SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE _________________________________________________________________________________ SWR2 Essay Nie wieder stillsitzen Konzertformate im Wandel Von Martina Seeber Sendung: Redaktion: Produktion: Montag, 3. April 2017, 22.03 Uhr Lydia Jeschke SWR 2017 __________________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. __________________________________________________________________________ Service: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Essay sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] __________________________________________________________________________ Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Musik 1 Gustav Mahler: 2 Sinfonie, 1. Satz Anfang New York Philharmonic Leitung: Leonard Bernstein CD DG 423395-2, LC 0173 Dauer: 0'32 Autorin Die Kölner Philharmonie. Block C, Reihe 7, Platz 4. Ich oben, unten und um mich herum – in der Luft - Mahlers Zweite. Neben mir – auf Platz 3, schnappt die Handtasche auf. Die Besitzerin – Altersgruppe Ü Siebzig - beherrscht die Zeitlupentechnik in Perfektion. Es dauert fünf Takte, dann ist das Bonbon vom Grund auf halbe Höhe gewandert. Da wird es nun gehäutet. Die Zellophanhülle knistert. Das Knistern umgibt mich so kristallklar wie eine Klanginstallation. Das Geräusch des Zellophans erinnert mich an die feinen Ausläufer eines sommergewittrigen Donners in den Alpen, nur eben in slow motion. Dahinter Mahlers Zweite. In den Bergen war Gustav Mahler auch gern. Hat die Bergipfel wegkomponiert. An den Philharmonie-Garderoben stehen extra große Teller mit Hustenbonbons. Die sind in weiches, leises Papier gewickelt. Hätte meine Nachbarin das genommen, wäre ich jetzt nicht mit dem Zellophan-Gewitter in Mahlers Bergen. Ich kenne kaum eine Veranstaltung, die so perfekt durchformatiert ist wie das klassische Konzert. Jede Abweichung von der Norm: ein Fauxpas. Vor mir der ältere Herr schnarcht. Und vom Schulprojekt in Block L schiebt sich das Kichern in leisen Wellen bergab, über meinen Kopf hinweg Richtung Bühne. Musik 1 Autorin Stillsitzen und Zuhören. Das klassische Konzertformat genießt gegenwärtig einen zweifelhaften Ruf. Mal abgesehen vom Hype um die Elbphilharmonie, die genau das – nämlich Stillsitzen und Zuhören - in neuer architektonischer Verpackung zum Maß aller Dinge erhebt, suchen Veranstalter landauf landab nach neuen Formaten. Die Frage, wie wir Musik hören beschäftigt Veranstalter offenbar mehr als die Frage, was wir hören. Warum? Weil das klassische Konzert mitsamt seinen hustenden, den Husten unterdrückenden, Bonbon auspackenden, schnarchenden, kichernden, meist aber tadellos disziplinierten, Besuchern vom Aussterben bedroht ist? Der Kulturwissenschaftler Martin Tröndle hat den viel beschworenen Niedergang des klassischen Konzerts untersucht und den so genannten „Silbersee“, das Meer der grauhaarigen Musikliebhaber in den Philharmonien und Konzerthäusern, mit Zahlen belegt. Zum Zeitpunkt seiner Erhebung – also in den Jahren unmittelbar vor 2009 - war der durchschnittliche Besucher zwischen 55 und 60 Jahre alt. Das klingt für einen Durchschnitt erst mal nicht so schlimm. Hier ein paar Vierzig-, dort ein paar Achtzigjährige, in der Mitte die Fünfziger, Sechziger, Siebziger. Was den Veranstaltern aber Angst gemacht und die gesamte Szene in Aufruhr versetzt hat, ist Martin Tröndles Prognose, dass sich der Wert nach hinten verschieben wird. Dabei stützt er sich auf die Tendenz der vorausgegangenen 20 Jahre. Der durchschnittliche Konzertbesucher ist in der Zeit schneller gealtert als die Gesamtbevölkerung. Wenn das stimmt und sich daran nichts ändert, so Tröndle, führt das Altern im Zeitraffer in absehbarer Zeit zu ausgestorbenen Sälen, selbst wenn man die länger währende, geistige und körperliche Fitness und die steigende Lebenserwartung in Betracht zieht. In dreißig Jahren soll sich das Publikum auf 2 diese Weise um ein Drittel verringern. Droht der musikalischen Hochkultur also tatsächlich der Publikumsschwund? Ja lautet Tröndles Fazit, aber er schiebt nach: "Wir müssen das Konzert verändern, wenn wir es erhalten wollen." Im Januar 2017, acht Jahre nach Martin Tröndles Studie meldet sich die Deutsche Orchestervereinigung mit neuen Zahlen und Statistiken zu Wort. Die Überraschung ist groß: hier spricht niemand mehr vom Ende des klassischen Konzerts, nicht mal von Überalterung ist die Rede. Stattdessen verkündet der Geschäftsführer „den Beginn einer Trendwende im Klassikbereich.“ Noch nie habe es so viel Konzertveranstaltungen gegeben, wie in der Spielzeit 2015/2016. 18 Millionen Besucher hat man gezählt. Zum Vergleich. In die Stadien der Ersten Bundesliga gingen im selben Zeitraum nur 13 Millionen Fans. Und das sind allein die Zahlen der Orchestervereinigung. Die restliche klassische Musikszene ist hier nicht erfasst. Ist ein Wunder geschehen. Ist wieder alles in bester Ordnung? Und die Elbphilharmonie muss in dreißig Jahren nicht wieder abgerissen werden? Nun ja. Statistiken sagen oft das, was der Auftraggeber sich wünscht. Aber sicher ist auch: es hat sich einiges verändert. Das Marketing ist besser geworden. Die EducationAbteilungen bringen den Nachwuchs in die Philharmonien. Vielleicht trägt aber auch die Formaterneuerung des klassischen Konzerts bereits erste Früchte. Denn man hört heute anders als vor zwanzig Jahren. Festivals laden zu Musikwanderungen ins Hochgebirge. Verbrauchte Luft und Schummerlicht waren gestern. Wir hören Livemusik bei Sonnenaufgang am Gletschersee. Wem das zu hoch ist, der kann zur klassischen Livemusik ins Bergwerk einfahren, tief unter die Oberfläche des Alltags abtauchen. Es gibt Babykonzerte, After-Work-Konzerte, Konzerte im Liegen, Klassik in privaten Wohnzimmern, in ehemaligen Industriehallen oder in Clubs, wo sich das Musikhören mit Biertrinken und Unterhaltung mischt und man die Sitzreihe gegen den Loungesessel tauscht. Wenn es stimmt, was die britische Kulturmarketing-Beraterin Heather Maitland herausgefunden hat, dass nämlich nichts potentielle Konzertbesucher so sehr schreckt, wie das Stillsitzen in Reihen, sprich: der reglose – die eigene Körperlichkeit verneinende Konsum von Tonkunst, dann ist es vielleicht der Rahmen und nicht der Inhalt, der das breitere Publikum auf Distanz hält. Die Arbeit am Konzertformat hat sogar bereits einen neuen Beruf hervorgebracht. Den oder die Konzertdesignerin. Deutschlands berühmtester ist Folkert Uhde aus Berlin. Er ist Dramaturg und Mitgründer des Kulturveranstaltungsorts Radialsystem. Im Januar 2016 besucht der Kritiker Elmar Krekeler dort Uhdes „Radiale Nacht“. Sprecher (Elmar Krekeler: Irre. Hier werden klassische Schlachtrösser jung, in: Die Welt, 18.1.2016) Ein Orchester – das von Teodor Currentzis, […] bespielt das ganze Haus. Autorin Eine Konzertkritik oder besser Konzertreportage aus der Zeitung Die Welt vom 18.Januar 2016. Sprecher Die Maschinenhalle des alten Abwasserpumpwerks am Fluss, die Säle, Studios, von denen aus man angeblich einen fabelhaften Blick über Spree und Stadt hat. Sasha Waltz lässt dazu 3 tanzen. Patricia Kopatschinskaja, der barfuß geigende Wundertroll, macht aus Mozart Wahnsinn. Ein DJ legt auf. Man geht und schaut und hört und trinkt und isst. Die Neuerfindung des demokratischen Konzerts aus dem Geist des Feudalismus. Prima. Ach ja. Geht aber nicht. Weil man nicht gehen kann. Nirgendshin. Die Studios oben sind schnell voll. Im Saal wird’s eng. Es gibt Telemann. Der Wein ist fein. Die Brezeln sind aus. [...] Endlich in der Halle. Es liegt ein Hauch Ambient-Musik in der Luft. Man sitzt auf Tatamimatratzen, auf hartem Holz, man steht. Es wird finster. Arvo Pärts Zwei-KlanggestenElegie „Psalom“ trauert sich aus dem Off heran, ein Nachruf auf David Bowie. Tänzer tragen ein Plakat herein. „The Sun Machine is coming down and we’re gonna have a party“ steht darauf. Das ist von Bowie. Zum Partymachen war es zu voll. Wie bei vielen Partys. Das Licht geht aus, geht an. Die acht Sätze der „Battalia“ des Heinrich Ignaz Franz Biber, dieses großen Irren des deutschen Barock, krachen und stampfen und puffen. [...] Es wird dunkel. Es wird hell. Menschen renken sich ihren Rücken gerade. Dann kommt Beethovens Fünfte. Tänzer liegen links auf einem schwarzen Haufen. Currentzis trägt ein schwarzes Gaze-Röckchen über seiner leggingengen Jeans. Dann jagt er los, er tanzt, wirft Kugelblitze durchs Orchester. Es gibt in der Folge nicht eine bürokratische Phrase mehr. Das Orchester steht. Es findet auch Ballett statt. Dem geht’s wie uns. Es hat wenig Platz. Nach dem dritten Satz gibt es auf. Es wird auch nicht gebraucht. Auch so wird alles hochgerissen, zittert, bebt. Es wird wieder dunkel. Currentzis und Kopatschinskaja stellen Mozarts fünftes Violinkonzert auf den Kopf und auf die Füße. Es geschehen Klangzeichen und Wunder. Wieder wird gestampft, getanzt. Das Stück wird aufgerissen, frische Luft rangelassen. Manchmal fliegt es einem um die Ohren. Es geht gegen Mitternacht. Wir wandeln nach Hause. Was essen. Hungrig, verwandelt und, wenigstens was den Beethoven und die bürokratische Musikpraxis angeht, verdorben für alle Zeit. Oder wenigstens den nächsten Abend in der Philharmonie. Musik 2 Dauer: 1'35 Bohuslaw Martinu: With rests (Mit Pausen) aus Etudes rhythmiques für Violine und Klavier H.202. für Violine, Cembalo, Toy-Piano Patricia Kopatchinskaya und Anthony Romaniuk CD: Alpha 211, LC-Autorin Seit zehn Jahren inszeniert der Konzertdesigner Folkert Uhde Instrumentalkonzerte, veranstaltet Nachtmusiken im Liegen und Wandelkonzerte, fusioniert Formate wie das der Talkshow mit dem biederen Liederabend oder schüttet den Saal mit Sägespänen aus und lädt vor dem Konzert zum Dreigangmenü. An der Zeppelin University in Friedrichshafen kann man bei ihm innovative Konzertdramaturgie und kreative Projektentwicklung studieren. Neue Konzertformate sind heute keine Randerscheinungen, sondern Teil der akademischen Ausbildung. Folkert Uhde, Mitgründer des Berliner Radialsystems und Intendant der Köthener Bachfesttage, ist allerdings weder der einzige noch der erst Konzertdesigner. Das zeigt allein ein Blick in die jüngere Geschichte. Der Pavillion, den Iannis Xenakis 1958 für die Weltausstellung in Brüssel entwarf und die Musik, die er für dieses Beton gewordene „elektronische Gedicht“ komponierte sind Beispiele für die Vision eines neuen räumlichen, zeitlichen, akustischen und optischen Musikerlebens. Die zeltartig gewölbten Betonhäute des Pavillions sind in Beton gegossene Musik. Xenakis hat sie aus seiner Komposition Metastasis abgeleitet. Für die Lautsprecher im Inneren entwarf der Komponist, Bauingenieur 4 und Assistent von Le Corbusier eine kurze Ouvertüre. Die Musik wurde über 11 Kanäle auf 425 Lautsprecher projiziert. Das Publikum erlebte im Gehen, wie die Klänge von einem Punkt zum anderen geschossen wurden und sich über ihren Köpfen ein komplexes Netz aus akustischen Linien aufspannte. Mit spektakulären, innovativen Konzertformaten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine neue Musikkultur, ein neues Hören und Erleben definierten, ließen sich endlos lange Listen füllen. Komponisten nutzten die jeweils neuen Medien wie Radio, Fernsehen, Film, Licht- und Lasertechnik für Funk-, TV-oder Video-Opern oder multimediale Konzertinstallationen. Vieles von dem, was die Fünfziger-, Sechziger, Siebziger und Achtziger Jahre hervorgebracht haben, wird heute wieder aufgegriffen und den Bedürfnissen der Zeit angepasst. Deshalb seien hier noch ein paar weitere Beispiele genannt, um nicht den Eindruck zu erwecken, die Suche nach neuen Formaten sei nur ein Phänomen der Gegenwart. 1968 zum Beispiel initiierte und konzipierte Karlheinz Stockhausen in Darmstadt die Musik für ein Haus. In den verschiedenen Räumen eines Gebäudes ließ er simultan Werke unterschiedlicher Komponisten aufführen und den Gesamtklang ins Erdgeschoss übertragen. Das Publikum konnte sich im Haus und zwischen den Räumen frei bewegen. Experimente mit Konzertformaten gab es auch, als sich engagierte Achtundsechziger entschieden, in Krankenhäusern und Gefängnissen aufzutreten. Statt in den als elitär empfundenen Konzertsälen vor musikalische gebildetem, bürgerlichen Publikum zu spielen, suchten sie den Kontakt zu bildungsfernem Hörerschaften. Musikalische Hochkultur für alle. Oder 1983: das 2. Streichquartett von Morton Feldman. Die Dauer des Quartetts von fünfeinhalb Stunden sprengt noch heute jedes abendländische Konzertformat. Wo und wie sitzt man so lange und hört zu? Und bleibt das Publikum überhaupt von Anfang bis Ende dabei? Beginnt man frühmorgens oder nachts? An Morton Feldmans Quartett zeigt sich, wie schwer jede Veränderung des etablierten und formatierten Konzertbetriebs zu bewerkstelligen ist. Gleich bei der Uraufführung überstieg die Dauer von 5,5 Stunden den eigentlich schon großzügig bemessenen Zeitrahmen. Das Kronos Quartett spielte eine gekürzte Version von vier Stunden. Anders hätte Feldmans Quartett nicht in das Zeitfenster der Rundfunkübertragung gepasst. Immerhin aber sitzen die Musiker bei Feldman noch vor Notenständern und auf Stühlen. In Karlheinz Stockhausens Helikopter Quartett stieg das Arditti Quartett im Juni 1996, verteilt auf vier Hubschrauber der niederländischen Streitkräfte in den Himmel. Damit definierte Stockhausen so gut wie jedes Element des Konzertformats neu. Kein fester Ort, keine Bühne, Publikum und Musiker fern voneinander. Hier, wie auch in den Beispielen von Morton Feldman und Iannis Xenakis, sind die veränderten Konzertformate Teil neuer Kompositionen. Wo Komponierende neue Visionen verwirklichen, werden auch scheinbar äußere Bedingungen wie die Wahl und Gestaltung des Orts, der Verweildauer, der Hörhaltung oder Spielposition Teil des Kunstwerks. Und die Ausbrüche aus dem Regelwerk des Konzertbetriebs gelten auch nur für diese Werke. Anders und oft schwieriger ist die Neuformatierung bestehender Programme. Gustav Mahler hat seine Sinfonien für Konzerthäuser komponiert. Orchester und auch das Publikum brauchen Platz, eine gute Akustik und viel Infrastruktur von der Bühne über die Beleuchtung 5 bis zu den Garderoben. Ein Orchester an einen neuen, vielleicht spektakulären Spielort zu verfrachten kostet sehr viel Zeit und Geld und wird nie zum Normalfall werden. Allerdings gibt es auch hier Möglichkeiten, am Format zu drehen. Und auch dazu nur ein kleines Beispiel vorab. Eines meiner eindrücklichsten Klassikkonzerte habe ich in den Neunzigerjahren in der Kölner Philharmonie erlebt, als das Borodin Quartett bei Kerzenlicht im sonst abgedunkelten Saal die Streichquartette von Dmitri Schostakowitsch spielte. Musik 3 Dmitri Schostakowitsch: Streichquartett Nr. 11 in f-moll Borodin Quartett BMG74321 40716, LC 6969 Dauer: 1‘13 Autorin Neue Konzertformate gibt es, seit es Konzerte gibt. Und sie befinden sich in einem ständigen, mal schnelleren, mal langsameren Wandel. So wie sich die Gesellschaft ändert, ändern sich auch die Veranstalter, das Publikum, die Mittel und nicht zuletzt die Werke selbst. Konstanten gibt es erstaunlich wenige. Das bürgerliche Konzert als Aufführung komponierter Musik durch hervorragende, professionelle Musiker vor einem still zuhörenden, sitzenden, im Idealfall vorgebildeten und zahlenden Publikum ist nur eine Spielart unter vielen in der Geschichte des europäischen Konzertwesens. Das Format hat sich im 20. Jahrhundert sehr viel stärker vereinheitlicht, institutionalisiert und normiert, als in den Jahrhunderten zuvor. Deshalb ist ein Rückblick in die Geschichte an dieser Stelle kein bildungsbürgerlicher Pflichtexkurs, sondern ein Ausflug in Zeiten, als es „das“ Konzert noch gar nicht gab. Nicht einmal eine einheitliche Geschichte lässt sich erzählen, weder für Europa noch für den deutschsprachigen Raum. Im Konzertwesen herrschte lange Zeit eine beeindruckende Artenvielfalt. Die Ursprünge des Konzerts als Musizieren vor Publikum sind regional so unterschiedlich wie die Situation an den Fürsten- und Königshöfen, in den Kirchen oder den bürgerlichen Städten. So wie die Kunst des Madrigals zur Unterhaltung und Erbauung italienischer Fürsten in Ferrara, Florenz oder Manuta an den Adelshof gebunden ist, wo die Musiker und Dichter arbeiten und leben, ist Johann Sebastian Bach in den Kirchenmusikbetrieb eingebunden. Josef Haydn komponiert seine Quartette nicht für öffentliche Kammermusiksäle, sondern für einen kleinen Kreis gebildeter Kenner und Liebhaber. Es waren private, informelle Abende wie bei der Wiener Arztgattin Marianne von Genzinger, an denen nicht nur, aber auch musiziert wurde. Dass seine Quartette ein Vierteljahrtausend später von professionellen Musikern vor zweitausend Zuhörern gespielt würden, hätte sich Haydn wohl auch in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Wie sich der Übergang von der feudalen und kirchlichen zur bürgerlichen Konzertwelt gestaltete, ist regional sehr verschieden. Die Entwicklung hängt auch sehr davon ab, wie Kirche, Adel, Bürgertum oder auch Universitäten das Musikleben der jeweiligen Städte prägten. Frühe Beispiele für bürgerliche Konzertformen finden sich im deutschsprachigen Raum schon im 16. Jahrhundert. Studenten und Bürger gründen damals Collegia Musica zum gemeinsamen Musizieren. Öffentlich sind diese Zusammenkünfte nicht. Die ersten öffentlichen Konzerte erleben nach 1650 Londoner Musikliebhaber. Erst in Privathäusern, dann in eigens gemieteten Räumen gegen Eintrittsgeld. In England richtet man auch die ersten musick-rooms ein, die Interpreten sitzen auf Podesten in der Mitte, die Besucher im Kreis. 6 In Deutschland ziehen Hamburg und Leipzig nach. Zwei Städte mit starkem, selbstbewusstem Bürgertum. In Leipzig prägt kein König, Fürst oder Bischof das kulturelle Leben. Eine zentrale Rolle spielen seit dem Mittelalter die Musiker und Sänger der Thomasund Nicolaikirche. Vor allem die Thomasschule hat sich durch die herausragenden Thomaskantoren zu einer renommierten musikalischen Ausbildungsstätte entwickelt. Die zweite tragende Rolle übernehmen die Studenten. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts spielen sie hier in Collegia musica. Die Collegia musica treten in Kirchen, bei Universitätsanlässen, aber auch in Kaffeehäusern und Gärten auf. Dieses, besonders bei Messebesuchern beliebte musikalische Beiprogramm entpuppt sich als lukrativ. Die Kaufmannschaft kommerzialisiert und professionalisiert die Veranstaltungen. Aus ihnen gehen 1781 die Gewandhauskonzerte hervor. Das von wohlhabenden Kaufleuten ins Leben gerufene Gewandhausorchester aus Stadtmusikern und Studenten ist das erste dieser Art im deutschsprachigen Raum. Und mit dem „zweiten Gewandhaus“ dem Neubau bekommt Leipzig bereits 1784 einen spektakulär großen Saal mit 1700 Plätzen und einen Kammermusikaal für 650 Zuhörer. Zumindest in der Messestadt konzentriert sich das Konzertleben damit zunehmend auf einen Ort und eine dominierende Art des Musikerlebens. Während die Leipziger die Freude am Hören als ernste Angelegenheit betrachten – res severa verum gaudium – steht in großen Lettern im Saal – macht man es sich Köln am Rhein bei Livemusik eher gemütlich. In Weinstuben oder privaten Sälen lauscht man bunten Programmen mit neuen Arien, Duetten, Terzetten, Chören, Sinfonien und Kammermusik und wechselt anschließend in den Garten, zum „Abschluss mit türkischer Musik“, wie es in einer Ankündigung aus dem Juli 1786 heißt. Nicht selten werden Konzerte mit Tanz beendet. Träger des Musiklebens sind die Zünfte. Verschiedene, neu gegründete Musikgesellschaften laden zum gemeinsamen Musizieren und Weintrinken. Anfang des 19. Jahrhunderts gründen die Bürger auch Singvereinigungen. An Zuhörer richten sich die Veranstaltungen nur sekundär. Wichtig ist das gemeinsame Musikmachen. Die Vereinigungen dienen der ästhetischen Erziehung, wie sie Friedrich Schiller verstand. In ihren Statuten von 1813 hält die Kölner Musikalische Gesellschaft fest, Ziel sei, sich durch Sprecher „die Musik zu bilden, dann aber auch sich gemeinschaftlich und gegenseitig durch diese Kunst zu unterhalten, zu vergnügen und sie fernernhin zur Verschönerung des Lebens anzuwenden.“ Musik 4 György Kurtág: 2. Satz Con moto aus dem Quartett op.1 quartet-lab Eigenproduktion des SWR Dauer: 2'02 Autorin Da sich das bürgerliche Musikleben aus dem gemeinsamen Musizieren entwickelt, spielen auch in den öffentlichen Konzerten Laienmusiker zusammen mit einer mehr oder minder großen Anzahl von Profis. Vor dem Aufblühen des Virtuosentums in den 1830erjahren stand man Berufsmusikern oft sogar skeptisch gegenüber. Aus dem Jahr 1797 stammt der Ausspruch, dass Sprecher ...die meisten Musiker von Profession … nur Maschinen sind… indem der Zunftmäßige kalt 7 und gleichgültig bei der Musik bleibt, weil er weiß, dass er gesucht und bezahlt werden muss. (zit nach „Geeint durch das Band der Harmonie“ in: Le concert et son public, 185) Autorin Im Jahr 1827 gründen aber auch die Kölner eine Conzert-Gesellschaft. Es wird ein Fonds eingerichtet, aus dem unter anderem professionelle und durchreisende auswärtige Künstler bezahlt werden können. Damit etabliert sich die Trennung zwischen Musikern und Publikum. Konzerte werden kommerzialisiert, sie werden größer und einheitlicher. Stillsitzen und Zuhören: diese Haltung prägt fortan das Musikhören. Diese Rezeptionsform geht mit der Ästhetik der absoluten Musik einher. Musik als tönendes Phänomen löst sich in der Wahrnehmung vom körperlichen Akt ihrer Erzeugung. Der Zuhörer negiert die Existenz seines Körpers und wird „ganz Ohr“, er und lauscht der abgesonderten, transzendenten Welt der Musik oder aber der für ihn unerreichbaren, aber sachkundig bewunderten Perfektion der Virtuosen wie Niccolo Paganini, Clara Schumann, Franz Liszt oder Frederic Chopin. Essen, Trinken, Reden oder auch das eigene Musizieren passen nicht mehr in die neue Ästhetik. Die Konzertsäle, die abgesehen davon immer größer werden, um den immer üppiger besetzten Orchestern Platz zu bieten, schaffen dafür ideale Bedingungen. Und bald ist allerorts klar, wie man sich zu verhalten hat. Wie gesagt: Stillsitzen und vor allem sitzenbleiben, zuhören und nur noch an der richtigen Stelle Klatschen. Bis heute hat sich der Verhaltenskodex kaum geändert. Und wie alles, was stark formalisiert ist und sich lange nicht ändert, ist auch das klassische Konzert für viele Besucher heute ein eigenartiges, unverständliches Ritual. Auch deshalb hat sich Christiane Tewinkels 2004 erschienenes Buch Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile so gut verkauft, dass es auch ins Koreanische und Japanische übersetzt wurde. Sprecher Wie viel Wissen braucht man, um ein Konzert zu besuchen? Muss ich das Programmheft lesen, und warum darf ich zwischendurch nicht klatschen? Worüber spreche ich nach einem Konzert, ohne mich lächerlich zu machen? Und warum sind Konzerte so teuer - oder verdienen Musiker so viel? Was hat es mit den geheimen Gesetzen der Musik auf sich und muss ich die Sonatenhauptsatzform heraus hören? […] In diesem Buch finden Sie Antworten auf sämtliche Fragen zur Musik, die Sie immer schon hatten und doch nie zu stellen wagten. Autorin Eine Anleitung für den Konzertbesuch? Schon der Titel zeigt, dass hier ein Traditionsfaden gerissen ist. Das Konzert ist das Relikt einer vergangenen Epoche beziehungsweise das erklärungsbedürftige Veranstaltungsformat des älteren, gebildeten Bürgertums. Jüngere Generationen haben längst den Pop zur musikalischen Referenzkultur erhoben und eigene Codes entwickelt. Musik 5 Georg Kröll: *Tagebuch (1987-) für Klavier Udo Falkner CD TLS119, LC 02966 Dauer: 0'17 8 Autorin Alles ändert sich, nur das Konzert nicht? Der kurze Rückblick hat gezeigt, dass beim Konzertformat nichts selbstverständlich war. Es geht um mehr, als nur um Musiker, die vor Publikum eine Partitur zum Klingen bringen. Das Werk, die Partitur, die Musiker, ihre Instrumente, die Hörer, ihre Kommunikation, der Ort, die Eintrittskarten oder auch der freie Eintritt, das Zuhören oder zeitweilige Mitmachen sind nur einige Elemente unter vielen, die das Konzertformat bestimmen. Für die Anordnung und das Verhältnis von Elementen, die auch ein Format wie das Konzert bestimmen und immer wieder verändern, hat Michel Foucault 1971 den Begriff des Dispositivs in die Welt gesetzt. Sprecher Foucault (Foucault 1978: 119ff) Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche, ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale (sic) Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen Elementen sich herstellen kann. […] Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von […] Anordnung, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion. Autorin Gesagtes, Ungesagtes, zeitgebundene Situationen, Verbindungen: Mit diesem Ansatz lässt sich das Konzert historisch als ein sich ständig wandelndes Beziehungsnetz beschreiben. Ein Dispositiv ist immer in Bewegung, und deshalb wäre es seltsam, wenn sich auch das Konzert nicht ständig veränderte. Im Hinblick auf neue Formate ist das Denken in Dispositiven und der Blick auch auf scheinbar entfernte oder nebensächliche Elemente überaus erhellend. Allein das Erhellen, das heißt, das Licht im Konzert war nicht immer gleich und hat schon früh für Unbehagen gesorgt. Aber dazu später mehr. Musik 6 Dauer: 1'06 Dmitri Schostakowitsch: Humoreske aus dem Streichquartett Nr. 11 in f-moll Borodin Quartett BMG74321 40716, LC 6969 Autorin Eine der wichtigsten Bedeutungsverschiebungen in der Gegenwartskunst betrifft die Wahrnehmung. Während es auch im klassischen Konzert lange nur um das sogenannte „Werk“ an sich ging, also um die Partitur und ihre Interpretation, interessieren sich die Veranstalter, Dramaturgen oder inzwischen auch Musikkuratoren heute für die Wahrnehmung, und zwar nicht nur für das Hören und die ohnehin schwierige Frage des Verstehens von Musik. Es geht um größere Zusammenhänge. Deshalb haben neue Konzertformate oft konzeptuellen Charakter. Wissenschaftler und Marketingstrategen erforschen, warum Menschen Musik hören und warum sie Konzerte besuchen. Ihre Ergebnisse nutzen Formatentwickler und 9 Konzertdesigner für ihre Zwecke. Menschen hören Musik, sagt die Fachfrau für Kulturmarketing Heather Maitland: Sprecher - um ein Image aufzubauen - die Identität zu stärken - die Bindung an eine Gruppe zu intensivieren - andere aus der Gruppe auszuschließen - sich anders zu fühlen - die Intensität der Gefühle zu ändern Autorin Und sie schließt: Sprecher Es geht um Sex and drugs and rock n roll. Autorin Wie umfassend und ganzheitlich das Konzertformat neu definiert wird, zeigt – als ein Beispiel - das Projekt „Symposion“ des Neue-Musik-Ensembles Klangforum Wien. 2001 entwickelte Sven Hartberger, der künstlerische Leiter von Klangforum Wien, ein Abend füllendes Veranstaltungsformat, in dem es nicht nur theoretisch um drugs and rock'n roll geht. In Anlehnung an das altgriechische Symposion erleben die Besucher eine Abfolge von Livekonzerten und Vorträgen, dazwischen wird ein mehrgängiges Menü aufgetischt und es gibt Zeit für informelle Gespräche. Außerdem, und das ist wesentlich, wird Wein gereicht, denn die geplante Wahrnehmungsveränderung durch den Alkohol ist Teil des Programms. Beim Symposion 2014 in Hellerau lautete der Untertitel der Veranstaltung: Ein Rausch in acht Abteilungen. Sprecher (Sven Hartberger) Wir wollten Menschen dazu zu bringen, über einen langen Zeitraum viel zeitgenössische Musik zu hören. Und wir wollten die Menschen in die Lage zu versetzen, das mit Genuss und Freude zu tun. Das heißt, sie von der Mühsal, die ein Konzert, zumal ein langes Konzert immer auch bedeutet, zu befreien. Autorin Foutons zum Liegen. Esstische. Sessel. Die Symposia des Klangforum Wien funktionieren nur in eigens dafür eingerichteten Hallen. Deshalb sind sie ein Format für Festivals oder besondere Einzelkonzerte. Sie sind aufwändig, teuer und versprechen ein Erlebnis jenseits des Konzertalltags. Allein die Dauer der Veranstaltung ist ungewöhnlich. Acht Stunden waren es in Hellerau. Die lange Zeitspanne, sagt Sven Hartberger weiter, sorgt für eine andere körperliche und psychische Disposition. Er schließt: „Unsere Wahrnehmung und unser eigenes Verhalten ändern sich, wenn wir uns einer Sache über einen längeren Zeitraum zuwenden." Mit Urbo Kune hat das Wiener Ensemble jüngst ein weiteres Langformat entwickelt, das mit Fokus auf den europäischen Gedanken, auf Architektur, Politik und Lebensentwürfe noch stärker diskursiv und partizipativ ausgerichtet ist. 10 Hören, Essen, Reden, Trinken, Yoga, und all das in wechselnden Städten in immer neuen, besonderen Räumen. Musikhören wird Teil eines sehr weiten Themen- und Erlebniskomplexes. Überraschungen inbegriffen. Natürlich sind solche Formate auch spektakulär. Man spricht darüber, die Medien berichten. Aber tatsächlich lässt man den Alltag auf eine andere Weise hinter sich, als in konventionellen Konzerten. Musik 7 György Kurtág: Officium breve für Streichquartett Athena Quartett, CD Neos 11033, LC 15673, Dauer: 0‘31 Autorin Das Konzertdispositiv hat viele Variable. Schon die Uhrzeit hat einen Einfluss auf das Konzertdispositiv und auf die Musikerfahrung. Auch hier eignet sich die Ausnahmesituation eines Festivals besser für Experimente, als das Abokonzert der gewerkschaftlich organisierten Orchestermusiker und des Konzerthaus-Personals. Wer das jährliche Morgenkonzert des Ravello-Festival an der Amalfi-Küste hören will, muss sich früh morgens um viertel vor fünf - ausgeschlafen oder nicht – auf der Panoramaterrasse hoch über dem Meer einfinden. Das Orchester sitzt dann schon bereit und spielt romantisches Repertoire. Mendelssohn, Grieg, Sibelius. Allein der Ort ist zu dieser Tageszeit ein Erlebnis. Aber auch die Uhrzeit verändert das Hören. Wer aus dem Bett gleich ins Konzert geht, noch vor dem Frühstück, hört anders, als nach einem Tag voller Arbeit, Erledigungen, Anstrengungen und dem Abendessen. So schön sie sein mögen – die Regel werden solche Uhrzeiten sicher nicht im Konzertbetrieb. Nicht jeder Veranstalter kann die räumlichen und zeitlichen Konventionen so leicht hinter sich lassen, wie ein Festival. Aber auch im Alltagsgeschäft zeichnet sich Bewegung ab. „Klassik Kompakt“ heißt ein neues Format des NDR Elbphilharmonie Orchesters. Für alle, in deren Alltag der Konzertabend keinen Platz findet, gibt es am Sonntag Nachmittag 60 Minuten Livemusik. Einfache, kleine Änderungen wie diese lösen manchmal viele Probleme auf einen Schlag. Eltern, die abends einen Babysitter bräuchten, können die Kinder um diese Zeit mitbringen. Außerdem wirbt die Elbphilharmonie für die Kurzkonzerte mit niedrigen Preisen. Einen ganz erstaunlichen Erfolg zu ungewöhnlicher Uhrzeit erlebte vor einigen Jahren auch das für innovative Formate bekannte Kammerensemble Neue Musik Berlin. Bei den LunchKonzerten des KNM mittags um 13:30 an wechselnden Orten waren die Säle voll. Kurzkonzerte in der Mittagspause. Vielleicht hat auch der freie Eintritt dazu beigetragen. Auch der Eintritt, das Geld, ist ein Faktor im Dispositiv des klassischen Konzerts. Musik 8 Georg Kröll: *Tagebuch (1987-) für Klavier Udo Falkner CD TLS119, LC 02966 Dauer: 0'32 Sprecher (Elisabeth Schwind, Südkurier 23.8.16) 22 Uhr: Es ist schon dunkel, als wir weiterziehen und uns am Wald entlang tasten. Seltsame Gefährten stehen da. Holzstapel, eingepackte Heuballen. 11 Autorin Das Festival in Rümlingen ist die Gelegenheit für die zeitgenössische Musikszene, ihr Faible für die Natur auszuleben. Im Dorf, auf dem Feld, in Höhlen, auf dem Sportplatz, im Wald. Morgens, mittags, abends, nachts. Die Kompositionen und Installationen entstehen eigens für das Sommerevent. Besucher, aber auch Musikkritiker wie hier Elisabeth Schwind schlüpfen in Wanderstiefel und schultern den Rucksack. Sprecher Nachts sieht alles gespenstisch aus. Die Ohren öffnen sich. Auch die Geräusche werden größer. Irgendwann spricht niemand mehr. „Good contemporary music audience“, witzelt einer der Musiker später. Stimmt ja auch, das Publikum der Neuen Musik hat seinen Cage gut gelernt. Stille, Lauschen. Man hört die Tritte auf dem feuchten Boden und die Hosen, wie sie beim Laufen rascheln. Das hört man tags nie. In der Ferne beginnt ein Fiepsen und überzieht bald die Lichtung, die sich nun vor uns öffnet. Irgendwas klingelt hinten am Waldrand, wie ein Irrlicht zieht es über die Wiese. Autorin Mit Konzerten in Kurmuscheln oder auf Freilichtbühnen haben Events wie diese kaum noch etwas gemein. Hier sind ortsspezifische Kompositionen zu erleben – und gratis dazu die Lieblichkeit, Bedrohlichkeit oder auch Erhabenheit der Landschaft. Die Wahrnehmung von Umweltgeräuschen, Gerüchen, von Temperatur, Wind, Sonne oder Regen und auch der akustischen Eigenheiten sind Teil des Kunstwerks. Auch die Bewegung des Publikums gehört dazu. Beim Gehen, beim Stehen, nach einem Anstieg oder Abstieg hört man anders als im Sitzen. Ein Concert Walk durch ein Tal oder eine komponierte Bootstour wie bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik oder musikalische Bergwanderungen durch die Alpen wie bei den Klangspuren Schwaz mit Konzerten in Kapellen und Kirchen am Wegrand: solche OutdoorEvents sind bleibende Erlebnisse. Die Musik bleibt in der Erinnerung mit den Orten und Situationen verbunden. Musik 9 Georg Kröll: *Tagebuch (1987-) für Klavier Udo Falkner CD TLS119, LC 02966 Dauer: 0'20 Autorin Vogelgezwitscher statt Bonbonknistern und der Duft eines Waldbodens nach dem Regen statt Parfümwolken: Konzertdramaturgen und -designer sind Meister im Schaffen von Ausnahmesituationen. Ein Orchester lässt sich allerdings nicht so einfach auf die Bergwiese verfrachten, im Winter schon gar nicht. Auch alte, verlassene Fabrikhallen sind teuer zu bespielen. Bühnen, Stühle, Licht - die gesamte Infrastruktur kostet viel Geld. Und die vielen spektakulären Formatmutationen beantworten auch nicht die zentrale Frage: was ist mit den vielen ehrwürdigen alten, den vielen neuen und brandneuen, akustisch beeindruckenden Konzertsälen wie in Hamburg, Bochum oder Berlin? Muss man aus ihnen ausbrechen und die Musiker anderswo hin verfrachten, damit der Traditionsmuff das Event nicht erstickt? 12 Der Konzertort ist – zum Glück - nur ein Parameter unter vielen, die das Format bestimmen. Und er ist mehr als nur ein konkreter Platz, ein Raum, ein Gebäude mit einer bestimmten Akustik. Nehmen wir zum Beispiel die Stuttgarter Liederhalle. Mir persönlich fällt es schwer, mich von der Mischung aus Kongresssaal-Atmosphäre und protestantischbildungsbürgerlicher Biederkeit nicht abschrecken zu lassen. Aber damit geht es mir offenbar anders als dem großen Stammpublikum. Ich fühle mich fremd, weil ich noch unter Sechzig bin und sich die Szene zu der ich gehöre oder gehören möchte, woanders aufhält. Konzerte sind soziale Ereignisse und die beginnen spätestens, wenn ich das Foyer betrete. Veranstalter von sinfonischen Formaten versuchen deshalb, den Rahmen zu verändern. In der Züricher Tonhalle, im Dortmunder Konzerthaus oder in Frankfurts Alter Oper arbeitet man am Rahmenprogramm. DJ-Sets nach dem Orchesterkonzert, die Möglichkeit, die Künstler nach getaner Arbeit persönlich kennenzulernen. Gegenentwürfe zur Anonymität des sinfonischen Saalformats sind die vielen privaten und halb privaten Konzerte, die wie die Salons des 18. und 19. Jahrhunderts in Wohnungen stattfinden. In Berlin gibt es kleine informelle Salons, in denen man sich Sonntags zum Musikhören, Essen, und Diskutieren trifft. In vielen Städten vermieten Ensembles Musiker für professionelle Hausmusiken. Oder die Formationen quartieren sich wie bei der Berliner HouseMusik für die Dauer eines Wochenendes in Büros oder Wohnungen ein. Dann steht die Tür jedem offen, der sich noch in den Flur zwängen kann. Natürlich hört man nicht unbedingt gut und sieht vielleicht gar nichts. Aber ihren hohen Sockel hat die E-Musik damit auf jeden Fall verlassen. Hier sind die Musiker keine unberührbaren Bühnenwesen. Statt aus der Ferne aufs Podium zu blicken, kommt man hier auf Tuchfühlung. Musiker sprechen über die Werke, über Komponierende, über Musik und Kunst allgemein. Und abgesehen von der Neugier auf die Besichtigung fremder Wohnungen, ist hier der soziale Austausch mit den Mithörern fast zwangsläufig gegeben. Musik 10 György Kurtag: Hommage a Mihaly Andras für Streichquartett Athenae Streichquartett Dauer 0'57 Autorin Wie wollen wir Musik hören? In der eigenen Küche, im Club beim Bier, in der Industriehalle, auf Sofas, mit oder ohne Videos, sitzend oder tanzend? Die jungen Macher des ebenfalls noch jungen Podium-Festivals haben sich diese Fragen zu Herzen genommen. 2009 riefen Studierende und junge Hochschulabsolvente in Esslingen bei Stuttgart ein Kammermusikfestival ins Leben. Seither veranstalten die Musiker ihre Konzerte so, wie sie sie selbst nicht nur gern hören, sondern auch spielen würden. Bei den bekannten Formaten bleibt es dabei nur in Ausnahmefällen. Sprecher (Podium Festival, 5.5.17 Nächtliche Versammlung) Mit unserer Eröffnung kehren wir zu den Ursprüngen des Konzerts zurück – dem Ritual. Autorin Die Ankündigung der Eröffnung 2017: Sprecher Gegen die Einsamkeit des Einzelnen auf der Bühne tritt die Gemeinschaft, deren gemeinsame Sprache der Klang, der Rhythmus, der Rausch ist. Aus vielen Stimmen formt 13 sich eine, die in einem romantischen Sextett kulminiert, bis schließlich das Ritual auf die gesamte Kirche übergreift und die Besucher hinaus ins Freie, in die Nacht führt. Autorin Ritual, Einsamkeit, Gemeinschaft, Klang, Rausch, ins Freie - also Natur und Freiheit -, Nacht. Mit dieser so genannten „Nächtlichen Versammlung“ soll das Festival beginnen. Fast alle Themen, Formate und Schlag- und Modewwörter der Formaterneuerung findet man in der Ankündigung. Immersion, Party, Lounge, Partizipation: Apropos Mitmachen. Auf die Interaktion mit dem Publikum jenseits der physischen Präsenz, dem Zuhören und Applaudieren, zielen in Esslingen gleich mehrere neue Konzertformate, die sich an Modellen der überaus innovativen Spielszene inspirieren. Werke und Interpreten sucht man in der Vorankündig oft vergebens. Das Programm ist Teil der Überraschung. Stattdessen lockt interaktives Storytelling, zum Beispiel beim Besuch der fiktiven „Paradise Holding“, die mit Wohlstand und sozialer Harmonie wirbt. SprecherErstmals öffnet die Firma nun ihre Tore, um Sie als Gast zu begrüßen. Doch brodelt es hinter der glatten Oberfläche und streng vertrauliche Geheimnisse lauern in musikalischer Form unter dem Deckmantel der Holding. So kommt es letztlich auf das Publikum an, sich die wirklich wahre Geschichte interaktiv und spielerisch zu erschließen. Bleibt „Paradise Holding“ ein Traum oder blickt man am Ende aller Rätselfragen in einen Abgrund? Autorin Die Earlkings arrangieren Schubert-Lieder, singen den Erlkönig auf Englisch und inszenieren sich als Pop-Band. Und beim Festivalabschluss wird man sehen, ob sich zu klassischer Musik tanzen lässt. Sprecher Eine Mischung aus Konzert und Party. Klassische Musik, die steil geht. Neue Musik, die explodiert – und ein DJ Set, das durch die Nacht fliegt. Autorin Die Vorankündigung spricht die Sprache der Konzert-Design-PR. In Esslingen werden die Formate allerdings nicht von Grund auf neu erfunden, ohnehin ist das Konzertdesign immer eine Frage der Weiterentwicklung und Anpassung. An den Ort, die Zeit, das Publikum und nicht zuletzt an die Musik. Den Vorstoß in die auch in Esslingen gepflegte Clubkultur haben die Yellow Lounges der Deutschen Grammophon Anfang 2001 Hamburg vorgemacht. Klassische Musik in Clubs. Das ist der Versuch, die jüngeren Rituale der Popkultur mit dem Kanon der E-Musik zu verschmelzen. Dabei schmilzt allerdings auch die E-Musik in Crossover-Bearbeitungen gelegentlich dahin. Auch der Geiger David Garrett hat hier keine Berührungsängste. Seine Konzertinszenierungen sind das vielleicht opulenteste, aufwändigste Beispiel für Fusion des klassischen Konzertformats mit dem Popkonzert. Garrett bringt seine Bühne mit, eine drehbare Bühne in der Hallenmitte. Die Lichtshow, die Dramaturgie, alles wie im Pop. Die Säle sind ausverkauft. Und vor allem das weibliche Publikum spielt verrückt. Alles ohne staatliche Kulturförderung. Ist das die Zukunft des klassischen Konzerts? So lange ernste Musik staatlich gefördert wird, ist diese rein kommerzielle nur eine Spielart unter vielen. Ob die Rettungs- und 14 Erneuerungsversuche des klassischen Konzertformats Erfolg haben, lässt sich auf lange Sicht nicht voraussagen. Aber das ist Zukunftsmusik. So vielfältig, heterogen, erfindungsreich überraschend waren die klassischen Live-Format jedenfalls lange nicht mehr. Nach der Phase der bürgerlichen Erstarrung, in der die Wächter der Hochkultur noch jede Veränderung zu verhindern suchten, weil es nur ein richtiges Hören und nur eine richtige Aufführungspraxis gab, bringt die Zeit des Experimentierens und Suchens viele neue uneinheitliche Formate hervor. Impulse kommen von überall: aus der Historie, als die klassische Musik noch nicht so unpartizipativ war wie heute, aus anderen Künsten, aus der diskursorientierten Museumslandschaft, aus dem Pop, dem Fernsehen und der digitalen Welt. Es sind Formate, deren Urheber sich weniger um Dogmen kümmern, als um die Möglichkeiten zum Teil des Werks des Musikhörens. Dazu gehört auch, dass sich das Musikerleben nicht nur zwischen den Ohren und dem Gehirn abspielt. Viele Formate tragen die Handschrift von Konzerttesignern, bei anderen geht die Initiative von den Musikern aus. Von Interpreten auch Patricia Kopatchinskaja, von Ensembles vor allem in der Neuen Musik, die sich wie Popgruppen inszenieren oder auch von Komponistinnen und Komponisten, die das Setting zum Teil des Werks erklären. Natürlich geht es bei all den neuen Formatentwicklungen nicht immer nur um das bestmögliche Erlebnis. Es geht auch um Marketing. Darum, dass Veranstalter, Komponisten und Interpreten mit medienwirksamen Formaten um ihr Publikum werben. Lange nicht jedes spektakuläre Format hält, was es verspricht. Aber zum Experimentieren gehören auch Flops. Die Not hat erfinderisch gemacht. Die Angst vor schütter besuchten Konzerten, in die irgendwann gar niemand mehr geht. So ein Druck setzt Energien frei, die sonst nur für die Konservierung des Bestehenden genutzt werden. Apropos Konservieren. Interessant ist, dass die Unesco im Jahr 2014 die deutsche Orchesterlandschaft zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt hat. Natürlich ist die Wertschätzung eine schöne Sache und auch kulturpolitisch kein schlechter Schachzug. Aber die Orchesterlandschaft unter Denkmalschutz zu stellen, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Da könnte man genauso gut einen Pudding an die Wand nageln. Die „Orchesterlandschaft“ gibt es nicht. Ebenso wenig wie das „musikalische Kunstwerk“, das die Orchester zur Aufführung bringen oder das „klassische Konzert“ als Rahmen für das LiveMusizieren. Einen gesamten „Apparat“ oder ein „Dispositiv“ kann man nicht unter Denkmalschutz stellen. Das Dispositiv ändert sich, und es muss sich ändern, um nicht zu sterben. Immer wieder, auch wenn die Orte aus Stein gemauert sind. Ob die Formatdesigner das Konzert vor dem Aussterben retten werden, ist eine andere Frage. Aber darüber entscheidet nicht die Unesco, sondern, wie es so schön heißt: die Zeit. Musik 11 Jorge Sanchez Chiong: Overlockers 5 Patricia Kopatchinskaja CD: Alpha 211, LC-- Dauer: 0’39 Autorin Nach dem Schlusswort noch ein Epilog im Dunkeln. „Now I lay me down. Ein Hörerlebnis im lichtlosen Raum“ heißt die jüngste Exkursion in die Finsternis, eine Inszenierung der Berliner Regisseurin Sabrina Hölzer. Bühne und Hörraum: hier ist alles eins. Ich liege allein auf einem von 60 Holzpodesten, unter mir leicht feuchter Rollrasen. Es riecht nach Erde. Im Saal ist so dunkel, dass man nicht mal die Hand vor Augen sieht. Als der erste Ton beginnt, bin ich in einer anderen Welt. Ich bin allein. Der Saal, 15 scheint mir, hat keine Wände mehr. Die Streicher, die sich in völliger Finsternis zwischen den Podesten bewegen, klingen ferner, wenn sie fern sind, und näher, wenn sie nah sind. Und wenn sie sich minimal bewegen, dreht sich alles im Kreis. Außer dem Raum, der Musik und meinem Stückchen Rollrasen gibt es nichts. Auch die Musiker verlassen sich nur aufs Ohr. Im Dunkeln spielen sie intuitiv leiser als bei Licht, sagt die Regisseurin. Und das Publikum hört anders, wenn es liegt. Das Programm ist thematisch auf das Liegen – auf das Fallen lassen, das Loslassen bis hin zum Sterben – ausgerichtet. Eine auskomponierte Folge bestehender Werke und neuer Kompositionen. Das Programm, die Arrangements, die langen Proben im Dunkeln, die Experimente mit der Raumwirkung und Raumklangveränderung, die Einrichtung mit Liegen, Rollrasen und Wolldecken und die Verdunkelung: all das macht dieses Dunkelkonzert zu einem der aufwändigsten Konzerte, die ich je besucht habe. Es gibt nur 60 Rollrasen-Betten, und das bedeutet nur 60 Besucher pro Veranstaltung. Obwohl man nichts sieht, ist Now I lay me down ist so teuer wie eine Musiktheaterproduktion. Ist das dekadent? Oder ein Traum? Irgendwie beides. Ein dekadenter Traum. Ein Modell für den Alltag jedenfalls nicht. Hier geht es nur um Qualität. Es ist eine Ausnahmeerfahrung. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat brauche ich sie auch nicht. Nicht mal jedes Jahr. Aber irgendwann würde ich das gerne noch einmal erleben. Aber dann wird es garantiert nicht mehr dasselbe sein. Man steigt eben nicht zwei Mal in denselben Fluss. Schade eigentlich. ***** Literatur: Hans-Erich Bödeker, Patrice Veit, Michael Werner, Julia Kraus, Dominique Lassaigne: Le Concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europe de 1780 à 1914 (France, Allemange, Angleterre), Les Editions de la MSH, 2002 Jörg Brauns: Schauplätze, Diss 2004 Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Dt Berlin 1978 Christiane Tewinkel Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile 2004 Thorau, Odenkirchen, Ackermann (Hg): Musik Bürger Stadt, Regensburg 2011 Martin Tröndle (Hg.): Das Konzert. Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form. Transcript-Verlag, Bielefeld 2009 Friederike Wißmann: Deutsche Musik 16 Zitate: Elmar Krekeler: Irre. Hier werden klassische Schlachtrösser jung, in: Die Welt, 18.1.2016 Kölner Musikalische Gesellschaft: Statuten (1813), in: Thorau, Odenkirchen, Ackermann (Hg): Musik Bürger Stadt, Regensburg 2011, S. "Geeint durch das Band der Harmonie". Bürgerliches Musikleben in Köln in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Hans-Erich Bödeker/Patrice Veit/Michael Werner (Hg.), Le concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europe de 1780 à 1914 (France, Allemagne, Angleterre). Paris: Fondation Maison des sciences de l´homme, 2002, S. 185 Christiane Tewinkel: Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile?, Dumont 2004, (Klappentext) Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S.119 Heather Maitland, zit. nach Website: http://www.heathermaitland.co.uk/ Sven Hartberger, zit. nach einem Interview mit der Autorin Elisabeth Schwind: Nachts im Wald, Südkurier 23.8.2016 Podium Festival Esslingen, Flyer Programmankündigung 2017 für Konzert „Nächtliche Versammlung“ am 5.5.2017 17