Die Kosten sind weitgehend von der jeweiligen Kommune zu tragen.
Es gibt häufig Zuwendungen vom Bundesland, aber ohne Spenden
und Eigenmittel der Träger wäre diese Arbeit nicht denkbar.
Das deutsche Drogenhilfesystem ist das Beste in
der Welt
Wenn ich diese These vertrete, so gibt es natürlich Widerspruch. Dann
heißt es, dass die Betreuung im Gefängnis in diesem oder jenen Land
besser sei. In anderen wiederum ist die Substitution einfacher geregelt
oder in wieder anderen Ländern kann die Rehabilitation mit weniger
Papier angetreten werden. Oder in den USA: Da wird wirklich viel
Geld in die Drogen- und Therapieforschung gesteckt. Für uns unvorstellbare Summen. Aber wenn es dann um die regelhafte Versorgung
geht, sieht es ganz dunkel aus. Dann muss entweder die Selbsthilfegruppe oder eine teure Privatklinik besucht werden.
Eine Gesellschaft, die mit legalen Suchtmitteln handelt und darauf
auch noch Steuern erhebt, muss den Menschen konsequent helfen,
die nicht mit diesen Suchtmitteln umgehen können und erkranken.
Nicht zuletzt durch diesen gesellschaftlichen Konsens, war die Entwicklung eines Hilfesystems erst möglich. Eine Entwicklung, in der
sich die Beteiligten (Politik, Kosten- und Leistungsträger, Hilfeanbieter) nicht immer einig waren, in der sie heftig miteinander gestritten haben. Die aber letztendlich in der Gemeinsamkeit zu einer
positiven Entwicklung geführt hat, nämlich zum Rechtsanspruch
auf Behandlung. Dann ist es schwer zu ertragen, dass Drogenabhängige ihren Rechtsanspruch nicht wahrnehmen, und immer noch im
Straßenbild auffällig sind – aber auch das ist in unserer freiheitlichen
Rechtsordnung möglich.
Ko–NTUREN 18
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Nicht immer hilft das System
Das Hilfesystem ist gut ausgebaut – es kann immer noch besser werden. Dabei gibt es Gruppen und Gruppierungen, die ohne Kostenund Leistungsträger auskommen und dafür ihre Hilfe so gestalten
können, wie sie es für richtig halten. Die Rede ist von Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeprojekten. Selbsthilfeprojekte wie Release, Synanon
und Daytop waren die ersten, die Drogenabhängigen – unter aus
heutiger Sicht zum Teil problematischen Rahmenbedingungen – eine
Anlaufstelle angeboten haben, um auszuruhen und auszusteigen.
Mit vielen Veränderungen gibt es immer noch diese Selbsthilfeprojekte, die Drogenabhängige nicht in erster Linie als Patienten oder
Klienten, sondern als Hilfebedürftige und Freunde sehen. Deshalb ist
es neben aller Entwicklung im professionellen Bereich erforderlich, die
Selbsthilfekräfte, individuell und organisatorisch, zu stärken.
Was bleibt zu tun?
Seit der letzten Bundestagswahl hat die Bundesrepublik eine neue
Drogenbeauftragte, Mechthild Dykmans, Bundestagsabgeordnete der
FDP. Welche Aufgaben warten auf sie? Aus den Ausführungen dieses
Artikels lassen sich die folgenden Punkte ableiten:
• Überarbeitung des Betäubungsmittelgesetzes: Trennen der Vorschriften über Substanzen und für Menschen;
• Sicherstellung der Substitution durch niedergelassene Ärzte in allen
Gegenden Deutschlands – dafür haben die Kassenärztlichen Vereinigungen den Sicherstellungsauftrag und dieser muss erfüllt werden;
• Sicherstellung der Finanzierung der psychosozialen Begleitung bei
substituierten Patienten;
• Äquivalenz der medizinischen Versorgung Drogenabhängiger im
Strafvollzug durchsetzen (durch die Zuständigkeit der Justiz für
die Krankenbehandlung im Strafvollzug gibt es bundesweit keine
einheitlichen Regelungen und Drogenabhängige bekommen keine
adäquate Behandlung);
• Umbau des Hilfesystems von der Substanzbezogenheit zur Lebensweltbezogenheit – nicht die Substanz, sondern die Lebenssituation
der Betroffenen muss die Folie für weitere Hilfen darstellen.
Rolf Hüllinghorst
Kontakt:
Rolf Hüllinghorst
Loheide 29 b • 33609 Bielefeld
Tel. 0521/81 535
www.huellinghorst.info/politik
Angaben zum Autor:
Rolf Hüllinghorst, geb. 1944, ist Sozialpädagoge (grad.) und war von 1980
bis 2009 Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen in
Hamm. Er war in den verschiedensten Gremien tätig, u. a. als Vorstandsmitglied der Guttempler in Deutschland, als Vorstandsmitglied der Landesstelle gegen die Suchtgefahren NRW, als Mitglied des Hauptausschusses des Deutschen
Vereins für öffentliche und private Fürsorge und als Mitglied des Drogen- und
Suchtrates der Bundesregierung. Aktuell ist er Vorstandsmitglied bei Eurocare.
Jetzt ist er in eigener Praxis tätig (www.huellinghorst.info/politik).
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