Krankheiten des Ohres 160 130 90 Das Gehörorgan kann durch Schalleinwirkung akut geschädigt werden. Je nach der Art der schädigenden Schallwellen, den Begleitumständen und den Auswirkungen auf das Ohr sind – neben der akuten vorübergehenden Vertäubung – 4 Formen zu unterscheiden: das Knalltrauma, das Explosionstrauma, das akute Lärmtrauma und der sog. akustische Unfall (" Abb. 8.5). Da sich das schädigende Ereignis immer nur auf kurze Zeit (weniger als eine Arbeitsschicht) beschränkt, gelten diese Vorkommnisse in der Regel versicherungstechnisch als Unfall; nur das akute Lärmtrauma wird wie eine Berufskrankheit nach Ziffer 2301 der BKV (Lärmschwerhörigkeit) behandelt (vgl. S. 60). Dementsprechend ist also vom erstbehandelnden Arzt eine Unfallmeldung und nur im Fall des akuten Lärmtraumas eine Anzeige über eine Berufskrankheit zu erstatten. Für Schädigungen im Wehrdienst und den diesem gleichgestellten Bereichen gilt diese Unterscheidung natürlich nicht. Abb. 8.5 Der chronischen Verlaufsform der Lärmschwerhörigkeit steht die Gruppe der akuten akustischen Traumen mit 4 verschiedenen Krankheitsbildern gegenüber, deren gemeinsames Merkmal der plötzliche Eintritt der Schwerhörigkeit ist. Explosionstrauma Knalltrauma 190 8.10 Akutes Schalltrauma akutes Lärmtrauma akustischer Unfall Lärmschwerhörigkeit dB t 208 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. höhle nachströmen. In der Folge wird die Schleimhaut „geschröpft“ und reagiert mit einer Sekretexsudation. In der Regel reißen bei diesem Vorgang kleine Gefäße ein, die zu einer Einblutung in die Nebenhöhle führen. Durch diesen Vorgang verringert sich das luftgefüllte Volumen der Nasennebenhöhlen. Klinisch bemerkt der Betroffene diesen Vorgang durch ein Nachlassen der Schmerzen. Während des Auftauchens dehnt sich die abgeschlossene Luft in den Nasennebenhöhlen aus. In der Regel wird das Sekretgemisch aus Schleim und Blut aus der Nasennebenhöhle ausgetrieben und imponiert als blutige Schleimansammlung in der Tauchermaske. In seltenen Fällen übersteigt der Verschlussdruck der Ostien die Widerstandskräfte der knöchernen Begrenzung der Nebenhöhlen. In der Folge kann sich die Luft in die umgebenden Weichteile, die Orbita (Bellini 1987) oder nach intrakraniell ausbreiten (Goldmann 1986) bzw. den 5. Hirnnerv schädigen (Murrison et al. 1991). 8.10 Akutes Schalltrauma Beim Knall- und Explosionstrauma sowie beim akuten Lärmtrauma können vorübergehende Vertäubungen auftreten, auch wenn der Lärmpegel gering unter den anerkannten Grenzwerten gelegen hat. Typisch sind dann Klagen über minuten- oder stundenlange Vertäubungen („Watte hören“) und spontane Geräuschempfindungen. In der Regel klingen die Beschwerden folgenlos ab. Nicht selten wird in einem derartigen Fall eine erstmalige audiometrische Untersuchung durchgeführt. Wird dann ein auffälliger audiometrischer Befund erhoben, ist ein Zusammenhang mit dem akustischen Ereignis nur wahrscheinlich, wenn das pathognomonische Bild typisch ist. Häufig wird aber eine vorbestehende Schwerhörigkeit aufgedeckt, von welcher der Betreffende vorher nichts gewusst hat, z. B. eine beiderseitige pantonale Innenohrschwerhörigkeit mit einem für eine degenerative Schwerhörigkeit typischen Verlauf, die vorübergehend durch die Vertäubung überlagert bzw. verstärkt wurde. Allein die Aussage des Patienten, dass ihm bisher eine Hörminderung nicht aufgefallen sei, reicht nicht für die Annahme einer traumatischen Hörstörung aus. Merke Eine vorübergehende Vertäubung durch ein Unfallereignis kann evtl. auch zu einem vorübergehenden – aber nicht permanenten – Tinnitus führen. 8.10.2 Knalltrauma Das Knalltrauma entsteht durch einmalige oder wiederholte Einwirkung einer sehr starken Schalldruckwelle, deren Druckspitze zwischen 160 und 190 dB liegt. Wenn die Dauer der Druckwelle sehr kurz ist (1 – 3 ms), bleibt das Trommelfell intakt und es tritt lediglich eine Schädigung am Innenohr ein. Die ausschließliche Schädigung des Innenohrs ist das Kennzeichen des Knalltraumas (Ruedi 1957). Die Einwirkung eines Knalls führt zu Resonanzen von Strukturen des Mittelohrs, wobei die Stärke dieser Resonanzen und der damit auftretenden Hörschäden vom Zeitverlauf des Schalldrucks abhängt. Aus diesem Grund ist es bedeutsam, den Zeitverlauf genau zu erfassen und zu dokumentieren. Der gemessene Knall muss also zum festgestellten Hörschaden passen oder Letzterer hat andere Ursachen. In der Praxis führt dies derzeit dazu, dass ein schädigender Knall in lauter Umgebung häufig rechnerisch dem Mittelungspegel des Arbeitsplatzes zugeordnet wird, derselbe Knall in ruhiger Umgebung aber als Ursache von Hörschaden und Tinnitus verworfen wird. Durch Erfassung und Bewertung des Zeitverlaufs lässt sich dies meist vermeiden. Die Analyse von sehr vielen Knallen und den dadurch verursachten Hörschäden lässt 3 Arten von Resonanzen erkennen. Kräftige tiefe Frequenzen können die Mastoidzellen anregen, die im Prinzip einen Helmholtz-Resonator darstellen. Dies kann zu Schäden im Bereich von 500 – 750 Hz führen. Steigbügelresonanz kann Schäden zwischen 4 000 und 6 000 Hz verursachen. Das Schwingen des Steigbügels in sich ruft Schäden im Bereich von 10 000 – 14 000 Hz hervor (Fleischer 2011). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 8.10.1 Akute vorübergehende Vertäubung/zeitweise Hörschwellenverschiebung Die häufigste Ursache für Knalltraumen sind Schießübungen mit Handfeuerwaffen (Gewehr, Pistole, Panzerfaust) und Geschützen (Partsch u. Hülse 1970, Pfander 1975), ferner Bolzenschussgeräte, mit denen z. B. Fensterrahmen in Beton befestigt werden. Hierbei handelt es sich oft um wiederholte Einwirkungen innerhalb kurzer Zeit. Einmalige Ereignisse, die zum Knalltrauma führen, sind oft das Platzen eines Druckschlauchs oder Druckbehälters, ein explodierender Pkw- oder Lkw-Reifen, die Explosion eines Knallkörpers und dergleichen. Auch der Stoßwellenknall von Überschallflugzeugen soll gelegentlich ein Innenohrtrauma verursacht haben (Kleinsasser 1965). In jüngster Zeit häufen sich anscheinend auch Knalltraumen bei Kindern und Jugendlichen, die absichtlich oder im Spiel in Nachahmung von Fernsehszenen verursacht worden sind (eigene Beobachtungen): Schuss mit einer auf den Gehörgang aufgesetzten Spielzeugknallpistole (Resultat: praktische Taubheit auf dem betroffenen Ohr); Jugendliche sperren einen anderen in eine Telefonzelle, zünden darin einen Knallkörper (Resultat: bds. erhebliches Knalltrauma). Die Schalldruckspitzen bei 209 Krankheiten des Ohres Lärmmessungen bei kurz dauernden Schallereignissen Für eine präzise Erfassung von Knallen ist es erforderlich, dass die Gegebenheiten des zu messenden Geschehens genau erfasst und dokumentiert werden. Von besonderer Bedeutung ist die Entfernung zwischen dem Ort des Knalls und dem betroffenen Ohr, wobei das für die Nachmessung verwendete Mikrofon am Ort des betroffenen Ohres platziert sein muss. Um eine möglicherweise unmittelbar gehörschädigende Lärmeinwirkung durch extrem hohe Schalldruckpegel (z. B. Knalle, Explosionen) zu beurteilen, ist der maximale „I“-bewertete Schalldruckpegel LAImax oder der LCpeak heranzuziehen. LAImax ist der maximale A- und I‑bewertete Schalldruckpegel. Die A‑Bewertung ist eine Frequenzbewertung und die I‑Bewertung (I für „Impuls“) ist eine Zeitbewertung, die für den Schalldruckanstieg eine Zeitkonstante von 35 ms und für den Schalldruckabfall eine Zeitkonstante von 1,5 s aufweist. Lpeak ist der Spitzenwert (Scheitelwert) des Schalldruckpegels und LCpeak ist der C‑bewertete Spitzenwert. Die C‑Bewertung ist eine weitere Frequenzbewertung, die bei hohen Schallpegeln gewählt wird, da sie der Empfindlichkeitskurve des Ohres am nächsten kommt (Liedtke 2010a). 210 Merke Einmalige Schallereignisse von mehr als LAImax = 135 dB können im Einzelfall akute Gehörschäden hervorrufen. Dieser Wert entspricht etwa dem Wertebereich von 150 – 165 dB (C peak). Die wichtigsten Informationen über Art und Beschaffenheit eines Schallereignisses und dessen Schädlichkeit für das Gehör ergeben sich aus der Darstellung des Zeitverlaufs bzw. der bildhaften Dokumentation des Knalls. Einige Beispiele sollen dies erläutern (" Abb. 8.6 a – f): ● Der Knall eines platzenden Luftballons (" Abb. 8.6 a) ist erwartungsgemäß sehr variabel. Er hängt von der Wandstärke des Ballons ab und davon, wie stark er aufgeblasen ist. Wird der Ballon durch ein spitzes Objekt zum Platzen gebracht, hängen die Details des Knalls davon ab, wo gemessen wird. Insgesamt ist dieser Zeitverlauf – eine hohe positive Druckspitze, gefolgt von einer tiefen negativen Druckspitze – untypisch für Knalle. Wie in der EU‑Richtlinie zum Arbeitslärm festgelegt, wird der Schalldruck in Pascal (Pa) angegeben, wobei im Fall der Knalle kPa sinnvoller ist, um große Zahlen zu vermeiden. Der Grenzwert für den Schalldruck, gemessen am Ohr, beträgt 0,20 kPa, also 200 Pa. Im Bereich der Forschung ist diese Darstellung seit Langem üblich und es ist daher sehr bequem, Ergebnisse weltweit zu vergleichen. Der Spitzenwert ist in dB angegeben, wobei man sich erinnern sollte, dass dB eine Darstellungsweise, also keine physikalische Einheit ist. Die Zeitachse ist in Tausendstelsekunden gegliedert, also in ms. Insgesamt dauert der Knall etwa 8 ms. ● Ein scharfer Schuss mit einer Pistole (" Abb. 8.6 b) auf einer überdachten Schießbahn belastet das Ohr des Schützen mit einem Knall, dessen Zeitverlauf mit einem sehr steilen Anstieg beginnt und nach dem Spitzenwert von 157 dB relativ langsam abklingt. Das Auswerfen der leeren Hülse, das Nachladen der nächsten Patrone sowie das Echo des Lärms von der Decke und den Wänden sind für die lange Dauer des Schallimpulses verantwortlich. Im Vergleich mit dem platzenden Luftballon ist dieser Knall nicht nur durch einen höheren Spitzenwert ausgezeichnet, sondern er dauert insgesamt fast Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Schreckschusswaffen liegen in 1 m Entfernung bei 160 dB, in 25 cm Entfernung bei über 180 dB und sind extrem kurz (um 1 ms). Bei Handfeuerwaffen der Bundeswehr liegt der Spitzenschalldruck am Ohr des Schützen in einer ähnlichen Größenordnung (Gewehr G3 168 dB, Pistole P1 171 dB), erstreckt sich aber über etwas längere Zeit (um 3 ms). Je nach Bauart, offener oder geschlossener Lauf, hat der Knall der Spielzeugpistolen eine mehr oder weniger starke Richtwirkung. Die Gehörschäden durch Spielzeugpistolen werden in Haftpflichtprozessen gegen den Verursacher oder bei der privaten Unfallversicherung geltend gemacht. Schreckschusswaffen werden aber auch bei Raubüberfällen eingesetzt und können entsprechende Hörschäden verursachen. Insofern könnten diese auch Gegenstand von Gutachten in Strafrechtsprozessen sein (Übersichten s. Fleischer et al. 1998, 1999; Rothschild et al. 1998). 8.10 Akutes Schalltrauma ● ● von 149 dB erreicht. Zu beachten ist, dass Kinder kleiner sind, wodurch die Ohren näher am liegenden Objekt sein können. Hinzu kommt eine erhöhte Empfindlichkeit des kindlichen Gehörs. Erhebungen zeigen außerdem die Neigung von Kindern, nicht explodierte Knallkörper in die Hand zu nehmen, die dann verspätet doch noch zünden und zu Hörschäden, Tinnitus und Verbrennungen verschiedenster Art führen können. ● Manchmal genügt schon ein Hammerschlag, um das Gehör zu schädigen. Wird mit einem Fäustel auf einen Stahlträger geschlagen (" Abb. 8.6 f), kann dies starke, bleibende Hörschäden hervorrufen, wenn das betroffene Ohr nicht weit genug entfernt ist. Bei der hier zugrunde liegenden Entfernung von 10 cm wird mancher meinen, dies sei unrealistisch. Dabei ist zu berücksichtigen, dass durch Knalle verursachte Hörschäden nicht durch besonders laute Knalle entstehen, sondern dadurch, dass unglücklicherweise das Ohr nahe am Entstehungsort des Knalls war. Es können also seltene oder einmalige Gegebenheiten sein, die schlimme Folgen haben. Im Fall des Hammerschlags soll z. B. ein Stahlträger als Stütze beim Bau einer Garage eingezogen werden. Dieser klemmt jedoch, weil er etwas zu lang ist. Ein Arbeitskollege stemmt sich dagegen und der andere schlägt auf den Träger, um ihn richtig zu platzieren. Die durch den Hammerschlag verursachte Druckspitze von 151 dB entspricht derjenigen, die durch den platzenden Luftballon entstand, doch ist der Hammerschlag viel schädlicher, weil die Anstiegsflanke bedeutend steiler ist. Hinzu kommt, dass der Stahlträger durch den Hammerschlag zum Schwingen angeregt wird, wodurch der Impuls sehr lang wird und damit sehr viele Schallspitzen das Ohr belasten. Bei jeder Messung durch den Präventionsdienst wird ein Diagramm, wie in " Abb. 8.6 a – f gezeigt, erstellt. Es sollte gespeichert und dem Gutachter immer zur Verfügung gestellt werden. Bedauerlicherweise erhält der Gutachter meistens lediglich einen „Dezibelwert“ mitgeteilt, oft sogar ohne die Information von Zeit- und Frequenzbewertung, z. B.: „Bei dem Ereignis betrug der Lärmpegel 138 dB.“ Mit einer derartigen Information kann der Gutachter nicht beurteilen, ob das Ereignis gehörschädigend war! Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ● 10-mal so lang. Durch die sehr steile Anstiegsflanke des Schalldrucks ist der Knall sehr gefährlich für das Gehör. Spielzeug soll keine gesundheitlichen Schäden verursachen. Daher nehmen die meisten Leute an, dass der Knall von Kinderpistolen harmlos sei. Basierend auf einer Dokumentation von Spielzeugwaffen, zeigt die " Abb. 8.6 c den Zeitverlauf eines solchen Knalls. Die geringe Entfernung zum Ohr entspricht der Realität, da Kinder häufig versuchen, einem anderen Kind ins Ohr zu schießen. Im Gegensatz zu den beiden ersten Zeitverläufen ist dieser Knall extrem kurz, mit einer Dauer von weniger als einer Tausendstelsekunde. Der Spitzenwert von 164 dB ist viel höher als im Fall des Pistolenschusses mit scharfer Munition. Herkömmliche Messverfahren sind nicht in der Lage, die sehr große Gefährlichkeit solcher sehr kurzen Knalle mit hohem Spitzenwert auch nur annähernd realitätsgetreu zu vermitteln. Beim Schuss eines modernen Gewehrs (" Abb. 8.6 d) wird die Spitze des Knalls durch den Mündungs-Knall hervorgerufen, wodurch beim Rechtshänder das linke Ohr besonders betroffen ist. Wie bei der Pistole führen das Auswerfen der leeren Hülse und das Nachladen der nächsten Patrone zu weiteren, allerdings schwächeren Komponenten des Knalls. Bemerkenswert ist, dass der dargestellte Schuss mit der Kinderpistole (s. o.) gefährlicher ist als der mit dem G3. Man unterscheidet zwischen geprüften und ungeprüften Böllern (" Abb. 8.6 e). Sie werden von der Bundesanstalt für Materialprüfung (BAM) getestet und für den Verkauf freigegeben, wenn sie bestimmte Kriterien einhalten. Dadurch wird sichergestellt, dass diese explodierenden Gegenstände nicht allzu stark bzw. allzu gefährlich sind. Im Zeitalter der Globalisierung gelangen jedoch viele ungeprüfte Sprengkörper in die EU, unter denen sich extrem gefährliche Objekte befinden. Auch Böller mit Prüfzeichen können gefährlich sein, da auch das Prüfzeichen gefälscht werden kann. Bei der Knallerei ist darauf zu achten, dass Personen, vor allem Kinder, weit entfernt sind – 10 Meter und mehr – wenn diese Objekte gezündet werden. Sie sollten sich die Ohren zuhalten und die Augen schließen. In " Abb. 8.6 e wird der Knall eines geprüften Böllers dargestellt, der etwa 5 ms andauert und in einem Meter Entfernung einen Spitzenwert Die Schädigung ist oft auf dem der Schallquelle zugewandten Ohr stärker ausgeprägt als auf der an- 211 Krankheiten des Ohres kPa 0,80 kPa 1,5 151 dB 157 dB 0,60 1,0 0,5 0,20 0 0 –0,20 –0,5 –0,40 –0,60 –1,0 0 10 20 ms a Platzender Luftballon, Entfernung 2 cm kPa 3,0 0 10 20 30 40 50 60 ms b Pistolenschuss in einer Schießbahn, gemessen am Ohr des Schützen kPa 2,0 164 dB 160 dB 1,5 2,0 1,0 1,0 0,5 0 0 –0,5 –1,0 –1,0 –2,0 0 0,5 1,0 c Kinderpistole, Entfernung 5 cm 1,5 ms Abb. 8.6 a – f Zeitverläufe von 6 verschiedenen Knalltraumen 212 0 10 20 30 40 ms d Schuss aus Gewehr (G3) im Freien, gemessen am Ohr des Schützen Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Schalldruck (kPa) 0,40 8.10 Akutes Schalltrauma kPa Abb. 8.6 Zeitverläufe von 6 verschiedenen Knalltraumen. Die Beispiele und die zugehörigen Ausführungen (s. Text) verdanken die Autoren Prof. Dr. rer. nat. Gerald Fleischer, Rabenau. 149 dB 0,50 0,40 0,30 0,20 0,10 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 0 –0,10 –0,20 –0,30 –0,40 1 2 3 4 0 e Zylindrischer Silvesterböller, Entfernung 1 m kPa 0,70 5 ms 151 dB 0,60 0,50 0,40 0,30 0,20 0,10 0 –0,10 –0,20 –0,30 –0,40 –0,50 0 20 40 60 80 100 120 140 ms f Hammerschlag (mit Fäustel) auf Stahlträger, Entfernung 10 cm 213 Tab. 8.4 Beispiele für Knallimpulse durch Alltagsgeräusche (Maue 2009b). Geräusch LAImax LCpeak Händeklatschen 104 121 Händeklatschen in 0,3 m Abstand 115 135 99 125 Autotür zuschlagen in 0,3 m Abstand 102 135 Platzen eines Lufballons 117 138 Platzen eines Lufballons in 1 m Abstand 121 145 Schlagzeugspiel 113 131 Autotür zuschlagen deren Seite, die durch die Schattenwirkung des Kopfes etwas geschützt ist. Subjektiv empfindet der Geschädigte sofort eine Vertäubung der Ohren, verbunden mit Tinnitus, oft auch einen stechenden Schmerz. Die Schädigung betrifft in der Regel die hohen Frequenzen in Form einer mehr oder weniger breiten Senke mit dem Maximum bei 4 000 – 6 000 Hz. Das Rekruitment ist immer positiv. Als stärkeren Grad der Schädigung findet man aber auch einen Schrägabfall, der sich erst im Laufe der Restitution in die Hochtonsenke umbildet (s. Beispiel 8.11). Eine vollständige Ertaubung oder eine vestibuläre Beteiligung kommt praktisch nicht vor. Die anfänglich erhebliche Schwerhörigkeit hat die Tendenz zur Besserung, die allerdings nach einigen Tagen bis Wochen abgeschlossen ist. Danach wird zumeist ein stationärer Zustand erreicht. Im täglichen Leben wirken auf den Menschen immer mal laute Geräusche ein, die unerwartet auftreten und als unangenehme Knalle empfunden werden. In Einzelfällen führen derartige Ereignisse später zu juristischen Auseinandersetzungen. Dies passiert insbesondere dann, wenn die Betreffenden behaupten, einen Gehörschaden erlitten zu haben. Auffälligerweise gibt es derartige Vorwürfe gehäuft im Spannungsverhältnis zwischen Lehrer und Schüler, wie z. B. ein angebliches Knalltrauma mit Hörminderung/Tinnitus/Hyperakusis durch das Zu-Boden-Fallen-Lassen eines schweren Buches auf den harten Boden eines Klassenzimmers, durch das heftige Schleudern eines Rollenstuhls gegen 214 den Heizkörper eines Klassenraums, durch das kraftvolle Zertreten eines leeren Tetrapak-Getränkekartons während des Unterrichts, durch einen besonders lauten Schrei – mit beleidigendem Inhalt – direkt ins Ohr eines Lehrers, durch ein lautes Flurtelefon im Gang eines Möbelhauses, durch eine Pausenklingel in einem Schulflur, usw. Derartige Vorkommnisse werden von den Betroffenen nicht immer als Scherz, sondern in Einzelfällen auch als körperlicher Angriff empfunden. Auch wenn die subjektiv empfundene Lautheit schmerzhaft erscheinen mag, reicht die tatsächliche Lautstärke in keinem Fall aus, um einen Innenohrschaden hervorzurufen, da die gehörschädigenden Grenzwerte in keinem Fall erreicht bzw. überschritten werden. Im Übrigen wird bereits durch einen kräftigen Hustenstoß ein Spitzenschallpegel von 100 – 110 dB erreicht. Maue (2009b) hat Beispiele für die Lautstärke von Knallimpulsen durch Alltagsgeräusche ermittelt (" Tab. 8.4). Eine Progredienz der Innenohrschwerhörigkeit nach reinem Knalltrauma ist verschiedentlich beschrieben worden (Hahlbrock u. Weyand 1961, Altenburger 1963, Baldus u. Güttich 1967), ist aber sicher nicht die Regel. Pilgramm et al. (1988) fanden bei Nachuntersuchungen ein Jahr nach einem Knalltrauma sowohl Hörverbesserungen als auch progrediente Hörverschlechterungen. Am ehesten ist mit einer Progredienz zu rechnen, wenn die primäre Schädigung erheblich war und Hörverluste von mehr als 80 dB erreichte. Von Schulthess (1961) fand durch statistische Untersuchungen über einen Zeitraum von 12 Jahren, dass ein akustisch traumatisiertes Gehörorgan einer altersunabhängigen, leicht progredienten Gehörverschlechterung anheimfällt, in seinem Material im Mittel um 10 dB in 5 Jahren. Wenn diese Beobachtung auch in dieser Form noch nicht von anderen Untersuchern bestätigt worden ist, muss doch die Möglichkeit einer posttraumatischen Gehörverschlechterung nach einem Knalltrauma generell in Erwägung gezogen werden. Die früher häufig vertretene Auffassung (Mittermaier 1952, Schulze-Bahr 1956), dass eine derartige Verschlechterung immer andere Ursachen haben müsse (Degeneration, Alter), kann nicht aufrechterhalten werden (s. Beispiel 8.8). Die Diagnose des Knalltraumas bereitet im akuten Stadium keine Schwierigkeiten. Die Schilderung der äußeren Umstände und der Befund bilden ausreichende Anhaltspunkte. Kommt der Verletzte Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Krankheiten des Ohres 8.10 Akutes Schalltrauma Beispiel 8.8 Diagnose Progression nach Knalltrauma? R. L., 52 Jahre, Bankkaufmann. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Befund Im Alter von 19 Jahren erlitt der Kläger beim ersten scharfen Manöver während seiner Bundeswehrzeit auf einem Truppenübungsplatz ein Knalltrauma, da ein Mitsoldat in seiner Nähe eine Panzerfaust abgeschossen hatte. Das Tragen von Gehörschutz sei aus „Sicherheitsgründen“ verboten gewesen. Er bemerkte sofort eine linksbetonte Vertäubung, die später mit Infusionen behandelt wurde, sodass eine Besserung wieder eintrat. Während der restlichen Bundeswehrzeit wurde er von Schießübungen befreit. In den folgenden 30 Jahren bemerkte er während seiner Tätigkeit als Bankkaufmann im Schalterdienst, später bei Kundengesprächen und dann als Niederlassungsleiter eine zunehmende Hörminderung. Die Tätigkeit musste er 1997 aufgeben und konnte wegen der Schwerhörigkeit nur noch zu Hause in einem ruhigen Arbeitsfeld am Schreibtisch tätig sein und Buchhaltungsaufgaben machen. Bei unserer gutachterlichen Untersuchung fand sich eine hochgradige bis an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beider Ohren mit annähernd symmetrischer Ausprägung. Selbst im Tieftonbereich zeigten sich Hörverluste von 30 – 40 dB. Der maximale Hörverlust betrug beiderseits 110 dB. Der mittlere Hörverlust für Zahlwörter ergab beiderseits einen Wert von 40 dB, das (ungewichtete) Gesamtwortverstehen betrug rechts nur noch 85 und links 75. Beim Vergleich mit den früheren Befunden aus der Bundeswehrzeit von 1974 zeigte sich eine extreme Zunahme, vor allem rechts. 1974 war rechts noch ein normales Hörvermögen mit einer Flüstersprache von 7 – 8 Metern diagnostiziert worden. Tonaudiogramm: " Abb. 8.7 125 250 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 0 10 1980 Hörverlust (dB) Hörverlust (dB) 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 20 +F 40 50 60 70 80 90 250 0 10 20 30 125 1980 30 40 50 60 70 80 2007 90 100 100 110 110 120 2007 120 rechtes Ohr linkes Ohr Abb. 8.7 Tonaudiogramm. Fortsetzung nächste Seite 215 Krankheiten des Ohres Beurteilung Nach dem Knalltrauma von 1974 war – noch 6 Jahre später – im Jahr 1980 rechts eine annähernde Normalhörigkeit mit angedeuteter Senkenbildung und einem Flüstersprachengehör von 7 – 8 Metern nachgewiesen worden und links eine geringgradige bzw. gering- bis mittelgradige Schwerhörigkeit. Nach weiterer angeblich schubweiser Verschlechterung liegt nun beiderseits eine hochgradige Schwerhörigkeit mit erheblichen Tieftonhörverlusten vor. Trotz des anfänglich nachgewiesenen Knalltraumas muss man davon ausgehen, dass die weitere Verschlechterung des Gehörs nicht Folge des Knalltraumas von 1974 ist, denn noch 6 Jahre nach dem Ereignis lag rechts eine (annähernde) Normalhörigkeit vor, heute eine hochgradige Schwerhörigkeit mit einer Hörminderung in allen Frequenzen. Da es sich heute um eine symmetrische Schwerhörigkeit mit gleichem tonaudiometrischen Profil handelt, muss auch für das linke Ohr ein überwiegend nicht wehrdienstbedingter Schaden angenommen werden. Eine Wehrdienstbeschädigung nach dem SVG liegt somit nur im Ausmaß des Hörschadens von 1974 vor (Brusis 2008c). aber erst nach längerer Zeit zur Begutachtung und fehlen Unterlagen über die primäre Schädigung, kann die Beurteilung schwierig werden. Wichtig sind dann folgende Gesichtspunkte: ● Hat es sich um ein adäquates Ereignis gehandelt, das geeignet war, ein Knalltrauma des Ohres zu verursachen? ● Wird die Schädigung mit der typischen Symptomatik geschildert: Sofortige völlige Vertäubung, dann allmähliche Besserung? ● Liegt ein typischer Hörbefund vor: c -Senke 5 oder Steilabfall? ● Können andere Ursachen ausgeschlossen werden, insbesondere eine Lärmschwerhörigkeit? Beispiel 8.9 Ein Richter behauptete, durch den Knall einer zuschlagenden Tür in einem langen Korridor eine Hörschädigung erlitten zu haben. Das Ereignis dürfte kaum adäquat gewesen sein. Der Zusammenhang konnte aber eindeutig verneint werden, da kein typischer Hörbefund vorlag und eine andere Ursache der Schwerhörigkeit, nämlich ein Tubenmittelohrkatarrh, festgestellt wurde. Ein Knall von vergleichsweise geringer Schallstärke kann anscheinend in Verbindung mit Stress und Schreck in seltenen Fällen Anstoß zu einem hörsturzartig einsetzenden Tieftonverlust sein (vgl. Beispiel 8.9). Wahrscheinlich entgleist dabei eine schon bestehende Instabilität des Innenohrs, etwa in den Druckverhältnissen der Endo- und Perilymphe, sodass ein Pathomechanismus wie beim endo- 216 lymphatischen Hydrops wirksam wird. Gutachtlich kann dann nur im Einzelfall entschieden werden, ob der Knall eine wesentliche Bedingung zur Entstehung des Hörschadens war oder ob er als unwesentliches Bagatelltrauma zu werten ist, vergleichbar dem ungeschickten Bücken oder Heben eines mäßig schweren Gegenstands, durch das ein Bandscheibenprolaps ausgelöst wird. Ist die Frage der Progredienz einer Innenohrschädigung durch Knalltrauma zu beurteilen, so sind folgende Gesichtspunkte heranzuziehen: ● Hat es sich um eine schwere primäre Schädigung mit Hörverlusten um 80 dB und mehr gehandelt? ● Wie genau ist die primäre Schädigung dokumentiert? ● Ist gegenüber den primären Befunden überhaupt eine Verschlechterung eingetreten und überschreitet sie das nach der Altersentwicklung zu erwartende Maß? ● Bestehen zwischen primärer Schädigung und jetzigem Zustand Brückensymptome, z. B. in Form von Tinnitus oder kontinuierlicher Progredienz? Gegen einen Zusammenhang spricht, wenn die Hörstörung über viele Jahre konstant war und dann erst (meist im fortgeschrittenen Alter) zunimmt. ● Ist die Progredienz auf der stärker betroffenen Seite und im Bereich der am stärksten betroffenen Frequenz am deutlichsten? ● Sind andere Ursachen wahrscheinlicher, z. B. Altersschwerhörigkeit, fortgeschrittene Zerebralsklerose? Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Beispiel 8.8 (Fortsetzung) 8.10 Akutes Schalltrauma Beispiel 8.10 Diagnose Knalltrauma durch Schuss mit einer Panzerfaust. D. R., 21 Jahre, Soldat. Befund Der Soldat hatte bisher die üblichen Schießübungen mit Sturmgewehr und Gewehrgranaten ohne Schädigung mitgemacht. Beim ersten Schuss mit einer Panzerfaust erlitt er ein Knalltrauma. Beide Ohren waren sofort wie zugefallen, pfeifender Tinnitus rechts, später geringfügige Besserung. Befund bei Begutachtung nach 2 Jahren: " Tab. 8.5 Hörverlust für Sprache: Rechtes Ohr Linkes Ohr 30 dB 35 dB SISI‑Test: 100 % 100 % Gesamtwortverstehen: 110 (0 + 50 + 60) 100 (0 + 40 + 60) Prozentualer Hörverlust: 50% 50% Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Tab. 8.5 Befund bei Begutachtung nach 2 Jahren. Tonaudiogramm: " Abb. 8.8. 125 0 10 250 SISI % 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 100 0 10 Ohrgeräusch „Pfeifen“ mit 65 dB w. R. verdeckbar 40 50 60 70 80 Hörverlust (dB) 30 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 SISI % 100 Abb. 8.8 Tonaudiogramm. 30 40 50 60 70 80 90 90 100 100 110 250 20 20 Hörverlust (dB) 125 110 KL = LL 120 KL = LL 120 rechtes Ohr linkes Ohr Beurteilung Beiderseitige mittelgradige Innenohrschwerhörigkeit als Folge eines Knalltraumas. MdE 30 %. 217 Krankheiten des Ohres Beispiel 8.11 Diagnose Knalltrauma durch Gasexplosion. J. L., 35 Jahre, Schweißer. Befund Beim Anzünden des Schweißbrenners explodierte Gas, das zuvor durch ein undichtes Ventil ausgeströmt war. Sofort Vertäubung beider Ohren mit starkem Summen. Der Befund 3 Stunden nach dem Ereignis s. Tonaudiogramm " Abb. 8.9, Kurve 1. Befund bei Begutachtung nach 2 Jahren: " Tab. 8.6 Rechtes Ohr Linkes Ohr Hörverlust für Sprache: 15 dB 15 dB SISI‑Test: 100 % 100 % Tonaudiogramm: " Abb. 8.9 Kurve 2. Der als „Pfeifen“ beschriebene Tinnitus beiderseits wird in den Frequenzbereich um 4 kHz lokalisiert und lässt sich mit weißem Rauschen von 40 dB verdecken (" Tab. 8.7). Tab. 8.7 Rechtes Ohr Linkes Ohr Gewichtetes Gesamtwortverstehen: 255 285 Prozentualer Hörverlust aus Sprachaudiogramm: 0% 0% Prozentualer Hörverlust aus Tonaudiogramm (Röser 80): 5% 5% 125 0 10 250 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 SISI % 100 0 10 40 50 1 60 70 80 Hörverlust (dB) 2 30 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 SISI % 100 30 Abb. 8.9 Tonaudiogramm. 2 40 50 1 60 70 80 90 90 100 100 110 250 20 20 Hörverlust (dB) 125 110 KL = LL 120 KL = LL 120 rechtes Ohr linkes Ohr Beurteilung Beiderseitige beginnende Innenohrschwerhörigkeit mit Tinnitus. MdE unter Berücksichtigung des Tinnitus 10 %. 218 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Tab. 8.6 Befund bei Begutachtung nach 2 Jahren. 8.10 Akutes Schalltrauma Abb. 8.10 Überlagerung von Kollisionsgeräusch und Airbagexplosion. Im Vergleich zum explodierenden Airbag verläuft das Innengeräusch der Frontalkollision über eine längere Zeitspanne und ist zeitversetzt. Der Spitzenschallpegel ist deutlich geringer als der Schallpegel der Airbagexplosion (Rohm u. Schimmelpfennig 2007). 2000 Druck (Pa) 1500 1000 500 0 –500 –1000 40 80 120 160 200 Zeit (ms) Airbag 240 280 300 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 0 Kollision Im Rahmen von Verkehrsunfällen wird gelegentlich auch behauptet, dass der laute Knall zu einem Gehörschaden geführt hat. Die Mittenfrequenz eines sog. Anstoßgeräuschs liegt bei ca. 800 Hz, die Lautstärke (außen) bei 90 – 97 dB (A). Für Fahrzeuginsassen werden die im Augenblick des Anstoßes erzeugten Schwingungen über Körperschall bzw. über die Karosserie übertragen und durch die Innenauskleidung sowie die Schweißnähte der Karosserieteile um insgesamt ca. 8 dB gedämpft (Schorn 1989). Daher ist die tatsächlich auf den Fahrer einwirkende Lautstärke noch geringer. Anstoßgeräusche bei Verkehrsunfällen sind demzufolge nicht mit einer derartigen Lautstärke verbunden, dass sie zu einem Knalltrauma führen können (" Abb. 8.10). 8.10.3 Knalltrauma durch Airbags Airbags gehören etwa seit 1995 zur Standardausrüstung eines jeden neuen Autos. Sie sind vor dem Fahrersitz und dem Beifahrersitz angebracht, daneben haben einige Autotypen auch noch Airbags an den Seiten. Spezielle Sensoren messen die Beschleunigung, der das Fahrzeug und die Insassen nach Intensität und Richtung bei einem Unfall ausgesetzt sind, und lösen bei Überschreiten eines Schwellenwerts den Mechanismus aus: Eine kleine Ladung (8 g) von Schwarzpulver wird gezündet und bewirkt, dass eine bestimmte Menge von Natriumazid (NaN3) explosionsartig zerfällt und in- nerhalb von etwa 30 ms reinen Stickstoff freisetzt, der den Airbag aufbläht. Beim Fahrerairbag sind es ca. 35 l, beim Beifahrer ca. 65 l (Brehmer et al. 2000). Hierdurch entsteht eine starke Druckwelle, die akustisch wie ein Knall wirkt. Die Schalldruckspitzen liegen je nach Typ zwischen 160 und 176 dB (Fleischer 2000). Außerdem kommt es zu einem kurz dauernden Anstieg des statischen Luftdrucks im Fahrzeugraum. Die äußeren Umstände, Zahl der aufgeblähten Airbags, Fenster geöffnet oder geschlossen usw. haben erheblichen Einfluss auf das Geschehen. Die Auswirkungen auf die Ohren entsprechen einem Knalltrauma. Hochtonsenken beiderseits mit und ohne Tinnitus, bei Mitwirkung eines Seitenairbags auch mit Betonung der betroffenen Seite, sind verschiedentlich beobachtet worden, Trommelfellrupturen hingegen bisher nicht. Eine umfangreiche Untersuchung wurde im Jahr 2004 von der Bundesanstalt für Straßenwesen aufgrund einer Initiative des Allgemeinen Deutschen Automobil-Clubs e. V. (ADAC) in Zusammenarbeit mit dem Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft e. V. (Institut für Fahrzeugsicherheit) veröffentlicht. Die Datenbeschaffung erfolgte über eine Umfrage in den Zeitschriften der europäischen Automobilclubs und von Versicherern, ist aber nicht durch Untersuchungsergebnisse bestätigt. Es standen 692 Fälle zur Auswertung. Bei 564 Fahrzeugen wurde mindestens ein Airbag aktiviert. Einen Gehörschaden erlitten 44 Fahrer und 13 Bei- 219 Krankheiten des Ohres In 9 der 11 Fälle mit einem bleibenden Gehörschaden beim Fahrer oder Beifahrer wurden sowohl der Frontairbag auf der Fahrer- als auch auf der Beifahrerseite aktiviert, in 2 Fällen nur der Fahrerfrontairbag. Im gesamten vorliegenden Airbagmaterial befand sich kein einziger Fall, bei dem die Auslösung eines Seiten-/Kopfairbags zu einem bleibenden Gehörschaden führte. Nur bei 2 Fahrern führte die Auslösung eines Seiten-/Kopfairbags (während der Fahrt, ohne Kollision) zu einer temporären Gehörbeeinträchtigung. Im Übrigen hat die gutachterliche Erfahrung in den letzten Jahren den Eindruck bestätigt, dass der Knall eines Airbags höchstens zu einer vorübergehenden Vertäubung führt. Wenn tatsächlich ein bleibender Schaden vorliegt, ist dieser jedoch sehr gering. Aus gutachterlicher Sicht wäre das tonaudiometrische Bild eines Knalltraumas (Hochtonsenke) zu erwarten. Nebenverletzungen können vorkommen, wenn lose herumliegende, in den Händen gehaltene oder am Kopf befindliche Gegenstände vom Airbag erfasst werden, z. B. Brille, Tabakspfeife, Handy, Spielzeug usw. Sie betreffen vorwiegend die Haut (Abschürfungen) und die Augen (Linsenluxation, Glaskörperblutung usw.) (Hausotter 1997). Merke Knallschäden durch Airbagauslösung sind in der gutachterlichen Praxis äußerst selten. Meist handelt es sich um eine temporäre Vertäubung. Für einen Zusammenhang spricht, wenn das tonaudiometrische Bild (Hochtonsenke/Hochtonsteilabfall) vorliegt. Auch dann sind nur geringe Hörverluste zu erwarten. Selbstverständlich kann gleichzeitig auch ein HWS‑Beschleunigungstrauma vorliegen. Bei der Begutachtung wird es nicht immer möglich sein, diese Faktoren voneinander zu trennen. Dies ist auch bei einem Unfall haftungsrechtlich ohne Bedeutung. Wenn der Airbag durch einen technischen Fehler ausgelöst worden ist, ohne erkennbare Ursache, in der Waschstraße, bei Fahrt durch ein 220 Schlagloch, ist eine Beteiligung der HWS nicht zu erwarten. Die Haftung liegt dann evtl. beim Kraftfahrzeughersteller. 8.10.4 Explosionstrauma Das Explosionstrauma entsteht wie das Knalltrauma durch eine sehr starke Schalldruckwelle. Hat sie eine Dauer von mehr als 3 ms, kommt es zu einer Trommelfellzerreißung. Im Gegensatz zum Knalltrauma, das häufig wiederholt einwirkt, handelt es sich beim Explosionstrauma in aller Regel um ein einmaliges Ereignis, das meist als technischer Unfall auftritt. Darum werden die Personen zumeist überraschend getroffen und können keine Vorbeugungsmaßnahmen ergreifen, wie z. B. Schallschutzkappen bei Schießübungen oder bei Anwendung des Bolzenschussgeräts. Typische Situationen sind Explosionen in chemischen Fabriken, Platzen von größeren Druckbehältern und Kesseln oder großen Kraftfahrzeugreifen, Sprengungen, im Krieg Bomben- und Granateinschläge. Die Druckwelle ist oft so stark, dass der Betroffene zu Boden geschleudert wird. Zusätzliche Verletzungen durch den Sturz, herumfliegende Splitter und besonders bei Gasexplosionen durch Verbrennungen sind häufig. Auch bei Blitzschlagverletzungen wirkt neben den Verbrennungen und dem Elektroschock die starke Druckwelle im Sinne eines Explosionstraumas ein und verursacht u. U. Schäden an den Mittelohren. Brunner (1984) beschrieb eine doppelseitige Trommelfellperforation durch Blitzschlagunfall auf dem Moped auf dem Weg von der landwirtschaftlichen Arbeit. Das Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (BGIA) hat Geräuschmessungen und ‑analysen im Rahmen von Sprengübungen in Schneefeldern durchgeführt. Dabei konnte die Lärmbelastungssituation in unterschiedlichen Abständen von ca. 20 – 80 m für Sprengladungen von 2 – 5 kg erfasst werden, wobei der Messort jeweils durch einen Bergkamm oder Bäume abgeschirmt lag (Maue 2009c). Die Ergebnisse ließen erkennen, dass es sich um äußerst tieffrequente Schallimpulse handelt mit dominierenden spektralen Geräuschanteilen bei Frequenzen zwischen 16 und 100 Hz. Es wurden maximale „Impuls“-bewertete A‑Schalldruckpegel Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. fahrer, wobei 11 dieser Verletzungen (10 Fahrer und ein Beifahrer) bleibend waren. Auffälligerweise beruhten 16 Gehörschäden auf Fehlauslösungen sowie Auslösungen bei geringer Unfallschwere. 8.10 Akutes Schalltrauma bessert. Der Übergang in eine chronische Otitis media ist aber besonders nach einer Sekundärinfektion nicht selten. Die Innenohrschädigung ist oft irreversibel. Eine sekundäre Progredienz ist möglich und anscheinend häufiger als beim Knalltrauma (Seiferth 1979, Schwetz 1987). 0 20 40 60 80 Zeit (ms) 100 120 Abb. 8.11 Schalldruckimpuls bei einer Schneefeldsprengung. Im Gegensatz zu einem Knall, der eine Zeitdauer von 1 – 3 ms aufweist, dauert die Druckwelle einer Sprengung (Explosion) sehr viel länger, hier ca. 40 ms. Dies erklärt das Risiko einer Trommelfellzerreißung beim Explosionstrauma (Maue 2009c). LAImax von 120 – 127 dB (A) ermittelt. Da die „C“-Bewertung die tiefen Frequenzen weniger stark dämpft, fielen die „C“-bewerteten Messwerte um rund 20 dB höher aus. Die Spitzenschalldruckpegel LCpeak erreichten Werte von ca. 145 – 155 dB (C). " Abb. 8.11 zeigt die Aufzeichnung eines typischen Schalldruckimpulses bei einer Schneefeldsprengung, wobei der Messort in ca. 20 m Abstand hinter einem Bergrücken lag (Sprengladung 2,5 kg). Die Schäden können einseitig oder beiderseitig sein. Es besteht meist eine Trommelfellruptur in Form eines Risses mit zackigen Rändern, in schwersten Fällen kann das Trommelfell auch wie ausgestanzt sein. Die Gehörknöchelchen können frakturiert oder luxiert sein. Daraus resultiert eine Schallleitungsstörung. Das Innenohr kann in verschiedenem Ausmaß geschädigt sein. Die typische c5-Senke des Knalltraumas fehlt meist, dagegen findet man häufiger einen Steilabfall oder einen flachen Kurvenverlauf. Das Rekruitment ist positiv, wird aber durch die Schallleitungsstörung überlagert. Eine vollständige Ertaubung soll nach Sirala (1948) einseitig in 26 % der Fälle vorkommen, doppelseitig in 0,4 %. Vestibuläre Schäden sind möglich, aber selten. Die Diagnosestellung bereitet im frischen Stadium keine Probleme. Findet die Begutachtung aber erst längere Zeit nach dem angeschuldigten Ereignis statt und fehlen Befunde über die primären Verletzungen, so kann die Beurteilung der Zusammenhangsfrage schwierig sein. Zusätzliche Verletzungen der oben angedeuteten Art (durch Verbrennungen oder Splitter) können Angaben über das Ausmaß der primären Schädigung und die Richtung der Einwirkung stützen. Bei technischen Unfällen sind heute auch immer eine Meldung des Unternehmens und ein Bericht des TAD vorhanden. Wichtig zu wissen ist, dass die Verletzungen an Mittelohr und Innenohr durchaus nicht parallel zu gehen brauchen. Es scheint sogar so, als habe die Trommelfellzerreißung manchmal eine gewisse Schutzfunktion gehabt, weil sie verhinderte, dass die gesamte Schallenergie auf das Innenohr übertragen wurde. Schwere Verletzungen des Mittelohrs können daher ohne wesentliche Innenohrschädigung vorkommen. Das Fehlen einer typischen Innenohrschwerhörigkeit schließt also ein Explosionstrauma als Ursache einer chronischen Mittelohrentzündung nicht aus. Im Übrigen sei auf die Gesichtspunkte hingewiesen, die bei der Beurteilung des Knalltraumas (S. 209) und der chronischen Mittelohrentzündung angeführt wurden (S. 189). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Schalldruck p = 1100 N/m2 (155 dB) Im Gegensatz zu einer Explosion stellt eine Verpuffung (Deflagration) im physikalischen Sinne ein anderes Druckwellenereignis dar, das nicht zu einem Explosionstrauma des Gehörs führt. Merke Eine Verpuffung (Deflagration) ist – physikalisch betrachtet – ein schneller Verbrennungsvorgang, bei dem der Druckaufbau sehr viel langsamer ist als bei einer Explosion. Eine Verpuffung kann evtl. zu einer vorübergehenden Hörminderung führen, aber nicht zu einem dauernden Gehörschaden mit oder ohne Tinnitus. Die Trommelfellverletzung heilt in vielen Fällen spontan, wobei sich die Schallleitungskomponente 221 Krankheiten des Ohres Beispiel 8.12 Diagnose Explosionstrauma ohne Trommelfellruptur mit progredientem Hörverlust bei Vorschädigung. Befund Der Versicherte hatte im Alter von 40 Jahren durch Granateinschlag im Krieg mehrere Splitterverletzungen und eine hochgradige Schwerhörigkeit rechts erlitten. MdE wegen der Schädigungsfolgen 30%. Mit 61 Jahren bei Arbeiten in einem Steinbruch wurde er, da er das Warnsignal nicht gehört hatte, von einer Explosion in der Nähe überrascht. Sofort Taubheitsgefühl in beiden Ohren. Zufällig hatte ein Vierteljahr zuvor eine fachärztliche Untersuchung stattgefunden: Umgangssprache rechts a. c., links mehr als 6 m; Flüstersprache rechts 0, links 2 – 3 m. Wenige Stunden nach dem Unfall: Umgangssprache rechts a. c., links 0,5 m; Flüstersprache rechts 0, links a. c. Tonaudiogramm: " Abb. 8.12, Kurve 1. Befund bei Begutachtung nach 5 Jahren: " Tab. 8.8 Tab. 8.8 Befund bei Begutachtung nach 5 Jahren. Rechtes Ohr Linkes Ohr Umgangssprache: 0 0 Hörverlust für Sprache: nicht messbar nicht messbar Prozentualer Hörverlust: 100 % 100 % Tonaudiogramm: " Abb. 8.12 Kurve 2. Eine Simulation konnte sicher ausgeschlossen werden. Vestibularis beiderseits o. B. 125 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 SISI % 125 0 10 20 20 30 30 40 50 60 taub 70 80 Hörverlust (dB) Hörverlust (dB) 0 10 250 250 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 SISI % Abb. 8.12 Tonaudiogramm. 40 50 60 1 70 80 90 90 100 100 110 110 120 120 rechtes Ohr 2 KL = LL linkes Ohr Beurteilung Die Ertaubung des linken Ohres war durch den Nachweis des guten Hörvermögens vor dem Unfall und die lückenlosen Befunde danach zweifelsfrei auf das Explosionstrauma zurückzuführen. Die Taubheit rechts war schon in den Schädigungsfolgen der Kriegsverletzungen mit einer MdE von 30% einbegriffen. MdE durch Ertaubung des zweiten Ohres als Unfallfolge 40 %. Heute wäre für die Ertaubung des letzten Ohres eine noch höhere MdE anzusetzen. 222 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. M. P., 61 Jahre, Steinbrucharbeiter. 8.10 Akutes Schalltrauma Beispiel 8.13 Diagnose Beiderseitige Hochtonschwerhörigkeit mit Senkenbildung. Explosionstrauma? H. H., 52 Jahre, Bürokaufmann. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Befund Die Kellerräume und das Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses hatten sich mit dem Gas einer Propangasflasche gefüllt, die versehentlich nicht richtig zugedreht war. Da Propangas schwerer ist als Luft, hatte es sich am Boden gesammelt und war nicht bemerkt worden. Beim Einschalten eines Lichtschalters im Keller kam es zu einer gewaltigen Explosion, als sich das Propan-Luft-Gemisch entzündete. Die Druckwelle war so stark, dass die zum Treppenhaus gelegene Wand des Kellerraums zerstört wurde. Im gesamten Treppenhaus wurden Türen und Fenster eingedrückt. Der Versicherte wurde über mehrere Meter durch die Luft geschleudert und schlug mit dem Kopf auf. Er erlitt u. a. ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit Kalotten- und Orbitadachfraktur, Verbrennungen, Schulterverletzungen usw. und wurde lange Zeit in einer neurochirurgischen Klinik behandelt. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus fiel der Ehefrau auf, dass ihr Mann den Fernseher lauter stellte und immer wieder nachfragte. Außerdem berichtete er über einen Piepton. Der niedergelassene HNO-Arzt diagnostizierte neben einem Schädel-Hirn-Trauma ein Knalltrauma, zumal der Versicherte angab, vor dem Ereignis normal gehört zu haben. Er habe sogar ein Instrument gespielt und Musik in der Familie gemacht. Tonaudiogramm: " Abb. 8.13 125 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 125 100 SISI % 0 10 20 20 30 30 Hörverlust (dB) Hörverlust (dB) 0 10 250 40 50 60 70 80 90 100 110 KL = LL 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 SISI % 100 Abb. 8.13 Tonaudiogramm. 40 50 60 70 80 90 100 110 120 250 KL = LL 120 rechtes Ohr linkes Ohr Beurteilung Bei der tonaudiometrischen Untersuchung fand sich eine symmetrisch ausgeprägte Hochtonschwerhörigkeit oberhalb 2000 Hz mit einer Senkenbildung. Ein Tinnitus konnte nicht nachgewiesen werden. Nach den Schilderungen hatte es sich um ein Explosionstrauma gehandelt. Ein solches Ereignis ist durch eine starke Druckwelle gekennzeichnet, die länger als 3 ms dauert. Die Druckwelle ist oft so stark, dass der Betroffene zu Boden geschleudert wird, zusätzliche Verletzungen durch den Sturz sind häufig. Der Schaden am Ohr kann einseitig oder doppelseitig sein, es besteht meist eine Trommelfellruptur in Form eines frischen Risses oder eine Ausstanzung des Trommefells. Gehörknöchelfrakturen oder eine Luxation der Gehörknöchelkette sind möglich. Im vorliegenden Fall war der Trommelfellbefund jedoch unauffällig. Es zeigte sich das tonaudiometrische Bild eines Knalltraumas. Gegen ein Knalltrauma sprach jedoch, dass eine Hörminderung erst Monate nach dem Ereignis bemerkt worden waren und nicht über Tinnitus berichtet wurde. Bei Durchsicht der Vorgeschichte fiel auf, dass der Versicherte 20 Jahre bei der Bundeswehr Dienst getan hatte. Der Berufsgenossenschaft wurde vorgeschlagen, die audiometrischen Befunde beim Institut für Wehrmedizinalstatistik und Berichtswesen in Andernach einzuholen. Überraschenderweise wurden mehrere audiometrische Befunde aus dem Zeitraum von 1981 – 1986 von der Bundeswehr übersandt. Aus diesen ergab sich, dass die heute vorliegende beiderseitige Hochtonschwerhörigkeit bereits während der Bundeswehrzeit dokumentiert war. Damit war klar, dass es sich im vorliegenden Fall trotz der nachgewiesenen heftigen Explosion weder um ein Explosionstrauma noch um ein Knalltrauma gehandelt hat (Brusis 2008a). Es lag eine vorbestehende Schwerhörigkeit aus unbekannter Ursache vor, die der Versicherte offensichtlich „vergessen“ hatte. 223 Krankheiten des Ohres Das akute Lärmtrauma entsteht durch die Einwirkung exzessiv hoher Schallstärken über die Dauer einiger Minuten. Die Schallpegel liegen zwischen 130 und 160 dB. Technisch handelt es sich fast immer um unvorhergesehene Zwischenfälle, denen die Betroffenen ungeschützt ausgeliefert sind. Manchmal setzen sie sich aber auch in Erfüllung ihrer Arbeitspflicht und in Unkenntnis der Gefahr der Lärmeinwirkung direkt aus. Derartige Schallstärken entstehen vorwiegend durch ausströmende Gase oder Dampf wie bei Düsenaggregaten oder an Kesseln. Wie oben schon angedeutet, wird das akute Lärmtrauma versicherungstechnisch als Berufskrankheit, also wie eine Lärmschwerhörigkeit, behandelt. Die Hörstörung ist immer sofort nach Beendigung der Lärmexposition vorhanden und oft hochgradig. Danach tritt innerhalb einiger Stunden oder Tage eine deutliche Besserung ein. Die Geschädigten suchen oft erst nach mehreren Tagen oder gar Wochen einen Arzt auf bzw. erstatten eine Unfallmeldung, da sie zunächst annehmen, dass sich die Schwerhörigkeit wieder vollständig zurückbilden werde. Der Befund entspricht dem einer beiderseitigen fortgeschrittenen Lärmschwerhörigkeit. Das Rekruitment ist positiv. Eine vollständige Ertaubung ist möglich. Gelegentlich wird auch eine leichte vestibuläre Symptomatik beobachtet (Lange 1966, Mittermaier 1970), die als Tullio-Phänomen zu deuten ist. Es gibt bisher nicht genügend Verlaufsbeobachtungen, um die Langzeitprognose sicher abschätzen zu können. Da der Schädigungsmechanismus dem des Knalltraumas nahe kommt, erscheint eine spätere Progredienz der Innenohrschädigung immerhin möglich. Wenn das Unfallereignis durch Zeugen, eine Meldung des Unternehmens oder eine Stellungnahme des TAD gesichert ist (Beispiel 8.14) und die übrigen Angaben und Befunde dazu passen, ergeben sich für die Zusammenhangsfrage keine Schwierigkeiten. Wegen der Unsicherheit der Prognose sind Nachuntersuchungen in festen Abständen (1, 2, 4 Jahre) angezeigt. 224 Das akute „Mini“-Lärmtrauma Die oben skizzierten Fälle von akuten Lärmtraumen mit erheblichen Hörverlusten setzen voraus, dass die Geschädigten extrem hohen Lärmexpositionen nicht nur über Sekunden, sondern über Minuten oder gar Stunden ausgesetzt waren. Nur so sind die fortgeschrittenen Hörverluste zu erklären. Hohe Schallexpositionen über Sekunden können dagegen nur zu geringen Hörverlusten führen. Bei einer Lärm-Einwirkdauer von „nur“ 2 – 3 Sekunden bei einem Pegel von „nur“ 130 dB (C), der weit unter der „Knallgrenze“ von 160 dB (C) liegt, kann eine umschriebene vorübergehende oder anhaltende c5-Senke auftreten – evtl. in Verbindung mit einem Begleittinnitus. Denn eine Sekunde ist bereits das Tausendfache einer Millisekunde. Typisch für eine derartige Schädigung ist die Belastung durch das Martinshorn eines Krankenwagens (s. Beispiel 8.17). Ausgedehntere Hochtonsenken finden sich gelegentlich nach dem Besuch eines Rockkonzerts mit stundenlangen Aufenthalten im Nahbereich eines Hochleistungslautsprechers. Erfreulicherweise bilden sich die Hochtonsenken in den meisten Fällen nach Tagen wieder zurück, während der Tinnitus aber eher persistiert (Metternich u. Brusis 1999). Spitzenwerte: 143 dB kPa 0,3 0,2 0,1 0 –0,3 –0,2 0 1 2 3 4 5 6 ms Abb. 8.14 Sehr laute Kindertröte, Entfernung 3 cm. Das Diagramm zeigt gleichmäßige Schwingungen mit einem hohen Dauerlärmpegel (mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. G. Fleischer, Rabenau). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 8.10.5 Akutes Lärmtrauma 8.10 Akutes Schalltrauma Beispiel 8.14 Diagnose Akutes Lärmtrauma durch ausströmendes Erdgas. H. S., 63 Jahre, Chemiker. Befund Bei Ölbohrungen wurde ein Depot mit Erdgas eröffnet, das unter einem Druck von 500 atü stand. Es strömte aus dem Bohrloch mit einem Geräusch, das über Kilometer im Umkreis zu hören war. Der Versicherte, der früher nie lärmexponiert gewesen war, erhielt den Auftrag, das Gas zu analysieren. Er hielt sich etwa 1½ Stunden in einer Entfernung von 25 m vom Bohrloch auf und hatte während dieser Zeit als Schutz lediglich Watte in den Ohren. Danach völlige Vertäubung, später wieder Besserung des Hörvermögens. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Befund bei der Begutachtung für die private Unfallversicherung ein Jahr nach dem Ereignis: s. " Tab. 8.9 Tab. 8.9 Befund bei der Begutachtung ein Jahr nach dem Ereignis. Rechtes Ohr Linkes Ohr Hörverlust für Sprache: 25 dB 25 dB Gewichtetes Gesamtwortverstehen: 255 255 Prozentualer Hörverlust: 30 % 30 % Tonaudiogramm: " Abb. 8.15. 125 SISI % 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 0 4000 8000 12000 100 125 0 10 20 20 30 30 Hörverlust (dB) Hörverlust (dB) 0 10 250 40 50 60 70 80 SISI % Frequenz (Hz) 500 1000 2000 4000 8000 12000 0 100 Abb. 8.15 Tonaudiogramm. 40 50 60 70 80 90 90 100 100 110 250 110 KL = LL 120 KL = LL 120 rechtes Ohr linkes Ohr Beurteilung Beiderseitige geringgradige Innenohrschwerhörigkeit als Folge des akuten Lärmtraumas. Daraus ergeben sich ein prozentualer Hörverlust von beiderseits 30 % und eine Herabsetzung der Gebrauchsfähigkeit des Gehörs um beiderseits 31⁄ 0, Invaliditätsgrad 18 % n. AUB 88. Bei dieser Form der Innenohrschädigung handelt es sich ebenfalls um ein akutes Lärmtrauma und nicht um ein Knalltrauma. Auch mit einer Kindertröte kann man einen hohen Lärmpegel produzieren (" Abb. 8.14), der ein Kinderohr schädigen kann. Das Risiko einer Schädigung hängt aber nicht nur von der Lautstärke, sondern auch von der Entfernung zum Ohr ab. 225 Krankheiten des Ohres Beispiel 8.15 Diagnose Akutes Lärmtrauma durch geplatzten Auspuff. Befund Der Versicherte steht an seinem Fahrersitz unter einer Lärmeinwirkung von 105 dB (A), die bislang nicht zu einer merklichen Hörstörung geführt hatte. Durch Platzen des Auspuffrohrs dicht neben seinem Sitzplatz entstand ein extrem starker Lärm. Um den Motor abzustellen, musste der Fahrer den Sitz hochklappen und verschiedene Verrichtungen vornehmen. Dies nahm ungefähr 3 – 4 Minuten in Anspruch und er musste dabei mit dem linken Ohr nahe an das geplatzte Auspuffrohr heran. Anschließend sofort völlige Vertäubung links und Schwindel (Tullio-Phänomen), der sich bald wieder besserte. Vorübergehende Besserung auch des Hörvermögens links, nach 1 – 2 Jahren aber wieder deutliche Verschlechterung bis zur praktischen Taubheit links. Befund bei der Begutachtung 6 Jahre nach dem Ereignis: s. " Tab. 8.10 Tab. 8.10 Befund bei der Begutachtung 6 Jahre nach dem Ereignis. Rechtes Ohr Linkes Ohr Hörverlust für Sprache: 20 dB nicht messbar Gesamtwortverstehen: 260 (60 + 100 + 100) nicht messbar Gewichtetes Gesamtwortverstehen: 240 nicht messbar Prozentualer Hörverlust aus Sprachaudiogramm: 10 % 100 % Prozentualer Hörverlust aus Tonaudiogramm (Röser 80): 15 % 100 % Vestibularis: o. B. Tonaudiogramm: " Abb. 8.16. 125 Frequenz (Hz) 500 1000 2000 4000 8000 12000 SISI % 100 125 0 10 20 20 30 30 Hörverlust (dB) Hörverlust (dB) 0 10 250 40 50 60 70 80 Frequenz (Hz) 500 1000 2000 4000 8000 12000 SISI % 100 Abb. 8.16 Tonaudiogramm. 40 50 60 70 80 90 90 100 100 110 250 110 KL = LL 120 KL = LL 120 rechtes Ohr linkes Ohr Beurteilung Rechts beginnende Schwerhörigkeit, links Taubheit mit geringen Hörresten, Folge eines akuten Lärmtraumas, obwohl die typischen Kriterien wie eine beiderseitige Schädigung nicht erfüllt sind. MdE 20 %. 226 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. C. D., 47 Jahre, Baggerführer. 8.10 Akutes Schalltrauma Beispiel 8.16 Diagnose Einseitige Ertaubung durch wiederholte akute Schalltraumen. A. S., 41 Jahre, Monteur. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Befund Der Versicherte hatte innerhalb von 6 Jahren 3-mal durch Unfälle beim Einfahren von Dampfkesseln akute Lärmtraumen erlitten. Es war jeweils bei der Überprüfung der Sicherheitsventile zu länger anhaltendem Dampfablassen mit Drucken bis 180 bar gekommen. Einmal befand er sich in 0,5 m Entfernung vom Sicherheitsventil. Bei späterer Rekonstruktion des Unfalls erlitten die Prüfer noch in 4 m Entfernung trotz aller Vorsichtsmaßnahmen eine vorübergehende Vertäubung der Ohren. Der Schalldruck lag weit oberhalb des Messbereichs und wurde auf 150 dB geschätzt. Jedes Mal Vertäubung der Ohren und Schwindel (TullioPhänomen), fachärztliche Befunderhebungen und Behandlungen. Vorübergehende Besserung. Nach dem zweiten Unfall bleibende Taubheit links. Rechts auch nach dem dritten Unfall leichte Progredienz. Befund bei Begutachtung 5 Jahre nach dem dritten Unfall: " Tab. 8.11 Tab. 8.11 Befund bei Begutachtung 5 Jahre nach dem dritten Unfall. Rechtes Ohr Linkes Ohr Hörverlust für Sprache: 45 dB nicht messbar Gesamtwortverstehen: 130 (0 + 60 + 70) nicht messbar Prozentualer Hörverlust: 60 % 100 % Tonaudiogramm: " Abb. 8.17. Vestibularis: leichtes Nystagmusüberwiegen nach links, seitengleiche experimentelle Erregbarkeit. 125 SISI % Frequenz (Hz) 500 1000 2000 4000 800012000 100 125 0 10 20 20 30 30 Hörverlust (dB) Hörverlust (dB) 0 10 250 40 50 60 70 80 Frequenz (Hz) 500 1000 2000 4000 8000 12000 SISI % Abb. 8.17 Tonaudiogramm. 40 50 60 taub 70 80 90 90 100 100 110 250 110 KL = LL 120 120 rechtes Ohr linkes Ohr Beurteilung Rechts mittelgradige Schallempfindungsstörung, links Taubheit, Folge wiederholter akuter Lärmtraumen. Allerdings liegt das typische Bild eines akuten Lärmtraumas wie eine beiderseitige fortgeschrittene Lärmschwerhörigkeit nicht vor. MdE 40%. 227 Krankheiten des Ohres Beispiel 8.17 Diagnose Akutes Lärmtrauma durch Martinshorn. Befund Der damals 40-jährige Feuerwehrmann erlitt vor mehr als einem Jahrzehnt eine Hörschädigung, als ein Martinshorn eines Krankentransportwagens versehentlich in seiner unmittelbaren Nähe betätigt wurde. Das Notarzteinsatzfahrzeug war mit 2 Hörnern ausgestattet, die oberhalb der Windschutzscheibe rechts und links angeordnet waren. Nach dem Einsatz habe er, neben dem Wagen stehend, ein Klemmbrett gegen die Frontscheibe gehalten und dort das Einsatzprotokoll ausgefüllt, als der im Wagen sitzende Notarzt versehentlich gegen den Auslöseknopf des Martinshorns gekommen sei. Dabei sei er mehrere Sekunden dem extrem hohen Lärm ausgesetzt gewesen und habe sofort eine beiderseitige Vertäubung mit Tinnitus bemerkt. Die Vertäubung habe sich in den Folgetagen wieder gebessert, der hochfrequente Tinnitus sei geblieben. Seit diesem Dienstunfall habe er erhebliche psychosomatische Beschwerden. Wegen dieser Beschwerden sei er in den Folgejahren immer wieder arbeitsunfähig geschrieben worden, da er mit dem Tinnitus nicht klargekommen sei. Die Versetzung ins Stadtarchiv sei kontraproduktiv gewesen, da ihn in den ruhigen Räumen der Tinnitus noch stärker beeinträchtigt hätte. Tonaudiogramm: " Abb. 8.18 125 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 800012000 125 SISI % 0 10 20 20 30 30 Hörverlust (dB) Hörverlust (dB) 0 10 250 40 50 60 70 80 90 100 110 250 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 800012000 SISI % Abb. 8.18 Tonaudiogramm. 40 50 60 70 80 90 100 110 KL = LL 120 120 rechtes Ohr linkes Ohr Beurteilung Die Firma Martin gibt für das Martinshorn im Internet eine Lautstärke von 125 dB (A) (Aus welcher Entfernung?) an. Andere Messergebnisse weisen auf deutlich höhere Schallpegel hin, insbesondere bei C‑Bewertung. Das tonaudiometrische Bild entspricht dem einer beginnenden Lärmschwerhörigkeit, die hier akut eingetreten ist, daher akutes Lärmtrauma. Nach der Beschwerdesymptomatik liegt ein Tinnitus Grad III – IV bzw. ein ausgeprägtes Erschöpfungssyndrom vor. Nach dem BeamtVG ist Herr E. dienstunfähig und vorzeitig pensioniert worden. Das Geräusch einer Kindertröte empfindet der Mensch wie einen lauten unangenehmen Dauerton. Der Zeitverlauf zeigt jedoch, dass das Geräusch aus 3 verschieden lauten Impulsen – unterschiedlicher Frequenz – mit einem Spitzenschallpegel von 143 dB besteht. Wird mit diesem scheinbar 228 harmlosen Kinderspielzeug direkt ins Ohr gepustet, kann es zu einer vorübergehenden oder bleibenden Innenohrschädigung im Sinne eines akuten Lärmtraumas kommen. Für eine Feuerwehrsirene bzw. ein Martinshorn gibt es ein entsprechendes Gefährdungspotenzial. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. U. E., 51 Jahre, Rettungssanitäter. 8.10 Akutes Schalltrauma Merke Was ist der Unterschied zwischen einem Knalltrauma (bzw. Explosionstrauma) und einem akuten Lärmtrauma? Ein Knalltrauma bzw. Explosionstrauma spielt sich im MillisekundenBereich ab, bei einem akuten Lärmtrauma wirkt der Lärm sekunden-, minuten- oder stundenlang auf das Gehör ein. Das audiometrische Bild eines akuten Lärmtraumas entspricht dem einer „akuten“ Lärmschwerhörigkeit. Mit einem Vuvuzela-Blasrohr, einer Schiedsrichteroder Demopfeife, aber auch durch einen menschlichen Schrei können Spitzenschallpegel von 120– 130 dB (C) erzeugt werden. Bei geringer Entfernung zum Ohr kann eine kurz dauernde schmerzhafte Vertäubung auftreten, die sich aber zurückbildet, sodass es nicht zwangsläufig zu einem Dauerschaden kommt. Durch Erreichen oder Überschreiten der Schmerzschwelle des Ohres, die bei 120– 130 dB liegt, können derartige Schallereignisse aber äußerst schmerzhaft sein. Strafrechtlich kann es sich bei vorsätzlicher intensiver Ohrbeschallung aus nächster Nähe um eine Körperverletzung handeln. Zivilrechtlich kann in einem solchen Fall (unerlaubte Handlung!) eventuell ein Schmerzensgeldanspruch ausgelöst werden. Schmerzensgeld wegen Hörschäden und Tinnitus durch akutes Lärmtrauma Die Rechtsprechung hat in der Vergangenheit nur zurückhaltend Schadensersatzansprüche bei Hörschäden nach Rockkonzerten ausgeurteilt. Vor dem Hintergrund eines eingeholten Sachverständigengutachtens sah es das Landgericht NürnbergFürth als erwiesen an, dass die von einer Konzertbesucherin unmittelbar nach Ende des Konzerts geklagten Hörbeeinträchtigungen kausal auf die offensichtlich zu starke Lärmeinwirkung während des Konzerts zurückzuführen war. Dafür seien die Veranstalter des Konzerts haftbar zu machen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen stelle sich die Schädigung des Innenohrs als typische Folge der Verletzung der Verkehrssicherungspflichten des Veranstalters dar. Der geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch in Höhe von € 4 000,00 für Hörminderung und Tinnitusproblematik sei nach Auffassung des Gerichts angemessen (Urteil vom 01. 12. 2004, Az.: 6 O 4537/03). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Lenarz und Gülzow (1983) berichten über 2 Fälle von Hörsturz nach Impedanzmessung mit akustischer Auslösung des Stapediusreflexes. Sie heben hervor, dass die gebräuchlichen Impedanzmessgeräte Schalldrucke bis 137 dB SPL erzeugen können und empfehlen, für Routinemessungen die Reiztonlautsstärke auf 105 dB zu begrenzen. In den 2 beobachteten Fällen wird vermutet, dass schon eine Mikrozirkulationsstörung vorlag und der akustische Reiz mehr die Funktion eines Auslösers für einen Hörsturz war. Es ist aber verständlich, dass ein derartiges Ereignis zu Haftpflichtansprüchen führen kann (S. 229). In der Leitlinie „Hörsturz“ werden daher eine Stapediusreflexschwellenmessung, eine BERA‑Untersuchung und weitere laute überschwellige Hörtests zur Vermeidung einer Lärmbelastung des Innenohrs im Intervall empfohlen (Stand 06/2010). Auch bei der Kernspintomografie (MRT) treten Lautstärken auf, die deutlich über der gehörschädigenden Grenze liegen und zu Hörstörung und Tinnitus führen können. Ist eine MRT‑Untersuchung angezeigt, ist die Verwendung von ausreichendem Gehörschutz erforderlich (Liener et al. 2005). Eine 14-jährige Schülerin, die sich bei einem Popkonzert nach einem 90 Minuten dauernden Aufenthalt in der Nähe einer Lautsprecherbox eine „hochgradige, lärmtraumatische Innenohrschädigung mit Tinnitus beiderseits und eine Schwindelsymptomatik“ zugezogen hatte, erhielt vom OLG Koblenz ein Schmerzensgeld in Höhe von DM 9000,00 (€ 4700,00) und außerdem Schadensersatz zugesprochen. Nach Auffassung des Gerichts sei sie einem „pflichtwidrig hohen Schallpegel“ von bis zu 104 dB (A) ausgesetzt gewesen. Außerdem stellte das Gericht fest, dass die Schülerin kein Mitverschulden treffe, obwohl sie sich in der Nähe der Lautsprecherbox aufgehalten habe. Wie die anderen Besucher habe sie sich darauf verlassen können, dass das Konzert keine Gefahren mit sich bringe – unabhängig vom jeweiligen Platz des Besuchers (Az.: 5 U 1324/00). Bei anderen Verfahren ist festgestellt worden, dass der Hinweis auf der Rückseite einer Eintrittskarte, dass die Musikveranstaltung zu einer Gehörschädigung führen könne, für den Veranstalter keinen Haftungsausschluss darstellt. Dagegen sehen mehrere Gerichte keinen Verstoß gegen allgemeine Verkehrssicherungspflichten beim Salutschießen eines Schützenvereins. Die zuständige Behörde müsse zwar eine Risikoabwägung zwischen dem Anspruch der Bürger auf Pfle- 229 Krankheiten des Ohres Auch einem Theaterbesucher, der vorgetragen hatte, dass der Schuss aus einer 9-mm-Schreckschusspistole während einer „Faust“-Aufführung zu einer dramatischen Verschlimmerung des vorbestehenden Tinnitus geführt hatte, wurde kein Schmerzensgeld zugesprochen. Dazu hat das OLG Frankfurt ausgeführt, dass der Eintritt oder die Verschlimmerung eines vorbestehenden Tinnitusleidens in Bezug auf den während der Theatervorführung abgegebenen Pistolenschuss außerordentlich unwahrscheinlich gewesen sei, wie sich aus den Ausführungen des Sachverständigen ergeben habe. Im Übrigen habe sich herausgestellt, dass von den über 23 000 Besuchern der streitgegenständlichen Aufführung allein der Kläger wegen einer Gehörschädigung aufgrund des Pistolenschusses Schadensersatzansprüche geltend gemacht habe. Die Unwahrscheinlichkeit des Schadenseintritts werde auch dadurch verdeutlicht, dass der Einsatz von Schreckschusspistolen in der deutschen Theaterlandschaft alltäglich sei. Allein am Staatstheater Wiesbaden würden jährlich ca. 180 – 200 Pistolenschüsse abgegeben. Dies sei auch in den anderen 150 öffentlich-rechtlichen Theatern in Deutschland mit über 20 Mio. Besuchern im Jahr ähnlich. Dennoch seien Streitigkeiten um die Haftung für Gehörschäden aufgrund solcher Pistolenschüsse bislang nicht bekannt geworden. Eine Verletzung der den Theaterbesuchern gegenüber erforderlichen Sorgfaltspflichten sei daher nicht zu erkennen. Der vorgeschädigte, überempfindliche Kläger sei mit dem Besuch des Theaterstücks ersichtlich ein Risiko eingegangen. Wenn sich dieses Risiko verwirklicht habe, müsse er selber die Folgen tragen (Urteil vom 29. 07. 2004, Az.: 1 U 254/03). Die Revision wurde vom BGH auf Kosten des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 08. 11. 2005, Az.: VI ZR 332/04). 8.10.6 Akustischer Unfall Bei den vorstehend geschilderten Formen des akuten Schalltraumas ist die einwirkende Schallenergie jeweils so groß, dass sie allein durch mechanische Zerstörung oder stoffwechselmäßige Überlastung die Innenohrschädigung verursacht. Individuelle Faktoren spielen eine umso geringere Rolle, je größer die Schallstärke ist. Boenninghaus (1959) hat als erster ein Krankheitsbild eines akuten Schalltraumas geschildert, bei dem der Lärm nicht die alleinige Ursache sein kann. Es handelt sich um einen akuten Hörverlust auf einem Ohr, der unter Lärmeinwirkung mittlerer Intensität (90 – 120 dB [A]) auftritt. Derartige Lärmstärken sind zwar geeignet, bei jahrelanger beruflicher Exposition eine typische Lärmschwerhörigkeit hervorzurufen, nicht jedoch eine akute irreversible Hörschädigung. Die Betroffenen haben oft unter demselben Lärm seit vielen Jahren gearbeitet, ohne merklichen Schaden zu nehmen. Dann erleiden sie plötzlich einen Hörverlust auf einem Ohr. Die genaue Analyse der Arbeitssituation ergibt meist, dass der Arbeiter den Kopf in einer Zwangslage verdreht halten musste, während der Lärm einwirkte. Boenninghaus vermutet, dass durch Fehlbelastung der HWS eine Minderdurchblutung eines Ohres bewirkt wird, die in Verbindung mit der gleichzeitigen Lärmbelastung zu einer irreversiblen Schädigung führt (s. Beispiel 8.19). Typische Situationen sind z. B. Arbeiten mit dem Bosch-Hammer, Pressluftbohrer oder Bolzenschussgerät über Kopf oder in engen räumlichen Verhältnissen. Kasuistische Mitteilungen stammen von: Boenninghaus 1959, 1962; Becker u. Matzker 1961, Maurer u. Mehmke 1963, Dieroff 1963, Kecht 1964, Schwetz 1965, Plath u. Neveling 1965. Die Hörstörung ist immer einseitig und zeigt einen flachen pankochleären oder auch wannenförmigen Kurvenverlauf. Eine vollständige Ertaubung ist sehr selten, kommt aber vor (s. Beispiel 8.20). Das Rekruitment ist positiv. Tinnitus ist meist vorhanden, dagegen fehlen vestibuläre Symptome. Die Prognose ist ungünstig. Eine Restitution wurde bisher kaum beobachtet. Die Abgrenzung gegenüber dem Morbus Menière gelingt durch die feh- 230 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ge des Brauchtums im dörflichen Umfeld einerseits und dem Anspruch der Anwohner auf Schutz vor Körperschäden und Ruhe andererseits unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten treffen. Die Abgabe von öffentlichen (erlaubten) Pistolen- oder Salutschüssen sei in der Regel als sozial adäquat hinzunehmen. Schadensersatzansprüche aufgrund von eintretenden Hörschäden seien daher in der Regel ausgeschlossen (Urteil des LG München vom 24. 08. 2004, Az.: 31 O 17 973/03). 8.10 Akutes Schalltrauma Beispiel 8.18 Diagnose Einseitiger akuter Hörverlust durch „akustischen Unfall“. G. W., 19 Jahre, Elektriker. Befund Der Versicherte musste in einem Kanalschacht mit einem Bosch-Hammer Löcher in Schulterhöhe in den Beton treiben. Dabei stand er, die linke Schulter nach vorn gedreht, das Gesicht den Bohrlöchern zugewandt. Die Arbeit nahm etwa eine Stunde in Anspruch. Sofort danach Vertäubungsgefühl auf dem linken Ohr. Untersuchung am nächsten Tag: Hochgradige pankochleäre Schwerhörigkeit links. Vestibularis o. B. Trotz sofortiger Behandlung mit Stellatumblockaden und Infusionen keine Besserung. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Befund bei Begutachtung ein Jahr danach: " Tab. 8.12 Tab. 8.12 Befund bei Begutachtung ein Jahr danach. Rechtes Ohr Linkes Ohr Hörverlust für Sprache: 5 dB 60 dB Gesamtwortverstehen: 300 80 (0 + 20 + 60) Prozentualer Hörverlust: 0% 90 % Vestibularis o. B. Tonaudiogramm: " Abb. 8.19. 125 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 SISI % 125 0 10 20 20 30 30 Hörverlust (dB) Hörverlust (dB) 0 10 250 40 50 60 70 80 SISI % Frequenz (Hz) 500 1000 2000 4000 8000 12000 100 100 Abb. 8.19 Tonaudiogramm. 40 50 60 70 80 90 90 100 100 110 250 110 KL = LL KL = LL 120 120 rechtes Ohr linkes Ohr Beurteilung Linksseitige an Taubheit grenzende Innenohrschwerhörigkeit, Folge eines Lärmtraumas in Verbindung mit Fehlbelastung der HWS. MdE 15 %. 231 Krankheiten des Ohres Beispiel 8.19 Diagnose Einseitige akute Ertaubung durch „akustischen Unfall“. O. G., 41 Jahre, Schweißer. Untersuchung nach 2 Tagen: Vollständige Taubheit rechts ohne Hörreste. Vestibularis o. B. Trotz sofortiger Behandlung keine Wiederkehr des Hörvermögens. Befund bei Begutachtung nach einem Jahr: " Tab. 8.13 Tab. 8.13 Befund bei Begutachtung nach einem Jahr. Rechtes Ohr Linkes Ohr Hörverlust für Sprache: nicht messbar 25 dB Gesamtwortverstehen: nicht messbar 280 (80 + 100 + 100) Gewichtetes Gesamtwortverstehen: nicht messbar 270 Prozentualer Hörverlust: 100 % 20 % Vestibularis o. B. Tonaudiogramm: " Abb. 8.20. 125 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 SISI % 125 0 10 20 20 30 30 40 50 60 taub 70 80 Hörverlust (dB) Hörverlust (dB) 0 10 250 250 Frequenz (Hz) 500 1000 2000 4000 8000 12000 SISI % Abb. 8.20 Tonaudiogramm. 40 50 60 70 80 90 90 100 100 110 110 120 120 rechtes Ohr KL = LL linkes Ohr Beurteilung Akute Ertaubung rechts durch Lärmeinwirkung in Verbindung mit Zwangshaltung der HWS. Links knapp geringgradige Lärmschwerhörigkeit. MdE 25 %. 232 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Befund Der Versicherte musste in einer Kesselschmiede über Kopf Schweißarbeiten ausführen. Dabei befand er sich in einer angestrengten Körperhaltung mit stark verdrehtem Kopf. Zu gleicher Zeit wurde in unmittelbarer Nähe an einem Kessel mit Presslufthämmern genietet. Plötzlich verspürte er einen Knall im rechten Ohr, darauf ein Rauschen, Schwindel, sodass er sich kurz hinsetzen musste, keine Übelkeit, kein Erbrechen. Er konnte nach kurzer Unterbrechung weiterarbeiten. 8.10 Akutes Schalltrauma Für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs mit der Arbeit ist zu fordern: ● Es muss eine Lärmstärke von mindestens 90 dB (A) eingewirkt haben. ● Der Kopf muss, bedingt durch die Arbeitssituation, in einer extremen Zwangslage verdreht gehalten worden sein. ● Die Hörstörung muss akut in dieser Situation (nicht etwa Stunden später) aufgetreten sein. ● Die Hörstörung muss einseitig sein und die oben beschriebenen Merkmale aufweisen. Die Existenz eines akustischen Unfalls geht von der Überlegung aus, dass die Schwerhörigkeit durch ein Zusammenwirken von Lärmbelastung und Sauerstoffmangel des Innenohrs hervorgerufen wird. Ein solches Krankheitsbild ist jedoch nur denkbar, wenn die Innenohrdurchblutung durch eine extreme gleichzeitige Drehung und Neigung der HWS unterbrochen wird. Dies setzt jedoch voraus, dass die A. vertebralis beider Seiten bzw. der vertebrobasiläre Kreislauf für mindestens 1 – 2 Minuten total blockiert ist. Ein solcher Zustand wäre jedoch mit weiteren erheblichen otoneurologischen bzw. neurologischen Symptomen (Hirnstamm!) verbunden, die bei den bisher aufgetretenen Fällen nicht beschrieben wurden. Bei der Rarität der bisher beobachteten Fälle stellt sich daher die Frage, ob es ein derartiges Kranheitsbild tatsächlich gibt. 8.10.7 Hörsturz nach akustischem Bagatelltrauma? Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. lende vestibuläre Symptomatik. Die Abgrenzung gegenüber dem idiopathischen Hörsturz kann dagegen schwierig sein. Die Entscheidung zwischen Lärmtrauma, akustischem Unfall und idiopathischem Hörsturz kann manchmal schwierig sein, besonders wenn ein äußeres Ereignis, insbesondere ein Knall, unmittelbar zu einem einseitigen Hörverlust in den tiefen Frequenzen führt (Beispiele 8.20 und 8.21). Beispiel 8.20 45-jähriger Abteilungsleiter einer Druckerei wird kurz vor Eröffnung des „Tages der offenen Tür“, mit dessen Organisation er beauftragt war, mit einem Handy ausgestattet. Bei der Sprechprobe scheint dieses defekt zu sein. Bei erneuter Probe mit dem Gerät, das auf höchste Lautstärke eingestellt ist, direkt am linken Ohr, plötzlich ein knallartiges Geräusch aus dem Telefonhörer. Seither Rauschen am linken Ohr und Tieftonschwerhörigkeit von 40 dB (" Abb. 8.21). Untersuchungen durch den TAD an einem Kunstkopf ergeben, dass das Sprechfunkgerät bei Einstellung maximaler Lautstärke den Einschaltton mit 142 dB (A), Rückkopplungspfeifen mit 147 dB (A) und laute Sprache mit 138 dB (A) abstrahlt. Da der Versicherte das Gerät sofort reflexartig vom Ohr wegnahm, betrug die Expositionszeit sicher nur Bruchteile einer Sekunde. Behandlung erst nach 6 Wochen mit Infusionen, nach 6 Monaten mit hyperbarem Sauerstoff, ohne Erfolg. Tonaudiogramm: " Abb. 8.21 125 250 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 125 20 20 30 30 Hörverlust (dB) Hörverlust (dB) Frequenz (Hz) 500 1000 2000 4000 8000 12000 0 10 0 10 40 50 60 70 Abb. 8.21 Tonaudiogramm. 40 50 60 70 80 80 90 90 100 100 110 250 110 KL = LL KL = LL 120 120 rechtes Ohr linkes Ohr 233 Krankheiten des Ohres Beispiel 8.21 (Kein Gutachtenfall): Ein 49-jähriger Mann kommt nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause; zur „Begrüßung“ gibt sein kleiner Sohn in 3 m Entfernung einen Schuss mit einer Spielzeugpistole ab. Der Mann erleidet sofort einen Hörsturz rechts im Tieftonbereich (" Abb. 8.22). Unter Behandlung in einer Woche völlige Restitution, jedoch wiederholen sich ähnliche Hörstürze im Lauf einiger Jahre, ohne dass jedesmal ein auslösendes Ereignis vorgelegen hätte (vgl. Feldmann 1981). Tonaudiogramm: " Abb. 8.22 250 500 Frequenz (Hz) 1000 2000 4000 8000 12000 125 20 20 30 30 40 50 60 70 80 Abb. 8.22 Tonaudiogramm. 40 50 60 70 80 90 90 100 100 110 Frequenz (Hz) 500 1000 2000 4000 8000 12000 0 10 Hörverlust (dB) Hörverlust (dB) 0 10 250 110 KL = LL 120 KL = LL 120 rechtes Ohr linkes Ohr Beurteilungen Im Beispiel 8.20 wies der TAD darauf hin, dass nach der VDI‑Richtlinie 2058.2 bei extrem hohen Impulsschallpegeln von mehr als LAImax = 135 – 140 dB (A) (entsprechend einem Spitzenschalldruckpegel [Lpeak] von 150 – 160 dB[AI]) Gehörschäden schon nach Einzelschallereignissen auftreten können. Die eingetretene Schädigung sei also wahrscheinlich durch den Knall im Kopfhörer verursacht worden. Die Richtlinie 2058.2 definiert aber zugleich, dass Gehörschäden im Sinne dieser Richtlinie nur solche seien, die audiometrisch nachweisbare Merkmale eines Haarzellschadens aufwiesen und bei denen der Hörverlust bei 3 kHz 40 dB überschreite. Ein solcher Hörschaden im Frequenzbereich um 3 kHz liegt aber in beiden Fällen gerade nicht vor. Der hochfrequente Einschaltton oder das Rückkopplungspfeifen, aber auch ein breitbandiges Geräusch können einen solchen isolierten Hörschaden in den tiefen Frequenzen nicht erzeugen (vgl. „Die besondere Schädlichkeit der hohen Frequenzen“, S. 237). Im Beispiel 8.21 hatte der Knall am Ohr effektiv eher eine geringere Schallenergie entfaltet. Gegen ein „akustisches Trauma“ spricht, dass die hierfür geforderten Umstände, Zwangshaltung der HWS und länger dauernde Lärmeinwirkung, nicht gegeben waren. Die technischen Ereignisse können in beiden Fällen kaum als wesentliche Bedingung für den Eintritt des Hörverlusts angesehen werden, sondern sie sind als Gelegenheitsursachen zu werten, die im Zusammenhang mit besonderem Stress und Erschrecken dazu führten, dass eine schon vorbestehende Instabilität des Innenohrs, etwa in den Druckverhältnissen zwischen Peri- und Endolymphe, zu einer Art endolymphatischem Hydrops entgleiste. Ein Vergleich wäre etwa der Bandscheibenprolaps, der durch eine ungeschickte Bewegung der LWS ausgelöst wird. Derartige Überlegungen sind jedoch nur Mutmaßungen und halten einer kritischen Kausalitätsprüfung nicht stand. 234 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 125