Herz - Er

Werbung
KAPITEL
10
Herz
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
10.1
Ganzheitliche Aspekte
10.2
10.2.1
10.2.2
10.2.3
10.2.4
10.2.5
10.2.6
Anatomie und Physiologie . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kammern und Klappensystem . . . . . . . . . . . . . . . . .
Aufbau der Herzwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Herzzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Erregungsbildung und Erregungsleitung . . . . . . . . . . .
Blutversorgung des Herzens . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Herzleistung und ihre Regulation . . . . . . . . . . . . . . .
418
419
422
423
424
425
426
10.3
10.3.1
10.3.2
10.3.3
10.3.4
Untersuchung und Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . .
Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Körperliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Naturheilkundliche Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . .
Schulmedizinische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . .
426
426
427
430
430
10.4
10.4.1
10.4.2
10.4.3
10.4.4
10.4.5
Leitsymptome und Differenzialdiagnose . . . . . . . .
Herzklopfen, Herzrasen, Herzstolpern . . . . . . . . . . . .
Brustschmerzen (retrosternaler Schmerz) . . . . . . . . . .
Synkope . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zyanose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Obere Einflussstauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
432
432
433
433
434
435
10.5
Funktionelle Herzbeschwerden
10.6
10.6.1
10.6.2
Durchblutungsstörungen des Herzens . . . . . . . . . . 436
Koronare Herzkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436
Akutes Koronarsyndrom und Herzinfarkt . . . . . . . . . . 442
. . . . . . . . . . . . . . 435
10.7
10.7.1
10.7.2
10.7.3
10.7.4
Herzinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Chronische Herzinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Akute Herzinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Akutes Lungenödem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Cor pulmonale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
444
445
448
449
450
10.8
10.8.1
10.8.2
10.8.3
10.8.4
Herzrhythmusstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Extrasystolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tachykarde Herzrhythmusstörungen . . . . . . . . . . . . .
Bradykarde Herzrhythmusstörungen . . . . . . . . . . . . .
Reizleitungsstörungen des Herzens . . . . . . . . . . . . . .
451
451
451
453
454
10.9
10.9.1
10.9.2
10.9.3
Entzündliche Herzerkrankungen . . . . . . . . . . . . .
Endokarditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Myokarditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Perikarditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
456
456
457
458
10.10
10.10.1
10.10.2
Kardiomyopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
Primäre Kardiomyopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
Sekundäre Kardiomyopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . 460
10.11
10.11.1
10.11.2
10.11.3
10.11.4
10.11.5
Herzklappenfehler und weitere Herzfehler . . . . . .
Mitralklappenfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Aortenklappenfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Pulmonalklappenfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Trikuspidalklappenfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Angeborene Herzfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
460
461
462
463
463
464
10.1 Ganzheitliche Aspekte
Rhythmus und harmonische
Ordnung
Das Herz ist sowohl von seiner Lage als
auch von seiner Funktion das zentrale Organ des Menschen. Es pumpt täglich etwa
hunderttausendmal und bewegt ein Blutvolumen von etwa neun Tonnen durch
den Körper. Der sinusförmige Rhythmus,
die Grundkraft des Herzens, ist Ausdruck
einer streng geordneten Harmonie: Die
Tätigkeit des Herzens, durch den Willen
kaum zu beeinflussen, vollzieht sich zwischen Systole und Diastole, zwischen Ruhe und Bewegung. Diese polare und zugleich zwischen den Polen vermittelnde
Bewegung spiegelt die Kraft des Lebens
selbst wider.
Das Herz ist jedoch nicht nur als einzelnes Organ tätig, sondern auch Teil des Gesamtsystems Arterien, Venen, Kapillaren
RTF32087 a:ENDRTF32087 a:STAR
Bierbach_55244.indb 417
und Blut. Ausgerichtet auf alle Organe und
den gesamten Organismus führt das Herz
allen Regionen des Körpers das Blut und
mit ihm Sauerstoff und Nährstoffe zu und
transportiert Stoffwechselendprodukte ab.
Auf diese Weise verbindet es Zentrum und
Peripherie.
Sitz der Seele oder muskuläre
Pumpe?
Jahrhundertelang sah man das Herz als Sitz
der Seele: So opferten z. B. die Inkas die
Herzen ihrer Gefangenen dem Sonnengott,
damit er die Kraft habe, die Welt zu erwärmen und zu erhellen. Auch in dem mittelalterlichen Brauch, die Herzen vornehmer
und herausragender Menschen eigens zu
bestatten, wird die zentrale Bedeutung des
Herzens deutlich.
Erst als im 17. Jahrhundert eine neue,
mechanistische Denkweise in die Medizin
Einzug hielt, wurde die Vorstellung vom
Herzen als Zentrum des menschlichen
Seins aufgegeben. Man hatte erkannt, dass
auch die Funktionen des Körpers physikalischen Gesetzen unterworfen sind, und
konzentrierte sich auf deren Erforschung.
Ein Ergebnis dieser Bemühungen war die
Beschreibung des Blutkreislaufs durch
William Harvey (1578–1657). Das Herz
war nun nicht länger der Ort, an dem das
Blut erhitzt und mit einem Lebensgeist
(Spiritus vitalis) verfeinert wurde, wie Galen (129–199) es postuliert hatte. Es trat
eine rein funktionalistische Beschreibung
des Herzens in den Vordergrund. Durch sie
wurde das Herz zur Maschine entmythologisiert, die – wie 1967 durch die erste Herztransplantation deutlich wurde – zu ersetzen war.
4/19/2013 1:00:11 PM
418
10 Herz
Symbolik des Herzens
Auf der symbolischen Ebene gibt es unzählige Bilder und Redensarten, die mit dem Organ Herz verknüpft sind. Wenn etwas „von
Herzen gegeben“ wird, ist der ganze Mensch
einbezogen, während Menschen mit einem
„Herz aus Stein“ oder „hartherzige Menschen“ nicht empfänglich sind für die Bedürfnisse oder Not eines anderen Menschen.
Aber auch Angst, Mutlosigkeit, Freude und
Kummer haben ihren Platz im Herzen, wenn
einem „das Herz stillsteht“, das „Herz in die
Hose sackt“, „das Herz vor Freude hüpft“
oder man „etwas auf dem Herzen hat“. Das
Herz ist v. a. durch Redensarten wie „sein
Herz verlieren“, „jemandem das Herz brechen“ Symbol und Bezugspunkt für das wichtigste unserer Gefühle, die Liebe. Alle diese
Redewendungen verdeutlichen, dass durch
das Herz der Wesenskern des einzelnen Menschen charakterisiert wird. Wer vom Herzen
spricht, spricht vom ganzen Menschen.
Psychosomatische Aspekte
Naturheilkundliche Therapeuten haben in
ihrer ganzheitlichen Sicht nie daran gezwei-
felt, dass herzkranke Patienten neben einer
Behandlung der organischen Beschwerden
auch eine Behandlung auf geistig-seelischer
Ebene benötigen. Die Erfahrung zeigt, dass
bei Patienten mit Herzerkrankungen oft ein
Zusammenhang zwischen der körperlichen
Erkrankung und speziellen psychischen
oder seelischen Gefühlszuständen vorliegt.
Obwohl es nicht „die Herzinfarktpersönlichkeit“ gibt, sind z. B. Patienten, die an koronarer Herzkrankheit (ᇄ 10.6.1) und Bluthochdruck leiden, häufig energiegeladen und äußerst ehrgeizig in der Verfolgung ihrer Ziele.
Sie setzen sich unablässig unter Druck, aktiv
sein zu müssen. So stehen oft das ständige
Ringen mit der Umwelt und eine Unterdrückung von Gefühlen im Vordergrund.
Patienten mit funktionellen Herzbeschwerden neigen hingegen häufig zu einer
gewissen Lebensangst. Zudem wissen wir
aus Erfahrung, dass sich Gemütsbewegungen gleichsam seismografisch an der Herztätigkeit zeigen.
Dass diese „idealtypischen“ Charakterisierungen nicht schematisch angewendet werden dürfen, sondern eine Hilfe sein können,
individuelle Fragestellungen in der Anamnese zu entwickeln, versteht sich von selbst.
Naturheilkundliche Therapie
Im Mittelpunkt der naturheilkundlichen
Behandlung bei Herzerkrankungen steht
die Ausschaltung von Risikofaktoren (z. B.
Nikotin, Stress) und schädigenden Lebensgewohnheiten. Nicht weniger wichtig ist es,
die durch Fehlernährung bedingte Störung
des Säure-Basen-Gleichgewichts zu behandeln. Durch eine basenreiche Kost (ᇄ 16.1)
sowie ggf. durch die Verordnung von Entsäuerungssalzen können erhöhte Fettwerte
gesenkt, arteriosklerotische Prozesse günstig beeinflusst und die Funktion des Herzmuskels gestärkt werden.
Auch die Ordnung des Lebensrhythmus
(Vermeidung von Stress, regelmäßige Bewegung, ausreichend Schlaf) ist eine wichtige
Säule im naturheilkundlichen Therapieplan.
Weitere Behandlungsschwerpunkte sind Ernährungstherapie, Phytotherapie, Homöopathie, physikalische Therapie und Traditionelle Chinesische Medizin. Die psychologische
Unterstützung des Patienten im Umgang mit
Ängsten, die bei Herzerkrankungen fast immer auftreten, mit unbewältigten Konflikten
und Dauerspannungen ist ebenso Bestandteil
eines ganzheitlichen Behandlungskonzepts.
RTF3708 1a:END
10.2 Anatomie und Physiologie
10
Das Herz (Cor) ist ein muskuläres Hohlorgan. Es hat die Funktion einer Pumpe, die
dafür sorgt, dass das Blut ständig durch
den Körper kreist. Auf seinem Weg durch
die Blutgefäße versorgt das Blut alle Körperzellen mit Sauerstoff und Nährstoffen
und transportiert Stoffwechselendprodukte (z. B. Kohlendioxid) ab. Herz und
Blutgefäße zusammen bilden das HerzKreislauf-System (kardiovaskuläres System).
Die Lage des Herzens im Brustkorb
(ᇄ Abb. 10.1):
• Das Herz sitzt zwischen den beiden Lungenflügeln im Mediastinum (Mittelfell
ᇄ 7.3).
• 2⁄3 befinden sich in der linken Brustkorbhälfte, 1⁄3 in der rechten.
• Hinten grenzt das Herz an Speiseröhre
(Ösophagus ᇄ 13.2.10) und Aorta (Körperschlagader ᇄ Abb. 10.2).
• Vorne reicht es bis an die Hinterfläche
des Brustbeins (ᇄ 9.2.8).
• Unten sitzt es dem Zwerchfell auf.
Das gesunde Herz ist etwa eineinhalb mal
so groß wie die geschlossene Faust seines
Trägers und wiegt ca. 250 bis 350 g. Es hat
die Form eines Kegels, dessen Spitze nach
links unten und vorne zeigt. Die Herzspitze
Bierbach_55244.indb 418
liegt somit sehr nahe an der Brustwand und
jedes Mal, wenn sich das Herz zusammenzieht, überträgt sich dies als ein Stoß auf die
Brustwand (Herzspitzenstoß ᇄ 10.3.2).
Dadurch ist jeder Herzschlag von außen am
Brustkorb tastbar.
Die Herzbasis liegt der Herzspitze gegenüber und weist folglich nach rechts, oben
/XIWU¸KUH
$RUWHQERJHQ
REHUH+RKOYHQH
9FDYD
VXSHULRU
/XQJHQVFKODJDGHU
7UXQFXV
SXOPRQDOLV
UHFKWH
/XQJHQYHQHQ
XDUWHULHQ
OLQNH
/XQJHQYHQHQ
UHFKWHU9RUKRI
OLQNHU9HQWULNHO
%UXVWEHLQ
6WHUQXP
UHFKWHU
9HQWULNHO
%UXVWNRUE
PLW5LSSHQ
=ZHUFKIHOO
%DXFK
XQWHUH
+RKOYHQH DRUWD
9FDYD
LQIHULRU
Abb. 10.1 Lage des Herzens im Brustkorb. [L190]
4/19/2013 1:00:11 PM
10.2 Anatomie und Physiologie
und hinten. An der Herzbasis beginnen und
enden die großen Gefäße, die sie gleichzeitig im Mediastinum befestigen. Die dem
Zwerchfell aufliegende Unterfläche des Herzens wird im klinischen Sprachgebrauch oft
als Hinterwand bezeichnet.
Die Herzscheidewand, das Septum cardiale
(lat. septum = Scheidewand), teilt das Herz in
eine rechte und eine linke Hälfte. Diese Trennung ist von außen nicht sichtbar. Die rechte
Herzhälfte saugt das sauerstoffarme Blut aus
dem Venensystem des Körpers an und pumpt
es in den Lungenkreislauf, wo es mit Sauerstoff angereichert wird. Aus der Lunge gelangt das Blut in die linke Herzhälfte, die es
in die Aorta pumpt und damit zurück in den
Körperkreislauf. Beide Herzhälften arbeiten
im gleichen Takt (ᇄ Abb. 10.2).
•
Merke
Als Arterien werden vom Herzen wegführende
Gefäße bezeichnet. Als Venen werden diejenigen Gefäße bezeichnet, die zum Herzen hinführen, unabhängig vom Sauerstoffgehalt des Blutes.
10.2.1 Kammern und
Klappensystem
Innenräume des Herzens
Das Herz hat insgesamt vier Innenräume,
jede Herzhälfte zwei.
Beide Herzhälften haben jeweils (ᇄ Abb.
10.3):
RTF350821 a:END
$FDURWLVFRPPXQLV
JHPHLQVDPH+DOV
VFKODJDGHU
6FKLOGGU¾VHQJHI¦¡H
7UXQFXVSXOPRQDOLV
/XQJHQ
VFKODJDGHU
$RUWD
REHUH+RKOYHQH
9FDYD
VXSHULRU
/XQJH
OLQNH
+HU]NDPPHU
UHFKWHU9RUKRI
XQWHUH
+RKOYHQH
9FDYD
LQIHULRU
+HU]PXVNHO
/HEHU
0LO]
0DJHQ
3IRUWDGHU
1LHUH
%DXFK
DRUWD
'DUP
$RUWHQELIXUNDWLRQ
$XIWHLOXQJGHU$RUWD
$LOLDFDFRPPXQLV
JHPHLQVDPH'DUP
EHLQVFKODJDGHU
$IHPRUDOLV
2EHUVFKHQNHO
VFKODJDGHU
Abb. 10.2 Vereinfachte Übersicht über Lungen- und Körperkreislauf. Die rote Farbe symbolisiert das sauerstoffreiche Blut, das aus der Lunge zum linken Herzen und dort weiter über die Arterien in den Körperkreislauf
fließt. Blau dargestellt ist das sauerstoffarme Blut, das über die Venen und das rechte Herz wieder die Lungen
erreicht (Darstellung nicht maßstabsgetreu). [L190]
Bierbach_55244.indb 419
419
einen kleinen, muskelschwachen Vorhof (Atrium), der das Blut aus Körper
oder Lunge zunächst „sammelt“
• eine große, muskelstarke Kammer (Ventrikel), die das Blut aus dem Vorhof ansaugt und wieder in den Körper- bzw.
Lungenkreislauf presst
Die Herzscheidewand (Septum cardiale)
hat dementsprechend ebenfalls zwei Abschnitte: Das Vorhofseptum zwischen dem
linken und rechten Vorhof und das Kammerseptum, das die linke von der rechten
Kammer trennt.
Diese komplette Trennung der Herzhälften ist beim Ungeborenen noch nicht vorhanden – eine ovale Öffnung in der Scheidewand verbindet rechten und linken Vorhof. Durch dieses Loch, Foramen ovale genannt, fließt der größte Teil des Blutes
direkt wieder in den Körperkreislauf zurück. Dieser Kurzschluss hat einen guten
Grund: Der Fetus wird über den Mutterkuchen mit Sauerstoff aus dem Blut der Mutter versorgt und braucht noch keine funktionierende und deshalb gut durchblutete
Lunge (ᇄ 27.2.1). Ist das Kind jedoch geboren, schließt sich das Foramen ovale, sobald
die Lunge zu arbeiten beginnt, also beim
ersten Atemzug.
Klappensystem der
Herzkammern
Die beiden Herzkammern haben je einen
Eingang und einen Ausgang. Die Eingänge
führen von den kleinen Vorhöfen in die größeren Herzkammern. Die Ausgänge leiten
das Blut in die beiden größten Schlagadern
des Körpers, die Aorta (Körperschlagader)
und den Truncus pulmonalis (gemeinsamer Stamm der Lungenarterien ᇄ Abb.
10.1, ᇄ Abb. 10.3). An diesen Stellen sitzen
die Herzklappen, die aus Bindegewebe bestehen und mit Epithelgewebe bedeckt sind
(ᇄ 7.5.1). Jede Klappe lässt sich vom Blutstrom nur in eine Richtung aufdrücken.
Kommt der Druck von der anderen Seite,
schließt sie sich und versperrt den Weg. Wie
das Ventil eines Fahrradschlauchs die unter
Druck hineingepresste Luft zurückhält, so
sorgen gesunde Herzklappen dafür, dass das
Blut immer nur in eine Richtung gepumpt
wird. Wenn eine oder mehrere Klappen defekt sind, kann es zu schweren Störungen
des Blutflusses am Herzen kommen, bis hin
zum Herzversagen.
10
Segelklappen
Die Klappen zwischen Vorhöfen und Kammern bestehen aus dünnem weißem Bindegewebe. Deshalb und aufgrund ihrer
Form nennt man sie auch Segelklappen
(ᇄ Abb. 10.4). Sie schließen sich passiv
4/19/2013 1:00:12 PM
420
10 Herz
durch den Kammerdruck. Sehnenfäden, die
an den Papillarmuskeln der Kammern ansetzen, verhindern ein Zurückschlagen der
Segel in die Vorhöfe.
REHUH
+RKOYHQH
Die linke Segelklappe hat zwei dieser Segel.
Ist sie geöffnet, ähnelt sie einer Bischofsmütze
(Mitra) und heißt daher auch Mitralklappe.
Die rechte Segelklappe heißt Trikuspidal-
klappe, weil sie drei Segel mit insgesamt drei
Zipfeln (lat. tri = drei, cuspis = Zipfel) besitzt.
Wegen ihrer Lage zwischen Vorhöfen und
Kammern werden diese Segelklappen auch
.RSIXQG+DOVDUWHULHQ
/XQJHQVFKODJDGHU
7UXQFXVSXOPRQDOLV
OLQNH
/XQJHQ
DUWHULHQ
$RUWD
UHFKWH
/XQJHQ
DUWHULHQ
OLQNH
/XQJHQ
YHQHQ
UHFKWH
/XQJHQYHQHQ
3XOPRQDONODSSH
OLQNHU9RUKRI
0LWUDONODSSH
UHFKWHU9RUKRI
7ULNXVSLGDONODSSH
OLQNH.DPPHU
XQWHUH+RKOYHQH
UHFKWH.DPPHU
Abb. 10.3 Längsschnitt durch das Herz. Die Pfeile
geben die Strömungsrichtung des Blutflusses an: Aus
dem Körper gelangt das sauerstoffarme Blut über die
obere und untere Hohlvene in den rechten Vorhof. Von
dort wird es in die rechte Kammer gepumpt und anschließend über den Truncus pulmonalis in die Lungen.
Nachdem es mit Sauerstoff angereichert wurde, erreicht es über die Lungenvenen den linken Vorhof, von
dort die linke Kammer und wird dann über die Aorta in
den Körper ausgeworfen. [L190]
6HJHONODSSHQ
6HJHO
6HKQHQI¦GHQ
3DSLOODUPXVNHO
10
geöffnet
geschlossen
7DVFKHQNODSSHQ
KDOEPRQGI¸UPLJH
(QGRWKHOWDVFKH
geschlossen
Bierbach_55244.indb 420
geöffnet
Abb. 10.4 Segelklappen und Taschenklappen im Vergleich. Die Segelklappen schließen sich passiv durch
den Kammerdruck. Die Sehnenfäden, die an den Papillarmuskeln der Kammer ansetzen, verhindern ein Zurückschlagen der Segel in die Vorhöfe. Die Taschenklappen haben Muldenform und knopfartige Bindegewebsverdickungen in der Mitte. Sie werden durch den
Blutdruck geschlossen, der in den Arterien herrscht.
[L190]
4/19/2013 1:00:12 PM
10.2 Anatomie und Physiologie
AV-Klappen (Atrioventrikular-Klappen =
Vorhof-Kammer-Klappen) genannt.
Taschenklappen
Die Klappen zwischen den Kammern und
den großen Schlagadern heißen Taschenklappen. Sie sind halbmondförmig und ähneln Taschen, die durch zurückströmendes
Blut gefüllt und aufgebläht werden. Die
Klappen sind geschlossen, wenn die Ränder
der blutgefüllten Taschen dicht aneinander
liegen (ᇄ Abb. 10.3). Die Taschenklappe zwi-
schen linker Kammer und Aorta heißt Aortenklappe, die zwischen rechter Kammer
und Truncus pulmonalis Pulmonalklappe.
Die beiden Segel- und die beiden Taschenklappen sind jeweils an einem Ring
aus Bindegewebe aufgehängt. Sie liegen alle
in einer Ebene an der Grenze zwischen Vorhöfen und Kammern bzw. zwischen Kammern und Schlagadern, der sog. Klappenebene (ᇄ Abb. 10.5). Weil die Klappen wie
Ventile arbeiten, spricht man auch von der
Ventilebene.
REHUH+RKOYHQH
9FDYDVXSHULRU
$RUWHQERJHQ
%UXVWEHLQ
6WHUQXP
7UXQFXV
SXOPRQDOLV
OLQNHU
+DXSWEURQFKXV
/XQJHQYHQHQ
:LUEHOV¦XOHPLW
%DQGDSSDUDW
.ODSSHQHEHQH
421
Rechter Vorhof
Zwei große Venen (ᇄ Abb. 10.7) führen sauerstoffarmes Blut zum rechten Vorhof (Atrium dextrum). Beide münden dort ohne
Klappen:
• Die obere Hohlvene (Vena cava superior) sammelt Blut aus der oberen Körperhälfte, also von Kopf, Hals, Armen und
Brustwand.
• Die untere Hohlvene (Vena cava inferior) transportiert das aus den Beinen,
vom Rumpf und den Bauchorganen
kommende Blut.
Auch das Blut, das das Herz selbst versorgt,
fließt in den rechten Vorhof zurück: Das venöse Blut der Herzkranzgefäße (ᇄ 10.2.5)
sammelt sich in einem größeren Gefäß,
dem Sinus coronarius (Kranzbucht) an der
Rückseite des Herzens und strömt von dort
direkt in den rechten Vorhof.
Der rechte Vorhof hat, wie auch der linke,
eine äußerlich gut sichtbare, zipfelförmige
Ausbuchtung, das Herzohr. Rechtes und
linkes Herzohr füllen die Nischen zwischen
dem Herzen und seinen großen Gefäßstämmen aus. Diese Ausbuchtungen haben insofern klinische Bedeutung, als sich dort Blutgerinnsel bilden können. Die Thromben
können sich lösen und zu folgenschweren
Gefäßverstopfungen (Embolien) führen,
wenn sie vom Herzen in den Körper- oder
Lungenkreislauf wandern (ᇄ 11.6.3).
=ZHUFKIHOO
Rechte Kammer
UHFKWH
+HU]NUDQ]DUWHULH
7ULNXVSLGDONODSSH
$EJDQJGHUUHFKWHQ
+HU]NUDQ]DUWHULH
$RUWHQ
NODSSH
3XOPRQDO
NODSSH
+HU]VNHOHWW
+LV%¾QGHO
7HLOGHV
(UUHJXQJV
OHLWXQJVV\VWHPV
0LWUDONODSSH
$EJDQJGHUOLQNHQ
+HU]NUDQ]DUWHULH
OLQNH+HU]NUDQ]DUWHULH
Abb. 10.5 Oben: Lage der Klappenebene in Bezug auf den Herzmuskel. Unten: Blick von oben auf die Klappenebene nach Abtrennung der Vorhöfe. Alle vier Klappen werden von einem Bindegewebsgerüst zusammengehalten. Man erkennt den Abgang der linken und rechten Herzkranzarterie (ᇄ 10.2.5) oberhalb der Aortenklappe aus der Aorta sowie das His-Bündel, das an dieser Stelle die Klappenebene durchstößt. [L190]
Bierbach_55244.indb 421
Die rechte Kammer (Ventriculus dexter) hat
die Form einer auf der Spitze stehenden Pyramide. Betrachtet man den Innenraum der
Kammer, so fallen viele vorspringende, dünne Muskelleisten, die Trabekel, und drei dickere Muskelwülste auf, die sog. Papillarmuskeln (ᇄ Abb. 10.3). Über drei feine Sehnenfäden sind die Papillarmuskeln mit den
drei Segeln der Trikuspidalklappe verbunden.
Die Papillarmuskeln dienen jedoch nicht dem
Öffnen und Schließen der Klappe. Sie verhindern durch die Verankerung der Segel vielmehr, dass diese beim Zusammenziehen der
Herzkammer in den Vorhof zurückschlagen.
Von der rechten Herzkammer fließt das
Blut in die Lungenschlagader (ᇄ Abb. 10.7),
die sich dann in die rechte und linke Lungenarterie (A. pulmonalis dextra, A. pulmonalis sinistra) teilt. Von dort gelangt es
in die beiden Lungenflügel.
Den „Ausgang“ der rechten Herzkammer
zur Lungenschlagader bildet die Pulmonalklappe.
Die drei halbmondförmigen Taschen dieser Klappe liegen wie Schwalbennester an
der Innenwand der Schlagader. Wird das
Blut aus der rechten Kammer ausgetrieben,
10
4/19/2013 1:00:13 PM
422
10 Herz
so weichen die Taschen auseinander und die
Klappe wird geöffnet. Fließt das Blut aus der
Lungenschlagader zurück in Richtung rechte Kammer, füllen sich die Taschen mit Blut
und die Klappe schließt sich (ᇄ Abb. 10.3).
Dadurch kann kein Blut aus der Lungenarterie in die rechte Kammer zurückfließen.
Linker Vorhof
Das Blut aus der Lunge fließt über vier Lungenvenen in den linken Vorhof (Atrium sinistrum). Die Segelklappe, welche die „Tür“
zur linken Kammer bildet, besteht aus zwei
Segeln und heißt Mitralklappe. Die Segel
der Klappe sind wie die der Trikuspidalklappe über Sehnenfäden mit den Papillarmuskeln der Kammer verbunden.
•
Das Myokard (Muskelschicht) leistet die
Pumparbeit. Die Dicke ist abhängig von
der benötigten Muskelkraft (linker Ventrikel ca. 8–14 mm; rechter Ventrikel ca.
2–4 mm; Vorhöfe < 1 mm).
Das Epikard (Außenhaut) liegt dem Herzen direkt an (< 1 mm). Es geht in das Perikard (< 1 mm) über, das dem Mediastinum aufliegt. Gemeinsam bilden beide
den Herzbeutel, der das Herz umschließt.
Endokard
Die Innenfläche des Herzens ist von der
Herzinnenhaut überzogen, dem Endokard.
Dieses ist eine sehr dünne und glatte Endothelschicht (ᇄ 7.5.1), die beide Vorhöfe und
Kammern auskleidet.
Linke Kammer
Myokard
Die Wand der linken Kammer (Ventriculus
sinister) bildet die Herzspitze. Die Muskulatur des Herzens ist im Bereich der linken
Kammer am dicksten und stärksten. Von
hier aus wird das Blut in die Aorta (große
Körperschlagader) gepumpt.
Die Aortenklappe trennt die linke Kammer von der Aorta. Sie ist ähnlich aufgebaut
wie die Pulmonalklappe und wirkt ebenfalls
als Ventil: Das Blut kann nur von der Kammer in die Aorta gelangen, nicht aber wieder zurückfließen.
Das Myokard, die Muskelschicht, ist die arbeitende Schicht des Herzens. Sie liegt zwischen Endokard und Epikard.
Am dicksten ist die Muskelschicht der linken Kammer. Sie muss, um das Blut in den
Körperkreislauf auszuwerfen, die größte
Pumpleistung erbringen. Die rechte Kammer muss wesentlich weniger Kraft aufwenden, um das Blut in den Lungenkreislauf zu pumpen, weshalb ihr Myokard deutlich dünner ist. Die Vorhöfe haben nur eine
dünne Muskelschicht: Sie unterstützen lediglich den Blutfluss vom Vorhof in die
Kammer. Mikroskopisch besteht der Herzmuskel aus einem Netz quergestreifter, sich
verzweigender Muskelfasern.
Die Herzmuskulatur nimmt dabei eine
Zwischenstellung zwischen glatter und
quergestreifter Muskulatur ein (ᇄ 3.5.3),
weil sie
• Spontanaktivität besitzt (also zur Kontraktion keine Nerven- oder Stromimpulse von außen benötigt) und zur Dau-
Merke
Eintretende Gefäße
• linker Vorhof: 2 linke und 2 rechte Lungenvenen
• rechter Vorhof: obere und untere Hohlvene,
Sinus coronarius
Austretende Gefäße
• linke Kammer: Aorta
• rechte Kammer: Lungenarterie
10
•
10.2.2 Aufbau der
Herzwand
Wie die Wand jedes Hohlorgans besteht
auch die Herzwand nicht nur aus Muskulatur. Wird das Herz aufgeschnitten, so zeigen sich verschiedene Schichten. Da jede
dieser Schichten einzeln erkranken kann
und sich daraus unterschiedliche Krankheitsbilder ergeben, ist es wichtig, den Aufbau der Herzwand zu kennen.
Die Herzwand lässt sich von innen nach außen in drei Schichten (ᇄ Abb. 10.6) gliedern:
• Das Endokard (Innenhaut, < 1 mm)
kleidet den gesamten Innenraum des
Herzens aus.
•
erleistung fähig ist, wodurch sie der glatten Muskulatur ähnelt,
sich aber trotzdem so schnell wie die
Skelettmuskulatur zusammenziehen und
kurzzeitig Höchstleistungen vollbringen
kann.
Herzbeutel
Der Herzbeutel erleichtert die Bewegungen
des Herzmuskels, indem er ein reibungsarmes Gleitlager bildet. Er besteht aus zwei
gegeneinander verschieblichen Blättern,
dem Epikard (Herzaußenschicht) und dem
Perikard.
Das Epikard liegt dem Myokard dicht
auf und besteht aus spiegelglattem Epithelgewebe. Das gesamte Herz ist zusätzlich vom Perikard umschlossen, einer derben und reißfesten Bindegewebsschicht,
die mit einer etwas dickeren Plastiktüte
vergleichbar ist. Außen ist das Perikard
nach unten mit dem Zwerchfell und seitlich mit der Pleura (Brustfell ᇄ 12.2.9) verwachsen. Es fixiert dadurch das Herz im
Mediastinum.
Zwischen Epikard und Perikard befindet
sich ein schmaler Spalt. In diesen Spaltraum
sondert das Epikard eine geringe Menge
klarer Flüssigkeit ab: die Herzbeutelflüssig-
+HU]
HPEU\RQDOHU
+HU]EHXWHO
+HU]EHXWHOK¸KOH
8PVFKODJ
IDOWH
¦X¡HUHV%ODWW
GHV+HU]EHXWHOV
LQQHUHV%ODWW
GHV+HU]EHXWHOV
(QGRNDUG
LQQHUHV%ODWW
GHV+HU]EHXWHOV
(SLNDUG
RTF320564 a:END
Bierbach_55244.indb 422
¦X¡HUHV%ODWW
GHV+HU]EHXWHOV
3HULNDUG
(SLNDUG
XQG3HULNDUG
0\RNDUG
Abb. 10.6 Längsschnitt durch das Herz mit Darstellung der drei Wandschichten des Herzmuskels. [L190]
Abb. 10.7 Hineinwachsen des Herzens in den Herzbeutel während der Embryonalzeit. An der Umschlagfalte des embryonalen Herzbeutels geht das
äußere Blatt (Perikard) in das innere Blatt (Epikard)
über. Einen solchen Übergang findet man an der
oberen und unteren Hohlvene, der Aorta sowie am
Truncus pulmonalis. [L190]
RTF310 28a0:END
4/19/2013 1:00:13 PM
10.2 Anatomie und Physiologie
Beim gesunden Erwachsenen schlägt das
Herz in Ruhe etwa 60- bis 80-mal pro Minute. Mit jedem Schlag wird Blut aus den
Kammern in den Lungen- und in den Körperkreislauf gepumpt. Die Kontraktion
(das Zusammenziehen des Herzmuskels)
verkleinert dabei ruckartig den Innenraum
der Herzhöhlen, sodass das Blut herausgeschleudert wird.
Anschließend erschlafft die Muskulatur –
die Höhlen erweitern sich wieder und füllen
sich durch den dabei entstehenden Sog erneut mit Blut.
gelangt in der Regel noch eine ausreichende Blutmenge in die Kammern.
• In der Kammersystole zieht sich das
Myokard zusammen. Durch den Druck
des Blutes schließen sich die Segelklappen und das Blut wird durch die Taschenklappen in die Aorta bzw. in die
Lungenschlagader ausgeworfen.
Anspannungsphase (Systole)
DQJHVSDQQWHV
0\RNDUG
m
m
Hg
10.2.3 Herzzyklus
ᇄ 10.8),
15
80
RTF310 28a:STAR
m
m
Hg
keit. Sie dient als Gleitfilm während der
Herztätigkeit und reduziert die Reibung
zwischen den Blättern des Herzbeutels auf
ein Minimum.
Im Bereich der Pforten für die großen
Herzgefäße geht das innere in das äußere
Blatt (also Epikard in Perikard) über
(ᇄ Abb. 10.7).
12 mmHg
Neben den Kammern unterliegen auch die
Vorhöfe einem ständigen Wechsel von
Kontraktion und Erschlaffung. Die Phasen
des Kontraktionszyklus von Kammern
und Vorhöfen sind dabei exakt aufeinander abgestimmt, um eine optimale Auswurfleistung (ᇄ 10.2.6) des Herzens zu ermöglichen.
Die Vorhofmuskulatur kontrahiert ca.
0,12–0,20 Sek. vor der Kammermuskulatur,
sodass am Ende der Diastole möglichst viel
Blut in die Kammern gepresst wird.
Bierbach_55244.indb 423
m
m
Hg
m
m
Hg
12
0
30
140 mmHg
5 mmHg
32 mmHg
3XOPRQDOXQG$RUWHQNODSSHJH¸IIQHW
HQWVSDQQWHV
0\RNDUG
12 mmHg
Anspannungsphase: Die Kammern sind
mit Blut gefüllt und die Segelklappen bereits geschlossen. Durch Anspannung
des Myokards wird Druck auf das Blut
ausgeübt. Der Druck ist jedoch noch
nicht hoch genug, um die Taschenklappen aufzustoßen.
Austreibungsphase: Bei zunehmender
Muskelkontraktion übersteigt der Druck
in der Kammer schließlich den Druck
in der Lungenschlagader und der Aorta: Die Taschenklappen werden aufgestoßen und das Blut in die großen Arterien getrieben. Gegen Ende der Austreibungsphase schließen sich die Taschenklappen wieder, weil der Druck
im Gefäß wieder höher als in der Kammer ist und das Blut in Richtung des
niedrigeren Drucks zurückfließt. Die
Systole ist beendet, die Diastole beginnt.
Kammerdiastole
•
Füllungsphase (Diastole)
Kammerzyklus
Durch die geöffneten Segelklappen fließt
das Blut von den Vorhöfen in die Kammern. Dies geschieht überwiegend passiv
mithilfe eines Sogeffekt, der dadurch entsteht, dass sich die Herzkammern nach einer Kontraktion rasch wieder erweitern.
Das Herz arbeitet also nicht nur als Druck-,
sondern auch als Saugpumpe. Die aktive
Vorhofkontraktion trägt nur zu etwa 20 %
zur Kammerfüllung bei. Selbst wenn der
Vorhof nicht mehr zur Kontraktion in der
Lage ist (z. B. beim Vorhofflimmern
•
DQJHVSDQQWHV
0\RNDUG
70
mm
Hg
Vorhofzyklus
•
12 mmHg
5m
mH
g
•
Beim Austreiben des Blutes aus dem
Herzen, während der Kammerdiastole,
nimmt der Druck in der Kammer fortlaufend ab, gleichzeitig steigt der Druck
in Aorta und Lungenschlagader. Wenn
sich die Kammer etwa zur Hälfte entleert hat, hört die Kontraktion auf: Die
Kammermuskulatur erschlafft. Aus jeder Kammer werden beim gesunden
Menschen in Ruhe etwa 70 ml Blut pro
Herzschlag ausgetrieben. Betrachtet
man die Vorgänge in der Herzkammer
genauer, kann man sie in vier Phasen
einteilen.
Es werden folgende vier Phasen des Kammerzyklus unterschieden (ᇄ Abb. 10.8).
7 – 15 mmHg
Merke
Die Kontraktionsphase der Herzhöhlen nennt
man Systole. Sie dauert ca. 0,15 Sekunden.
Die Erschlaffungsphase (Füllungsphase)
heißt Diastole. Sie dauert ca. 0,7 Sekunden.
•
Kammersystole
12 – 80
mmHg
5 mmHg
Austreibungsphase (Systole)
•
423
•
Entspannungsphase: Alle vier Klappen
sind geschlossen. Das Blutvolumen verändert sich nicht. Der Druck in den
Kammern fällt so lange, bis er niedriger
ist als der in den Vorhöfen.
Füllungsphase: Das Kammermyokard
erschlafft, und die Segelklappen öffnen
sich, sodass Blut aus den Vorhöfen in die
Kammern strömt. Die Füllungsphase endet mit dem Schließen der Segelklappen
– die neue Systole beginnt.
10
5 mmHg
5 mmHg
Tipp
2 mmHg
7ULNXVSLGDOXQG0LWUDONODSSHJH¸IIQHW
Abb. 10.8 Druckverhältnisse in den vier Herzhöhlen
während der Systole und Diastole. [L190]
Die „Herzdrücke“ – also die Blutdrücke in den
vier Innenräumen des Herzens – sind von großer Bedeutung: Bei allen ausgeprägten Herzerkrankungen (wie z. B. Klappendefekten
ᇄ 10.11) kommt es zu gravierenden Störungen
in dem fein abgestimmten Gleichgewicht der
Herzdrücke.
4/19/2013 1:00:13 PM
424
10 Herz
10.2.4 Erregungsbildung
und Erregungsleitung
Autonomie des Herzens
Wird das Herz aus dem Körper entfernt
und in einer geeigneten Nährflüssigkeit
aufbewahrt, so schlägt es weiter. Dieses Experiment zeigt, dass der Antrieb für die
Herztätigkeit im Herzen selbst liegt – das
Herz arbeitet autonom (unabhängig).
Jeder Muskel benötigt einen Stromstoß
(elektrischen Impuls), um zu kontrahieren
(sich zusammenzuziehen). Doch während
der Skelettmuskel durch einen Nervenimpuls erregt wird, erregt sich das Herz selbst
(ᇄ 7.5.3). Natürlich erhält es auch vom zentralen Nervensystem Impulse. Die zum Herzen ziehenden Nerven haben jedoch nur einen begrenzten regulierenden, aber keinen
taktgebenden Einfluss. Dies zeigt auch die
Tatsache, dass bei hirntoten Patienten, bei
denen die Funktionen des zentralen Nervensystems größtenteils ausgefallen sind, das
Herz trotzdem regelmäßig weiterschlägt.
Die Selbstständigkeit verdankt das Herz
einem System spezialisierter Muskelzellen,
die in der Lage sind, Erregungen zu bilden
und diese schnell weiterzuleiten. Dieses
System spezialisierter Muskelzellen nennt
man daher Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem.
RTF307 62a:ENDRTF307 62a:STAR
muskelfasern – also nicht um Nervenzellen,
wie man vermuten könnte.
Der Sinusknoten befindet sich in der
Wand des rechten Vorhofs unmittelbar an
der Mündungsstelle der oberen Hohlvene.
Als Steuerzentrum bestimmt er die Anzahl
der Herzschläge pro Min. (Herzfrequenz).
Aus diesem Grund wird er auch als Schrittmacher des Herzens bezeichnet.
Vom Sinusknoten gelangt die Erregung
über normale Vorhofmuskulatur zu einem
weiteren Schrittmacherzentrum, dem AVKnoten.
Die wichtigste Struktur für die Erregungsbildung ist der Sinusknoten (ᇄ Abb. 10.9).
Vom Sinusknoten gehen normalerweise alle Erregungen für die rhythmischen Kontraktionen des Herzens aus. Es handelt sich
dabei um ein Geflecht spezialisierter Herz-
$9
.QRWHQ
Nachgeordnete
Erregungszentren
ᇄ Abb.
•
•
•
Sinusknoten
10.10
Den AV-Knoten (Atrioventrikular-Knoten) findet man am Boden des rechten
Vorhofs dicht an der Vorhofscheidewand. Er liegt also nahe der Grenze zwischen Vorhof und Kammer. Dieser Tatsache verdankt er auch seinen Namen.
Er nimmt die Erregungen von der Vorhofmuskulatur auf und leitet sie weiter
zum His-Bündel, benannt nach dem
Arzt W. His.
Das His-Bündel ist sehr kurz und verläuft am Boden des rechten Vorhofs in
Richtung Kammerscheidewand. Dort
teilt es sich in einen rechten und einen
linken Kammerschenkel.
Die Kammerschenkel werden nach dem
Arzt S. Tawara auch Tawara-Schenkel
genannt. Sie ziehen an beiden Seiten der
Kammerscheidewand herzspitzenwärts
und zweigen sich dort weiter auf. Die
Endabzweigungen der Kammerschenkel
heißen nach ihrem Entdecker PurkinjeFasern.
+LV
%¾QGHO
UHFKWHU
XQGOLQNHU
.DPPHU
6FKHQNHO
3XUNLQMH
)DVHUQ
6LQXVNQRWHQ
10
6LQXV
NQRWHQ
DQJHVFKQLW
WHQHU7HLOGHV
6LQXVNQRWHQV
+LV%¾QGHO
OLQNHU
.DPPHUVFKHQNHO
$9.QRWHQ
OLQNHUKLQWHUHU
.DPPHUVFKHQNHO
UHFKWHU
.DPPHUVFKHQNHO
(UUHJXQJGHU
JHVDPWHQ
9HQWULNHO
PXVNXODWXU
OLQNHUYRUGHUHU
.DPPHUVFKHQNHO
3XUNLQMH)DVHUQ
Abb. 10.9 Erregungsleitungssystem des Herzens. Die Erregung beginnt im Sinusknoten und gelangt dann über
die normale Vorhofmuskulatur in den AV-Knoten. Dieser leitet die Erregung weiter zum His-Bündel, von dem sie
über die Kammerschenkel die Purkinje-Fasern erreicht und auf die Kammermuskulatur übergreift. [L190]
Bierbach_55244.indb 424
Abb. 10.10 Die Erregungsausbreitung. Die violetten Flächen kennzeichnen die erregten Myokardanteile. [L190]
4/19/2013 1:00:14 PM
10.2 Anatomie und Physiologie
•
Die Erregungen gehen von den Purkinje-Fasern direkt auf die Kammermuskulatur über.
Diese komplizierte Erregungsleitung hat
Vorteile: Die Zellgrenzen stellen für die
Fortleitung von Erregungen kein Hindernis dar. Theoretisch könnten somit alle
Myokardfasern nacheinander von der Sinusknoten-Erregung erfasst werden – leider allerdings nur langsam, sodass keine
gemeinsame Kontraktion zustande käme.
Alle Teile des Erregungsleitungssystems
haben deshalb die Aufgabe, die Erregung
mit hoher Geschwindigkeit über den ganzen Herzmuskel zu verteilen. Die Muskelzellen in den verschiedenen Herzregionen
werden so fast gleichzeitig erregt. Denn
erst durch die zeitgleiche Erregung der
Muskelzellen wird eine effektive Kontraktion gewährleistet.
Lediglich im AV-Knoten erfährt die Erregungsleitung eine leichte Verzögerung. Diese Verzögerung sorgt dafür, dass sich erst
der Vorhof und dann die Kammer zusammenzieht. Auf diese Weise wird die Kammer zunächst noch stärker mit Blut aus
dem Vorhof gefüllt, bevor sie kontrahiert
und Blut in den Kreislauf pumpt. Die Verzögerung der Erregungsleitung im AVKnoten und die daraus resultierende leicht
versetzte Schlagfolge von Vorhöfen und
Kammern ist also sinnvoll.
Alles-oder-Nichts-Prinzip des
Herzmuskels
Wird ein Muskel durch einen elektrischen
Impuls (Stromstoß) gereizt, der einen bestimmten Schwellenwert überschritten hat
(überschwelliger Reiz), so kommt es zu einer Kontraktion (ᇄ 7.5.3). Dies gilt für den
Herzmuskel genauso wie für den Skelettmuskel.
Zwischen der Erregbarkeit eines Skelettmuskels und der des Herzmuskels gibt es
jedoch wichtige Unterschiede:
• Im Skelettmuskel wird durch einen
überschwelligen Reiz nur ein Teil der
Muskelfasern erregt, die sich dann zusammenziehen. Je mehr Muskelfasern
erregt werden, desto stärker ist die Kontraktion des gesamten Muskels und damit die Muskelkraft.
• Beim Herzmuskel ist diese Abstufung
nicht möglich. Trifft ein überschwelliger
Reiz auf den Herzmuskel, so breitet sich
die Erregung über das ganze Myokard
aus (Alles-oder-Nichts-Prinzip). Eine
Steigerung der Muskelkraft ist über die
Reizdauer möglich. Bei längerer Dauer
des Reizes kontrahieren die Herzmuskelfasern stärker.
Refraktärzeit
Unmittelbar nach einer Aktion ist der Herzmuskel für eine gewisse Zeit unerregbar.
Wenn in dieser Zeit ein weiterer Reiz die
Muskelzelle erreicht, antwortet sie nicht
mit einer Kontraktion, sie ist refraktär (unempfänglich).
Diese Zeitspanne wird Refraktärzeit genannt. Sie beträgt etwa 0,3 Sekunden. Die
Refraktärzeit schützt den Muskel vor einer
zu schnellen Folge von Kontraktionen. Das
Herz benötigt diese Ruhepause, um sich
wieder mit Blut zu füllen. Kurz vor Ende
der Refraktärzeit befindet sich die Zelle jedoch in einer besonders empfindlichen
(vulnerablen = verletzlichen) Phase. Trifft
ein Reiz genau dann die Muskelzelle, kann
sie in schneller Folge immer wieder erregt
werden, sodass eine hohe Herzschlagfrequenz bis hin zum Kammerflimmern
(ᇄ 10.8.2) entsteht.
Elektrolyte und ihre Bedeutung
für die Herzaktion
Für eine ungestörte Herztätigkeit ist es wichtig, dass die Elektrolyte (ᇄ 16.2.6) im Blut
nicht zu niedrig und nicht zu hoch konzentriert vorliegen. Das gilt besonders für das
Kalium- (K+) und das Kalziumion (Ca2+).
Kalzium spielt eine wichtige Rolle bei der
Umsetzung der elektrischen Erregung in
eine Muskelkontraktion – man spricht von
elektromechanischer Kopplung. Zum Beispiel führt eine zu hohe Kalziumkonzentration im Blut (Hyperkalzämie ᇄ 16.4.11) zu
Herzrhythmusstörungen. Es droht der
Herzstillstand.
425
Die Kaliumkonzentration beeinflusst v. a.
die Erregungsprozesse an den Muskelfasern. Ein niedriger Kaliumspiegel (Hypokaliämie ᇄ 16.4.11) fördert die Erregungsbildung und beschleunigt die Erregungsausbreitung. Dadurch kann es zu „überaktiven“ Herzrhythmusstörungen kommen.
Deutlich zu hohe Kaliumwerte im Blut (Hyperkaliämie) lähmen dagegen das Herz
und führen im Extremfall zum Herzstillstand.
RTF3702 86a:END
10.2.5 Blutversorgung
des Herzens
Wie jedes Organ muss auch das Herz selbst
mit Blut versorgt werden. Es benötigt immerhin ein Zwanzigstel des gesamten gepumpten Blutes für die eigene Arbeit.
Die Versorgung des Herzens erfolgt über
zwei kleine Gefäße, die nah bei der Aortenklappe von der Aorta abzweigen: Das eine
Gefäß zieht quer über die rechte, das andere
quer über die linke Herzhälfte. Da diese beiden Arterien mit ihren Verzweigungen das
Herz wie ein Kranz umschließen, werden
sie als Koronararterien (Herzkranzarterien) bezeichnet (ᇄ Abb. 10.11):
• Die rechte Koronararterie (Arteria coronaria dextra) versorgt den rechten
Vorhof, die rechte Kammer, die Herzhinterwand und einen kleinen Teil der
Kammerscheidewand mit Blut.
• Die linke Koronararterie (Arteria coronaria sinistra) teilt sich in zwei starke
Äste (Ramus circumflexus, Ramus interventricularis anterior), die für die Durchblutung des linken Vorhofs, der linken
RTF3702 86a:STAR
9FDYDVXSHULRU
$RUWHQERJHQ
7UXQFXVSXOPRQDOLV
DXIJHVFKQLWWHQ
3XOPRQDONODSSH
$FRURQDULD
GH[WUDUHFKWH
.RURQDUDUWHULH
$FRURQDULD
VLQLVWUDOLQNH
.RURQDUDUWHULH
10
5DPXV
FLUFXPIOH[XV
8PVFKODJIDOWH
GHVHQWIHUQWHQ
+HU]EHXWHOV
5DPXVLQWHU
YHQWULFXODULV
DQWHULRU
9FDYDLQIHULRU
Abb. 10.11 Verlauf der Koronararterien. Die linke Koronararterie zieht sich hinter dem Truncus pulmonalis
hindurch zur Herzvorderseite, wo sie sich in einen vorderen Ast, den Ramus interventricularis anterior, und einen seitlichen Ast, den Ramus circumflexus, aufteilt. [L190]
RTF3105 79a0:END
Bierbach_55244.indb 425
4/19/2013 1:00:14 PM
426
10 Herz
Kammer und eines Großteils der Kammerscheidewand sorgen.
Die Venen des Herzens verlaufen etwa parallel zu den Arterien, vereinigen sich zu immer größeren Gefäßen und münden als Sinus coronarius (Sammelbecken der Herzkranzvenen) in den rechten Vorhof.
spricht der eines Motors von ca. 70 Watt
oder 0,1 PS.
Das Herz-Zeit-Volumen ist eine wichtige
Größe in Anästhesie und Intensivmedizin.
Sinkt es plötzlich ab, lässt dies auf eine vitale Bedrohung schließen, die sofortiges Eingreifen erfordert.
Anpassung an Belastung
10.2.6 Herzleistung und
ihre Regulation
RTF3105 793a0:STAR
Schlagvolumen
In körperlicher Ruhe beträgt die Herzfrequenz des erwachsenen Menschen etwa 70
Schläge pro Minute. Beim Neugeborenen
schlägt das Herz mit 130 Schlägen pro Minute fast doppelt so schnell. Sowohl der
rechte als auch der linke Ventrikel werfen
bei jedem Herzschlag gleich viel Blut aus
(Auswurfleistung). Diese Blutmenge, das
sog. Schlagvolumen, beträgt beim erwachsenen Herzen in Ruhe ca. 70 ml.
Unter Belastung steigen das Herzminutenvolumen und damit die Herzleistung deutlich. Die Leistungssteigerung wird durch
eine Zunahme von Herzfrequenz und
Schlagvolumen erreicht. Im Extremfall
kann das Herz bis zu 25 l Blut pro Minute
fördern, d. h. pro Minute kann das ganze
Blutvolumen fast viermal durch das Blutgefäßsystem gepumpt werden, um den erhöhten Sauerstoffbedarf zu decken.
Die Anpassung der Herztätigkeit an den
momentanen Bedarf des Gesamtorganismus wird v. a. von den Herznerven gesteuert.
Herznerven
Herzfrequenz (HF, Herzschlagfrequenz): Anzahl der Herzschläge pro Min.
Schlagvolumen: Blutmenge, die während einer Kontraktion aus jeder Herzkammer ausgestoßen wird.
Herz-Zeit-Volumen: das Blutvolumen, das pro
Zeiteinheit vom Herzen ausgeworfen wird;
Herz-Zeit-Volumen = Schlagvolumen multipliziert mit der Schlagfrequenz. Beispiel: 70 ml
mal 70/Min. = 4.900 ml pro Min.
Wird das Herz-Zeit-Volumen wie im Beispiel auf Minutenbasis errechnet, nennt
man es auch Herzminutenvolumen.
Leistung während Ruhe
In Ruhe pumpt das Herz also etwa 5 l Blut
pro Min. in den Lungen- und Körperkreislauf. Die dabei erbrachte Leistung ent-
10
Das vegetative Nervensystem (ᇄ 23.2.11)
wirkt mit seinen beiden Anteilen – dem
Sympathikus und dem Parasympathikus –
ständig auf das Herz ein.
Der Sympathikus steigert die Herzleistung. Er versorgt sowohl die Vorhof- als
auch die Kammermuskulatur. Dagegen übt
der zum Parasympathikus gehörende N.
vagus einen wenig ausgeprägten, hemmenden Einfluss aus, denn er ist lediglich mit
dem rechten Vorhof verbunden. Überwiegt
der Einfluss des N. vagus, so schlägt das
Herz langsamer (negativ chronotrope Wirkung), überwiegt der Sympathikus-Einfluss, so schlägt es schneller (positiv chronotrope Wirkung).
Auch die Kontraktionskraft des Myokards
wird durch die Herznerven beeinflusst. Der
Sympathikus steigert die Kontraktionskraft
des Herzmuskels (positiv inotrope Wirkung), der N. vagus verringert sie (negativ
inotrope Wirkung).
Neben Schlagfrequenz und Kontraktionskraft wird durch die Herznerven auch
die Geschwindigkeit der Erregungsleitung
verändert: Unter dem Einfluss des Sympathikus wird die Erregungsleitung beschleunigt (positiv dromotrope Wirkung), unter
dem Einfluss des Nervus vagus wird sie
verlangsamt (negativ dromotrope Wirkung).
Merke
Die Herznerven regulieren:
• Schlagfrequenz (Chronotropie)
• Schlagkraft (Inotropie)
• Erregungsleitungsgeschwindigkeit (Dromotropie)
Selbstregulation des
Schlagvolumens
In gewissen Grenzen ist das Herz in der Lage, auch unabhängig von der Nervenversorgung das Schlagvolumen selbstständig
zu regulieren: Ist z. B. der Druck in der
Aorta erhöht, hat es die linke Kammer
schwerer, ihr Blut auszuwerfen. Das hat
zur Folge, dass eine größere Menge Restblut in der linken Kammer zurückbleibt.
Dadurch wird die Ventrikelmuskulatur gedehnt, sodass die Muskelfasern unter höherer Spannung stehen. Dies wirkt sich
günstig aus: Ähnlich wie ein gespanntes
Gummi können sich auch die Muskelfasern nun stärker zusammenziehen und das
Blut mit größerer Kraft auswerfen. Dieses
Prinzip wird als Frank-Starling-Mechanismus bezeichnet. Sind die Herzmuskelfasern jedoch überdehnt, so z. B. bei einer
chronischen Druck- oder Volumenbelastung, so wirkt der Frank-Starling-Mechanismus nicht mehr.
RTF38026 a:ENDRTF390 1 a:END
10.3 Untersuchung und Diagnostik
10.3.1 Anamnese
Viele Symptome eines Herzkranken können vorübergehend auch beim Gesunden
oder bei anderen Erkrankungen auftreten
und werden deshalb nicht sofort mit dem
Herzen in Verbindung gebracht. Häufig
nehmen die Betroffenen die Veränderungen nicht wahr, weil sie langsam über Monate entstehen. Fragen zur Vorgeschichte
sollten sich daher nicht nur auf die LeitRTF390 1 a:STAR
Bierbach_55244.indb 426
symptome (ᇄ 10.4) erstrecken, sondern
auch auf weitere Symptome wie:
• Beinödeme oder Gewichtszunahme als
Zeichen von Wassereinlagerungen, z. B.
bei Herzinsuffizienz (ᇄ 10.7)
• vermehrtes Wasserlassen nachts (Nykturie) ohne hohe Flüssigkeitszufuhr am
Abend bei Herzinsuffizienz, aber auch
bei Prostatavergrößerung (ᇄ 17.7.2)
• Husten oder nächtliche, im Schlaf auftretende Atemnot, die sich nur bei auf-
•
•
rechtem Sitzen oder Stehen bessert, als
weitere Zeichen der Herzinsuffizienz
Atemnot bei körperlicher Belastung,
z. B. beim Treppensteigen
verminderte Leistungsfähigkeit, die
aber nicht nur Symptom zahlreicher
Herzerkrankungen ist, sondern auch
bei vielen anderen Erkrankungen, z. B.
bei (chronischen) Infekten, auftreten
kann
4/19/2013 1:00:15 PM
10.3 Untersuchung und Diagnostik
10.3.2 Körperliche
Untersuchung
Achten Sie bei der allgemeinen körperlichen Untersuchung (ᇄ 3.5.8) besonders auf
Ödeme oder eine Lebervergrößerung
(ᇄ 3.5.9) als Zeichen einer Herzinsuffizienz.
Gezielte Untersuchungen bei Verdacht auf
Herzerkrankungen sind Inspektion, Palpation und Perkussion des Brustkorbs (Thorax), Auskultation von Herz und Lunge,
Fühlen des Pulses und die Blutdruckmessung.
Bei Frauen mit einer sehr großen Brust
muss zur Palpation, Perkussion und Auskultation des Herzens die linke Brust nach
oben oder nach links geschoben und dort
gehalten werden. Bitten Sie die Patientin,
dies selbst zu tun.
Durch Abklopfen der Wirbelsäule und
Palpation der Rückenmuskulatur sowie der
Thoraxwand finden Sie Hinweise auf andere Ursachen der „Herzbeschwerden“, z. B.
von der Wirbelsäule ausgehende Nervenreizungen, die zum Herzbereich ausstrahlen (Interkostalneuralgie). Ein lokal auslösbarer Schmerz schließt eine Herzerkrankung in der Regel aus.
RTF310459a:STAR
Inspektion des Thorax
Der Brustkorb eines herzkranken Patienten
ist äußerlich meist unauffällig. Bei einer
Vergrößerung des rechten Herzens
(Rechtsherzhypertrophie) kann man mitunter die Herzbewegung links neben dem
Brustbein als pulssynchrones Anheben
mehrerer Interkostalräume (Rippenzwischenräume) sehen. Die Vergrößerung des
linken Herzens (Linksherzhypertrophie)
wird evtl. durch einen hebenden Herzspitzenstoß sichtbar. Weitere pulssynchrone
Thoraxbewegungen (Pulsationen) können
ein Hinweis sein auf:
• Aneurysma (ᇄ 11.6.5) der aufsteigenden
Aorta oder Aortenklappeninsuffizienz
(ᇄ 10.11.2) bei Pulsationen im ersten
oder zweiten Interkostalraum
• Volumen- oder Druckbelastung des
rechten Herzens bei Pulsationen über
dem unteren Brustbein
• Vergrößerung des rechten Herzens oder
Trikuspidalklappeninsuffizienz (ᇄ 10.11.4)
bei Pulsationen im Leberbereich
rationen, die sich wie der Hals einer schnurrenden Katze anfühlen. Schwirren tritt bei
Herzklappen- und anderen Herzfehlern
(ᇄ 10.11) auf, ist aber in abgeschwächter
Form auch bei der Herzbeutelentzündung
(Perikarditis ᇄ 10.9.3) möglich.
Die Palpation des Herzspitzenstoßes ist
bei der klinischen Untersuchung der einzige Hinweis auf Muskelkraft und Größe des
Herzens. Er wird mit den Spitzen von Zeige- und Mittelfinger getastet (ᇄ Abb.
10.12). Denkt man sich von der linken
Schlüsselbeinmitte eine Linie senkrecht
nach unten (Medioklavikularlinie), so soll
der Herzspitzenstoß in etwa dort tastbar
sein, wo diese Linie den 5. Interkostalraum
kreuzt. Liegt er weiter lateral (auswärts)
oder ist er über eine Breite von mehr als
2 cm zu spüren, ist das Herz möglicherweise krankhaft vergrößert. In der Schwangerschaft oder bei Zwerchfellhochstand kann
der Herzspitzenstoß nach links oben verschoben sein. Ist das Herzminutenvolumen
erhöht, kann der Herzspitzenstoß aufgrund
einer höheren Amplitude (ᇄ 11.3.2) „hebend“ sein.
Perkussion des Herzens
Die Herzperkussion (ᇄ Abb. 10.13) gibt einen Eindruck von Form, Lage und Größe
des Herzens. Zunächst wird die LungenLeber-Grenze (Zwerchfellstand) in der
427
rechten Thoraxhälfte festgelegt, danach diese Linie nach links (normal 5.–6. Rippe)
übertragen. Die Perkussion erfolgt von
links außen nach medial bzw. von unten
nach oben in Richtung der zu erwartenden
Herzgrenzen. Die Klangveränderungen (relative Herzdämpfung) kennzeichnen, zumindest theoretisch, die Herzgröße. Schwaches Weiterperkutieren bestimmt die absolute Herzdämpfung, also den Bezirk, an
dem das Herz direkt der Thoraxwand anliegt und nicht von Lungengewebe überlagert ist.
Achtung
Die Herzperkussion ist relativ ungenau. Bei
Übergewicht, Lungenemphysem und Thoraxveränderungen ist sie nicht aussagekräftig.
Schwangerschaft, Aszites, Pneumothorax oder
Pleuraerguss verlagern die absolute Dämpfung.
Auskultation des Herzens
Das Herz arbeitet nicht lautlos. Die bei der
ruckartigen
Herztätigkeit
erzeugten
Schwingungen werden auf den Brustkorb
übertragen, wo sie von außen mit einem
Stethoskop zu hören sind. Beim Abhören
des Herzens mit dem Stethoskop hören Sie
normalerweise die beiden Herztöne. Sie
können zusätzlich Herzgeräusche und
Rhythmusstörungen erfassen. Die verschie-
6FKO¾VVHOEHLQ
&ODYLFXOD
0HGLRNODYLNXODU
/LQLH
,&5
Abb. 10.12 Palpation des
Herzspitzenstoßes. Die erste
tastbare Rippe unter dem
Schlüsselbein ist die 2. Rippe, darunter liegt der 2. Interkostalraum (ICR = Rippenzwischenraum). [L190]
10
Palpation des Thorax
Zur Palpation des Thorax sollte der Patient
liegen. Legen Sie Ihre Hände flach rechts
und links neben das Brustbein, etwas zur
linken Seite hin verschoben. Achten Sie auf
Pulsationen und Schwirren. Dies sind Vib-
Bierbach_55244.indb 427
UHODWLYH
+HU]G¦PSIXQJ
DEVROXWH
+HU]G¦PSIXQJ
Abb. 10.13 Relative und
absolute Herzdämpfung –
Perkussionsrichtungen.
[L190]
4/19/2013 1:00:15 PM
10 Herz
428
3XOPRQDONODSSH
]ZHLWHUUHFKWHU
,QWHUNRVWDOUDXP
]ZHLWHUOLQNHU
,QWHUNRVWDOUDXP
$RUWHQNODSSH
GULWWHUOLQNHU
,QWHUNRVWDOUDXP
0LWUDONODSSH
YLHUWHUOLQNHU
,QWHUNRVWDOUDXP
7ULNXVSLGDONODSSH
I¾QIWHUOLQNHU
,QWHUNRVWDOUDXP
+HU]VSLW]H
Abb. 10.14 Auskultationspunkte des Herzens. Eingezeichnet sind die Abbildungen (Projektionen) der Klappen
auf die Thoraxwand und die besten Abhörstellen für die einzelnen Klappen. [E748]
Klappenöffnungstöne sind diastolische
Zusatztöne durch veränderte AV-Klappen.
Ein frühsystolischer Zusatzton (Austreibungston, Ejection click) entsteht durch
abruptes Abbrechen der Öffnungsbewegung bei krankhaft veränderter Aortenoder Pulmonalklappe.
Bei Jugendlichen ist ein dritter und vierter Herzton physiologisch. Der in der frühen Diastole auftretende dritte Herzton
kann aber auch ein Hinweis auf Mitralinsuffizienz (ᇄ 10.11.1) oder Herzinsuffizienz
(ᇄ 10.7) sein. Der vor dem ersten Herzton
auftretende vierte Herzton (Vorhofton)
kommt bei Bluthochdruck oder Aortenstenose (ᇄ 10.11.2) vor.
Herzgeräusche
denen Herztöne und Herzgeräusche sind
am besten über den folgenden 5 Auskultationspunkten zu hören (ᇄ Abb. 10.14):
• Erb-Punkt: im 3. Interkostalraum (3.
ICR) links, dicht neben dem Brustbein
(parasternal). Hier können Sie am besten alle Herztöne gleichzeitig hören und
sich so einen ersten Überblick über die
Herzaktionen verschaffen. Besonders
deutlich sind Geräusche bei der Mitralstenose (ᇄ 10.11.1) und Aortenklappeninsuffizienz (ᇄ 10.11.2).
• Mitralklappenpunkt: im 5. Interkostalraum (5. ICR) ca. drei Querfinger neben
dem linken Rand des Brustbeins auf der
Medioklavikularlinie; entspricht meist
dem Herzspitzenstoß
• Trikuspidalklappenpunkt: im 4. Interkostalraum (4. ICR) rechts, über dem
Ansatz der fünften Rippe am Rand des
Brustbeins mit Fortleitung des Tons in
Richtung Zwerchfell
• Aortenklappenpunkt: im 2. Interkostalraum (2. ICR) am rechten Rand des
Brustbeins mit Fortleitung des Tons in
die Karotiden (ᇄ 11.2.2)
• Pulmonalklappenpunkt: im 2. Interkostalraum (2. ICR) am linken Rand des
Brustbeins
10
Vorgehen bei der Auskultation
Im Untersuchungsraum muss es still sein.
Auskultieren Sie immer an allen fünf Punkten, und fühlen Sie gleichzeitig den Puls des
Patienten.
Versuchen Sie nicht, durch zügiges Abhören Routine vorzutäuschen. Lassen Sie sich
Zeit bei der Auskultation, und untersuchen
Sie den Patienten in verschiedenen Positionen (z. B. liegend auf dem Rücken, liegend
in linker Seitenlage, sitzend mit tiefer Ausatmung).
Gelegentlich kann es hilfreich sein, wenn
der Patient vorübergehend den Atem anhält. Beginnen Sie mit dem Erb-Punkt, und
Bierbach_55244.indb 428
hören Sie dann in der Reihenfolge der
MI-TR-A-P-Regel ab.
Merke
MI-TR-A-P-Regel
• MI-tralklappe: 5. ICR Medioklavikularlinie
links
• TR-ikuspidalklappe: 4. ICR parasternal
rechts
• A-ortenklappe: 2. ICR parasternal rechts
• P-ulmonalklappe: 2. ICR parasternal links
Herztöne
Am gesunden Herzen lassen sich zwei
Herztöne auskultieren.
• Den ersten Herzton hört man in der Anspannungsphase der Systole. Das Kammermyokard zieht sich ruckartig zusammen, das Blut in den Kammern gerät in
Schwingungen, die zum Brustkorb fortgeleitet werden. Der erste Herzton heißt
daher auch Anspannungston.
• Der zweite Herzton kommt durch das
„Zuschlagen“ der Aorten- und der Pulmonalklappe zustande. Er kennzeichnet
also das Ende der Systole.
Der erste Herzton ist meist etwas lauter als
der zweite. Abgeschwächt ist der erste
Herzton z. B. bei Herzmuskelerkrankungen
oder unvollständigem Klappenschluss. Der
zweite Ton ist besonders leise bei Aortenstenose über dem Aortenklappenpunkt oder
bei der Pulmonalstenose über dem Pulmonalklappenpunkt.
Der zeitliche Abstand vom ersten zum
zweiten Herzton ist kürzer als der Abstand
zwischen zweitem und erstem Ton.
Der zweite Herzton ist normalerweise gespalten, die Spaltung wird jedoch meist nur
bei tiefer Einatmung hörbar. Bei verschiedenen Herzfehlern (ᇄ 10.11) tritt jedoch
dauerhaft eine pathologisch (krankhaft) fixierte Spaltung auf.
Herzgeräusche weisen auf einen gestörten
Blutfluss hin. Folgende Geräusche werden
unterschieden.
• Akzidentelle Geräusche haben keinen
Krankheitswert, entstehen akzidentell (zufällig) nur in der Systole, sind nie über die
ganze Systole hörbar, ohne Fortleitung,
werden oft beim Aufsitzen des Patienten
leiser und kommen häufig bei Jugendlichen oder Asthenikern (ᇄ 8.1.1) vor.
• Funktionelle Geräusche sind, ähnlich
wie akzidentelle Geräusche, nur in der
Systole, aber nicht während der ganzen Systole hörbar und entstehen durch
ein relativ hohes Schlagvolumen, z. B.
bei Fieber, Schilddrüsenüberfunktion
(ᇄ 19.6.2) oder Anämie (ᇄ 20.4.1).
• Organische Geräusche treten bei Herzklappenfehlern oder bei Septumdefekten
auf (ᇄ 10.11).
Merke
Lässt sich ein Herzgeräusch während der
Kammersystole auskultieren, handelt es sich
um ein Systolikum, ist es während der Kammerdiastole zu hören, um ein Diastolikum.
Aufgrund der zeitlichen Zuordnung der
Herzgeräusche kann oft bereits der Verdacht auf einen bestimmten Herzklappenfehler geäußert werden:
• Systolikum: z. B. bei Insuffizienz der Mitral- oder Trikuspidalklappe, bei Stenose
(Verengung) der Aorten- oder Pulmonalklappe sowie bei Ventrikelseptumdefekten (ᇄ 10.11)
• Diastolikum: z. B. bei Stenose der Mitral- oder Trikuspidalklappe und bei Insuffizienz der Aorten- oder Pulmonalklappe
Systolische Geräusche können früh-, mittel- oder spätsystolisch hörbar sein oder
während der gesamten Systole (pansystolisch). Ebenso können diastolische Geräu-
4/19/2013 1:00:15 PM
10.3 Untersuchung und Diagnostik
sche früh-, mittel- oder spätdiastolisch bzw.
prädiastolisch (vor der Diastole) hörbar
sein.
Wichtig ist nicht nur, wann ein Geräusch
hörbar ist, sondern auch, wie es sich im
zeitlichen Verlauf verhält. Wird es während
der Systole oder Diastole lauter, ist es ein
Kreszendo-Geräusch, wird es leiser ist es
ein Dekreszendo-Geräusch. Bleibt es
gleich, beschreibt man es als bandförmiges
Geräusch. Schwillt das Geräusch an und
wieder ab, wird es als spindelförmiges Geräusch bezeichnet. Ferner interessiert, wo
genau das Geräusch am lautesten zu hören
ist (Punctum maximum) und wie es sich
verhält, wenn der Patient seine Körperlage
verändert.
Nach ihrer Lautstärke werden die Herzgeräusche von 1⁄6 (sehr leises Herzgeräusch, das nur in einer Atempause hörbar
ist) bis 6⁄6 (sehr lautes, ohne Stethoskop
hörbares Distanzgeräusch) eingeteilt. Dabei ist die Lautstärke des Geräuschs kein
Maß für die Schwere der Herzerkrankung.
Pulsmessung
(Arterien-)Puls: Anstoßen der durch den systolischen Blutauswurf des Herzens bedingten
Blutwelle an die (arteriellen) Gefäßwände.
Der Puls gehört wie Blutdruck und Atmung
zu den Vitalzeichen und gibt Auskunft
über die aktuelle Herz- und Kreislaufsituation sowie mögliche Erkrankungen. Das
Pulsieren der Arterien kann gelegentlich
mit bloßem Auge gesehen werden, zur
Messung wird der Puls jedoch ertastet.
Wichtige Eigenschaften des Pulses sind
Pulsfrequenz, Pulsrhythmus und Qualität
des Pulses.
Technik des Pulstastens
Der Puls kann überall da getastet werden,
wo größere Arterien dicht unterhalb der
Haut oder über harte Strukturen wie Knochen verlaufen, gegen die man sie drücken
kann. Üblicherweise wird der Puls an der A.
radialis (Speichenarterie) gemessen. Beim
Ertasten des Radialispulses legen Sie die
Fingerkuppen am äußeren Speichenende
auf der Hohlhandseite auf, der Daumen
liegt gegenüber (ᇄ Abb. 3.5). Mit dem Daumen sollten Sie den Puls nicht fühlen, da er
selbst relativ große Gefäße besitzt und Sie
die zu ertastende Pulswelle des Patienten
Bierbach_55244.indb 429
mit der Ihres eigenen Daumens verwechseln könnten. Während des Pulstastens hält
der Patient sein Handgelenk ohne Anspannung in Mittelstellung.
Mitunter ist es erforderlich, den Puls an
anderen Körperstellen (ᇄ Abb. 11.12) oder
auch seitenvergleichend zu messen, z. B. im
Rahmen der Erstuntersuchung, beim
Schock (ᇄ 11.5.3) oder bei Durchblutungsstörungen (ᇄ 11.6.2).
Ermitteln der Pulsfrequenz
Um die Anzahl der Pulswellen pro Min.
(Pulsfrequenz) zu ermitteln, benötigen Sie
eine Uhr mit Sekundenzeiger oder eine
Pulsuhr (ähnlich einer Sanduhr). Bei der
ersten Untersuchung sollten Sie wirklich
eine Minute lang zählen. Danach ist es
meist ausreichend, 15 Sekunden zu zählen,
den Wert mit 4 zu multiplizieren und damit
die Pulsfrequenz hochzurechnen.
Merke
Es gibt folgende Normalwerte für die Pulsfrequenz.
• Neugeborene: 140 Schläge/Min.
• Kleinkinder:
2 Jahre: 120 Schläge/Min.
4 Jahre: 100 Schläge/Min.
• Kinder und Jugendliche:
10 Jahre: 90 Schläge/Min.
14 Jahre: 85 Schläge/Min.
• Erwachsene:
Männer: 60–70 Schläge/Min.
Frauen: 70–75 Schläge/Min.
• hohes Lebensalter:
80–85 Schläge/Min.
• Leistungs-Ausdauersportler:
35–50 Schläge/Min.
Liegt die Herzfrequenz beim Erwachsenen
über 100 Schlägen/Min., spricht man von
einer Tachykardie. Eine Herzfrequenz
beim Erwachsenen unter 60 Schlägen/Min.
wird als Bradykardie bezeichnet.
Bei einem Pulsdefizit kommen nicht alle
vom Herz ausgehenden Pulswellen in der
Peripherie, z. B. in Hand- oder Fußarterien,
an. Die an der A. radialis ermittelte Pulsfrequenz liegt unter der durch Auskultation
nachweisbaren Herzfrequenz. Meist handelt es sich um zu schwache Herzmuskelkontraktionen, z. B. bei Vorhofflimmern
(ᇄ 10.8).
Das Herz ist ein Muskel, den man trainieren kann. Leistungssportler haben durch
429
die ständige Beanspruchung eine dickere
Herzmuskulatur, was automatisch auch zu
einer Vergrößerung der Herzkammern
führt. Dies erhöht das Herzminutenvolumen; gleichzeitig sinkt die benötigte Herzfrequenz, teilweise auf weit unter 60 Schläge/Min. (Sportlerherz).
Pulsrhythmus
Beim Gesunden ist der Puls regelmäßig,
d. h. der Abstand zwischen zwei Herzschlägen ist immer gleich. Physiologisch (normal) sind aber geringe Schwankungen bei
der Atmung, die respiratorische Arrhythmie: Beim Einatmen wird der Puls schneller, beim Ausatmen wieder langsamer. Tritt
dieses Phänomen nicht auf bzw. ändert sich
die Herzfrequenz selbst bei Belastung nicht,
besteht eine Herzfrequenzstarre v. a. bei
diabetischer Polyneuropathie (ᇄ 15.5.5).
Andere Unregelmäßigkeiten des Pulses,
also Arrhythmien, können Zeichen krankhafter
Herzrhythmusstörungen
sein
(ᇄ 10.8).
Pulsqualität
Die Pulsqualität hängt vom Druck der Pulswelle und dem Schlagvolumen ab:
• Die Spannung (Härte) ist von der Intensität der Kammerkontraktion abhängig.
Je nachdem, wie viel Widerstand die
Pulswelle dem Druck der Fingerkuppen
entgegensetzt, handelt es sich um einen
weichen oder einen harten Puls. Einen
weichen Puls (Pulsus mollis) findet man
bei Hypotonie (ᇄ 11.5.2), Fieber oder
Herzinsuffizienz (ᇄ 10.7). Ein harter Puls
(Pulsus durus) kommt z. B. bei Hypertonie (ᇄ 11.5.1) und Arteriosklerose
(ᇄ 11.6.1) vor.
• Die Füllung der Pulswelle hängt vom
Schlagvolumen und der Elastizität der
Arterienwände ab. Schlecht gefüllt fühlt
er sich bei Hypotonie an. Bei Schock
(ᇄ 11.5.3) und Kreislaufversagen ist er
fadenförmig, d. h. fast nicht gefüllt. Der
Puls des Gesunden hat mittlere Spannung und ist gut gefüllt.
10
Pulsamplitude
Den Unterschied zwischen dem höchsten
systolischen und dem niedrigsten diastolischen Pulsdruck nennt man Pulsamplitude. Während der Einatmung ändert der
Puls seine Amplitude. Dies ist jedoch häufig
nur bei der Blutdruckmessung (ᇄ 11.3.2)
festzustellen.
4/19/2013 1:00:16 PM
430
10 Herz
10.3.3 Naturheilkundliche Diagnostik
Antlitzdiagnose
Nach Ferronato sind bestimmte Charakteristika der Nasolabialfalten sowie der beiden Felder, die zwischen Nase und Jochbein
liegen, diagnostische Zeichen für Herzerkrankungen: So können
rötliche Verfärbungen auf einen entzündlichen Prozess hinweisen, während eine blasse Haut Ausdruck einer Erschöpfung bzw.
einer Herzschwäche sein kann.
Achtung: Patienten mit akutem Herzinfarkt haben häufig eine
fahl-graue Gesichtsfarbe.
Eine Blaufärbung der Haut und Schleimhaut (Zyanose) ist bei
Störungen des Gasaustauschs in der Lunge, z. B. bei Herzinsuffizienz und angeborenen Herzfehlern, zu beobachten.
Iridologie
Der Herzsektor liegt in der linken Iris bei 15 Min., in der rechten
Iris bei 45 Min. und grenzt an die Krause. Häufig können Sie in
der linken Iris Reizzeichen (Radiären) oder Schwächezeichen
(Lakunen, Krypten) finden (ᇄ Abb. 10.15). Sieht man die Krause
zum Herzsektor ausgezogen, können die vorliegenden Herzbeschwerden durch Magen und Darm (Roemheld-Syndrom) oder
nervöse Zustände mit verursacht sein.
Pigmente im Herzsektor weisen darauf hin, dass den Herzbeschwerden funktionelle Störungen anderer Organe (z. B. Leber,
Pankreas) zugrunde liegen; oft liegt eine Stoffwechselbelastung
vor. Bei funktionellen Herzbeschwerden sind häufig helle Radiären oder Zirkulärfurchen zu sehen. Bei pektangiösen Beschwerden kann eine Stauungstransversale auf eine mögliche Herzinfarktgefahr hinweisen.
Achten Sie auch auf Zeichen im Pankreas-, Lungen- und Nierenfeld: Ein abgedunkeltes Nierenfeld kann, zusammen mit einer
eingebuchteten Krause, Zeichen einer renal bedingten Hyperto-
Abb. 10.15 Eine an
die Krause angrenzende Lakune und helle
Radiären bei 15. Min.
(linke Iris) sind als
Reiz- oder Schwächezeichen des Herzens zu
werten. [O220]
10
10.3.4 Schulmedizinische
Diagnostik
Die häufigste und eine der wichtigsten
Untersuchungen ist das Elektrokardiogramm.
RTF390 a:STAR
Elektrokardiogramm (EKG)
Bei der Weiterleitung des elektrischen
Impulses im Reizleitungssystem des Herzens entsteht ein geringer Stromfluss, der
sich über die Herzoberfläche hinaus bis
auf die Körperoberfläche ausbreitet und
sich an der Thoraxwand messen lässt.
Bierbach_55244.indb 430
nie sein, ein abgedunkelter Lungensektor kann im Zusammenhang mit einer Herzvergrößerung auftreten.
Manuelle Diagnose
Bei thorakalen Beschwerden sollten Sie immer Rippen- und Wirbelgelenke auf vorliegende Blockierungen hin untersuchen. Da
die meisten Wirbelsäulensegmente an der Herzinnervation beteiligt sind, können Störungen an der Wirbelsäule v. a. im Bereich C
3–C 4 und C 8–Th 8 zu funktionellen Herzbeschwerden (ᇄ 10.5)
führen.
Reflexzonendiagnose
Sollten Sie auf dem Ohrläppchen eine schräg von oben nach unten (kraniodorsal) verlaufende Linie wahrnehmen, kann bei dem
Patienten eine koronare Herzerkrankung oder ein seelisches
Trauma vorliegen. Diese Linie wird auch als „Stressfurche“ bezeichnet.
Im Bereich der Fußreflexzonen ist die Symptomzone „Herz“
oft druckschmerzhaft. Achten Sie außerdem auf Auffälligkeiten
im Bereich der Wirbelsäule.
Segmentdiagnose
Die Head-Zonen des Herzens liegen jeweils auf der linken Seite in
den Segmenten von C 3–C 4 und Th 1–Th 6. Liegen funktionelle
Störungen vor, können Sie Veränderungen an der Haut (Farbe,
Aufquellung) und eine gesteigerte Schmerz- und Berührungsempfindlichkeit in diesen Segmenten feststellen.
Störfelddiagnose
Fragen Sie den Patienten nach Erkrankungen und Traumata,
die den aktuellen Beschwerden unmittelbar oder in den letzten
Monaten vorausgingen. Achten Sie darauf, ob der Patient vegetative Symptome schildert (z. B. Wetterfühligkeit, Schlafstörungen, Therapieresistenz, lokal: Schweiß), die die aktuellen
Beschwerden begleiten. Werden Zusammenhänge dieser Art
bestätigt, ist eine Störfeldsuche hinsichtlich chronischer Entzündungsherde (v. a. Zähne, Tonsillen, Nasennebenhöhlen) erforderlich. Bei Herzerkrankungen ist hierbei auch auf Narben
im Herzsegment (links: C 3–C 4; Th 1–Th 6) zu achten; oft sind
durch Karbunkel oder Verletzungen verursachte Narben im
Nacken zu finden.
RTF390 a:END
Diese Stromflusskurve des Herzens heißt
Elektrokardiogramm (ᇄ Abb. 10.16)
oder kurz EKG. Das EKG gibt zum einen
Auskunft über den Herzrhythmus, zum
anderen lässt es Rückschlüsse auf den Zustand der Arbeitsmuskulatur des Herzens
(Myokard) zu. Ist z. B. bei einem Herzinfarkt ein Teil des Muskelgewebes abgestorben, wird hier der Strom nicht mehr
weitergeleitet. Das betroffene Gebiet ist
elektrisch stumm.
Arten
Meist wird ein Ruhe-EKG abgeleitet, bei
dem der Patient ruhig auf einer Liege liegt.
Sonderformen des EKGs sind das Belastungs-EKG und das Langzeit-EKG. Beim
Belastungs-EKG (Ergometrie) versucht
man, durch eine genau definierte Belastung (Fahrradfahren) einen erhöhten Sauerstoffverbrauch und damit möglicherweise EKG-Veränderungen zu provozieren.
Da die Untersuchung einfach durchzuführen und zugleich aussagekräftig ist, stellt
sie die wichtigste nichtinvasive Untersuchungsmethode zum Nachweis oder Ausschluss einer koronaren Herzkrankheit
dar. Beim Langzeit-EKG werden die Herzströme über einen längeren Zeitraum abgeleitet, meist 24 Std. und mittels eines
4/19/2013 1:00:16 PM
10.3 Untersuchung und Diagnostik
431
%UXVWZDQG
DEOHLWXQJHQ
Medioklavikularlinie
$XVULFKWXQJ9
&ODYLFXOD
(OHNWULVFKH6LJQDOH
ZHUGHQYHUDUEHLWHWXQG
PHLVWRGHU
$EOHLWXQJHQ
JOHLFK]HLWLJGDUJHVWHOOW
V2
4. ICR
$XVULFKWXQJ
9XQG9
V1
V3
V6
V4
V5
6WHUQXP
([WUHPLW¦WHQ
DEOHLWXQJHQ
(UGXQJ
5. ICR
$XVULFKWXQJ9
3:HOOH 456
9RUKRI .RPSOH[
HUUHJXQJ .DPPHU
HUUHJXQJ
Auswertung
Bierbach_55244.indb 431
34=HLW
3:HOOH
346WUHFNH 676WUHFNH
47=HLW
R
T
P
Q
7:HOOH
456
.RP
SOH[
R
(OHNWU6SDQQXQJ
Die beim Gesunden regelmäßig wiederkehrenden Zacken, Wellen, Strecken und Komplexe im EKG (ᇄ Abb. 10.17) werden nach
einer Einteilung von Einthoven bezeichnet.
Die P-Welle, mit der der elektrische Herzzyklus beginnt, entspricht der Vorhoferregung. Die PQ-Zeit, die mit der P-Welle beginnt und mit Beginn des QRS-Komplexes
aufhört, gibt die atrioventrikuläre Überleitungszeit an.
Der QRS-Komplex entspricht der Kammererregung, die T-Welle der Erregungsrückbildung in der Kammer. Die Erregungsrückbildung in den Vorhöfen wird
vom QRS-Komplex überlagert und ist daher
nicht sichtbar. Die Q-Zacke zeigt die Erregung des Kammerseptums, die R-Zacke die
Erregung des größten Anteils des Kammermyokards und die S-Zacke die Erregung
der „letzten Ecke“ des Myokards, der linken
Kammer. Die QT-Zeit umfasst die gesamte
Zeit der Erregungsausbreitung und -rückbildung in der Kammer. Die Bedeutung der
U-Welle ist noch unklar.
Bei der Auswertung eines EKGs wird
überprüft, ob alle Zacken, Wellen, Komplexe und Strecken normal aussehen und ob
ihre Dauer im Normbereich liegt.
7:HOOH
(UUHJXQJV
U¾FNELO
GXQJLQGHU
.DPPHU
8:HOOH
tragbaren Langzeit-EKG-Rekorders aufgezeichnet. Das Langzeit-EKG wird v. a. zur
Abklärung von Herzrhythmusstörungen
eingesetzt.
8:HOOH
Abb. 10.16 Die sechs Messpunkte am Brustkorb werden als Brustwandableitungen V1 bis V6 (nach Wilson) bezeichnet. Die Ableitungen von Handgelenken und
Knöcheln, die Extremitätenableitungen nach Einthoven, messen den Spannungsverlauf zwischen dem re. und li. Arm (Ableitung I), re. Arm und li. Bein (Ableitung II),
sowie zwischen dem li. Bein und li. Arm (Ableitung III). Die 3 Ableitungen nach Goldberger (aVR, aVL, aVF: a = augmented, verstärkt, V = Voltage, R = rechts, L =
links und F = Fuß) liegen genau in der Mitte zwischen den Einthoven-Projektionen. In der Regel werden bei einer EKG-Untersuchung alle 12 Ableitungen mit Hilfe eines
12-Kanalverstärkers und -schreibers gleichzeitig aufgenommen. [L190]
U
S
+HU]]\NOXVFD6HN
P
T
Q
U
S
1¦FKVWHU+HU]]\NOXV
Abb. 10.17 Zacken, Wellen, Strecken und Komplexe im EKG (Ableitung II). [A400]
Weitere
Untersuchungsmethoden des
Herzens
Zusätzliche nichtinvasive Untersuchungstechniken (Untersuchungen, die ausschließlich von außen durchgeführt werden) sind die Ultraschalluntersuchung des
Herzens (Echokardiografie, UKG), die
heute eher selten eingesetzte Herzschallschreibung (Phonokardiogramm) und die
Röntgenaufnahme
des
Brustkorbs
(ᇄ 3.10.2). In der Echokardiografie bestimmt man v. a. die Größe der Herzhöhlen
und beurteilt die Struktur und Beweglichkeit der Herzklappen und des Herzmuskels.
Laboruntersuchungen sind außer bei der
Herzinfarktdiagnostik (ᇄ 10.6.2) wenig
aussagekräftig.
Aufwändigere Untersuchungstechniken
sind die Herzkatheterdiagnostik und die
Myokardszintigrafie. Bei der Rechtsherzkatheteruntersuchung werden Messungen im rechten Herzen vorgenommen.
Die durch eine Vene vorgeschobene Katheterspitze misst den Druck im rechten
Vorhof, in der rechten Kammer und in
der Lungenarterie. Die Rechtsherzkathe-
10
4/19/2013 1:00:16 PM
432
10 Herz
Abb. 10.18 Kontrastmitteldarstellung einer normalen linken Herzkranzarterie bei einer Koronarangiografie. Der Patient klagte über linksthorakale
Schmerzen, v. a. bei Bewegung, deren Ursache letztlich eine Reizung eines Interkostalnervs war. [E530]
Bei der Myokardszintigrafie wird mit
Hilfe radioaktiver Stoffe die Myokardvitalität und (indirekt) die Myokarddurchblutung bildhaft dargestellt. Je nach verwendeter radioaktiver Substanz kann dabei entweder lebendes (vitales) oder totes (nekrotisches) Myokard markiert werden. Die
radioaktive Substanz wird i. v. injiziert und
verteilt sich dann entsprechend der Durchblutung im Herzgewebe.
teruntersuchung ist technisch einfacher
als die Linksherzkatheteruntersuchung.
Bei der wesentlich invasiveren Linksherzkatheteruntersuchung wird der Katheter
nach Punktion der A. femoralis entgegen
dem Blutstrom über die Aorta bis in die
linke Herzkammer vorgeschoben. Dabei
kann unter Röntgendurchleuchtung Kontrastmittel in die Koronararterien gespritzt werden (Koronarangiografie
ᇄ Abb. 10.18), um festzustellen, wie stark
die Herzkranzgefäße bei einer koronaren
Herzkrankheit (ᇄ 10.6.1) verengt sind
oder welches Herzkranzgefäß bei einem
Herzinfarkt (ᇄ 10.6.2) verschlossen
wurde.
Checkliste zur Anamnese und Untersuchung bei Verdacht auf Herzerkrankungen
• Anamnese: Herzerkrankungen in der Familie, Vor- und Be-
• apparative Diagnostik: EKG, Belastungs- und Langzeit-EKG,
gleiterkrankungen, Risikofaktoren (z. B. Übergewicht, Nikotinabusus, Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen), Schmerzen in der Brust, Atemnot (v. a. nachts) häufiges nächtliches
Wasserlassen, Herzrasen, Herzstolpern, Schwindel, Bewusstseinsverluste, psychische Faktoren (Ängste, unbewältigte Konflikte, Probleme in Partnerschaft und Beruf), Stress und Überforderung
• Blutdruckmessung an beiden Armen, ggf. auch an den Beinen
• allgemeine Inspektion: Adipositas, Arcus lipoides (ᇄ 15.4.2),
Halsvenen und Unterzungenvenen (gestaut?), Zyanose
(ᇄ 10.4.4) von Nase und Fingerspitzen, Fingernägel (z. B. Uhrglasnägel ᇄ 10.4.4), Gesichtsfarbe, Ödeme
• Palpation: Pulse im Seitenvergleich, Herzspitzenstoß, Größe
und Konsistenz der Leber
• Perkussion: Herzgrenzen, Lebergrenzen
• Auskultation: Herz (auch bei unterschiedlicher Lagerung des
Patienten), große Arterien (Karotiden, Bauchaorta, Leistenarterien)
• Blutlabor: Blutbild, Blutzucker, BSG, Blutfette (ᇄ 31.4), Elektrolyte
Röntgen-Thorax, Echokardiografie, Myokardszintigrafie, Herzkatheteruntersuchung
• Antlitzdiagnose: Gefäßreiserchen als Hinweis auf eine Belastung des Herzens (nach Bach); Rötungen der Nasolabialfalten
oder der Felder zwischen Nase und Jochbein (nach Ferronato)
als Hinweis auf Entzündungen; Blässe als Zeichen der Erschöpfung oder Herzschwäche; Zyanose bei Herzinsuffizienz oder
Herzfehlern
• Irisdiagnose: Herzsektor bei 15 Min. li., bei 45 Min. re. Radiären und Zirkulärfurchen bei funktionellen Herzbeschwerden;
Pigmente bei funktionellen Störungen anderer Organe; Stauungstransversale bei pektanginösen Beschwerden mit Gefahr
eines Herzinfarkts; Zeichen einer renalen Hypertonie mit abgedunkeltem Nierenfeld und eingebuchteter Krause; abgedunkelter Lungensektor bei Herzvergrößerung
• manuelle Diagnostik im Bereich C 3–C 4 und C 8–Th 8
• Segmentdiagnose: Aufquellungen und Farbänderungen der
Haut in den Segmenten C 3–C 4 und Th 1–Th 6
• Störfelddiagnose
RTF320 a:ENDRTF3601 8a:END
10.4 Leitsymptome und Differenzialdiagnose
10
10.4.1 Herzklopfen,
Herzrasen, Herzstolpern
Der Mensch spürt seinen eigenen Herzschlag nur, wenn er bewusst darauf achtet
oder wenn sich Rhythmus, Frequenz und
Qualität der Herzschläge auffallend verändern.
RTF3601 8a:STAR
Herzklopfen (Palpitation): das (unangenehme)
Empfinden des eigenen Herzschlags.
Herzrasen (Tachykardie): das Herz schlägt viel
zu schnell; das Schlagvolumen verringert sich,
da Zeit zur vollständigen Füllung und Entleerung der Kammer nicht reicht; evtl. treten sogar
Synkopen auf.
Bierbach_55244.indb 432
Herzstolpern: häufige Umschreibung der Patienten von zusätzlichen Herzschlägen (Extrasystolen) oder einem unregelmäßigen Rhythmus (Arrhythmie).
Differenzialdiagnose
Die Symptome können physiologisch (normal) sein, etwa bei körperlicher oder psychischer Belastung, aber auch auf folgende
Erkrankungen hinweisen:
• Herzrhythmusstörungen (ᇄ 10.8): z. B. Extrasystolen, supraventrikuläre und ventrikuläre Tachykardie, Tachyarrhythmien
• Aortenklappeninsuffizienz (ᇄ 10.11.2)
• orthostatische Hypotonie (ᇄ 11.5.2): reaktive Pulserhöhung bei Lagewechsel
vom Liegen zum Stehen
•
•
•
Hormon- oder Stoffwechselstörungen:
z. B. Schilddrüsenüberfunktion (ᇄ 19.6.2),
Hypoglykämie (ᇄ 15.5.5) oder klimakterischen Beschwerden (ᇄ 17.15)
psychische Erkrankungen: somatoforme
Störungen (ᇄ 26.10) Herzneurose
Anämie (ᇄ 20.4.1), Fieber, Genussmittelmissbrauch (Kaffee, Tee, Alkohol,
Drogen), Medikamente
Diagnostik
Eine eingehende Anamnese und körperliche Untersuchung (ᇄ 10.3.2) können erste
Hinweise geben. Zum Ausschluss einer organischen Ursache sollte sich jedoch immer
eine schulmedizinische Diagnostik (RuheEKG, Belastungs-EKG, Langzeit-EKG, evtl.
4/19/2013 1:00:17 PM
10.4 Leitsymptome und Differenzialdiagnose
•
Erstmaßnahmen bei Herzrasen und -stolpern
• Notarzt benachrichtigen bei: Blutdruckabfall, Anstieg der Pulsfrequenz, anhaltender
Angina pectoris, Atemnot, Hypoglykämie, Synkope (ᇄ 10.4.3).
• Patienten beruhigen, selbst Ruhe bewahren und austrahlen.
• Jede körperliche Anstrengung untersagen.
• Patienten je nach Ursache lagern (ᇄ 30.5).
• Pulsfrequenz, -rhythmus, -qualität, Blutdruck, Hautfarbe und Bewusstseinslage ständig beobachten.
• Großlumigen venösen Zugang (ᇄ 6.5.2) legen.
• Bei Herz-Kreislauf-Stillstand unverzüglich mit der Reanimation beginnen (ᇄ 30.4).
RTF38019 a:END
Erstmaßnahmen bei akuten retrosternalen oder linksseitigen Brustschmerzen
• Notarzt verständigen.
• Patienten beruhigen, selbst Ruhe ausstrahlen und bewahren.
• Patienten absolute Ruhe einhalten lassen, jede körperliche Anstrengung untersagen.
• Beengende Kleidungsstücke entfernen und Patienten nach Wunsch lagern, meist mit
erhöhtem Oberkörper.
• Vitalzeichen (Bewusstsein, Atmung, Puls) des Patienten kontrollieren.
• Legen eines großlumigen venösen Zugangs (ᇄ 6.5.2).
• Fenster öffnen.
Echokardiografie) anschließen. Überweisen
Sie Ihren Patienten zum Hausarzt, wenn Sie
nicht selbst ein EKG-Gerät besitzen.
Erstmaßnahmen
Die Erstmaßnahmen bei Herzrasen und
-stolpern hängen entscheidend von Vorgeschichte und Begleitsymptomatik ab. Bei
harmlosen Ursachen genügt es, den Patienten zu beruhigen und die Vitalfunktionen
bis zur Besserung zu kontrollieren. Mitunter kann ein Glas kaltes Wasser, in langsamen Schlucken getrunken, zur Normalisierung des Herzschlags führen (über einen
Vagusreflex).
•
•
10.4.2 Brustschmerzen
(retrosternaler Schmerz)
RTF38019 a:STAR
Brust- oder Herzschmerzen: im allgemeinen
Sprachgebrauch alle Schmerzen in der linken
Thoraxhälfte oder hinter dem Brustbein (retrosternal); nicht nur durch Herzerkrankungen,
sondern auch durch Erkrankungen der Pleura, des Bauchraums oder der Wirbelsäule bedingt.
•
•
•
•
Differenzialdiagnose
Die wichtigsten Krankheitsbilder, die sich
durch retrosternale Schmerzen äußern
können, sind
• Koronare Herzkrankheit (kurz KHK
ᇄ 10.6.1)
– Angina pectoris (ᇄ 10.6.1): v. a. bei
Belastung Schmerz und Engegefühl in
der Herzgegend, oft ausstrahlend in
Bierbach_55244.indb 433
•
linken Arm (ᇄ Abb. 10.23) oder Hals,
evtl. Atemnot. Besserung auf Gabe
von Nitraten (ᇄ 10.6.1, Pharma-Info)
oder bei körperlicher Ruhe
– akutes Koronarsyndrom (ᇄ 10.6.2):
plötzlich heftigste retrosternale
Schmerzen, häufig starke Unruhe und
Todesangst; keine wesentliche Besserung durch Ruhe oder Nitratgabe.
Herzinfarkt (ᇄ 10.6.2): Leitsymptom für
den Herzinfarkt ist bei 2⁄3 aller Patienten
das plötzliche Auftreten heftigster retrosternaler Schmerzen, häufig kombiniert mit Vernichtungsgefühl (Todesangst), starker Unruhe, Atemnot, Übelkeit und Erbrechen.
Entzündliche Herzerkrankungen (v. a.
Perikarditis ᇄ 10.9.3): Die Schmerzen
sind hier meist atem- und lageabhängig.
Der Patient atmet flach und schnell; evtl.
hat er Fieber.
Bluthochdruck-Krisen (ᇄ 11.5.1): ähnlich Angina pectoris.
Dissezierendes Aortenaneurysma
(ᇄ 11.6.5).
Funktionelle Herzbeschwerden
(ᇄ 10.5).
Lungenembolie (ᇄ 12.10.1): Sind größere Gefäße im Lungenkreislauf verschlossen, leidet der Patient unter atemabhängigen Brustschmerzen, die meist bei der
Einatmung stärker werden, Atemnot,
Zyanose (ᇄ 10.4.4); evtl. besteht Schocksymptomatik.
Pneumothorax (ᇄ 12.11.3): Neben der
Atemnot und den Brustschmerzen sind
asymmetrische Atembewegungen und
einseitig eingeschränkte oder fehlende
Atemgeräusche typisch.
433
Erkrankungen des Magen-DarmTrakts: In den Thorax ausstrahlende
Schmerzen sind möglich bei Entzündungen der Speiseröhre (Ösophagitis
ᇄ 13.6.1), Magenschleimhautentzündungen (Gastritis ᇄ 13.7.1), Magen- und
Zwölffingerdarmgeschwüren
(Ulcus
ventriculi, Ulcus duodeni ᇄ 13.7.2) sowie Gallenwegs- und Bauchspeicheldrüsenerkrankungen (ᇄ 14.6, ᇄ 14.7),
Roemheld-Syndrom (ᇄ 10.6.1).
Diagnostik
Achtung
Stufen Sie jeden akuten „Herzschmerz“ bis
zum Beweis des Gegenteils als bedrohlich ein.
Eine schulmedizinische Abklärung ist unbedingt
erforderlich.
Eine sorgfältige Anamnese und eingehende
körperliche Untersuchung erlauben oft
schon eine recht präzise Einschätzung der
Ursache. Achten Sie darauf, ob Schocksymptome sichtbar bzw. messbar sind.
Die Schmerzanamnese umfasst die aktuellen Beschwerden, das zeitliche Auftreten
(z. B. seit wann, allmählich oder plötzlich
einsetzend,
Dauerschmerz,
Morgenschmerz?), Lokalisation und Ausstrahlung,
Schmerzcharakter (z. B. stechend oder
dumpf?), Intensität (z. B. Schmerzskala von
1–10 verwenden), Verlauf (akut oder chronisch?) und Begleitumstände (abhängig von
Tageszeit, psychischer oder körperlicher Belastung, Atmung?).
Insbesondere bei erstmaligem Auftreten
der Schmerzen ist jedoch eine Klärung der
Ursache ohne Hilfsmittel (EKG, Ultraschall,
Labor) nicht möglich.
RTF3501 78a:END
10.4.3 Synkope
Synkope (griech. = plötzlicher Kräfteverlust):
plötzlich auftretender, kurz dauernder Bewusstseinsverlust infolge einer vorübergehenden
Minderversorgung des Gehirns mit Sauerstoff
oder Blutzucker.
10
Differenzialdiagnose
Die häufigsten und zugleich harmlosesten
Formen der Synkope sind die vasovagale
und die orthostatische Synkope. Ihre Prognose ist meist gut, der Kreislauf normalisiert sich in der Regel innerhalb von Sekunden.
• Die vasovagale (neurokardiogene)
Synkope kann z. B. durch Schreck,
Angst, Hysterie (häufig zu beobachten
auf Rockmusik-Konzerten) oder Aufregung hervorgerufen werden. Häufige
4/19/2013 1:00:17 PM
434
10 Herz
Erstmaßnahmen bei Synkope
Vasovagale oder orthostatische Synkope
• Patienten sofort hinlegen (nicht hinsetzen), dabei Kopf tief- und Beine hochlagern
(Schocklage).
• Patienten laut ansprechen, evtl. Berührungsreize setzen (z. B. an den Schultern schütteln).
• Beengende Kleidungsstücke lockern, Fenster öffnen.
• Pulsfrequenz, -rhythmus und -qualität, Blutdruck, Hautfarbe und Bewusstseinslage
überwachen.
• Patienten auf Verletzungen untersuchen (Kopfplatzwunde? Gehirnerschütterung?),
wenn er z. B. nicht rechtzeitig hingelegt werden konnte und gestürzt ist.
Medikament zur sanften, kurzzeitigen Blutdrucksteigerung geben, z. B.
Korodinp-Tropfen.
• Patienten nicht alleine lassen.
• Evtl.
Synkope anderer Ursache
• Notarzt benachrichtigen.
• Patienten laut ansprechen, evtl. Berührungsreize setzen (z. B. an den Schultern schütteln).
• Patienten entsprechend der Ursache lagern (ᇄ 30.5.1) – keine Schocklagerung vornehmen.
• Pulsfrequenz, -rhythmus und -qualität, Blutdruck, Hautfarbe und Bewusstseinslage
überwachen.
• Evtl. BZ kontrollieren (BZ-Stix ᇄ 15.5.3)
• Patienten auf Verletzungen untersuchen (Kopfplatzwunde? Gehirnerschütterung?),
wenn er z. B. nicht rechtzeitig hingelegt werden konnte und gestürzt ist.
• Großlumigen venösen Zugang (ᇄ 6.5.2) legen.
• Patienten nicht allein lassen; ihn beruhigen, sobald er wieder bei Bewusstsein ist.
RTF3407928a:END
10
Vorboten sind Übelkeit, Schwächeoder Kältegefühl, Sehstörungen und
Schwindel.
• Die orthostatische Synkope kommt v. a.
bei jungen Frauen mit niedrigem Blutdruck nach längerem Stehen oder
schnellem Aufstehen vor. Sie ist der vasovagalen Synkope sehr ähnlich.
Synkopen können aber auch Zeichen ernst
zu nehmender Erkrankungen sein, z. B.:
• kardiale Synkopen beim AdamsStokes-Anfall (ᇄ 10.8.4), Herzrhythmusstörungen
oder
Herzinfarkt
(ᇄ 10.6.2)
• Synkopen beim Karotissinus-Syndrom
(ᇄ 10.8.3)
• zerebrale oder zerebrovaskuläre Synkopen bei Epilepsie (zerebrale Krampfanfälle ᇄ 23.6) oder TIA (transitorisch
ischämische Attacke ᇄ 23.5.1)
• Synkopen durch Stoffwechselstörungen
wie etwa Hypoglykämie (Unterzuckerung ᇄ 15.5.5)
Diagnostik
Unabhängig von der Häufigkeit ihres Auftretens muss jede Synkope schulmedizinisch abgeklärt werden, es sei denn, sie ist
zweifelsfrei auf eine psychische Ursache
(z. B. Schreck) zurückzuführen.
Bierbach_55244.indb 434
10.4.4 Zyanose
RTF3407928a:STAR
Zyanose: bläulich-rote Verfärbung der Haut
und/oder Schleimhäute durch verminderten
Sauerstoffgehalt des Blutes; besonders gut
sichtbar im Bereich der Lippen und der Akren
(Fingerspitzen, Zehenspitzen, Nasenspitze).
Abb. 10.19 Eine zyanotische Verfärbung der Zunge
tritt typischerweise bei einer zentralen Zyanose auf,
d. h. die Ursache liegt darin, dass nicht alle Erythrozyten vollständig mit Sauerstoff beladen sind, z. B.
bei einem Lungenemphysem. [M537]
(z. B. Lungenemphysem ᇄ 12.7) oder Verlegungen der Lungenstrombahn (z. B. Lungenembolie ᇄ 12.9.1). Auch Herzfehler, bei
denen es zu einer Vermischung von venösem (sauerstoffarmem) und arteriellem
(sauerstoffreichem) Blut kommt, können
eine zentrale Zyanose hervorrufen. Typisch ist, dass auch gut durchblutete Organe wie z. B. die Zunge zyanotisch sind.
• Periphere Zyanose: Dem Blut wird aufgrund der Flussverlangsamung vermehrt
Sauerstoff in den abhängigen Körpergebieten entzogen (erhöhte Sauerstoffausschöpfung). Ursachen: reduziertes Herzzeitvolumen (z. B. Herzinsuffizienz ᇄ 10.7,
Schock ᇄ 11.5.3), lokale Engstellung der
Gefäße (z. B. Kälte), mechanische Einengung von Arterien (z. B. Arteriosklerose
ᇄ 11.6.1) und Venen (z. B. Thrombose,
chronisch venöse Insuffizienz ᇄ 11.7.4).
Seltene Sonderformen der Zyanose können durch Einnahme bestimmter Medikamente und Erkrankungen, die die Hämoglobinbildung betreffen, entstehen.
Diagnostik
Zu einer Zyanose kommt es, wenn mehr als
⅓ der Hämoglobinmoleküle (ᇄ 20.2.3) der
roten Blutkörperchen nicht mit Sauerstoff
beladen ist. Diese Zyanoseschwelle gilt für
das normale Gesamt-Hämoglobin, bei Anämie ist die Zyanoseschwelle erniedrigt –
eine Zyanose wird später bemerkt.
Häufiges Begleitsymptom ist Atemnot.
Der „Zyanotiker“ leidet oft unter Kopfschmerzen, Müdigkeit und Konzentrationsschwäche; ihm ist häufig kalt.
In der Anamnese fragen Sie nach bekannten
Herz-, Lungen- oder Bluterkrankungen sowie nach der Medikation. Achten Sie bei der
körperlichen Untersuchung auf Zeichen einer Herzinsuffizienz, z. B. Ödeme oder gestaute Halsvenen. Möglicherweise hat der
Differenzialdiagnose
Zwei typische Formen der Zyanose werden
unterschieden:
• Zentrale Zyanose (pulmonale Zyanose):
Die arterielle O2-Sättigung ist vermindert
(ᇄ Abb. 10.19), d. h. die Erythrozyten sind
nicht vollständig mit Sauerstoff besetzt.
Häufige Ursachen sind Lungenerkrankungen mit Behinderung des Gasaustauschs
Abb. 10.20 Verdickte und vergrößerte Fingerendglieder (Trommelschlägelfinger) mit großen, gewölbten Nägeln (Uhrglasnägel). Diese Veränderungen finden sich bei chronischem Sauerstoffmangel infolge
von Herz- und Lungenerkrankungen. [K183]
RTF3806 59a0:END
4/19/2013 1:00:17 PM
10.5 Funktionelle Herzbeschwerden
Patient auch Uhrglasnägel und Trommelschlägelfinger (ᇄ Abb. 10.20). Bei der Herzauskultation sind evtl. krankhafte Herzgeräusche zu hören, bei der Lungenauskultation evtl. ein vermindertes Atemgeräusch.
Die Zyanose muss immer schulmedizinisch
abgeklärt werden, z. B. durch Laboruntersuchungen, EKG, Röntgenaufnahme des Thorax und Lungenfunktionsprüfung.
10.4.5 Obere
Einflussstauung
RTF3806 593a0:STAR
Obere Einflussstauung (hepatojugulärer Reflux): von außen sichtbares Hervortreten der
Halsvenen durch Stauung des Blutes vor dem
rechten Herzen; auch die Venen unter der Zunge können deutlich gestaut sein.
Differenzialdiagnose
In erster Linie entsteht die obere Einflussstauung der Jugularvenen durch eine akute
oder chronische Rechtsherzinsuffizienz
(ᇄ 10.7). Aber auch ausgedehnte Schilddrüsenvergrößerungen (Struma ᇄ 19.4.1), Spannungspneumothorax, Tumoren im Mediastinum oder Bronchialkarzinome (ᇄ 12.9.2)
mit Einbruch ins Mediastinum sowie Aortenaneursymen (ᇄ 11.6.5) können letztlich
zur Schwellung der Halsvenen führen.
435
sichtbar sind. Liegt ein Patient sehr viel flacher, treten die Halsvenen auch beim Gesunden hervor.
In der Vorgeschichte des Patienten sind
besonders bekannte Herzerkrankungen
von Bedeutung. Erfragen Sie weitere Symptome der Rechtsherzinsuffizienz wie vermehrtes nächtliches Wasserlassen, Atemnot bei Belastung und Beinödeme.
Bei der körperlichen Untersuchung achten Sie auf Zeichen einer Herzinsuffizienz,
z. B. Ödeme, schmerzhafte Lebervergrößerung, pathologische Herztöne und -geräusche. Die weitere Diagnostik muss durch
den Arzt erfolgen.
RTF310257a:END
Diagnostik
Von gestauten Halsvenen spricht man,
wenn diese bei 45°-Lagerung des Patienten
10.5 Funktionelle Herzbeschwerden
Symptome
Funktionelle Herzbeschwerden: Brustschmerzen oder erhöhte Herzfrequenz ohne
organische Ursache, psychogen-psychosomatisch verursacht; kann sich bis zur somatoformen autonomen Funktionsstörung (ᇄ 26.9.1)
steigern.
RTF310257a0:STAR
Die Patienten leiden an belastungsunabhängigen, anfallsartig auftretenden Schmerzen
im Bereich des Brustkorbs mit Beklemmungsgefühl.
Die Beschwerden treten oft nachts auf und
können von Herzrasen (ᇄ 10.4.1), Schweißausbruch und gelegentlich auch von Atem-
not bis hin zum Hyperventilationssyndrom
begleitet sein. Die Mehrzahl der Patienten
ist jünger als 40 Jahre alt.
Besteht zusätzlich Todesangst, liegt eine
Panikstörung vor, evtl. liegen depressive
und psychosomatische Störungen vor, gekoppelt mit der Furcht vor erneuten Anfällen (Phobophobie).
Naturheilkundliche Therapie bei funktionellen Herzbeschwerden
Handbuch für die Naturheilpraxis ᇄ 3.2
Funktionelle Herzbeschwerden werden oft durch traumatische
Situationen, Stress oder Konflikte ausgelöst. Durch naturheilkundliche Therapieverfahren können nervöse Übererregbarkeit
und die oft zu beobachtende labile Stimmungslage positiv beeinflusst werden. Auch Maßnahmen, die den Körper kräftigen, wirken sich günstig auf die Beschwerden des Patienten aus.
Ab- und Ausleitungsverfahren
Ausleitungsverfahren bewirken eine vegetative Gesamtumstimmung und sind erfolgversprechend bei Herzbeschwerden, denen
keine organische Ursache zugrunde liegt. Führen Sie in der Nackenzone im Bereich C 3–C 5, bei energetischem Leere-Zustand,
eine Schröpfkopfmassage durch oder schröpfen Sie, wenn sich
der Patient in einem Fülle-Zustand befindet, blutig. Setzen Sie
keinesfalls Schröpfgläser trocken auf (wegen Überdruck).
Bei Gelosen im Schulterdreieck, im Bereich C 4/5–Th 5 links,
ist blutiges Schröpfen zur Entlastung ebenfalls sinnvoll. Benötigt
der Patient einen stärkeren Reiz, können Sie den Nacken und
oberen Rücken baunscheidtieren.
Werden Komplexmittel (z. B. Corselectp N Tropfen) eingesetzt, enthalten diese häufig Crataegus (bei Herzklopfen, Herzunruhe, Depressionen), Cactus (bei krampfartigen Herzschmerzen,
Zusammenschnüren des Herzens „wie von einem eisernen Band“,
niedriger Blutdruck), Ignatia (bei Herzschmerzen, Herzklopfen
durch Kummer oder nervlicher Belastung), Gelsemium (bei
Herzklopfen, Gefühl, als ob das Herz stehen bleibt, muss sich hin
und her bewegen) Coffea (bei Herzklopfen, Tachykardie durch
unerwartete Ereignisse).
Ordnungstherapie
Es sind häufig ängstliche und empfindsame Menschen, die zu
funktionellen Herzbeschwerden neigen. Fragen Sie den Patienten nach seelischen Konflikten und nach Problemen in Partnerschaft und Beruf. Empfehlen Sie ggf. eine Atemtherapie
oder eine psychotherapeutische Behandlung, damit der Patient
seine Situation erkennen und sich auch dadurch festigen kann.
Ausgesprochen wichtig für das Vegetativum ist die Regulierung des Tagesrhythmus und des Ausgleichs von Anspannung
und Entspannung.
Homöopathie
Physikalische Therapie
Eine ausführliche Anamnese und sorgfältige Repertorisation führen
zum Mittel der Wahl. Konstitutionelle Mittel, die einen Bezug zu
funktionellen Herzbeschwerden aufweisen, sind: Cimicifuga, Coffea, Gelsemium, Ignatia, Kalium carbonicum, Lilium tigrinum, Nux
vomica. Charakteristische Allgemein- und Gemütssymptome können jedoch auch auf ein anderes Konstitutionsmittel hinweisen.
Empfehlen Sie dem Patienten milde Reizanwendungen, wie z. B.
leichte Trockenbürstungen (ᇄ Abb. 10.21). Wechselduschen und
wechselwarme Fußbäder, um das Vegetativum zu stabilisieren.
Liegen keine Kontraindikationen vor, raten Sie dem Patienten
auch zu einem wöchentlichen Saunabesuch.
Bierbach_55244.indb 435
10
4/19/2013 1:00:18 PM
436
10 Herz
Entspannend wirken Bäder mit Melisse und Heublumen.
Feuchte Auflagen mit Arnika (1 EL Arnikatinktur auf ¼ l Wasser)
im Bereich der Herzgegend haben eine beruhigende Wirkung.
Phytotherapie
Abb. 10.21 Mit einem Sisalhandschuh werden beginnend am rechten Fußrücken mit kreisförmigen Bewegungen nach oben, dann entsprechend die Innenseite des Beins und das linke Bein gebürstet. Danach folgen die rechte, dann
die linke Gesäßhälfte, der Nacken, der zur Schulter hin behandelt wird, sowie
der obere und untere Rücken. Der Bauch wird im Uhrzeigersinn, die Brust zum
Brustbein hin gebürstet. [K103]
Diagnostik und
Differenzialdiagnose
Die Beschwerden des Patienten müssen
ernst genommen und eine organische
Herzerkrankung, insbesondere eine koronare Herzkrankheit (ᇄ 10.6.1), muss ausgeschlossen werden. Auch andere organische
Erkrankungen, die Schmerzen im Brustkorbbereich verursachen (z. B. Wirbelsäulenerkrankungen), kommen differenzial-
Da funktionelle Herzbeschwerden stark durch psychische Faktoren beeinflusst werden, ist eine Kombination, z. B. aus
herzwirksamen Pflanzen wie Weißdornblätter mit -blüten
(Crataegi folium cum flore laevigata ᇄ Abb. 10.35) und sedativ
wirkenden Pflanzen, z. B. Baldrianwurzel (Valerianae radix
ᇄ Abb. 29.8), Johanniskraut (Hyperici herba ᇄ Abb. 26.12), Melissenblätter (Melissae officinalis ᇄ Abb. 13.40) sinnvoll, z. B.
Oxacantp sedativ Liquid oder Tornixp Steierl. Das ätherische Öl
aus Arzneilavendel (Lavandula angustifolia) wirkt beruhigend
und angstlösend (z. B. Laseap). Liegen Magen-Darm-Störungen vor, können ergänzend Karminativa, z. B. Kümmelfrüchte
(Carvi fructus ᇄ Abb. 13.29) und Korianderfrüchte (Coriandri
fructus) verordnet werden. Beruhigend wirken auch sanfte Einreibungen der Herzregion mit einer pflanzlichen Herzsalbe, z. B.
Cor-Velp Truw.
diagnostisch in Betracht. Die Diagnostik
erfolgt wie bei dem Leitsymptom Brustschmerzen (ᇄ 10.4.2).
Achtung
Die Diagnose „funktionelle Herzbeschwerden“ darf nur gestellt werden, wenn organische
Erkrankungen schulmedizinisch sicher ausgeschlossen wurden (Ausschlussdiagnose!).
Nach geklärter Diagnose müssen häufige
Organuntersuchungen vermieden werden. Es besteht die Gefahr, dass der Patient sich durch Überbewertung von Minimalbefunden auf seine Beschwerden fixiert.
Patienten mit starkem Leidensdruck
können psychotherapeutische Verfahren
(ᇄ 26.16.2) helfen.
RTF360791 a:ENDRTF30146a:END
10.6 Durchblutungsstörungen des Herzens
10.6.1 Koronare
Herzkrankheit
RTF310 46a:STAR
10
Koronare Herzkrankheit (kurz KHK): klinische Manifestation der Arteriosklerose und
Atherosklerose in den Koronararterien (Herzkranzgefäßen), die zur Mangeldurchblutung
(Ischämie) und dadurch zum Sauerstoffmangel (Hypoxie) des Herzmuskels durch Einengung oder Verschluss von Koronararterien
(ᇄ 10.2.5) führt.
Die KHK ist in den Industrieländern die
häufigste Todesursache. In Deutschland
sind 20 % der Todesfälle durch die KHK
verursacht. Etwa 30 % aller Männer und
15 % aller Frauen erkranken während ihres
Lebens an der KHK. Die Prognose ist abhängig vom Schweregrad der Erkrankung.
Bei Frauen ist eine KHK vor der Menopause
selten. Danach steigt das Risiko jedoch
rasch an. Je nachdem wie viele Herzkranzgefäße von der koronaren Herzkrankheit
Bierbach_55244.indb 436
betroffen sind, spricht man von einer 1-, 2oder 3-Gefäß-Erkrankung. Die Prognose ist
abhängig vom Schweregrad der Erkrankung.
•
•
•
Koronarspasmen bei Atherosklerose
Embolien (selten)
Erniedrigung des Sauerstoffgehalts im
Blut infolge respiratorischer Insuffizienz,
Anämie, Kohlenmonoxidvergiftung
Krankheitsentstehung
Ursache der KHK ist in der Regel eine fortschreitende atherosklerotische (ᇄ 11.6.1)
Verengung der Herzkranzgefäße, die zu einer Minderdurchblutung und in der Folge
zu einem Sauerstoffmangel des Herzmuskels führt (Missverhältnis zwischen O2-Angebot und O2-Bedarf).
Die Myokardischämie kann durch Faktoren, die eine Verringerung des Sauerstoffangebots oder eine Erhöhung des Sauerstoffbedarfs hervorrufen, ausgelöst oder
verstärkt werden.
Erhöhung des myokardialen
Sauerstoffbedarfs
•
•
Verminderung des Sauerstoffangebots
•
•
Atherosklerose (ganz überwiegende Ursache ᇄ 11.6.1)
Thrombosen v. a. bei atherosklerotisch
vorgeschädigten Gefäßen
•
erhöhte Wandspannung infolge chronischer Druck- und/oder Volumenbelastung, z. B. bei Herzklappenfehlern, dilatativer Kardiomyopathie, Herzinsuffizienz oder Z. n. Myokardinfarkt
Erhöhung der Herzarbeit durch langjährige arterielle Hypertonie oder bei
chronischer Druckbelastung aufgrund
von Klappenfehlern, z. B. bei Aortenstenose, körperlicher Belastung (bedarfsgerechte Erhöhung des Herzzeitvolumens)
Infektionen, Fieber, Hyperthyreose
(durch Tachykardie erhöhtes Herzzeitvolumen)
4/19/2013 1:00:18 PM
10.6 Durchblutungsstörungen des Herzens
Weitere Ursachen
Als weitere mögliche Krankheitsursache
werden außerdem diskutiert eine chronische, durch Mikroorganismen wie das Bakterium Chlamydia pneumoniae (ᇄ 25.5.8)
hervorgerufene Gefäßentzündung und eine
fehlgeleitete Immunreaktion.
Häufigste Auslöser der Schmerzanfälle
sind körperliche oder psychische Belastungen. Auch schwere Mahlzeiten können einen Anfall provozieren (Roemheld-Syndrom), ebenso Kälte.
Risikofaktoren
Die Risikofaktoren für die KHK entsprechen
im Wesentlichen denen der Atherosklerose in
anderen Gefäßabschnitten, z. B. bei pAVK.
• Hauptrisikofaktoren einer KHK sind:
Hypercholesterinämie: deutlich erhöhtes
Risiko bei hohem LDL-, niedrigem HDLCholesterin (ᇄ 15.6)
– Rauchen: 20 Zigaretten pro Tag erhöhen das Risiko um das Dreifache
– arterielle Hypertonie (ᇄ 11.5.1): linear ansteigendes Risiko bei Werten
von > 130 mmHg/> 85 mmHg
– Diabetes mellitus (ᇄ 15.5): ca. 60 %
aller Todesfälle bei Diabetes mellitus
werden durch eine KHK verursacht
– Alter, Geschlecht: es besteht eine lineare Altersabhängigkeit, bei Männern ab dem 30. Lebensjahr, bei Frauen ab der Menopause. Bei Männern
ist das KHK-Risiko vor dem 60. Lebensjahr doppelt so hoch wie bei
Frauen, anschließend gleichen sich
Morbidität und Mortalität an
– familiäre Veranlagung: erhöhtes
KHK-Risiko besteht bei positiver Familienanamnese für kardiovaskuläre
Erkrankungen
• andere Risikofaktoren:
– Bewegungsmangel
– (stammbetontes) Übergewicht
verlaufen oder als manifeste KHK durch
folgende Verlaufsformen symptomatisch
werden.
Die Angina pectoris, die durch eine unzureichende Sauerstoffversorgung des Herzmukels verursacht wird, ist das führende
Symptom der KHK. Ab einer Koronararterienverengung von ca. 70 % kommt es unter körperlicher oder psychischer Belastung, aber auch durch Kälte oder schwere
Mahlzeiten treten die typischen Anginapectoris-Anfälle auf: Sekunden bis Minuten anhaltende Schmerzen im Brustkorb
mit Engegefühl (Angina pectoris = Brustenge), Beklemmung und oft Angst. Meist
strahlen die Schmerzen in den linken Arm
aus, seltener in den Hals, den Oberbauch,
den rechten Arm, den Unterkiefer oder
den Oberkiefer (ᇄ Abb. 10.22). Frauen haben oft atypische Beschwerden, z. B. Übelkeit.
• Bei einer stabilen Angina pectoris treten die Anfälle jeweils nach ähnlichen
auslösenden Umständen auf (z. B. nach
Treppensteigen), der Schmerzcharakter
der Anfälle ist gleich und die Beschwerden verschwinden durch körperliche Ruhe und Arzneimittel nach höchstens 20
Min.
• Bei instabiler Angina pectoris (Crescendo-Angina, Präinfarktangina) nehmen
Anfallshäufigkeit, Anfallsdauer und
Schmerzintensität rasch zu und Arzneimittel helfen immer schlechter.
•
Symptome
Die Ischämie des Myokards kann als latente
KHK (stumme Ischämie) asymtomatisch
Bierbach_55244.indb 437
•
Die Angina pectoris kann auch bei anderen
Erkrankungen auftreten, z. B. bei einem hypertensiven Notfall oder bei der hypertrophen Kardiomyopathie. In diesen Fällen stehen nur thorakale Schmerzen oder Beschwerden im Vordergrund, während bei der
für die KHK typischen Angina pectoris folgende Symptomentrias besteht:
– retrosternale Schmerzen
– durch körperliche Belastung oder emotionalen Stress provozierbar
– Besserung durch Ruhe und/oder Nitroglyzerin-Gabe
Der akute Brustschmerz als Leitsymptom
kann v. a. bei Patienten mit Diabetes, Niereninsuffizienz, bei Frauen und über 75-jährigen Patienten fehlen. Hier wird nur über
Übelkeit, Schwindel und Atemnot oder eine
Ausstrahlung ins Epigastrium geklagt.
Verlaufsformen
•
Die stabile Angina pectoris wird nach
der Canadian Cardiovascular Society
(CCS) nach verschiedenen Schwergraden differenziert (ᇄ Tab. 10.1).
W\SLVFKH
6FKPHU]
DXVVWUDKOXQJ
6FKPHU]
]HQWUXP
Abb. 10.22 Charakteristische Ausbreitung des Angina-pectoris-Schmerzes. [A400]
TBL
Tab. 10.1 Schweregrade der Angina pectoris
nach Canadian Cardiovascular Society (CCS)
Schweregrad Symptome
CCS 1
keine Angina pectoris bei Alltagsbelastung (Laufen, Treppensteigen), jedoch bei plötzlicher oder längerer physischer
Belastung
CCS 2
Angina pectoris bei stärkerer
Anstrengung (schnelles Laufen,
Bergaufgehen, Treppensteigen
nach dem Essen, in Kälte, Wind
oder bei psychischer Belastung)
CCS 3
Angina pectoris bei leichter
körperlicher Belastung (normales Gehen, Ankleiden)
CCS 4
Ruhebeschwerden oder Beschwerden bei geringster körperlicher Belastung
Merke
Merke
Verlausformen der manifesten KHK sind.
• stabile Angina pectoris
• akutes Koronarsyndrom
– instabile Angina pectoris
– akuter Herzinfarkt
– plötzlicher Herztod (akuter Herztod, Sekundenherztod), d. h. plötzliches Herzversagen z. B. infolge Kammerflimmern
(ᇄ 10.8.2)
• Herzinsuffizienz (ᇄ 10.7)
• Herzrhythmusstörungen (ᇄ 10.8)
P¸JOLFKH
6FKPHU]
DXVVWUDKOXQJ
437
•
Die instabile Angina pectoris gilt als
Präinfarktsyndrom. Sie kann sich aus einer stabilen Angina oder auch aus völligem Wohlbefinden entwickeln. In ca.
20 % der Fälle geht sie in einen akuten
Herzinfarkt über.
Achtung
Da sich im Anfall die Symptome einer instabilen
Angina pectoris nicht von einem akuten Herzinfarkt abgrenzen lassen, wird diese Symptomatik als „akutes Koronarsyndrom“ bezeichnet.
Alle Patienten mit instabilen Angina-pectorisBeschwerden sind müssen umgehend in der
Klinik intensivmedizinisch überwacht werden,
bis ein akuter Herzinfarkt diagnostisch ausgeschlossen werden kann.
•
10
Als akutes Koronarsyndrom bezeichnet
man die lebensbedrohlichen Phasen der
KHK: die instabile Angina pectoris, den
akuten Myokardinfarkt (ᇄ 10.6.2) und
den plötzlichen Herztod (ᇄ 10.6.2).
4/19/2013 1:00:19 PM
438
•
•
10 Herz
Ein akuter Myokardinfarkt kann allerdings auch ohne vorausgegangene Angina pectoris auftreten und ist bei ca.
30 % der Patienten die klinische Erstmanifestation einer koronaren Herzkrankheit.
Die meisten Fälle des plötzlichen Herztods (> 80 %) betrifft KHK-Patienten.
Bei ca. 30 % der Patienten mit KHK
ist der plötzliche Herztod die klinische Erstmanifestation. Hauptursache
des KHK-bedingten plötzlichen Herztods sind meist ventrikuläre Tachykardien (ᇄ 10.8.2), Kammerflimmern
(ᇄ 10.8.2).
Diagnostik und
Differenzialdiagnose
Bei einem Angina-pectoris-Anfall muss
zuerst ein akuter Herzinfarkt ausgeschlossen werden. Der Patient muss sofort in eine
Klinik. Dort sind wiederholte Puls- und
Blutdruckmessungen, Ruhe-EKGs und
Blutentnahmen mit Bestimmung der Herzmuskelenzyme und Marker (ᇄ 10.6.2) notwendig. Wenn ein Infarktereignis sicher
ausgeschlossen ist, folgen in aller Regel weitergehende kardiologische Untersuchungen
wie Belastungs-EKG, Langzeit-EKG und
Echokardiografie (ᇄ 10.3.4). Bei der Einschätzung des Schweregrades der Erkrankung helfen Koronarangiografie (ᇄ Abb.
10.23) und evtl. Myokardszintigrafie weiter
(ᇄ 10.3.4). Die Blutfette werden bestimmt,
um abzuklären, ob eine Hypercholesterinämie (Risikofaktor) vorliegt.
Die KHK darf nicht mit funktionellen
Herzbeschwerden (ᇄ 10.5) verwechselt werden, bei denen atypische und wechselnde
Symptome auftreten können. Auch gasgefüllte Darmschlingen oder ein überfüllter
Magen können gelegentlich Beschwerden
dieser Art verursachen: Beim RoemheldSyndrom (gastrokardialer Symptomkom-
10
Abb. 10.23 Röntgengefäßdarstellung der Koronargefäße eines Patienten mit schwerer koronarer Herzerkrankung. Deutlich zu erkennen ist eine Verengung
im Bereich der linken Herzkranzarterie. [X112]
Bierbach_55244.indb 438
plex) werden durch die Blähungen das
Zwerchfell und damit das Herz nach oben
verlagert.
Dadurch verändert sich das Lumen der
Koronarien, was Herzbeschwerden, Angina
pectoris und Extrasystolen (ᇄ 10.8.1) verursachen kann. Gleichzeitig leiden die meist
männlichen Patienten oft unter Magenschmerzen und Übelkeit. Als Differenzialdiagnose kommen alle Erkrankungen mit
Brustschmerzen (ᇄ 10.4.2) in Frage.
rapie angezeigt. Die Behandlung besteht aus
folgenden Maßnahmen.
• Behandlung des akuten Angina-pectorisAnfalls
• medikamentöse Langzeittherapie einschließlich der Sekundärprophylaxe der
KHK, um ein Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern
• operative Wiedereröffnung eines stenosierten Gefäßabschnitts (Ballonkatheterdilatation, Stent-Implantation, Bypass-OP)
Schulmedizinische Therapie
Behandlung des akuten Angina-pectorisAnfalls
Einen wichtigen Stellenwert für Prophylaxe
und Behandlung der KHK hat die gesunde
Lebensführung. Zusätzlich ist jedoch eine
medikamentöse und häufig operative The-
Tritt erstmalig ein Angina-pectoris-Anfall auf,
ist er als möglicher Herzinfarkt anzusehen. Sie
müssen sofort Notfallmaßnahmen einleiten.
Erstmaßnahmen bei bekannter, akuter Angina pectoris
• Patienten nicht alleine lassen, ihm das Gefühl von Ruhe und Geborgenheit vermitteln.
• Patienten mit erhöhtem Oberkörper lagern (Herzbettlage ᇄ Abb. 10.37).
• Beengende Kleidung entfernen.
• Vitalzeichen (Bewusstsein, Puls, Atmung) kontrollieren.
• Bei einem systolischen Blutdruckwert über 110 mmHg soll sich der Patient 1–2 Hübe
Rp Nitroglyzerin-Spray verabreichen, falls er diese Bedarfsmedikation bei sich hat.
• Blutdruck ständig kontrollieren; wenn max. 2 Min. nach der ersten NitroglyzerinGabe keine Besserung eingetreten ist, erneute Gabe des Rp Nitroglyzerin-Sprays nach
5–10 Min.
• Notarzt benachrichtigen, wenn nach weiteren 5 Min. keine Besserung eintritt.
• Bei Anzeichen eines kardiogenen Schocks (ᇄ 11.5.3) großlumigen venösen Zugang
(ᇄ 6.5.2) legen und – falls vorhanden – Sauerstoff geben.
Fallbeispiel „Koronare Herzkrankheit“
Eine 57 Jahre alte Hauswirtschafterin berichtet, dass ihr am Vortag bei einer Fahrradtour mit ihrem Mann ganz plötzlich schlecht und schwindelig geworden sei. Außerdem
habe sie ein beängstigendes Druck- und Engegefühl hinter dem Brustbein bis hoch zum
Hals gespürt und stark geschwitzt. Sie habe sich dann zunächst einmal auf die Wiese
gelegt. Danach sei es ihr auch rasch besser gegangen. Ihr Mann habe aber dennoch darauf bestanden, das Auto zu holen und sie mit dem Wagen nach Hause zu bringen. Auf
Nachfragen des Heilpraktikers erzählt die Patientin, dass sie seit ca. acht Tagen beim
Arbeiten häufiger Pausen machen müsse, weil ihr „nicht gut“ sei. Sie habe v. a. mehrmals ein unangenehmes Ziehen im Bereich von Hals und Unterkiefer gespürt. Sie fragt,
ob es sein könne, dass eine entzündete Zahnwurzel nur gelegentlich Schmerzen mache.
Die leicht übergewichtige Patientin hat seit Jahren keinen Arzt aufgesucht, ihre Blutdruckwerte sind ihr nicht bekannt. Die weitere Anamnese ergibt keine zusätzlichen Hinweise. Der RR beträgt 165/110 mmHg, der leicht arrhythmische Puls 95 Schläge/Min. Da
ihr Gesicht die typische Hautfärbung einer langjährigen Raucherin hat, spricht der Heilpraktiker die Patientin direkt auf das Rauchen an. Sie gibt an, tgl. etwa eine Schachtel Zigaretten zu rauchen. „Ich komme einfach nicht von dem Zeug los!“ Die Auskultation von
Lunge und Herz und die Palpation der peripheren Pulse ergeben keinen pathologischen
Befund; ebenso alle weiteren körperlichen Untersuchungen. Der Heilpraktiker hat den
dringenden Verdacht auf eine koronare Herzkrankheit mit Angina-pectoris-Anfällen.
Da die Patientin keinen Hausarzt hat und der Heilpraktiker jedes Risiko ausschließen
will, überweist er sie direkt zu einem Kardiologen, bei dem die Patientin noch am gleichen Tag vorstellig wird. Nach Ruhe- und Belastungs-EKG überweist dieser die Patientin
zu einer Koronarangiografie in ein Krankenhaus. Die Untersuchung ergibt, dass die Patientin unter einer erheblichen Verengung der rechten Herzkranzarterie leidet. Diese wird
mittels eines Ballons aufgedehnt. Nach der Entlassung bittet die Patientin den Heilpraktiker, sie bei ihrer Raucherentwöhnung mit Motivationstraining und Ohrakupunktur zu
unterstützen und eine naturheilkundliche Begleittherapie durchzuführen.
4/19/2013 1:00:19 PM
10.6 Durchblutungsstörungen des Herzens
439
Naturheilkundliche Therapie bei koronarer Herzkrankheit
ᇄ 3.3
Handbuch für die Naturheilpraxis
Bei leichten Formen der KHK lassen sich mit einer naturheilkundlichen Therapie gute Erfolge erzielen. Fortgeschrittene Formen können unterstützend behandelt werden.
Konstitution, Hypertonie) oder Ammi visnaga (bei Angina pectoris bewährte Indikation, Koronarspasmen).
Manuelle Therapie
Bei akuten Beschwerden können Sie unterstützend Rescue-Tropfen geben.
Insbesondere bei KHK eignen sich „sanfte“ osteopathische Verfahren (ᇄ 4.2.34). Starke chiropraktische Manipulationen sind
nicht zu empfehlen, da sie Herzbeschwerden hervorrufen können.
Achtung: Rescue-Tropfen sind nicht als einzige Notfallmaßnahme einzusetzen!
Neuraltherapie
Bach-Blütentherapie
Ernährungstherapie und orthomolekulare Therapie
Berücksichtigen Sie die in der schulmedizinischen Therapie aufgeführten „Wichtigen Hinweise für den Patienten“. Um Risikofaktoren zu minimieren, ist für Patienten mit KHK grundsätzlich
eine basenüberschüssige, überwiegend laktovegetabile und cholesterinarme Vollwerternährung zu empfehlen. Ist der Patient
übergewichtig, muss das Gewicht schonend reduziert werden.
Finden Sie Hinweise auf eine Übersäuerung des Organismus
(harnsaure Diathese ᇄ 3.7.4), kann unterstützend eine Entsäuerung durch Basensalze, z. B. Basosyxp, hilfreich sein.
Studien belegen den positiven Effekt von Magnesium, z. B. magnerotp classic, bei der Prävention und Therapie von Angina pectoris und Herzinfarkt. Coenzym Q10 ist wichtig für die Energieversorgung des Herzens und kann unterstützend, z. B. Sanomitp
Q10, zugeführt werden.
Homöopathie
Eine ausführliche Anamnese und sorgfältige Repertorisation führen zum Mittel der Wahl. Konstitutionelle Mittel, die einen Bezug zur KHK aufweisen, sind: Aurum metallicum, Aconitum,
Apis mellifica, Arnica, Arsenicum album, Kalium carbonicum,
Phosphor, Veratum album. Entsprechend der charakteristischen
Allgemein- und Gemütssymptome können allerdings auch andere Konstitutionsmittel eingesetzt werden.
Werden Komplexmittel (z. B. Pectapasp Tropfen) eingesetzt,
enthalten diese häufig Aconitum (plötzlicher Beginn mit stechenden Schmerzen, in die linke Schulter ausstrahlend; Angst, Tachykardie), Cactus (bei krampfartigen Herzschmerzen, Zusammenschnüren des Herzens „wie von einem eisernen Band“, niedriger
Blutdruck), Aurum (bei Herzbeklemmung, v. a. bei pyknischer
Sie können mit einem Lokalanästhetikum (z. B. Procain) und einer homöopathischen Injektionslösung (z. B. Cranolinp, CirculoInjeelp N) das Herzsegment (links: C 1–C 4; Th 1–Th 6) quaddeln
(ᇄ Abb. 10.24).
Bei Angina pectoris werden die Quaddeln oft neben das Brustbein in die druckschmerzhaften Punkte im 1.–3. Interkostalraum
gesetzt.
Ordnungstherapie
Weisen Sie den Patienten darauf hin, dass die Ausschaltung bestehender Risikofaktoren und eine Lebensweise, die Bewegung
im richtigen Maß fördert und ebenso Ruhe durch Abbau von
Stress schafft, die Beschwerden positiv beeinflussen. So kann zugleich das Herzinfarktrisiko gesenkt werden.
Je nach Befund des Belastungs-EKGs sind leichter Sport ohne
Überlastung sowie Ausdauertraining, z. B. Spazierengehen
(ᇄ Abb. 10.25) und Radfahren, zu empfehlen. Die Maßnahmen
sollten Sie mit dem behandelnden Arzt absprechen. Zur Stressvermeidung sind Entspannungsverfahren wie Autogenes Training oder Muskelentspannung nach Jacobson (ᇄ Abb. 10.26) hilfreich.
Physikalische Therapie
Temperaturansteigende Arm- und Teilbäder (in ca. 5–10 Min.
von 35 auf 39 °C steigern) beeinflussen die koronare Durchblutung positiv. Herzkompressen mit Arnikatinktur oder Herzsalben, z. B. Cor-Velp Truw Salbe, wirken beruhigend. Diese äußerlichen Anwendungen verbessern über kutiviszerale Reflexe
(ᇄ 23.2.18) zusätzlich die Herztätigkeit.
Achtung: Kälteanwendungen sind bei KHK zu meiden, da sie einen Angina-pectoris-Anfall auslösen können!
10
Bl 13
Bl 14
Bl 15
Th 3
Th 4
Th 5
Th 6
Bl 13
Bl 14
Bl 15
Abb. 10.24 Neuraltherapie bei Herzerkrankungen. Setzen Sie ventral in Höhe des 1.–3. Interkostalraums jeweils 3 Quaddeln parasternal sowie eine Quaddel zwischen Xiphoid und Rippenbogen. Dorsal können Sie zusätzlich einige Quaddeln paravertebral in Höhe von Th 3–Th 5 im Bereich der angegebenen Akupunkturpunkte
injizieren. Auch druckschmerzhafte Punkte können mitbehandelt werden. [L190]
Bierbach_55244.indb 439
4/19/2013 1:00:19 PM
440
10 Herz
Abb. 10.27 Khella
(Ammi visnaga), eine
uralte ägyptische Heilpflanze, wurde 1946
von einem Pharmakologen entdeckt und in
die Phytotherapie eingeführt. Die Samen
enthalten Khellin, das
spasmolytisch auf die
kleinen Bronchien und
die Herzkranzgefäße
wirkt. [U227]
Abb. 10.25 Leichtes Bergwandern ist gerade für ältere Patienten ein gutes
Ausdauertraining. [J787]
10
Abb. 10.26 Um Daueranspannung zu lösen und Entspannungsfähigkeit einzuüben, ist die Tiefenmuskelentspannung sinnvoll. Verschiedene Muskelgruppen werden zunächst angespannt, die Spannung wird einige Sekunden gehalten, um dann in die Entspannung zu gehen. [J787]
Arnikablüten (Arnicae flos) wirkt durchblutungsfördernd auf
die Koronarien. Die Pflanze wird aber aus Gründen der Verträglichkeit in homöopathischer Form oder als Externum angewendet.
Liegen entsprechende Risikofaktoren vor, verordnen Sie zusätzlich Knoblauchzwiebel (Allii sativi bulbus ᇄ Abb. 15.24, z. B.
Sapecp), der den Cholesterin- und Triglyzeridspiegel (ᇄ 15.2.3)
senkt und zu einer Erweiterung der Gefäße (ᇄ 11.2.1 Vasodilatation) führt oder als Kombination mit Vitamin E und Lezithin, z. B.
Lipidavitp vital.
Phytotherapie
Traditionelle Chinesische Medizin
Weißdornblätter mit -blüten (Crataegi folium cum flore ᇄ Abb.
10.35), z. B. Oxacantp mono, zeichnen sich durch ihre besondere
Beziehung zum Herzen aus. Die Heilpflanze steigert die Koronardurchblutung, verbessert die Kontraktilität des Herzmuskels und
ist ausgezeichnet verträglich. Khella (ᇄ Abb. 10.27) wird heutzutage als homöopathisches Präparat angewendet.
Bewährt hat sich ggf. eine Kombination (z. B. Oxacantp sedativ
Liquid) mit vegetativ beruhigenden Pflanzen, z. B. Melissenblätter (Melissae folium ᇄ 13.40) oder Baldrianwurzel (Valerianae
radix ᇄ 29.8), die v. a. für funktionelle Herzbeschwerden zu empfehlen ist.
Verschiedene Syndrome, wie z. B. eine altersbedingte Schwäche
des Nieren-Qi, die zu einem Yang-Mangel führt und somit BlutStagnation im Herzen verursacht, oder aber eine Schleimretention, können Ursachen von Angina pectoris sein. Die Differenzierung erfolgt u. a. nach Schmerzqualität, Allgemeinsymptomen sowie nach Puls- und Zungenbefund. Eine Akupunktur
sollte nur in Kombination mit konventionellen Behandlungsmaßnahmen oder als adjuvante Therapie beim akuten Anfall
oder als Anfallsprophylaxe im beschwerdefreien Zeitraum
durchgeführt werden. Bei chronischen Beschwerden sind
Kräuter vorzuziehen.
In der Akuttherapie des Angina-pectoris-Anfalls ist das Medikament der Wahl Glyzeroltrinitrat (ᇄ 10.6.1, Pharma-Info).
Achtung
In der Kombination mit 5-PhosphodiesteraseHemmern, z. B. Sildenafil (Viagrap) kann es zu
lebensbedrohlichen Blutdruckabfällen kommen!
Langzeitbehandlung der KHK
Jeder Patient mit einer KHK ist von Herzinfarkt und Herzinsuffizienz bedroht. Neben
medikamentöser Langzeittherapie und/
Bierbach_55244.indb 440
oder invasiven Eingriffen ist es besonders
wichtig, dass der Betroffene seinen Lebensstil ändert. Hierzu gehört, das Rauchen aufzugeben, Übergewicht zu reduzieren, auf
eine Senkung erhöhter Cholesterinwerte zu
achten, maßvolle sportliche Betätigung (soweit möglich) und ein veränderter Umgang
mit Belastungen des Alltags (z. B. Stressabbau durch Entspannungsübungen).
Eine medikamentöse Langzeitbehandlung kann häufig die Beschwerden der Patienten bessern und einen Herzinfarkt verhindern.
• Nitrate werden nicht nur beim akuten
Angina-pectoris-Anfall verwendet, son-
•
•
•
dern auch in der Langzeittherapie
(ᇄ 10.6.1, Pharma-Info).
Die Gabe von Betablockern (ᇄ 11.5.1,
Pharma-Info) senkt durch die Verminderung des O2-Verbrauchs am Herzen Anfallshäufigkeit und Anfallsschwere.
Reichen Nitrate nicht aus, sind Kalziumantagonisten (ᇄ 11.5.1, Pharma-Info)
angezeigt, die direkt erweiternd auf die
Koronararterien wirken.
Niedrig dosierte Azetylsalizylsäure
(z. B. Aspirin 100p) soll eine Thrombenbildung (ᇄ 11.6.3) in den Herzkranzgefäßen mit nachfolgendem Herzinfarkt verhindern.
4/19/2013 1:00:19 PM
10.6 Durchblutungsstörungen des Herzens
Pharma-Info: Nitrate
Nitrate werden v. a. bei der KHK eingesetzt. Sie sind sowohl zur Anfallsbehandlung als
auch zur Anfallsprophylaxe geeignet. Ihre Wirkung beruht auf einer Entspannung der
glatten Gefäßmuskulatur (ᇄ 11.2.1) in Arterien und Venen.
• Nitrate erweitern (dilatieren) die Venen, die dadurch mehr Blut fassen können. Der
Blutrückstrom zum Herzen (Vorlast) wird geringer.
• Nitrate dilatieren die Arterien. Dadurch sinkt der Widerstand, gegen den das Herz
anpumpen muss (Nachlast). Zudem kommt es zu einer direkten Erweiterung der
Herzkranzgefäße.
Das erkrankte Herz muss insgesamt weniger Arbeit leisten und wird besser mit Sauerstoff versorgt. Die hauptsächlich verwendeten Substanzen sind:
• Zur Anfallsbehandlung oder bei geringer Anfallshäufigkeit eignet sich Glyzeroltrinitrat (Nitroglyzerin), z. B. Rp Nitrolingualp als Spray oder Zerbeißkapseln (sublingual).
• Zur Anfallsprophylaxe werden lang wirksame Nitrate eingesetzt: Isosorbidmononitrat (z. B. Rp Ismop, Rp Mono-Mackp) oder Isosorbiddinitrat, kurz ISDN (z. B. Rp
Isoketp, Rp ISDN-Stadap, Rp Iso-Mackp).
Häufigste Nebenwirkung der Nitrate sind Kopfschmerzen („Nitratkopfschmerzen“),
die aber meist nach 2–3 Tagen wieder verschwinden. Weitere Nebenwirkungen sind
Gesichtsröte und, v. a. bei höherer Dosierung, Blutdruckabfall bis hin zum Kollaps
(ᇄ 11.5.3) sowie, als Gegenregulation der verminderten Auswurfleistung des Herzens,
ein Frequenzanstieg (Reflextachykardie).
• Beim akuten Angina-pectoris-Anfall werden vorzugsweise Zerbeißkapseln und Dosiersprays verabreicht. Die Resorption des Wirkstoffs erfolgt über die Mundschleimhaut. Die Wirkung tritt bereits nach 1–5 Min. ein und hält ca. ½ Std. an.
• Für die Dauerbehandlung werden Tabletten bevorzugt. Problematisch ist, dass bei
wiederholter Gabe von Nitraten bereits nach wenigen Tagen eine Gewöhnung (Toleranz) eintritt und die Wirkung auf das Herz nachlässt. Eine nächtliche „Nitratpause“
reicht zumeist aus, um die Wirksamkeit wiederherzustellen.
• Bei Patienten beliebt sind Nitratpflaster und -salben (z. B. Rp Nitroderm TTSp).
Auch hier muss die nächtliche „Nitratpause“ eingehalten, d. h. das Pflaster nach 12
Std. abgezogen werden.
• Bei anhaltendem Nitratkopfschmerz oder zur Überbrückung der „Nitratpause“ kann
Nitrat durch Molsidomin (z. B. Rp Corvaton p) ersetzt werden, eine Vorläufersubstanz der Nitrate, die ebenfalls eine Gefäßerweiterung bewirkt, aber zu keiner Toleranzentwicklung führt.
$RUWD
$WKRUDFLFD
LQWHUQD
$&9%9VDSKHQD
PDJQD7UDQVSODQWDW
•
•
Hinweise für den Patienten
•
•
•
Abb. 10.28 Umgehung
von zwei hochgradig verengten Koronararterien
durch einen aortokoronaren
Venen-Bypass (ACVB) und
durch Neueinpflanzung der
A. thoracica interna. [L190]
6WHQRVHQ
Cholesterinsenkende Statine (Sortisp,
Zocorp, Pravasinp, Locolp), da diese
ebenfalls nachweislich die Prognose verbessern, da die Senkung der LDL-Cholesterins als wichtigstem Risikofaktor
durch Diät und Lebensführung in der
Regel nicht zu erreichen ist.
Ein bestehender Bluthochdruck (ᇄ 11.5.1)
muss behandelt werden.
Bierbach_55244.indb 441
wa 20–40 % der Patienten treten innerhalb
von sechs Monaten nach der Dilatation erneute Verengungen auf. Die PTCA vermag
die Lebensqualität der Patienten deutlich zu
verbessern, eine lebensverlängernde Wirkung ist aber noch nicht gesichert.
Falls die Aufdehnung der Gefäßstenose
durch eine PTCA nicht gelingt oder nicht
möglich ist, wird operativ eine „Umleitung“, ein Bypass, angelegt. Beim aortokoronaren Venen-Bypass, kurz ACVB, werden
dem Patienten ein oder mehrere Venenstücke aus dem Bein entnommen und zwischen dem herznahen Abschnitt der Aorta
und den Koronararterien hinter der Engstelle eingesetzt (ᇄ Abb. 10.28). Als Alternative zum koronaren Bypass wird zunehmend die hinter dem Brustbein verlaufende
A. thoracica interna (früher A. mammaria
interna, engl. kurz IMA) distal abgetrennt
und hinter der Engstelle der Koronararterie neu eingepflanzt (Mammaria-Bypass,
mammariakoronarer-Bypass, kurz MCBIMABypass).
Beide Operationen sind schwerwiegende
Eingriffe, die den Einsatz einer Herz-Lungen-Maschine erfordern. Deswegen kommen immer häufiger minimalinvasive Operationstechniken zur Anwendung. Die
Sterblichkeit liegt insgesamt bei unter 4 %.
•
OLQNH
.RURQDUDUWHULH
Operative Therapie
Die koronare Ballondilatation (perkutane
transluminale koronare Angioplastie, kurz
PTCA), ist die wichtigste nichtoperative, invasive Behandlungsmethode der KHK: Ein
dünner Ballonkatheter wird in das erkrankte Koronargefäß vorgeschoben, der Ballon
in der Engstelle aufgeblasen und dadurch
die Stenose (Verengung) aufgedehnt. Bei et-
441
•
•
•
Die Patienten sollen sich vor Kälte jeder
Art schützen, da durch die reflektorische
Gefäßkontraktion ein Angina-pectorisAnfall ausgelöst werden kann.
Bei Übergewicht und erhöhten Cholesterinwerten Reduktionskost und/oder cholesterinarme Kost dem Patienten empfehlen, um die Risikofaktoren zu minimieren.
Mehrere kleine Mahlzeiten sind besser
als wenige große, da große Mahlzeiten
Angina-pectoris-Anfälle auslösen können.
Blähende Speisen soll der Patient vermeiden, da der Zwerchfellhochstand bei
Blähungen die Herzbeschwerden oft verstärkt.
Den Patienten immer wieder darauf hinweisen, wie wichtig es ist, das Rauchen
strikt zu unterlassen.
Für Gespräche mit dem Patienten über
die Erkrankung und die damit verbundenen Ängste offen sein.
Dem Patienten Kontakt zu Selbsthilfegruppen empfehlen.
10
Prognose
Die Langzeitprognose der KHK ist davon
abhängig, ob es gelingt, die Risikofaktoren
auszuschalten und dadurch zu verhindern,
dass die arteriosklerotischen Veränderun-
4/19/2013 1:00:21 PM
442
10 Herz
gen der Herzkranzgefäße fortschreiten. Mit
Häufigkeit und Schwere der Angina-pectoris-Anfälle steigt das Risiko für einen Herzinfarkt.
Bei Befall nur einer Koronararterie beträgt die Sterblichkeit pro Jahr 3–4 %, bei
der 2-Gefäßerkrankung 6–8 % und bei der
3-Gefäßerkrankung 10–12 %.
$RUWD
UHFKWH.RURQDUDUWHULH
$FRURQDULDGH[WUD
OLQNH.RURQDUDUWHULH
$FRURQDULDVLQLVWUD
RTF32075 a:END
9HUVFKOXVVGHV
5DPXVLQWHUYHQWUL
FXODULVDQWHULRU
10.6.2 Akutes
Koronarsyndrom und
Herzinfarkt
,QIDUNWEH]LUN
RTF32075 a:STAR
Akutes Koronarsyndrom (ACS): bezeichnet
im klinischen Sprachgebrauch alle lebensbedrohlichen KHK-Manifestationen, also instabile
Angina pectoris, Herzinfarkt und plötzlicher
Herztod. Keine wesentliche Besserung durch
Ruhe oder Nitratgabe.
Herzinfarkt (Myokardinfarkt): akute und
schwerste Manifestation der KHK mit umschriebener Nekrose (Gewebsuntergang) des Herzmuskelgewebes infolge lang anhaltender Ischämie (Mangeldurchblutung). Sterblichkeit bis
zu 50 % im ersten Jahr, v. a. vor Krankenhausaufnahme. In Deutschland eine der häufigsten
Todesursachen überhaupt.
Die Entwicklung neuer Marker (Troponin
T und I s. u.) und bildgebender Verfahren
haben zur Redefinition aller Manifestationen der akuten ischämischen Herzerkrankungen unter dem Sammelbegriff „akutes
Koronarsyndrom“ (ACS) geführt.
Merke
10
Der Begriff „Akutes Koronarsyndrom“ fasst folgende Erkrankungen zusammen, da sich diese
nicht immer gut voneinander unterscheiden
lassen.
• instabile Angina pectoris
• akuter Myokardinfarkt
– Infarkt mit ST-Hebungen im EKG (akuter
Myokardinfarkt)
– Infarkt ohne ST-Hebungen im EKG (nichttransmuraler Infarkt)
• plötzlicher Herztod
Bei allen Erkrankungen ist der nekrotische
Myokardbezirk nicht mehr funktionsfähig.
Herzrhythmusstörungen, Nachlassen der
Pumpfunktion oder ein Riss in der
Herzwand können die Folge sein und – je
nach Schweregrad – rasch zum Tod führen.
Krankheitsentstehung
Ursache des ACS und des Herzinfarkts ist
der Verschluss einer oder mehrerer Koronararterien oder ihrer Äste (ᇄ Abb. 10.29),
Bierbach_55244.indb 442
meist infolge einer Thrombusbildung
(ᇄ 11.6.3) in arteriosklerotisch veränderten Gefäßabschnitten. Mitunter verursachen anhaltende Spasmen (Krämpfe) der
Koronararterien eine Verengung der Gefäßlichtung. Das hinter (distal) dem Verschluss oder der Verengung gelegene Myokard wird nicht mehr ausreichend mit
Sauerstoff versorgt. Spätestens 20–30 Min.
nach Unterbrechung des Blutflusses beginnen die Herzmuskelzellen abzusterben.
Nach ca. 3–6 Std. hat sich eine irreversible
Nekrose des betroffenen Muskelgewebes
ausgebildet. Die Nekrose kann alle Wandschichten erfassen (transmuraler Herzinfarkt, schlechtere Prognose) oder auf Teilschichten begrenzt bleiben (nicht transmuraler Herzinfarkt, bessere Prognose).
Meist kommt es zum Verschluss des
Ramus interventricularis anterior (ᇄ Abb.
10.11) der linken Herzkranzarterie (Vorderwandinfarkt). Bei einem Hinterwandinfarkt ist die rechte Koronararterie oder
der Ramus circumflexus der linken Koronararterie (ᇄ Abb. 10.11) verschlossen.
In ca. 60 % der Fälle kündigt sich ein
Herzinfarkt durch sich häufende Anginapectoris-Anfälle (ᇄ 10.6.1) an. Die Risikofaktoren entsprechen denen der Angina
pectoris: Arteriosklerose, Rauchen, Hypertonie, erhöhte Blutfettwerte, Übergewicht
und Stress.
Symptome
Typische Infarkt-Anzeichen sind:
• bei 2⁄3 aller Patienten: plötzlich auftretende, heftige Schmerzen hinter dem Brustbein (retrosternal), die länger als 15–30
Min. anhalten und in Arme, Bauch, Unterkiefer und Rücken, v. a. zwischen die
Schulterblätter, ausstrahlen
• blasse, fahl-graue Gesichtsfarbe und kalter Schweiß im Gesicht (meist auf der
Stirn und über der Oberlippe)
• Unruhe und Todesangst, das Gesicht ist
oft bis zur Fremdheit verzerrt
•
•
•
•
Abb. 10.29 Herzinfarkt.
Durch Verschluss einer Koronararterie stirbt das von
dieser Arterie versorgte
Herzmuskelgewebe ab.
[L190]
Atemnot, die zum Hinsetzen oder Hinlegen zwingt
Übelkeit, Erbrechen, Oberbauchschmerzen
der Blutdruck kann normal, erhöht oder
erniedrigt sein, meist Tachykardie, evtl.
Extrasystolen (ᇄ 10.8)
plötzlicher Kreislaufzusammenbruch,
ggf. mit Bewusstlosigkeit und kardiogenem Schock
Achtung
Ca. 20 % der Patienten mit einem Herzinfarkt
haben nur wenig oder gar keine Schmerzen
(stummer Herzinfarkt). Häufig ist dies bei
Diabetikern und älteren Menschen der Fall.
Auch bei uncharakteristischen Beschwerden
(Übelkeit, Erbrechen, Oberbauchschmerzen, allgemeines Schwächegefühl) sollte man immer
an einen möglichen Herzinfarkt denken.
Komplikationen des
Myokardinfarkts
Insbesondere in den ersten Stunden und
Tagen nach dem Infarkt können lebensbedrohliche Komplikationen auftreten.
• Herzrhythmusstörungen: Bei ca. 80 %
der Herzinfarktpatienten; in 10 %
kommt es sogar zum Kammerflimmern
(ᇄ 10.8.2), das auch bei sofortiger Wiederbelebung häufig zum Tode des Patienten führt.
• Herzinsuffizienz (ᇄ 10.7.2): Bei ca. 20–
50 % der Patienten; je größer die Nekrosen und damit die funktionslosen Muskelanteile sind, desto eher kommt es zu
einer (Links-)Herzschwäche mit Lungenstauung bis hin zum akuten Lungenödem (ᇄ 10.7.3).
• Kardiogener Schock: Bei ungefähr 15 %
der Patienten pumpt das Herz nur noch
so wenig Blut, dass ein lebensbedrohliches Kreislaufversagen mit schwerem
Sauerstoffmangel des Organismus entsteht. Der Patient zeigt:
4/19/2013 1:00:21 PM
10.6 Durchblutungsstörungen des Herzens
•
•
•
Diagnostik und
Differenzialdiagnose
Differenzialdiagnostisch kommt auch eine
Angina pectoris, eine Lungenembolie
(ᇄ 12.9.1), ein Spontanpneumothorax
(ᇄ 12.10.3) und sogar ein Geschehen im
Bauchraum (akutes Abdomen ᇄ 30.11) in
Frage. Für eine gründliche Anamnese oder
Untersuchung samt Enzym-Schnelltest
(s. u.) bleibt Ihnen jedoch keine Zeit.
Achtung
Bei Verdacht auf Herzinfarkt (typische Symptomatik) müssen Sie sofort den Notarzt benachrichtigen und mit der Notfalltherapie beginnen!
Bereits der Notarzt leitet ein EKG ab. Bei ca.
80 % der Infarktpatienten zeigen sich infarkttypische Veränderungen. Gerade in
den ersten Stunden kann das EKG jedoch
noch unauffällig sein.
In der Klinik werden zusätzlich Blutuntersuchungen vorgenommen. Es besteht
eine Leukozytose und die BSG ist erhöht.
Aussagekräftiger ist jedoch die Enzymdiagnostik (ᇄ Abb. 10.30): Aus den geschä-
Bierbach_55244.indb 443
pathologischer Bereich
0\RJORELQ
Frühindikatoren des Herzinfarktes
&.0%
&UHDWLQLQNLQDVH8QWHUJUXSSH0%
7URSRQLQ7
K K
7DJHQDFK,QIDUNW
Spätindikatoren des Herzinfarktes
pathologischer Bereich
•
– Symptome einer Herzinsuffizienz,
z. B. Atemnot, „Brodeln“ über der
Lunge (Lungenödem) und Stauung
der Halsvenen (ᇄ 10.4.5)
– einen unregelmäßigen, meist beschleunigten Puls
– systolischen Blutdruck ≤ 90 mmHg
– Unruhe, Angst, evtl. veränderte Bewusstseinslage (Somnolenz, Koma)
– Kaltschweißigkeit, fahle, blasse Haut
und evtl. Zyanose
Herzwandaneurysma: Im Bereich der
Nekrosen bilden sich bindegewebige
Narben, die bei starker Belastung nach
außen gedrückt werden können, sodass eine Aussackung der Herzwand
(Herzwandaneurysma) entsteht. Ein Aneurysma schränkt nicht nur die Herzfunktion ein: Es kann auch platzen und
es bilden sich dort bevorzugt Thromben
(Blutgerinnsel).
Auch ohne Bildung eines Aneurysmas
kann die Myokardnarbe reißen (Myokardruptur) und zur Perikardtamponade führen, dem Austritt von Blut aus
dem Herzen in den kaum dehnbaren
Herzbeutel.
Reinfarkt: Gut 1⁄3 der Herzinfarktpatienten erleidet einen zweiten Infarkt. Die
Prognose ist dann deutlich ungünstiger.
Weitere Komplikationen, die auftreten
können, sind Mitralklappeninsuffizienz
(ᇄ 10.11.1), kardiogene Embolie, Perforation der Herzscheidewand, Kammerruptur; Papillarmuskelabriss.
443
*27*OXWDPDW
2[DOD]HWDW7UDQVDPLQDVH
+%'++\GUR[\
EXW\UDWGHK\GURJHQDVH
K K
7DJHQDFK,QIDUNW
Abb. 10.30 Herzmuskelenzyme im Blut bei Herzinfarkt. In der Frühphase des Infarktgeschehens ist die CK-MB
der entscheidende Indikator. Ein Anstieg von GOT und HBDH kann ein späterer Hinweis sein, dass ein Infarkt
stattgefunden hat. [A400]
digten Herzmuskelzellen gelangen vermehrt Enzyme ins Blut und können dort in
erhöhter Konzentration nachgewiesen werden. Troponin T und Troponin I sind herzmuskelspezifische Marker, die im Blut ab ca.
2 Stunden nach Infarktbeginn für bis zu
2–3 Wochen nachgewiesen werden können.
Sowohl die Sensitivität als auch die Spezifität bei Infarkt beträgt > 95 %.
Ebenfalls herzmuskelspezifisch ist die
Kreatinphosphokinase der Untergruppe
MB (kurz CK-MB). Da das Gesamt-CK,
GOT, HBDH und Myoglobin auch in anderen Organen vorkommt, ist deren (alleinige) Erhöhung nicht beweisend für einen
Herzinfarkt. Allerdings steigen die Werte
erst nach einigen Stunden messbar an. Sind
6 Stunden nach dem Schmerzereignis EKG
und CK normal, ist ein Herzinfarkt unwahrscheinlich. Zum sicheren Infarktausschluss werden die Untersuchungen ca. 12
Std. nach dem Schmerzereignis wiederholt.
Merke
•
instabile Angina pectoris: keine ST-Hebungen (Elevationen) und Troponine normal
•
•
NSTEMI (Non-ST-ElevationsMyokardinfarkt): keine ST-Hebungen
nachweisbar, Troponine erhöht
STEMI (ST-Elevations-Myokardinfarkt):
ST-Hebungen nachweisbar und erhöhte CKMB erhöht
Um das Ausmaß des Herzinfarkts und somit des funktionsgestörten Myokards feststellen zu können, werden in der Klinik eine Echokardiografie und häufig schon im
akuten Stadium eine Koronarangiografie
(ᇄ 10.3.4) durchgeführt.
10
Schulmedizinische Therapie
Bei etwa 50 % der verstorbenen Herzinfarktpatienten ist der Tod innerhalb der
ersten 15 Min. nach dem Infarktereignis
eingetreten. Diese 15 Min. beeinflussen den
Verlauf der Erkrankung also ganz wesentlich. Deswegen sollte jeder Patient mit
Herzinfarktverdacht unter notärztlicher
Transportbegleitung unverzüglich in ein
Krankenhaus eingeliefert werden.
Im Notarztwagen werden dem Patienten
sowohl Sauerstoff, Schmerz-, Beruhigungsmittel als auch Heparin (ᇄ 20.8, Pharma-
4/19/2013 1:00:22 PM
444
10 Herz
Erstmaßnahmen bei Verdacht auf Herzinfarkt
• Gegebenenfalls sofort mit der Reanimation (ᇄ 30.4) beginnen.
• Notarzt benachrichtigen.
• Patienten nicht alleine lassen, ihm das Gefühl von Ruhe und Geborgenheit vermitteln. Ist er ansprechbar, ihm alle Maßnahmen erklären.
• Patienten mit erhöhtem Oberkörper lagern (Herzbettlage ᇄ Abb. 10.37).
• Beengende Kleidung entfernen.
• Vitalzeichen (Bewusstsein, Puls, Atmung) ständig kontrollieren.
• Bei systolischem Blutdruck > 110 mmHg 1–2 Hübe Nitroglyzcerin-Spray verabreichen, falls der Patient diese Bedarfsmedikation bei sich trägt.
• Großlumigen venösen Zugang legen (ᇄ 6.5.2).
• Sauerstoffgabe, falls Sauerstoff vorhanden.
• Wenn der Patient bei Bewusstsein ist, Gabe von 250–500 mg Aspirin (erhöht nachweislich Überlebensrate).
Fallbeispiel „Herzinfarkt“
Auf der Bahnfahrt zu einem Kongress sieht eine Heilpraktikerin kurz nach der Abfahrt, wie
ihr Mitreisender gegenüber plötzlich aschgrau im Gesicht wird. Dieser hatte den Zug noch
in letzter Minute erreicht und wirkte sehr hektisch und angespannt. Nun stöhnt der Mann,
und Schweiß steht ihm auf der Oberlippe und auf der Stirn. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt, und er presst eine Hand vor die Brust, während er mit der anderen panisch in seiner
Manteltasche sucht. „Ich brauche mein Spray!“ ächzt er. „So eine kleine rote Flasche, bitte!“
Die Heilpraktikerin sucht für den Mann das Fläschchen Nitroglyzerin-Spray in seinen Sachen und versucht, ihn zu beruhigen. Außerdem lockert sie ihm Krawatte und Gürtel und
öffnet das Abteilfenster. Der Patient nimmt zwei Hübe Nitroglyzerin-Spray. Die Heilpraktikerin hält ihn davon ab, noch mehr zu nehmen. Sie fragt ihn, ob er derartig heftige Anfälle
schon öfter gehabt habe. „Nein. Ich habe vor der Abfahrt schon mal gesprüht, aber es ist
nur noch schlimmer geworden.“ Die Heilpraktikerin weist eine mitreisende junge Frau an:
„Schnell, gehen Sie bitte sofort zum Schaffner! Er soll den Zug anhalten und einen Notarzt
rufen! Der Mann hier hat wahrscheinlich einen Herzinfarkt.“ Die Heilpraktikerin bringt
den Patienten in eine improvisierte Herzbettlage. Der Puls des Patienten ist am Handgelenk fühlbar; er erscheint recht kräftig und beträgt 110 Schläge/Min.; der unruhige Patient
atmet schnell und flach. Bis zum Eintreffen des Notarztes kontrolliert die Heilpraktikerin
ständig den Puls und versucht, den Patienten zu beruhigen; zwei Bahnbeamte halten
Schaulustige vom Abteil fern. Das vom Notarzt angefertigte Notfall-EKG bestätigt den Verdacht eines Herzinfarkts, und der Patient wird sofort in die nächste Klinik gebracht.
10
Info) gegeben. Etwaige Komplikationen,
z. B. Herzrhythmusstörungen, können bekämpft werden.
Manchmal wird vom Notarzt bereits mit
einer Lysetherapie (Thrombolyse) begonnen. Ziel dieser Lysetherapie ist es, den
Thrombus in der Koronararterie aufzulösen
und so die Durchblutung wiederherzustellen.
rhythmusstörungen und Überempfindlichkeitsreaktionen). Bei einem ausgedehnten
Infarkt überwiegen die Vorteile jedoch in
der Regel die Risiken der Komplikationen.
Auf der Intensivstation werden die Erstmaßnahmen fortgesetzt.
Meist wird nach der Akutphase eine Koronarangiografie durchgeführt, um festzustellen, ob das Risiko eines Zweitinfarkts
durch eine PTCA (ᇄ 10.6.1) oder eine Bypass-OP gesenkt werden kann. Im direkten
Anschluss an den Krankenhausaufenthalt
wird eine Anschlussheilbehandlung, kurz
AHB, eingeleitet.
Risikofaktoren, z. B. Hypercholesterinämie oder Hypertonie, müssen konsequent
behandelt werden. Die langfristige Therapie
mit Betablockern (ᇄ 11.5.1, Pharma-Info)
und 100 mg Azetylsalizylsäure tgl. senkt das
Riskio eines erneuten Infarkts. Die Gefahr
einer Herzinsuffizienz kann nach neueren
Erkenntnissen durch die Einnahme von
ACE-Hemmern (ᇄ 11.5.1, Pharma-Info)
verringert werden.
Tipp
Ein Infarkt ist ein tiefer Einschnitt im Leben
des Patienten. Das bisherige Leben wird überdacht und häufig taucht die Frage nach dem
Sinn des (Weiter-)Lebens auf. Wichtig sind die
Kontaktvermittlung zu Selbsthilfegruppen und
die Gesundheitsberatung.
Prognose
Die Lysetherapie ist für den Patienten nicht
ungefährlich (Blutungen, Embolien, Herz-
Der Herzinfarkt ist eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland. Ca. 13 % aller
Männer und 8 % aller Frauen versterben daran. Die Sterblichkeit steigt, wenn bereits
frühere Herzinfarkte den Herzmuskel geschädigt haben.
Vor dem Eintreffen im Krankenhaus versterben ca. 15 % der Infarktpatienten, im
Krankenhaus ca. 10 % und in den 12 Monaten danach weitere 10 %.
Die Prognose nach einem Herzinfarkt
wird entscheidend dadurch mitbestimmt,
wie groß der Anteil noch funktionsfähigen
Herzmuskelgewebes ist und ob die Risikofaktoren fortbestehen.
Die Herzinsuffizienz ist keine eigenständige
Krankheit, sondern eine Folge bereits existierender Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Dabei ist entweder die Auswurfleistung der
linken Herzkammer (Linksherzinsuffizienz), der rechten Herzkammer (Rechtsherzinsuffizienz) oder des gesamten Herzens (Globalinsuffizienz) herabgesetzt.
Man unterscheidet die chronische Herzinsuffizienz von der akuten Herzinsuffizienz, je nach Zeitdauer der Entwicklung.
Von einer kompensierten Herzinsuffizienz spricht man, wenn die Pumpleistung
des Herzens durch Mechanismen der Gegenregulation soweit verbessert wird, dass ein
ausreichendes Herzzeitvolumen gefördert
Achtung
Auch Muskelschädigungen durch Sturz oder eine i. m.-Injektion führen zum CK-Anstieg! Aus
diesem Grund und wegen einer evtl. Lysetherapie beim geringsten Verdacht auf Herzinfarkt
keine i. m.-Injektionen durchführen!
RTF3906 2a:ENDRTF3906 2a:STAR
10.7 Herzinsuffizienz
Herzinsuffizienz (Herzmuskelschwäche): Unvermögen des Herzens, das zur Versorgung des
Körpers erforderliche Blutvolumen zu fördern. Es
handelt sich um ein klinisches Syndrom, das kardiale und extra-kardiale Störungen verursacht
oder begünstigt und im Zusammenhang mit der
Grunderkrankung gesehen werden muss.
Bierbach_55244.indb 444
4/19/2013 1:00:23 PM
10.7 Herzinsuffizienz
445
TBL
+HU]PXVNHOQRUPDO
Tab. 10.2 Stadieneinteilung der Herzinsuffizienz
(gemäß der New York Heart Association, kurz
NYHA)
+HU]PXVNHOK\SHUWURSKLHUW
Stadium
Beschwerden
der
Insuffizienz
Abb. 10.31 Hypertropher Herzmuskel im Vergleich zum normalen, nicht hypertrophen Herzen. Das linke Bild
zeigt die Ernährungssituation für ein normales, ca. 300 g schweres Herz. Bei der Herzmuskelhypertrophie werden die einzelnen Muskelfasern dicker. Dadurch verlängert sich die Transportstrecke für Sauerstoff und Nährstoffe. Ab einem sog. kritischen Herzgewicht von ca. 500 g kann das Innere der Herzmuskelfaser nicht mehr
ausreichend ernährt werden, sodass Zellen absterben. Kritische Folge ist oft ein Herzinfarkt. [A400]
RTF3805 a0:END
werden kann. Dies geschieht z. B. durch Herzmuskelhypertrophie (ᇄ Abb. 10.31), Steigerung der Herzfrequenz, Erhöhung des Gefäßtonus und Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Mechanismus (ᇄ 16.2.6). Bei
der dekompensierten Herzinsuffizienz reichen diese Mechanismen nicht mehr aus.
10.7.1 Chronische
Herzinsuffizienz
ne Minderdurchblutung des Herzmuskels
durch eine Verengung der Herzkranzgefäße
(KHK ᇄ 10.6.1), die die Herzleistung zusätzlich begrenzt.
Andere Ursachen der chronischen Herzinsuffizienz
sind
Kardiomyopathien
(ᇄ 10.10), Herzklappenfehler (ᇄ 10.11),
Herzinfarkt (ᇄ 10.6.2), Herzwandaneurysmen (ᇄ 10.6.2), Herzrhythmusstörungen
(ᇄ 10.8) und Herzentzündungen (ᇄ 10.9).
RTF3805 a:STAR
Chronische Herzinsuffizienz: Die Auswurfleistung des Herzens nimmt als Folge einer oder
mehrerer Herzerkrankungen ab. Einteilung
ᇄ Tab. 10.2.
Krankheitsentstehung
Eine chronische Herzinsuffizienz entwickelt sich am häufigsten infolge einer KHK
(ᇄ 10.6.1), gefolgt von der arteriellen Hypertonie im kleinen oder großen Kreislauf
(chronische Rechtsherz- bzw. Linksherzinsuffizienz). Beide treten oft kombiniert auf.
Da der Herzmuskel gegen den erhöhten Gefäßdruck anpumpen muss, muss die Kammer auch mehr Leistung erbringen.
Um diese Leistungssteigerung zu erreichen, verändert sich der Herzmuskel: die
Muskelfasern werden länger und dicker. Es
entwickelt sich eine Herzmuskelhypertrophie (ᇄ Abb. 10.31).
Hält die Mehrbelastung des Herzens länger an, ist das Herz überfordert und seine
Auswurfleistung nimmt ab. Die nach jeder
Systole im Herzen verbleibende Blutmenge
nimmt zu, und die Herzkammern „leiern
aus“ (dilatieren). Oft besteht gleichzeitig ei-
Bierbach_55244.indb 445
Symptome
Die Symptome (ᇄ Abb. 10.32) einer Herzinsuffizienz sind in erster Linie Stauungszeichen, die durch den Blutstau vor der geschwächten Kammer entstehen.
Bei der Linksherzinsuffizienz staut sich
das Blut in den kleinen Kreislauf (Lungenkreislauf) zurück. Flüssigkeit aus den Blutgefäßen wird in das Lungeninterstitium und
in die Lungenbläschen gepresst. Dadurch
kommt es beim Patienten zu Hustenreiz
und Atemnot, zunächst nur bei Belastung,
in schweren Fällen jedoch auch in Ruhe und
v. a. nachts. Eine schwere Komplikation ist
das Lungenödem, bei dem sich die Lunge
mit Flüssigkeit füllt und der Patient kaum
atmen kann. Durch geringe Mengen Blut,
die von den Lungenkapillaren in die Alveolen übertreten, färbt sich der Auswurf evtl.
rostbraun. Zusätzlich können Zyanose, eine
erhöhte Herzfrequenz (Tachykardie) und
Herzrhythmusstörungen auftreten. Der
Blutdruck ist bei einer kompensierten Herzinsufffizienz erhöht, bei einer dekompensierten Linksherzinsuffizienz erniedrigt.
Bei der Rechtsherzinsuffizienz staut sich
das Blut im venösen Teil des Körperkreislaufs. Sichtbare Zeichen sind lageabhängige
Ödeme, v. a. an Knöcheln (ᇄ Abb. 10.33)
I
keine Beschwerden bei normaler
Belastung, aber Nachweis einer
beginnenden Herzerkrankung
durch (technische) Untersuchungen
II
leichte Beschwerden bei normaler
Belastung, mäßige Leistungsminderung
III
erhebliche Leistungsminderung
bei normaler Belastung
IV
Ruhedyspnoe
und Schienbeinkanten, Halsvenenstauung
(ᇄ 10.4.5) und Zyanose. Durch den Rückstau in die Magenvenen leiden die Patienten unter Appetitlosigkeit, Aufstoßen,
Oberbauchdruck und Übelkeit (Stauungsgastritis). Die Stauung der Lebervenen
kann zur Lebervergrößerung (Hepatomegalie) führen, die Stauung der Milzvenen zur
Milzvergrößerung (Splenomegalie). Mitunter besteht ein Aszites (Bauchwasser); der
Urin kann dunkel und stark konzentriert
sein (Stauungsurin).
Die Nachtruhe des Patienten ist sowohl
bei der Rechts- als auch bei der Linksherzinsuffizienz gestört, da er nachts mehrfach
aufstehen muss, um Wasser zu lassen
(Nykturie). Durch die Bettruhe während
der Nacht ist das geschwächte Herz entlastet, die meist in ihrer Leistungsfähigkeit
eingeschränkten Nieren werden besser
durchblutet und Ödeme leichter ausgeschwemmt. Der Patient ist in seiner körperlichen Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt; bei körperlicher Belastung kommt
es zur Tachykardie. Im späteren Stadium
kann sich ein Pleura- (ᇄ 1 2.10.2) oder Perikarderguss (ᇄ 10.9.3) bilden.
Aus der Linksherzinsuffizienz entwickelt
sich häufig eine zusätzliche Rechtsherzinsuffizienz; der umgekehrte Fall ist jedoch
sehr selten.
10
Diagnostik und
Differenzialdiagnose
Die Verdachtsdiagnose wird durch die Anamnese (charakteristische Symptomatik) und
die körperliche Untersuchung gestellt. Bei
fortgeschrittener Linksherzinsuffizienz sind
Rasselgeräusche über der Lunge zu hören.
Bei fortgeschrittener Rechtsherzinsuffizienz
sind Leber und Milz vergrößert tastbar und
Ödeme an den Beinen festzustellen, bei Bettlägerigen auch über dem Gesäß. Die Abklärung muss durch den Arzt erfolgen.
Das EKG kann erste Hinweise auf die
Grunderkrankung (z. B. unbemerkte Infark-
4/19/2013 1:00:23 PM
446
10 Herz
Linksherzinsuffizienz
Rechtsherzinsuffizienz
Häufige Ursachen:
DUWHULHOOH+\SHUWRQLH.ODSSHQIHKOHU
YDGHVOLQNHQ+HU]HQV.+.
+HU]LQIDUNW5K\WKPXVVW¸UXQJHQ
Häufige Ursachen:
/LQNVKHU]LQVXIIL]LHQ]
+HU]NODSSHQIHKOHUYDGHVUHFKWHQ
+HU]HQV/XQJHQHUNUDQNXQJHQ
6\PSWRPHEHL/LQNVKHU]LQVXIIL]LHQ]
6\PSWRPHEHL5HFKWVKHU]LQVXIIL]LHQ]
ವ6FKZ¦FKHXQG(UP¾GEDUNHLW
ವ%HODVWXQJV5XKHG\VSQRH
2UWKRSQRH
ವ5DVVHOJHU¦XVFKH¾EHU/XQJH+XVWHQ
ವb/XQJHQ¸GHP
ವ=\DQRVH
ವ(LQVDW]GHU$WHPKLOIVPXVNXODWXU
ವJHVWDXWHHUZHLWHUWH+DOVYHQHQ
ವ˜GHPH%DXFK8QWHUVFKHQNHO)¾¡H
ವ*HZLFKWV]XQDKPH
ವ/HEHUXQG0LO]YHUJU¸¡HUXQJ
ವ$V]LWHV
Gemeinsame Symptome
ವHLQJHVFKU¦QNWH/HLVWXQJVI¦KLJNHLW
ವ1\NWXULH
ವ7DFK\NDUGLHEHL%HODVWXQJ+HU]UK\WKPXVVW¸UXQJHQ
ವ+HU]YHUJU¸¡HUXQJ3OHXUDXQG3HULNDUGHUJXVV
ವLP6S¦WVWDGLXPQLHGULJHU%OXWGUXFN
Abb. 10.32 Häufige Ursachen und unterschiedliche wie auch gemeinsame Symptome von Links- und Rechtsherzinsuffizienz. [L190]
te) sowie eine Vergrößerung der Ventrikel
geben. Die Röntgenaufnahme des Brustkorbs
zeigt eine Herzvergrößerung und evtl. Zeichen einer Lungenstauung. Die Echokardiografie ermöglicht die Beurteilung von Größe
und Funktion der Herzkammern und die
Diagnose von Herzklappenveränderungen.
Die Blutuntersuchung umfasst die Bestimmung der natriuretischen Peptide
ANP und v. a. des BNP und dessen Prohormon NT-proBNP (N-terminal brain
natriuretic peptide). Ihr Plasmaspiegel ändert sich rasch mit der Volumenbelastung
des Herzens und gibt Aufschluss über den
Schweregrad der Herzinsuffizienz. Sie sind
damit gute Marker zur Diagnose und Therapiekontrolle einer Herzinsuffizienz.
Differenzialdiagnostisch sind v. a. andere
Ursachen für Ödeme, z. B. Eiweißmangel,
auszuschließen.
Schulmedizinische Therapie
Die Herzinsuffizienz wird meist medikamentös behandelt, wobei folgende Wirkstoffgruppen einzeln oder in Kombination
eingesetzt werden:
• ACE-Hemmer und Angiotensin-II-Antagonisten (ᇄ 11.5.1, Pharma-Info): ACEHemmer (z. B. Delixp, Presp) wirken gefäßerweiternd und senken dadurch die
Nachlast. ACE-Hemmer werden bereits
bei leichter Herzinsuffizienz gegeben, da
sich in Studien eine erhebliche Prognoseverbesserung gezeigt hat. Alternative bei
Nebenwirkungen sind Angiotensin-IIAntagonisten (z. B. Lorzaarp, Diovanp).
Pharma-Info: Digitalisglykoside
)LQJHU
HLQGUXFN
EOHLEW
VLFKWEDU
10
Digitalisglykoside (Herzglykoside, herzwirksame Glykoside) sind Wirkstoffe, die in der
Fingerhutpflanze (Roter Fingerhut, Digitalis purpurea; Wolliger Fingerhut, Digitalis lanata), in Strophantusarten, der Meerzwiebel (Urginea maritima), dem Maiglöckchen
(Convallaria majalis) und dem Adonisröschen (Adonis vernalis) vorkommen. Sie werden seit Jahrhunderten zur Herzkraftstärkung eingesetzt. In der Schulmedizin werden
zur Behandlung der Herzinsuffizienz heute allerdings nicht mehr die Pflanzenextrakte,
sondern zum größten Teil synthetisch hergestellte Reinsubstanzen verwendet, am häufigsten Digitoxin (z. B. Digimerckp), Digoxin (z. B. Lanicorp) bzw. dessen Abkömmlinge p-Acetyldigoxin (z. B. Novodigalp) und p-Methyldigoxin (z. B. Lanitopp). Heute
spielen sie allerdings nur noch eine untergeordnete Rolle und werden bei der Herzinsuffizienz nur noch bei bestimmten begleitenden Herzrhythmusstörungen (z. B. absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern) in Kombination mit Betablockern eingesetzt.
Wirkungen
Abb. 10.33 Unterschenkelödem bei Herzinsuffizienz. Das Ödem bei „Wassereinlagerung“ ist weich
und gleichmäßig. Bei Druck bleibt eine Delle zurück.
Bei einem Ödem bei chronisch-venöser Insuffizienz
(ᇄ 11.7.4) ist die Haut meist dünn und bläulich-livide verfärbt. Eine starke Venenzeichnung ist erkennbar. [T127]
Bierbach_55244.indb 446
Digitalisglykoside haben folgende Wirkungen:
• steigern die Kontraktionskraft des Herzmuskels (positive Inotropie)
• verlangsamen die Herzschlagfrequenz (negative Chronotropie)
• verzögern die Erregungsleitung (negative Dromotropie)
• steigern die Reizbildung (positive Bathmotropie)
Das geschwächte Herz kann pro Herzschlag mehr Blut auswerfen, d. h., es arbeitet ökonomischer. Die Digitalisglykoside unterscheiden sich v. a. hinsichtlich ihrer Resorption
und Ausscheidung. Allen gemeinsam ist aber das Auftreten heftiger Nebenwirkungen
bereits bei geringer Überdosierung, v. a. Herzrhythmusstörungen (mit langsamem
4/19/2013 1:00:23 PM
10.7 Herzinsuffizienz
Herzschlag), Übelkeit, Erbrechen, Sehstörungen (die Patienten sehen farbige Ringe)
und Kopfschmerzen.
Einteilung
Man unterscheidet Digitalisglykoside erster und zweiter Ordnung.
• Digitalisglykoside erster Ordnung: Herzglykoside des Fingerhuts, der StrophantusArten und teilsynthetische Digoxin-Untergruppen, die ausschließlich als Reinsubstanz
verwendet werden und daher im engeren Sinn nicht zu den Phytotherapeutika zählen.
Es sind stark wirksame Arzneidrogen, die daher auch verschreibungspflichtig sind.
• Digitalisglykoside zweiter Ordnung (Digitaloide): herzwirksamen Glykoside bestimmter Pflanzen, z. B. des Adonisröschens, des Maiglöckchens und der Meerzwiebel, die als Extraktpräparate eingesetzt werden
Die Digitaloide haben grundsätzlich die gleiche Wirkung wie die Herzglykoside erster
Ordnung, werden aber aus dem Magen-Darm-Trakt wesentlich schlechter aufgenommen. Als mittelstark wirksame Arzneidrogen sind sie nicht verschreibungspflichtig und
werden daher oft von Heilpraktikern verordnet.
Achtung: Auch bei Glykosiden zweiter Ordnung ist eine Überdosierung möglich, die mit
den beschriebenen Symptomen in Erscheinung tritt. Bei gleichzeitiger Hypokaliämie oder
Hyperkalzämie können Digitalisglykoside gefährliche Herzrhythmusstörungen verursachen.
•
Diuretika (ᇄ 16.4.10, Pharma-Info)
schwemmen die Ödeme aus und entlasten so durch Senkung der Vorlast und
Nachlast das geschwächte Herz.
•
Betablocker (ᇄ 11.5.1, Pharma-Info)
verhindern, dass die Katecholaminrezeptoren am Herzmuskel herunterreguliert werden. Die Zahl der Betarezepto-
447
ren am Herzmuskel und damit auch die
Ansprechbarkeit des Herzens auf Katecholamine bleiben bestehen.
• Digitalisglykoside (ᇄ 10.7.1, PharmaInfo) verstärken die Kontraktion des
Herzmuskels, verlangsamen die Herzschlagfrequenz, verzögern die Erregungsleitung und steigern die Reizbildung.
• Nitrate (ᇄ 10.6.1, Pharma-Info) erleichtern die Herzarbeit durch ihre gefäßerweiternde Wirkung.
• Phosphodiesterasehemmer (z. B. Rp Perfanp) und Katecholamine (z. B. Rp Dopamin) sind Substanzen, die die Schlagkraft
des Herzens verbessern. Sie werden i. v.
verabreicht und über kürzere Zeiträume in
der Intensivmedizin eingesetzt.
Kann eine dekompensierte Herzinsuffizienz weder durch medikamentöse noch
durch chirurgische Maßnahmen wie z. B.
eine Klappen-OP gebessert werden, wird
bei Patienten unter ca. 65 Jahren in seltenen Fällen eine Herztransplantation erwogen. Die Herztransplantation ist auch
heute noch ein riskanter Eingriff mit hoher
Sterblichkeit.
Naturheilkundliche Therapie bei Herzinsuffizienz
ᇄ 3.4
Handbuch für die Naturheilpraxis
Leichte bis mittelschwere Formen der Herzinsuffizienz (NYHA
I und II) sind einer naturheilkundlichen Therapie gut zugänglich.
Die Stadien NYHA III und IV sind jedoch unbedingt schulmedizinisch zu behandeln. Eine unterstützende naturheilkundliche Behandlung kann jedoch sinnvoll sein.
Ernährungstherapie und orthomolekulare Therapie
Bei Übergewicht ist eine schonende Gewichtsreduktion anzustreben. Günstig ist eine basenüberschüssige, kochsalzarme, leicht
verdauliche und überwiegend laktovegetabile Vollwerternährung.
Regelmäßige Reis- oder Obsttage regen die Diurese an, wirken
einer Ödembildung entgegen und entlasten somit das Herz. Finden Sie Hinweise, dass der Organismus übersäuert ist (harnsaure
Diathese ᇄ 3.7.4), können Sie ein Basensalz, z. B. Basentabs pH
balance Pascoe, verordnen, um den Entsäuerungsprozess zu unterstützen.
Eine Dauereinnahme von Digitalispräparaten führt gelegentlich zu einem Mangel an Mineralstoffen, insbesondere von Kalium und Magnesium. Leidet der Patient an Symptomen, die auf
einen Mangel an Magnesium oder Kalium (ᇄ 16.4.11) hinweisen, veranlassen Sie eine Blutuntersuchung und ergänzen Sie
bei Bedarf die fehlenden Mineralien, z. B. durch Tromcardinp
complex.
Neueren Untersuchungen zufolge lässt sich die Herzfunktion
durch eine Substitution mit Coenzym Q10 verbessern, z. B.
Sanomitp Q10.
Homöopathie
Eine ausführliche Anamnese und sorgfältige Repertorisation führen zum Mittel der Wahl. Konstitutionelle Mittel, die einen Bezug
zur Herzinsuffizienz aufweisen, sind: Ammonium carbonicum,
Bierbach_55244.indb 447
Antimonium tartaricum, Arsenicum album, Carbo vegetabilis,
Gelsemium, Kalium carbonicum, Lachesis, Naja tripudians, Phosphor, Sulfur. Charakteristische Allgemein- und Gemütssymptome
können jedoch auch auf andere Konstitutionsmittel hinweisen.
Werden Komplexmittel (z. B. Löwe-Komplex Nr. 10 Convallaria Tropfen N, cor-logesp Amp.) eingesetzt, enthalten diese häufig Crataegus (bei Herzklopfen, Herzunruhe, Depressionen), Aurum (bei unregelmäßigem Herzschlag, Kurzatmigkeit) oder Strophantus (bei Angstgefühl mit Druck auf der Brust, schwacher
Herzaktion).
Physikalische Therapie
Es ist sinnvoll, dem Patienten zu einer den Beschwerden und dem
Stadium angepassten Bewegungstherapie zu raten. Patienten
mit milder Herzinsuffizienz (Stadium I und II) sollten sich nicht
übertrieben schonen, Patienten mit fortgeschrittener Herzinsuffizienz sich nicht überlasten. Inwieweit sich der Patient körperlich
10
Abb. 10.34 Der
Armguss führt vom
rechten Handrücken
bis zur Schulter und
an der Innenseite des
Arms abwärts. Er verbessert die Herzmuskelkraft und vertieft
die Atmung. [K103]
4/19/2013 1:00:24 PM
448
10 Herz
betätigen und wie lange er das Belastungstraining ausführen sollte, müssen Sie mit dem behandelnden Arzt absprechen.
Empfehlen Sie dem Patienten milde Wasseranwendungen,
z. B. Teilwaschungen, Knie- und Armgüsse (ᇄ Abb. 10.34), die ableitend auf die Durchblutung des Oberkörpers wirken. Es ist wichtig, nur kleine Reize zu setzen und auf der krankheitsfernen Seite
(einseitig) zu beginnen.
Phytotherapie
Abb. 10.36 Maiglöckchen (Convallaria
majalis) enthält neben
herzwirksamen Glykosiden auch acht verschiedene Flavonoide.
Fertigpräparate aus
Blüten und Blättern
werden bei leichter Belastungsinsuffizienz,
beim Altersherz und
bei chronischem Cor
pulmonale verordnet.
[O216]
Weißdornblätter mit -blüten (Crataegi folium cum flore z. B. cratae-logesp 450 mg, ᇄ Abb. 10.35) führen zu einer Verbesserung
der Herzdurchblutung und Herzleistung. Außerdem haben sie
einen positiven Einfluss auf Herzrhythmusstörungen. Anwendungsgebiete sind das noch nicht digitalisbedürftige Altersherz
sowie eine leichte Herzinsuffizienz (Stadium I und II, NYHA).
Weißdorn ist sehr gut verträglich, selbst in hoher Dosierung sind
keine Nebenwirkungen bekannt. Weißdorn lässt sich auch mit
dem herzstärkenden Maiglöckchenkraut (Convallariae herba
ᇄ Abb. 10.36) in homöopathischer Potenz, z. B. Convastabilp
Pektahom kombinieren.
Traditionelle Chinesische Medizin
Achtung: Die Akupunktur darf nur in Kombination mit einer konventionellen Behandlung eingesetzt werden!
Verschiedene Syndrome wie z. B. Wind-Kälte oder Herz-QiMangel können Ursachen einer Herzinsuffizienz sein. Die Differenzierung erfolgt nach Allgemein-, Atem- und Hustensymptomen sowie nach Puls- und Zungenbefund. Akute Beschwerden
lassen sich durch Akupunktur lindern, während bei chronischen
Beschwerden eher Kräuter zur adjuvanten Therapie eingesetzt
werden.
Abb. 10.35 Der Weißdorn (Crataegus monogyna, Crataegus laevigata) gehört
zur Familie der Rosengewächse. Verwendet werden Blätter und Blüten (Crataegi
folium cum flore), einige Fertigpräparate werden auch aus unreifen Früchten
hergestellt. Zahlreiche Studien bestätigen die durchblutungssteigernde und
herzkranzgefäßerweiternde Wirkung. Die Inhaltsstoffe verbessern auch die
Sauerstoffversorgung des Herzmuskels. [O209]
Hinweise für den Patienten
•
•
10
•
•
Übergewichtige Patienten sollen ihr
Gewicht reduzieren. Alle Patienten sollen täglich ihr Gewicht kontrollieren. Rasche Gewichtszunahmen sind v. a. durch
Flüssigkeitseinlagerung bedingt, die die
Symptomatik verstärkt. Daher sollen die
Patienten eine kochsalzarme Diät einhalten und nicht übermäßig trinken.
Bei Appetitlosigkeit sollen die Patienten,
im Rahmen der allgemeinen Einschränkungen, ihren Wünschen entsprechend
essen. Kaffee und Tee sind in geringen
Mengen gestattet. Mehrere kleine, eiweißreiche Mahlzeiten sind üppigen Mahlzeiten vorzuziehen. Auf blähende, fettreiche
und schwer verdauliche Nahrungsmittel
sollte der Patient verzichten.
Das Rauchen sollte sich der Patient unbedingt abgewöhnen.
Lang andauernde Kälteeinwirkung ist zu
vermeiden, da Kälte zu einer Verengung
der Gefäße führt und damit den Widerstand erhöht, gegen den das Herz anarbeiten muss.
Bierbach_55244.indb 448
•
•
•
Bei einer Stauungsleber wird von den
Patienten ein feuchtwarmer Leberwickel
als angenehm empfunden.
Der Patient darf sich nur entsprechend
seiner Leistungsfähigkeit belasten.
Optimale Schlafbedingungen verringern
die nächtliche Atemnot: Oberkörperhochlagerung, frische Luft, angenehme Raumtemperatur, Dunkelheit, Ruhe und keine
schwere Mahlzeit vor dem Schlafengehen.
Prognose
Die Prognose einer Herzinsuffizienz ist nur
dann gut, wenn es im Anfangsstadium der
Erkrankung gelingt, die Ursache der Erkrankung zu beseitigen. Aus diesem Grund sollten Patienten mit Hypertonie und koronarer
Herzkrankheit für die Mitarbeit bei der Behandlung und für einen gesunden Lebensstil
gewonnen werden, auch wenn ihnen dies
angesichts der noch geringen Beschwerden
schwer fällt. Die Prognose von Patienten mit
einer Herzinsuffizienz im Stadium III oder
IV (ᇄ Tab. 10.2) ist schlecht. Etwa ⅓ sterben
innerhalb eines Jahres.
RTF3509 72a:END
10.7.2 Akute
Herzinsuffizienz
Akute Herzinsuffizienz: durch Ereignisse im
Herzen selbst oder im Kreislaufsystem kommt
es zu einer plötzlichen Druck- oder Volumenbelastung des Herzens.
Das geschieht so rasch, dass das Herz dies
nicht mehr durch Kompensationsmechanismen wie Steigerung von Herzfrequenz und Kontraktionskraft ausgleichen
kann.
Akute Linksherzinsuffizienz
Die Ursachen einer akuten Linksherzinsuffizienz sind v. a. ein Herzinfarkt und eine
hypertensive Krise (Bluthochdruckkrise),
aber auch der plötzliche Abriss von Teilen
einer Herzklappe.
Folge davon ist ein akutes Lungenödem
(ᇄ 10.7.3) oder der kardiogene Schock
(ᇄ 11.5.3).
4/19/2013 1:00:25 PM
10.7 Herzinsuffizienz
Bei der Untersuchung stehen die Symptome der Lungenstauung wie starke Atemnot,
Orthopnoe und evtl. bereits ohne Stethoskop hörbare Rasselgeräusche über der
Lunge im Vordergrund. Der Patient ist sehr
ängstlich und unruhig.
Das lebensbedrohliche Krankheitsbild erfordert umgehend eine intensivmedizinische Therapie.
Akute Rechtsherzinsuffizienz
Zur akuten Rechtsherzinsuffizienz führen
am häufigsten eine Lungenembolie
(ᇄ 12.10.1) mit plötzlichem Druckanstieg
im Lungenkreislauf und eine akute Linksherzinsuffizienz.
Aus der Unfähigkeit des Herzens, das erforderliche Blutvolumen zu transportieren,
entwickeln sich
•
ein Blutrückstau in den Körperkreislauf,
der sich durch Halsvenenstauung und
später auch durch periphere Ödeme (an
Unterschenkeln und Füßen) zeigt (Rückwärtsversagen)
• ein unzureichendes Blutangebot an die
linke Kammer (und damit den Körperkreislauf), was zu beschleunigter Herzfrequenz, Blutdruckabfall und Schocksymptomatik führt (Vorwärtsversagen)
Die lebensbedrohliche akute Rechtsherzinsuffizienz wird ebenfalls auf der Intensivstation entsprechend der vorherrschenden
Symptomatik und ihrer Ursache behandelt.
Achtung
Bei akuter Rechtsherzinsuffizienz müssen Sie
sofort den Notarzt benachrichtigen und so vorgehen wie bei akuter Linksherzinsuffizienz.
449
KDOEDXIUHFKWH
.¸USHUSRVLWLRQ
oJU¸¡WP¸JOLFKH
$WHPIO¦FKH
I¾UGLH/XQJH
%OXWYHUVDFNWLQ%HLQHQ
o+HU]HQWODVWHW
Abb. 10.37 Herzbettlage. Durch diese Lagerung
wird der venöse Blutrückstau reduziert und das Herz
entlastet. [A400–190]
10.7.3 Akutes
Lungenödem
Fallbeispiel „Chronische Herzinsuffizienz“
Eine 63 Jahre alte Hausfrau kommt in die Praxis, weil sie seit etwa einem halben Jahr immer schlechter die Treppen in ihre Wohnung hinaufsteigen kann. Anfangs musste sie erst
in der dritten Etage eine Pause machen, weil ihr das Atmen so schwer fiel, jetzt sei sie aber
bereits auf dem ersten Treppenabsatz „völlig aus der Puste“. Auch das Tragen der Einkaufstaschen fiele ihr immer schwerer. Auf Nachfrage erzählt sie, dass sie nachts mitunter Atemnot habe, die sich bessert, wenn sie sich aufsetzt oder ein bisschen umhergeht. Deshalb
habe sie sich jetzt zum Schlafen noch ein dickes Kissen zusätzlich genommen. Auch müsse
sie nachts zwei-, dreimal Wasser lassen. Die Patientin fühlt sich insgesamt in ihrer Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt. Der Heilpraktiker fragt, ob der Patientin ihre Blutdruckwerte bekannt seien, was diese verneint. Vor Jahren habe ihr Hausarzt ihr wegen
Bluthochdruck Medikamente verordnet, aber da sie niemals Beschwerden hatte und „ein
rundum vernünftiges Leben“ führe, habe sie sich nach Aufbrauchen der ersten Packung
keine weiteren Tabletten verordnen lassen. Der RR der Patientin beträgt 175/115 mmHg,
der arrhythmische Puls 115 Schläge/Min. Der Herzspitzenstoß ist nach links unten verlagert und verbreitert. Die Auskultation des Herzens ergibt einen dritten Herzton in der frühen Diastole. Ferner liegt ein geringes Pulsdefizit vor. Über beiden Lungen sind keine Rasselgeräusche zu hören. Die Halsvenen sind nicht gestaut, die Leber ist nicht vergrößert
(keine Stauungsleber). Beim Eindrücken der Haut über den Schienbeinkanten bleiben keine Dellen zurück (kein Ödem). Mit Verdacht auf eine Linksherzinsuffizienz überweist der
Heilpraktiker die Patientin zum Arzt. Röntgenthorax, EKG und Echokardiogramm bestätigen die Diagnose. In Absprache mit dem Hausarzt, der der Patientin zunächst ein mildes
Diuretikum verordnete, beginnt der Heilpraktiker die naturheilkundliche Therapie. Als
erstes erklärt er der stark übergewichtigen Patientin, warum eine Besserung alleine schon
durch eine Gewichtsreduktion zu erwarten sei. Er erarbeitet mit ihr einen Ernährungsplan,
der auf der Fünf-Elemente-Lehre basiert. Gleichzeitig behandelt der Heilpraktiker sie mit
Akupunktur und verordnet eine spezielle Kräutermischung. Bald bessern sich die Beschwerden, und die Patientin bemerkt außerdem eine Steigerung ihrer Vitalität. Sie behält
die Kostumstellung bei und hat nach einem halben Jahr 10 kg abgenommen. Die Patientin
ist auch unter körperlicher Belastung beschwerdefrei. Der Hausarzt kontrolliert regelmäßig
den Verlauf und begrüßt die Fortführung der naturheilkundlichen Behandlung.
Erstmaßnahmen bei akuter Linksherzinsuffizienz
• Unverzüglich den Notarzt benachrichtigen.
• Oberkörper des Patienten hoch-, Beine tieflagern (Herzbettlage ᇄ Abb. 10.37).
• Patienten beruhigen, selber Ruhe bewahren und austrahlen.
• Vitalfunktionen (Bewusstsein, Puls, Atmung) ständig kontrollieren.
• Großlumigen venösen Zugang (ᇄ 6.5.2) legen.
Bierbach_55244.indb 449
Akutes Lungenödem: Ansammlung von (seröser) Flüssigkeit im Lungeninterstitium oder den
Lungenbläschen mit lebensbedrohlicher Atemstörung, meist infolge einer Herzinsuffizienz.
Krankheitsentstehung
Häufigste Ursache eines Lungenödems ist
die akut dekompensierte Linksherzinsuffizienz, z. B. im Rahmen eines Herzinfarkts
(ᇄ 10.6.2) oder einer Kardiomyopathie
(ᇄ 10.10). Die Pumpschwäche des linken
Herzens führt zu einem Blutrückstau im
Lungenkreislauf. Dies erhöht den hydrostatischen Druck in den Lungengefäßen, wodurch abnorm viel Flüssigkeit in das Gewebe und weiter in die Lungenbläschen gepresst wird. Weitere Ursachen eines Lungenödems sind Überwässerung oder
Eiweißmangel (beides z. B. bei Nierenerkrankungen), Infekte (z. B. Pneumonie),
anaphylaktischer Schock oder toxische Reaktionen, z. B. beim Einatmen von Reizgasen
Symptome und Diagnostik
Zur Anfangsphase des Lungenödems gehören Husten und Atemnot (Asthma cardiale). Die Atemnot nimmt im weiteren
Verlauf rasch zu, und es sind auch ohne
Stethoskop „brodelnde“ feuchte Rasselgeräusche hörbar (Distanzrasseln). Der
Kranke hustet schaumig-hellroten Auswurf; er ist zyanotisch (ᇄ 10.4.4), und die
Herzfrequenz steigt bei sinkendem Blutdruck schnell an. Der Patient ist unruhig
und hat Todesangst.
Die Diagnose eines Lungenödems wird
anhand der Symptomatik gestellt. Eine umgehende Krankenhauseinweisung ist erforderlich. Das EKG, die Röntgenaufnahme
10
4/19/2013 1:00:26 PM
10 Herz
450
Erstmaßnahmen bei akutem Lungenödem
• Notarzt benachrichtigen.
• Patienten beruhigen, selber Ruhe bewahren und austrahlen.
• Oberkörper des Patienten hoch-, Beine tieflagern (Herzbettlage
ᇄ Abb.
10.37).
• Falls der Patient die Bedarfsmedikation Nitroglyzerin bei sich
trägt, 2 Hübe Nitroglyzerin sublingual geben, sofern systolischer RR > 110 mmHg.
• Vitalzeichen kontrollieren (Tachykardie? Hypotonie? Asthma
cardiale mit Husten? Rasch zunehmende Atemnot mit brodelnden Atemgeräuschen?).
• Sauerstoffgabe, falls vorhanden.
• Bei längerem Anfahrtsweg des Notarztes, Wartezeit evtl. mit
unblutigem Aderlass überbrücken (ᇄ Abb. 10.38).
10.7.4 Cor pulmonale
Cor pulmonale: Erweiterung (Dilatation) der
rechten Herzkammer als eine Reaktion auf eine
Erhöhung des Drucks im Lungenkreislauf infolge einer Lungenerkrankung.
10 Min.
10 Min.
10 Min.
10 Min.
Abb. 10.38 Unblutiger Aderlass. [A300–157]
Oberkörper des Patienten hoch-, Beine tieflagern
Blutdruckmanschetten (im Notfall Staubinde) an Oberarmen und Oberschenkeln des Patienten anlegen
Drei Extremitäten stauen: Puls muss noch tastbar
sein (ca. 50 mmHg). Im Uhrzeigersinn alle 10 Min.
durch Öffnen der Stauung entlasten. Die vorher nicht
gestaute Extremität anschließend stauen.
des Thorax und die Echokardiografie geben
Hinweise auf die Ursache.
Schulmedizinische Therapie
10
Beim Lungenödem ist der sofortige Behandlungsbeginn lebensrettend. Wenn
möglich, werden die Ursachen des Lungenödems ausgeschaltet. Die Therapie besteht unter anderem in strikter Flüssigkeitseinschränkung sowie Senkung der
Vorlast des Herzens durch Diuretika
(ᇄ 16.4.10, Pharma-Info) und Nitrate
(ᇄ 10.6.1, Pharma-Info).
Bierbach_55244.indb 450
Man unterscheidet:
• Akutes Cor pulmonale: entsteht meist
durch Lungenembolie (ᇄ 12.9.1), seltener durch einen akuten Asthma-Anfall
(ᇄ 12.8) und führt zu den Symptomen
einer akuten Rechtsherzinsuffizienz
(ᇄ 10.7.2). Die Therapie des akuten Cor
pulmonale besteht in der Beseitigung
der Ursache.
•
Chronisches Cor pulmonale (ᇄ 12.10.2):
oft Folge eines Emphysems, einer chronisch-obstruktiven Bronchitis, einem
(langjährig bestehenden) Asthma bronchiale, einer Lungenfibrose oder wiederholter Lungen(mikro)embolien.
Symptome treten erst auf, wenn der Pulmonalarteriendruck über 25–30 mmHg steigt.
Die Behandlung besteht in einer rein symptomatischen Therapie mit Sauerstoffgabe
und Medikamenten zur Verbesserung der
Lungendurchblutung.
Auch eine Widerstandserhöhung im kleinen Kreislauf durch Linksherzerkrankungen (z. B. Herzklappenfehler) kann zur Belastung des rechten Herzens führen. Dies
wird nicht als Cor pulmonale bezeichnet.
RTF310784 a:END
Fallbeispiel „Lungenödem“
Ein Patient ruft in der Praxis an und bittet um einen Hausbesuch. Seine Großmutter sei
zu Besuch, und er mache sich Sorgen um sie. Um die Dringlichkeit einschätzen zu können, erkundigt sich der Heilpraktiker nach den Symptomen. Die 79 Jahre alte Frau habe
gestern mehrfach unter Übelkeit und Schmerzen in der Brustmitte und im linken Arm
geklagt. Als der Enkel den Arzt habe rufen wollen, habe sie das energisch abgewehrt,
schließlich schmerze „nicht das Herz selbst“. Die resolute Frau habe einen Kräuterschnaps verlangt, und danach sei es ihr tatsächlich auch etwas besser gegangen. Heute
jedoch sei sie keineswegs mehr so stabil, im Gegenteil, sie wirke unruhig, habe starke
Atemnot und der Atem gehe schwer und rasselnd. Auf Nachfrage berichtet der Enkel,
sie huste weißlich-schaumigen Auswurf ab. Der Heilpraktiker weist den Mann an, den
Oberkörper seiner Großmutter hoch- und ihre Beine tiefzulagern, evtl. beengende Kleidungsstücke zu lockern und das Fenster weit zu öffnen. „Beruhigen Sie Ihre Großmutter, und bleiben Sie v. a. selbst ruhig! Ich werde sofort den Notarzt verständigen.“ Der
Heilpraktiker schildert der Rettungsleitstelle seinen Verdacht auf ein akutes Lungenödem, wahrscheinlich aufgrund einer akuten Linksherzinsuffizienz infolge eines symptomarm verlaufenen Herzinfarkts, was sich in der Klinik bestätigt.
RTF38072 4a:END
4/19/2013 1:00:26 PM
10.8 Herzrhythmusstörungen
451
10.8 Herzrhythmusstörungen
Herzrhythmusstörung: Störung der Herzfrequenz oder der Regelmäßigkeit des Herzschlags
(ᇄ Tab. 10.3), die beim Gesunden vorkommen
können oder Krankheitswert haben.
Diagnosesicherung und Klassifikation von
Herzrhythmusstörungen erfolgen durch ein
Ruhe-EKG mit langem Rhythmusstreifen,
Langzeit-, und Belastungs-EKG. In schwierigen Fällen ist eine invasive elektrophysiologische Untersuchung erforderlich, in deren Rahmen auch eine Arzneimitteltestung
möglich ist.
Achtung
Bei Verdacht auf Herzrhythmusstörungen ist
immer eine schulmedizinische Abklärung durch
ein EKG erforderlich, um gefährliche Rhythmusstörungen auszuschließen oder schulmedizinisch behandeln zu lassen.
10.8.1 Extrasystolen
Extrasystole (kurz ES): außerhalb des regulären Grundrhythmus auftretender Herzschlag.
TBL
Tab. 10.3 Übersicht über die Herzrhythmusstörungen.
Herzrhythmusstörungen
Beschreibung
Besonderheiten
Bradykardie
Frequenz < 60/Min. (bei Erwachsenen),
regelmäßig
physiologisch bei Leistungssportlern; meist liegt aber eine Rhythmusstörung vor, z. B. Sinusknotensyndrom, AV-Block
Tachykardie
Frequenz > 100/Min. (bei Erwachsenen),
regelmäßig
physiologisch bei Stress, starker körperlicher Bewegung und Fieber; pathologisch z. B. im Rahmen einer
Lungenembolie, entzündlichen Herzerkrankung, Herzinsuffizienz
Absolute
Arrhythmie
Völlig unregelmäßige Schlagfolge, beschleunigt (Tachyarrhythmie) oder verlangsamt (Bradyarrhythmie)
verschiedene Ursachen, z. B. bei
KHK, Herzmuskelentzündung,
Schilddrüsenüberfunktion
Extrasystolie
Zusätzliche Herzschläge, evtl. mit anschließender kompensatorischer Pause
kompensatorische Pause wird als
Aussetzen des Herzschlags oder
Herzstolpern empfunden
Vorhofflattern
250–350 Vorhofkontraktionen/Min.
sehr hohe, aber regelmäßige Vorhoffrequenz; regelmäßige Überleitung zu den Kammern möglich, Folge ist eine Tachykardie; bei unregelmäßiger Überleitung eine Tachyarrhythmie; Übergang in
Vorhofflimmern möglich
Arrhythmien
Vorhofflimmern
Kammerflattern
Kammerflimmern
Bierbach_55244.indb 451
350–600 Vorhofkontraktionen/Min.
250–350 Kammerkontraktionen/Min.
350–600 Kammerkontraktionen/Min.
vollkommen unregelmäßige Vorhofkontraktionen mit i. d. R. sehr hoher
Frequenz; Erregungen werden nur
z. T. oder gar nicht an die Kammern
weitergegeben; abhängig von dem
Zentrum, von dem der Ersatzrhythmus ausgeht, kommt es zur Tachyoder Bradyarrhythmie
Kammerkontraktionen in sehr hoher,
aber meist noch regelmäßiger Frequenz; als Folge wird nur eine kleine
und ungenügende Blutmenge ausgeworfen; der Übergang ins Kammerflimmern ist fließend
keine geregelte Kammerkontraktion mehr möglich; es wird nur noch
eine geringe Blutmenge in die Gefäße ausgeworfen; ohne rasche
schulmedizinische Notfalltherapie
(Reanimation, Defibrillation)
kommt es innerhalb kürzester Zeit
zum Herz-Kreislauf-Stillstand und
zum Tod
Extrasystolen können vorzeitig oder verspätet, einzeln oder gehäuft auftreten. Ist
der Abstand zwischen einer vorzeitig auftretenden Extrasystole und der nächsten
regulären Herzaktion größer als der Abstand zwischen zwei normalen Herzaktionen, wird dies als kompensatorische (ausgleichende) Pause bezeichnet.
Supraventrikuläre Extrasystolen
Eine supraventrikuläre Extrasystole (kurz
SVES) hat ihr Erregungszentrum oberhalb
des His-Bündels im Sinusknoten, AV-Knoten oder Vorhofmyokard. Sie kommt sowohl
bei Gesunden als auch bei Herzkranken vor.
Der Betroffene hat meist keine Beschwerden. Gelegentlich bemerkt er Herzklopfen,
Herzstolpern, Herzrasen oder „Aussetzer“.
Bei einer fassbaren Herzerkrankung wird
behandelt, während bei Herzgesunden eine
Therapie nur selten erforderlich ist.
Die Diagnose wird durch das EKG (RuheEKG mit langem Rhythmusstreifen, Langzeit-EKG) gestellt.
Eine Therapie ist nur bei gehäuftem Auftreten direkt hintereinander (in Salven) erforderlich, da dann Vorhofflattern oder Vorhofflimmern drohen. Medikamente der Wahl
sind Digitalis (ᇄ 10.7.1, Pharma-Info) und/
oder Betablocker (ᇄ 11.5.1, Pharma-Info).
Ventrikuläre Extrasystolen
Ventrikuläre Extrasystolen (kurz VES) können von allen Teilen des Kammermyokards
oder vom His-Bündel ausgehen. Einzelne VES
haben meist keinen Krankheitswert. Bei einer
Vorschädigung des Myokards durch eine
Herzkrankheit (z. B. KHK) können ventrikuläre Extrasystolen gehäuft auftreten, lebensgefährlich hohe Kammerfrequenzen (ventrikuläre Tachykardien) können die Folge sein.
Dann müssen zum einen die Grunderkrankungen behandelt, zum anderen die
VES mit Antiarrhythmika (ᇄ 10.8.2, Pharma-Info) unterdrückt werden.
10
RTF3506 8a:END
10.8.2 Tachykarde
Herzrhythmusstörungen
Tachykarde Herzrhythmusstörung: Herzrhythmusstörung mit einer Herzfrequenz über
100/Min.
Mit zunehmender Herzfrequenz wird immer weniger Blut in das Kreislaufsystem
4/19/2013 1:00:26 PM
452
10 Herz
gepumpt, weil den Kammern nicht genügend Zeit zur Erschlaffung und Neufüllung
verbleibt oder die Herzkontraktionen zu
schwach und unkoordiniert sind. Dies
kann zu lebensbedrohlichen Situationen
führen.
Tachykarde Herzrhythmusstörungen werden nach ihrem Ursprung, dem Entstehungsmechanismus sowie ihrer Dauer wie
folgt klassifiziert.
Normale Frequenz
Sinusknotentachykardie
Supraventrikuläre Tachykardien
Supraventrikuläre Tachykardie (lat. supra =
über, ventriculus = Kammer): Tachykardie, bei
der das Erregungsbildungszentrum im Bereich
der Vorhöfe liegt.
Abb. 10.39 EKG-Bild bei Sinusknotentachykardie (oben: normale Herzfrequenz). Jedem P folgt ein normaler
QRS-Komplex. Bei einer hochgradigen Sinusknotentachykardie sind die PWellen manchmal nur sehr schwer zu
erkennen. [A300]
Vorhofflattern
Sinusknotentachykardie
Bei der Sinusknotentachykardie (ᇄ Abb.
10.39) gehen die Erregungen – wie beim
Gesunden – vom Sinusknoten aus. Die Frequenz liegt bei 100–160 Herzschlägen/
Min.; der Herzschlag ist meist regelmäßig.
Die Sinusknotentachykardie kommt vor
bei folgenden Gegebenheiten:
• Erhöhung des Sauerstoffbedarfs infolge
eines gesteigerten Stoffwechsels (z. B. bei
psychischer oder körperlicher Belastung,
Schilddrüsenüberfunktion oder erhöhter
Körpertemperatur)
• Verschlechterung des Sauerstoffangebots
an die Zellen durch geringere Sauerstoffkonzentration der Atemluft (z. B. in großer Höhe), hohen Blutverlust, verminderte Herzleistung (z. B. Herzinsuffizienz) oder Vergiftungen
• Reizung des Sympathikus nach Koffeinoder Nikotingenuss sowie nach Einnahme bestimmter Medikamente
Die Behandlung der Sinusknotentachykardie besteht in der Beseitigung der Ursache,
nur selten ist die Gabe von Betablockern
(ᇄ 11.5.1, Pharma-Info) erforderlich.
Paroxysmale supraventrikuläre
Tachykardie
10
Kennzeichnend für die paroxysmale supraventrikuläre Tachykardie (paroxysmal =
in Anfällen auftretend) sind die von den
Vorhöfen ausgehenden Erregungen, die
auf die Kammern übergeleitet werden. Der
Patient hat plötzlich einsetzende Anfälle
von Herzrasen (160–200 Schläge/Min.),
evtl. begleitet von Schwindel und kurzzeitigem Bewusstseinsverlust (Synkope
ᇄ 10.4.3).
Die Behandlung besteht in der Beruhigung des Betroffenen und Maßnahmen zur
reflektorischen Steigerung des Vagotonus,
z. B. den Patienten kaltes Wasser trinken
lassen. Sollten diese Maßnahmen nicht so-
Bierbach_55244.indb 452
Abb. 10.40 EKG-Bild bei Vorhofflattern mit 2:1-Überleitung, d. h. die Vorhoffrequenz ist doppelt so hoch wie
die Kammerfrequenz. Typisch ist das Auftreten von sägezahnförmigen Vorhofwellen anstelle der normalen PWellen. [A300]
Absolute Arrhythmie mit Vorhofflimmern
Abb. 10.41 EKG-Bild mit absoluter Arrhythmie bei Vorhofflimmern. Die völlig unkoordinierten Vorhofaktionen
zeigen sich nur noch durch eine „unruhige“ Nulllinie im EKG. [B152]
Kammertachykardie
Abb. 10.42 EKG-Bild bei ventrikulärer Tachykardie. Auf zwei normale, vom Sinusknoten ausgehende Erregungen folgt eine Kammertachykardie. Alle Kammerkomplexe sind verbreitert, die P-Wellen ohne Beziehung zu
QRS-Komplexen. [A300]
Kammerflattern
Kammerflimmern
Abb. 10.43 Oben: EKG-Bild bei Kammerflattern mit einer Frequenz von ca. 200/Min. Die Kammerkomplexe
sind haarnadelförmig deformiert. Unten: EKG-Bild bei Kammerflimmern. Die einzelnen Kammerkomplexe können im EKG nicht mehr voneinander getrennt werden. [A300]
4/19/2013 1:00:26 PM
10.8 Herzrhythmusstörungen
fort erfolgreich sein, muss ein Arzt benachrichtigt werden, der die Tachykardie medikamentös behandelt.
Vorhofflattern
Von Vorhofflattern (ᇄ Abb. 10.40) spricht
man bei 250–350 Vorhofkontraktionen/
Min. Meist wird nur jede 2. bzw. 3. Vorhoferregung auf die Kammern übergeleitet
(2 : 1- bzw. 3 : 1-Überleitung), d. h. die
Kammerfrequenz liegt typischerweise bei
125–150/Min.
Die Ursache des Vorhofflatterns ist in der
Regel eine vorbestehende Herzerkrankung. Das vorgeschädigte Herz kann diese
erhöhte Kammerfrequenz nicht lange
kompensieren (Folge ist eine akute Herzinsuffizienz ᇄ 10.7.2). Eine Gefahr für den
Patienten besteht dann, wenn alle Vorhofaktionen auf die Herzkammern übergeleitet werden (1 : 1-Überleitung), da bei
solch raschen Kammerkontraktionen keine ausreichende Blutmenge mehr gefördert wird (Kammerflattern bzw. Kammerflimmern).
Merke
Zu den supraventrikulären Tachykardien zählen:
• Sinusknotentachykardie
• Paroxysmale supraventrikuläre Tachykardie
• Vorhofflattern
• Vorhofflimmern
453
Pharma-Info: Antiarrhythmika
Unter dem Begriff Antiarrhythmika werden verschiedene Substanzgruppen zur medikamentösen Behandlung von Herzrhythmusstörungen zusammengefasst.
Die Antiarrhythmika werden je nach ihrem Wirkmechanismus in vier Klassen eingeteilt:
• I a–c: Na+-(Natriumionen-)Antagonisten mit unterschiedlicher Wirkung auf das Aktionspotenzial (ᇄ 7.5.4) der Herzmuskelzellen: z. B. Chinidin (z. B. Rp Chinidin durilesp), Disopyramid (z. B. Rp Rhythmodulp), Ajmalin (z. B. Rp Gilurytmalp)
• II: Betarezeptorenblocker: z. B. Propranololp (Rp Docitonp)
• III: z. B. K+-(Kaliumionen-)Antagonisten: Amiodaron (z. B. Rp Cordarexp)
• IV: Ca2+-(Kalziumionen-)Antagonisten: z. B. Verapamil (z. B. Rp Isoptinp)
Digitalisglykoside (ᇄ 10.7.1, Pharma-Info) werden in Einzelfällen ebenfalls verwendet,
zählen aber nicht zu den klassischen Antiarrhythmika. Dies gilt auch für die ebenfalls
antiarrythmisch wirkenden Medikamente Atropin, Adenosin, Orciprenalin, Ivabradin
und Magnesiumsulfat.
Viele Antiarrhythmika können zu Übelkeit und zentralnervösen Störungen führen.
Darüber hinaus können sie auch gefährliche Nebenwirkungen auf das Herz haben:
• Die meisten Antiarrhythmika schwächen die Kontraktionskraft des Herzens. Hierdurch kann eine bis dahin gerade noch kompensierte Herzinsuffizienz entgleisen.
• Alle Antiarrhythmika können selbst zu lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen
führen und einen plötzlichen Herztod verursachen.
Verschiedene Studien haben ergeben, dass Antiarrhythmika zwar oft das EKG-Bild verbessern, nicht aber die Prognose der zugrunde liegenden Störung. Heute werden die
Antiarrythmika deshalb sehr kritisch gesehen und die Indikation zurückhaltend gestellt
bzw. nichtmedikamentöse Optionen zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen genutzt, wie etwa eine Schrittmacher-Implantation oder eine Entfernung von reizleitendem Gewebe per Katheter (Katheter-Ablation).
Erstmaßnahmen bei Kammerflattern/-flimmern
Kammerflattern und Kammerflimmern entsprechen funktionell einem Herz-Kreislauf-Stillstand. In beiden Fällen müssen Sie sofort reanimieren (ᇄ 30.4) und den Notarzt benachrichtigen (lassen).
Vorhofflimmern
Beim Vorhofflimmern liegt die Vorhoffrequenz bei 350–600 Kontraktionen/Min. Da
die Vorhofaktionen völlig unregelmäßig auf
die Kammern übergeleitet werden, kontrahieren diese ebenso unregelmäßig (absolute Arrhythmie ᇄ Abb. 10.41). Ursache
kann eine Überdehnung und Überlastung
des Vorhofs sein, z. B. bei einer Mitralklappenstenose.
Als Komplikation können sich Thromben
(Blutgerinnsel) im Vorhof bilden. Wenn
diese sich lösen, können sie zu einer arteriellen Embolie (ᇄ 11.6.3) im großen Kreislauf führen. Diese Komplikation ist jedoch
eher selten. Die meisten Betroffenen haben
über Jahre hinweg nur mäßige Beschwerden wie Herzklopfen und Atemnot bei körperlicher Belastung. Es besteht meist ein
Pulsdefizit (ᇄ 10.3.2).
Der Patient sollte so früh wie möglich
zur Rhythmisierung (Wiederherstellung
des Sinusrhythmus) an einen Kardiologen
oder an eine Klinik verwiesen werden. Bei
der medikamentösen Rhythmisierung
(Konvertierung genannt) wird der Betroffene erst digitalisiert, ehe er ein Antiarrhythmikum (ᇄ Pharma-Info) erhält. Alternativ wird durch Elektrokardioversion
Bierbach_55244.indb 453
versucht, wieder einen Sinusrhythmus
herzustellen. Hierzu wird der Patient in
Kurznarkose EKG-gesteuert defibrilliert
(d. h. der Patient bekommt einen Stromstoß).
Ventrikuläre Tachykardien
nisch behandelt werden. Langfristig müssen die Grunderkrankung behandelt und
eine antiarrhythmische Dauertherapie
durchgeführt werden. Bei medikamentös
nicht therapierbaren ventrikulären Tachykardien ist das Einsetzen eines Herzschrittmachers oder Kardioverter-Defibrillators
angezeigt.
RTF3109 a:END
Ventrikuläre Tachykardie (Kammertachykardie ᇄ Abb. 10.42): Frequenz weit über 100/
Min.; das Erregungsbildungszentrum liegt in
den Herzkammern.
Jede ventrikuläre Tachykardie ist für den
Patienten lebensgefährlich und muss medikamentös oder durch Elektrokardioversion
behandelt werden.
Kammerflattern und Kammerflimmern
(ᇄ Abb. 10.43) gehören beide zu den ventrikulären Tachykardien. Die Kammerfrequenz beim Kammerflattern liegt bei 250–
350/Min., die des Kammerflimmerns bei
mehr als 350/Min.
Die Überlebenschancen sind gering. Der
Patient muss schnellstens vom Notarzt defibrilliert (ᇄ 30.4.3) und intensivmedizi-
10.8.3 Bradykarde
Herzrhythmusstörungen
10
Bradykarde Herzrhythmusstörung: Herzrhythmusstörung mit Herzfrequenz < 60/Min.
Sinusbradykardie
Die Sinusbradykardie ist gewissermaßen
das Gegenteil der Sinustachykardie. Die
Erregungen gehen ebenfalls vom Sinusknoten aus, die Herzfrequenz liegt unter
60/Min.
Sinusbradykardien werden meist nur zufällig diagnostiziert; eine Behandlung ist in
der Regel nicht erforderlich.
4/19/2013 1:00:27 PM
454
10 Herz
Sinusknoten-Syndrom
Als Sinusknoten-Syndrom (Sick-Sinus-Syndrom, kurz SSS, Syndrom des kranken Sinusknotens, kurz SKS) fasst man eine Reihe
von Herzrhythmusstörungen durch gestörte Sinusknotenfunktion zusammen. Sie treten oft in Zusammenhang mit einer KHK
auf.
Das Sinusknoten-Syndrom zeigt sich v. a.
durch anhaltende Sinusknotenbradykardie,
Sinusknotenstillstand (Sinusarrest) oder einen Wechsel von brady- und tachykarden
Herzrhythmusstörungen (BradykardieTachykardie-Syndrom) mit entsprechenden Beschwerden des Patienten.
Die Behandlung besteht in einer Herzschrittmacherimplantation. Oft ist zusätzlich eine medikamentöse Therapie erforderlich.
Karotissinus-Syndrom
Beim Karotissinus-Syndrom (hypersensitiver Karotissinus) wird durch mechanischen
Druck auf den Sinus caroticus (Erweiterung an der Gabelung der A. carotis communis mit Blutdruckrezeptoren) reflektorisch eine Bradykardie bis hin zum Herzstillstand und eine Gefäßweitstellung ausgelöst.
Typisch ist, dass die Patienten bei bestimmten Kopfbewegungen, v. a. Drehung
und Neigung des Kopfes nach hinten (z. B.
beim Rasieren, Autofahren), Schwindel angeben oder sogar bewusstlos werden (Synkope ᇄ 10.4.3). Die Diagnose wird vom Arzt
durch einen Karotis-Druckversuch gestellt. Dabei wird die Karotisgabelung unter
EKG-Kontrolle und in Reanimationsbereitschaft massiert und die Herz-Kreislauf-Reaktion des Patienten beobachtet. Einzig
wirksame Behandlung ist die Implantation
eines Herzschrittmachers.
RTF3104 a:END
10
10.8.4 Reizleitungsstörungen des Herzens
Reizleitungsstörungen des Herzens: Die Erregung aus dem Sinusknoten wird nicht auf
normalem Weg und in normaler Geschwindigkeit bis zum Myokard weitergeleitet.
Präexzitationssyndrome
Bei Präexzitationssyndromen (lat. prä =
vor; excitare = erregen) wird die Vorhoferregung nicht über den AV-Knoten geleitet,
sondern über eine zusätzliche, schnellere
Leitungsbahn zwischen Vorhöfen und
Kammern. Ein Beispiel ist das Wolff-Par-
Bierbach_55244.indb 454
6LQXVNQRWHQ
+LV%¾QGHO
žEHUOHLWXQJGHU
6LQXVHUUHJXQJ
DXIGHQ$9.QRWHQ
$9.QRWHQ
(UUHJXQJVWRSSW
%ORFNLHUXQJGHU(UUHJXQJVOHLWXQJ
kinson-White-Syndrom (WPW-Syndrom),
bei dem eine angeborene anatomische
Anomalie voliegt. Die schnelle Erregungsausbreitung führt zu einer verfrühten
Kammererregung. Gefährdet ist der Patient durch die Möglichkeit „kreisender
Erregungen“ (Reentry-Tachykardien) vergleichbar einem elektrischen Kurzschluss.
Folge kann eine ventrikuläre Tachykardie
sein, die bedrohliche Ausmaße annehmen
und zum Herzversagen führen kann.
übernimmt dieser nach einer gewissen Pause die Erregungsbildung (Knotenrhythmus, Frequenz 40–60/Min.). Ist diese Pause zu lang, kann es zu kurzzeitigem Bewusstseinsverlust (Synkope) kommen.
Atrioventrikulärer Block
Atrioventrikulärer Block (kurz AV-Block): verzögerte oder unterbrochene Erregungsleitung von
den Vorhöfen zu den Kammern (ᇄ Abb. 10.44).
•
Achtung
Leidet ein Patient mit bekanntem Präexzitationssyndrom unter Herzrasen oder wird er
ohnmächtig (Synkope ᇄ 10.4.3), müssen Sie
immer den Notarzt benachrichtigen.
Das Herzrasen kann vom Notarzt oft durch
reflektorische Steigerung des Vagotonus
(z. B. Karotis-Druckversuch) beendet werden. Ansonsten müssen Antiarrhythmika,
vorzugsweise Ajmalin, i. v. gespritzt werden.
Gelegentlich ist im Anschluss an die akute Rhythmisierung eine medikamentöse
Prophylaxe mit anderen Antiarrhythmika
erforderlich. Alternativ kann erwogen
werden, den zusätzlichen Leitungsweg zu
durchtrennen. Das ist mithilfe der Kathetertechnik durch Hochfrequenzsströme
möglich. Auch kann die Implantation eines Kardioverter-Defibrillators angezeigt
sein.
Reizleitungsverzögerungen
Sinuatrialer Block
Sinuatrialer Block (kurz SA-Block): verzögerte
oder unterbrochene Erregungsleitung vom Sinusknoten zur Vorhofmuskulatur, verschiedene
Typen und Schweregrade.
Abb. 10.44 Ist die Erregungsüberleitung am AVKnoten gestört, spricht man
von einem AV-Block. Je
nach Schweregrad ergeben
sich verschiedene Rhythmusstörungen. [A400]
•
•
Beim AV-Block I. Grades ist die Überleitung verzögert, aber nicht aufgehoben.
Im EKG ist die PQ-Zeit verlängert. Eine
Behandlung ist meist nicht erforderlich.
Beim AV-Block II. Grades ist die
Überleitung nicht nur verzögert, sondern Vorhofaktionen werden zeitweise
gar nicht zu den Kammern übergeleitet. Meist sind keine Behandlungsmaßnahmen erforderlich, wohl aber Langzeit-EKG-Kontrollen; mitunter muss
ein Herzschrittmacher implantiert
werden.
Beim AV-Block III. Grades ist die
Überleitung der Vorhoferregung auf die
Kammern aufgehoben, sodass Vorhöfe
und Kammern unabhängig voneinander schlagen (AV-Dissoziation). Die
Kammerfrequenz ist mit weniger als 40/
Min. sehr niedrig, und es können sich
Zeichen der Herzinsuffizienz entwickeln. Es besteht die Gefahr der zerebralen Durchblutungsminderung mit
Synkopen (Adam-Stokes-Anfall). Daher muss der AV-Block III. Grades zunächst medikamentös, dann durch Einsetzen eines Schrittmachers behandelt
werden. Ein künstlicher Herzschrittmacher (ᇄ Abb. 10.45, ᇄ Abb. 10.46)
stimuliert die Herzmuskulatur durch
elektrische Impulse zur Kontraktion
und führt so wieder zu einem regelmäßigen Herzschlag.
Erreicht den AV-Knoten vom Sinusknoten
oder den Vorhöfen keine Erregung mehr,
4/19/2013 1:00:27 PM
10.8 Durchblutungsstörungen des Herzens
REHUH+RKOYHQH
9FDYDVXSHULRU
9VXEFODYLD
6FKULWWPDFKHU
Abb. 10.45 Permanenter Zweikammerschrittmacher,
der die natürlichen Erregungszentren ersetzt. [V112]
Schenkelblock
Schenkelblock (intraventrikulärer Block, faszikulärer Block): Verzögerte oder unterbrochene
Reizleitung im rechten und/oder linken Kammerschenkel (Rechtsschenkelblock, kurz RSB,
bzw. Linksschenkelblock, kurz LSB).
9RUKRIHOHNWURGH
LQUHFKWHP9RUKRI
455
hämodynamische (auf den Blutfluss einwirkende) Konsequenzen bleibt. Bei Blockade
beider Schenkel muss das Kammermyokard
selber die Erregung bilden. Die Kammereigenfrequenz von ≤ 40 Schlägen/Min. ist jedoch für eine ausreichende Blutversorgung
des Organismus zu gering (wie beim AVBlock III. Grades).
Die Therapie besteht in der Implantation
eines Schrittmachers oder KardioverterDefibrillators.
.DPPHUHOHNWURGH
LQUHFKWHU.DPPHU
Achtung
Abb. 10.46 Lage eines permanenten Herzschrittmachers. Die Elektroden liegen hier in der rechten
Herzkammer und im rechten Vorhof. Der Schrittmacher wird in Lokalanästhesie oder Vollnarkose subkutan implantiert. [L190]
Lassen Sie Synkopen ohne eindeutig psychische Ursache sofort schulmedizinisch abklären.
Es besteht unter anderem Verdacht auf AVBlock III. Grades oder einen schwerwiegenden
Schenkelblock.
Die Blockade eines Schenkels ist meist
asymptomatisch, da die etwas verzögerte
Erregung der betroffenen Kammer ohne
Naturheilkundliche Therapie bei Herzrhythmusstörungen
Handbuch für die Naturheilpraxis ᇄ 3.5
Herzrhythmusstörungen müssen schulmedizinisch abgeklärt
werden und erfordern entsprechend der Ursache unterschiedliche ärztliche Maßnahmen. Eine unterstützende naturheilkundliche Behandlung ist insbesondere bei funktionellen Herzbeschwerden gut wirksam.
Homöopathie
Eine ausführliche Anamnese und sorgfältige Repertorisation führen zum Mittel der Wahl. Konstitutionelle Mittel, die einen Bezug
zu Herzrhythmusstörungen aufweisen sind: Argentum nitricum,
Ferrum metallicum, Ignatia, Jodum, Lachesis, Lilium tigrinum,
Natrium muriaticum, Nux vomica, Sulfur, Tarantula. Da charakteristische Allgemein- und Gemütssymptome die Auswahl bestimmen, kann auch ein anderes Konstitutionsmittel angezeigt sein.
Werden Komplexmittel (z. B. Spigelia Synergon Nr. 161, Rytmopasc p Tropfen) eingesetzt, enthalten diese häufig Spigelia (bei
Herzklopfen, Schmerzen an der Herzspitze, die auch in den linken Arm ausstrahlen), Naja tripudians (bei kleinem und frequentem Puls, Arrhythmien, Angina pectoris) oder Spartium scoparium (bei Herzklopfen, Herzbeklemmung, nächtlichen Anginapectoris-Anfällen).
Manuelle Therapie
Bei funktionellen Herzrhythmusstörungen kommen sanfte Verfahren, wie z. B. die Wirbelsäulentherapie nach Dorn (ᇄ 4.2.15)
oder eine osteopathische Behandlung (ᇄ 4.2.34), in Betracht. Chiropraktische Maßnahmen mit stark manipulativem Charakter
sollten nicht eingesetzt werden, da sie die Herzbeschwerden unter
Umständen noch verstärken können.
Neuraltherapie
Es empfiehlt sich, im Herzsegment (links: C 2–C 4; Th 1–Th 6) mit
einem Lokalanästhetikum und/oder einer homöopathischen Injektionslösung, z. B. Schwörocorp A Inj., Quaddeln zu setzen
(ᇄ 6.4.1). Bei entsprechenden anamnestischen Hinweisen
(ᇄ 10.3.3) sollte eine Störfeldsuche durchgeführt werden.
Bierbach_55244.indb 455
Ordnungstherapie
Weisen Sie den Patienten darauf hin, dass Nikotin, Kaffee und Alkohol die Beschwerden verstärken können. In der Anamnese
werden Sie oft („arrhythmische“) Lebensbereiche, die in Unordnung geraten sind, in Erfahrung bringen.
Halten Sie den Patienten dazu an, seinen Lebensrhythmus neu
zu ordnen: z. B. gleichmäßiger Schlaf-wach-Rhythmus, geregelter
Tagesablauf. Atemtherapeutische Übungen können zusätzlich
eingesetzt werden, um den Patienten wieder in Kontakt mit seinem natürlichen Rhythmus zu bringen.
Finden Sie Hinweise auf unbewältigte Konflikte oder Stress als
Auslöser der Beschwerden, wägen Sie ab, inwiefern eine weiterführende Behandlung, z. B. Psychotherapie, für den Patienten
sinnvoll ist. Patienten mit Herzrhythmusstörungen leiden, auch
wenn kein organischer Befund vorliegt, erfahrungsgemäß unter
Ängsten, die mehr oder weniger stark ausgeprägt sind. Es ist
wichtig, dass Sie den Patienten mit seinen Gefühlen und Ängsten
ernst nehmen und dem Thema „Angst“ Raum geben. Gleichzeitig
müssen Sie Sicherheit und klare Strukturen vermitteln sowie einen „gesunden“ Abstand zum Patienten einhalten.
Orthomolekulare Therapie
Auch ein Ungleichgewicht im Elektrolythaushalt kann die Ursache von Herzrhythmusstörungen sein. Aus diesem Grund ist es
unerlässlich, abzuklären, ob Störungen im Elektrolythaushalt
auf die Einnahme von Diuretika, Laxanzien oder durch Fehlernährung zurückzuführen sind. Finden sich im Labor erniedrigte
Magnesium- und Kaliumwerte, ist eine Substitution z. B. durch
magnerotp classic oder Tromcardinp complex erforderlich. Coenzym-Q10 kann ebenfalls die Normalisierung des Herzrhythmus unterstützen. Auch die Gabe von Omega-3-Fettsäuren
kann sinnvoll sein, da diese eine antiarrhythmische Wirkung
haben. Empfehlen Sie Ihren Patienten eine basische und überwiegend laktovegetabile Vollwerternährung. Liegt eine Azidose vor, können Sie zur Entsäuerung ein Basensalz, z. B. NemaBasp, verordnen.
10
4/19/2013 1:00:28 PM
456
10 Herz
Physikalische Therapie
Phytotherapie
Empfehlen Sie als mildes Regulationstraining kalte Waschungen.
Zudem können übende Verfahren und Atemtherapie sinnvoll
sein, um Entspannungshaltungen einzuüben und den Patienten
für das rhythmische Geschehen zu sensibilisieren.
Herzwirksame Phytotherapeutika sind u. a. Weißdornblätter mit
-blüten (Crataegi folium cum flore ᇄ Abb. 10.35), Herzgespannkraut
(Leonuri cardiacae herba), das auch im Rahmen einer Schilddrüsenüberfunktion wirksam ist und Besenginsterkraut (Cytisi scorparii
herba ᇄ Abb. 10.47), z. B. Spartiolp Cardio hom. Besenginsterkraut
enthält keine Glykoside, sondern das Alkaloid Spartein sowie Flavonoide. Insbesondere Spartein hemmt den Natriumtransport durch
die Zellmembran. Dadurch werden die gesteigerte Reiz- und Erregbarkeit im Reizleitungssystem reduziert, die beschleunigte Reizbildung gehemmt sowie die Herztätigkeit reguliert.
Günstig ist eine Kombination mit sedativ wirkenden Pflanzen,
z. B. Baldrianwurzel (Valerianae radix ᇄ Abb. 29.8) und Melissenblättern (Melissae folium ᇄ Abb. 13.40), z. B. Oxacantp sedativ Liquid. Herzkompressen mit Arnikatinktur oder einer Herzsalbe,
beispielsweise Cor-Velp Truw wirken beruhigend und entspannend.
Abb. 10.47 Besenginster (Cytisus scoparius) gehört zu den
Schmetterlingsblütlern.
Ein Teeaufguss oder
die Urtinktur werden
bei Herzrhythmusstörungen, Herz-Kreislaufstörungen oder bei Hypotonie eingesetzt.
[O216]
Herzschrittmacher und
Kardioverter-Defibrillator
Ein künstlicher Herzschrittmacher (kurz
Schrittmacher, engl. Pacemaker) ist erforderlich, wenn das Herz durch Erregungsbildungs- oder -leitungsstörungen so langsam
schlägt, dass der Sauerstoffbedarf des Körpers nicht mehr gedeckt wird. Die kritische
Herzfrequenz liegt bei ungefähr 40 Schlägen/Min., bei Kindern etwas höher. Herzschrittmacher stimulieren die Herzmuskulatur durch elektrische Impulse zur Kontraktion und führen so zu einem regelmäßigen Herzschlag. Die häufigste Indikation
für eine Schrittmacherimplantation ist ein
höhergradiger AV-Block.
Heute werden nur noch Demand-Schrittmacher (Bedarfs-Schrittmacher) gewählt,
die die Eigenaktionen des Herzens regist-
10
Traditionelle Chinesische Medizin
Verschiedene Syndrome wie z. B. eine (Herz-)Geist-Shen-Störung
oder ein Herz-Blut-Mangel können Herzrhythmusstörungen auslösen. Die Differenzierung erfolgt u. a. nach Herz- und nach Allgemeinsymptomen sowie nach der psychischen Verfassung des Patienten. Bei chronischem Verlauf hat sich – ergänzend zur konventionellen Therapie – eine Kombination von Akupunktur und
Kräutern bewährt.
rieren und nur dann einen Impuls abgeben,
wenn nach einer festgesetzten Zeit keine Eigenaktion erfolgt ist.
Außerdem lassen sich Vorhöfe und Kammern durch Zweikammer-Schrittmacher
zeitlich koordiniert anregen, damit die Vorhofaktion zur Kammerfüllung beitragen
kann.
Ein implantierbarer Kardioverter-Defibrillator (Kardioverter-Defibrillator, ICD)
wird ähnlich wie ein Herzschrittmacher
subkutan implantiert. Sonden in Herzvorhof und -kammer überwachen kontinuierlich den Herzrhythmus. Registriert der ICD
eine gefährliche Rhythmusstörung, gibt er
schmerzfreie Stromstöße ab, um die Tachykardie zu beenden. Bei Herzstillstand infolge von Kammerflimmern defibrilliert der
ICD automatisch. Somit schützt er den Träger vor dem plötzlichen Herztod. Die aufge-
nommenen EKG-Daten werden gespeichert
und bei Kontrolluntersuchungen begutachtet.
Heute leben viele Menschen mit einem
Herzschrittmacher oder ICD, ohne im Alltag durch das Gerät beeinträchtigt zu sein.
Die meisten Patienten fühlen sich nach dem
Eingriff sogar wesentlich wohler, weil ihr
Herz wieder leistungsfähig ist. Aufpassen
müssen die Patienten im Bereich von Magnetfeldern (etwa bei Personenkontrollen
am Flughafen, Diebstahlsicherungen am
Ausgang von Kaufhäusern oder bei Kernspinuntersuchungen), da die Magnetfelder
die Funktion des Schrittmachers beeinträchtigen. Auch tragbare Telefone sollten
wegen der elektromagnetischen Wellen
nach derzeitigem Kenntnisstand möglichst
nicht benutzt werden.
RTF3607218a:END
10.9 Entzündliche Herzerkrankungen
RTF3607218a0:STAR
Entzündliche Herzerkrankungen: Entzündung der Innenhaut (Endokarditis), der Muskelschicht (Myokarditis), der Außenhaut des Herzens (Perikarditis) oder aller Herzschichten
(Pankarditis); bedingt durch viele Ursachen
(Bakterien, Viren, Autoimmunphänomene, oft
auch nicht erkennbar).
Bierbach_55244.indb 456
10.9.1 Endokarditis
Krankheitsentstehung
Bakterielle Endokarditis
Endokarditis: autoimmunogene (ᇄ 22.8) oder
bakterielle Entzündung der Herzinnenhaut (Endokard) mit drohender Zerstörung der Herzklappen (ᇄ Abb. 10.48).
Bei einer bakteriellen Endokarditis besiedeln Bakterien die Herzklappen und schädigen diese. Besonders gefährdet sind vorgeschädigte Herzklappen. Bei Immungeschwächten können auch Pilze zu einer Endokarditis führen.
4/19/2013 1:00:28 PM
10.9 Entzündliche Herzerkrankungen
457
$RUWD
7DVFKHQGHU
$RUWHQNODSSHQ
Abb. 10.48 Endokarditis
der Aortenklappe mit ulzerativen (geschwürigen) Veränderungen am aufgeschnittenen rechten Herzen.
[T173]
OLQNH.DPPHU
Rheumatische Endokarditis
In Mitteleuropa heute selten ist das rheumatische Fieber, eine Streptokokken-Folgekrankheit (ᇄ 25.5.2). Die gegen die Streptokokken gebildeten Antikörper richten sich
gegen strukturähnliche Anteile des Endokards. Besonders häufig ist die Mitralklappe
betroffen.
Symptome
Bakterielle Endokarditis
Eine bakterielle Endokarditis kann – je
nach Erreger und Abwehrsituation des
Patienten – hochakut, aber auch schleichend (Endocarditis lenta) beginnen.
Bei der Endocarditis lenta (lenta = langsam) sind subfebrile Temperaturen, Leistungsschwäche und evtl. Hautzeichen die
einzigen Symptome. Die Diagnose wird
häufig erst spät gestellt. Typische Symptome einer akut verlaufenden Endokarditis sind:
• (unklares) Fieber, Nachtschweiß
• Schwäche, Gewichtsverlust
• Anämie
• evtl. Zeichen der Herzinsuffizienz
(ᇄ 10.7), ZNS-Störungen, Hautsymptome (besonders Petechien oder kleine,
rote schmerzhafte Knötchen v. a. an Fingern und Zehen)
Hauptkomplikation sind sog. „septische
Metastasen“: Ablagerungen auf den Herzklappen lösen sich und gelangen in den
Kreislauf, wo sich Embolien in Gehirn, Nieren, Haut und anderen Organen bilden.
Rheumatische Endokarditis
Typische Symptome der rheumatischen
Endokarditis sind:
• Fieber, allgemeines Krankheitsgefühl
• Gelenkschmerzen (Polyarthritis der großen Gelenke) mit starkem Berührungsschmerz
• Glomerulonephritis (ᇄ 16.5.3) mit Blut
und Eiweiß im Urin
• Hauterscheinungen: Petechien (kleinste,
punktförmige Kapillarblutungen) an Haut
Bierbach_55244.indb 457
•
und Schleimhäuten, Erythema nodosum
(ringförmige Hautausschläge v. a. an den
Unterschenkelstreckseiten), Osler-Knoten (kleine subkutane Knötchen ᇄ Abb.
10.49)
zunächst kaum Herzbeschwerden
Diagnostik
Diagnoseweisend sind neben der Symptomatik ein bis dahin noch nicht festgestelltes
Herzgeräusch und bei der bakteriellen Endokarditis zusätzlich eine Milzvergrößerung sowie ein (Streptokokken-)Infekt, der
1–3 Wochen vor Beginn der Beschwerden
bestanden hat.
Zur Diagnosesicherung muss unbedingt
eine ärztliche Abklärung erfolgen. Blutuntersuchungen, z. B. BSG, Blutbild, Blutkulturen, Antistreptolysintiter (serologischer
Streptokokkennachweis), EKG-Kontrollen
und Echokardiografie sind notwendig.
Schulmedizinische Therapie
Achtung
Bei Verdacht auf Herzklappenentzündung
müssen Sie den Patienten je nach Zustand sofort zum Hausarzt oder an eine Klinik verweisen.
Bei der rheumatischen Endokarditis wird
im Krankenhaus zur Beseitigung des Streptokokkeninfekts Penizillin gegeben. Die
rheumatischen Beschwerden werden mit
Azetylsalizylsäure, evtl. auch mit Glukokortikoiden (ᇄ 19.8.1, Pharma-Info) behandelt. Im Anschluss ist eine lange (ca. 10 Jahre) Antibiotika-Prophylaxe (meist Penizillin) erforderlich, um Rückfälle zu vermeiden. Krankengymnastik ist nicht nötig, da
an den Gelenken trotz z. T. heftiger Akutsymptomatik keine bleibenden Schäden
entstehen.
Bei einer bakteriellen Endokarditis
hängt die Wahl des Antibiotikums vom Erreger ab.
Abb. 10.49 Typisch für eine Endokarditis sind diese
kleinen roten Knötchen an den Finger- und Zehenspitzen, sog. Osler-Knoten. Sie entstehen durch kleine Blutungen nach Mikroembolien. [F376]
Merke
Nach einer bakteriellen oder rheumatischen Endokarditis muss, um Rückfälle zu vermeiden,
vor medizinischen Eingriffen und in allen Situationen, bei denen die Gefahr einer Ausschwemmung von Bakterien auf dem Blutweg besteht
(z. B. Zähneziehen, Operationen), vorsorglich
ein Antibiotikum gegeben werden.
Prognose
Trotz Therapie beträgt die Letalität der
rheumatischen Endokarditis ca. 2–5 % und
die der bakteriellen ca. 30 %. Bei Überlebenden bleiben häufig schwere Klappenschäden zurück, die einen herzchirurgischen
Eingriff erforderlich machen.
10.9.2 Myokarditis
Myokarditis: akute oder chronische Entzündung der Muskelschicht des Herzens.
10
Häufige Ursache sind Virusinfektionen
(z. B. Coxsackie-B-Virus, Zytomegalievirus). Sie kann aber auch bakteriell oder toxisch bedingt oder Folge eines rheumatischen Fiebers (ᇄ 9.12.4) sein.
Symptome
Die Beschwerden des Patienten sind sehr
unterschiedlich und manchmal völlig unspezifisch. Sie reichen von allgemeiner
Schwäche, Leistungsminderung und Fieber
über Atemnot, Herzschmerzen und Herzrhythmusstörungen bis hin zu allen Schwe-
4/19/2013 1:00:29 PM
10 Herz
458
Fallbeispiel „Endokarditis“
Ein 46 Jahre alter Beamter klagt in der Sprechstunde über stark eingeschränkte Leistungsfähigkeit, Temperaturerhöhung (ca. 37,5–38,0 °C) und Nachtschweiß. Die Heilpraktikerin erhebt eine ausführliche Anamnese, ohne jedoch weitere Hinweise zu bekommen. Auf die Frage nach Erkrankungen oder Auslandsaufenthalten in der letzten
Zeit gibt der Patient an, er habe vor 2 Wochen ein Furunkel am Damm gehabt, das vom
Hausarzt aufgeschnitten werden musste.
Der RR beträgt 130/80 mmHg, der Puls 95 Schläge/Min. Bei der Blutentnahme für
die Bestimmung der BSG fällt der Heilpraktikerin auf, dass der Patient stecknadelkopfgroße blaulila Flecke an den Fingerkuppen hat. Diese Punkte seien ihm vor einigen Tagen das erste Mal aufgefallen. „Die tun sogar weh, wenn man draufdrückt!“
erklärt er. Ansonsten ist die Körperhaut unauffällig. Die gründliche körperliche Untersuchung zeigt keine weiteren pathologischen Veränderungen auf, jedoch nimmt
die Heilpraktikerin bei der Auskultation des Herzens deutlich beim 5. ICR links der
Medioklavikularlinie ein systolisches Herzgeräusch wahr, das dem Patienten bislang
nicht bekannt war. Der Herzspitzenstoß ist jedoch normal. Die Palpation und Perkussion der Bauchorgane bleibt wiederum ohne Befund, ebenso die orientierende
neurologische Untersuchung und der Urin-Sticktest. Die Blutsenkung zeigt eine
BSG-Beschleunigung. Aufgrund der Temperaturerhöhung, der Petechien, des Furunkels (ein möglicher Streptokokkeninfekt) in der Anamnese sowie des neu aufgetretenen Herzgeräusches und deutlicher Schwäche überweist die Heilpraktikerin
den Patienten sofort mit Rettungswagen in die Klinik. Ihre Verdachtsdiagnose „bakterielle Endokarditis“ wird dort durch das Ergebnis der angelegten Blutkulturen
bestätigt.
RTF3206 a:END
regraden einer Herzinsuffizienz (im Extremfall mit kardiogenem Schock).
10.9.3 Perikarditis
Diagnostik
Perikarditis: Entzündung des Herzbeutels.
Achtung
Eine Perikarditis kann hervorgerufen werden durch Bakterien (z. B. Staphylokokken, Streptokokken, Pneumokokken), Viren (z. B. Coxsackie-Viren, Influenza-Viren,
Masern- oder Mumpsviren) oder eine Autoimmunerkrankung (z. B. Lupus erythematodes). Auch Erkrankungen der Nachbarorgane (z. B. Herzinfarkt, Pleuritis) oder
Stoffwechselentgleisungen (z. B. eine Urämie) können zu einer Perikarditis führen.
In 70 % der Fälle bleibt die Ursache jedoch
unklar (sog. idiopathische Perikarditis).
Denken Sie bei Schwäche und Herzrhythmusstörungen in zeitlichem Zusammenhang mit
Infekten oder anderen Allgemeinerkrankungen an eine Myokarditis, und verweisen Sie
den Patienten zur Diagnostik und Überwachung je nach Zustand zum Hausarzt oder in
eine Klinik. Gefährliche Komplikationen sind
möglich.
Die Diagnose wird durch Blutuntersuchungen (BSG, Blutbild, Autoantikörper ᇄ 22.8,
Virusserologie ᇄ 25.3.4), EKG, Röntgenaufnahme des Thorax und Echokardiografie
gestellt. Manchmal ist auch eine Herzmuskelbiopsie erforderlich.
10
Schulmedizinische Therapie
Meist werden symptomatisch die Herzinsuffizienz und die Herzrhythmusstörungen
behandelt. Manchmal ist eine Antikoagulation (ᇄ 20.8) erforderlich. Der Nutzen von
Glukokortikoiden (ᇄ 19.8.1, Pharma-Info)
ist umstritten. Bei einer bakteriellen Myokarditis ist eine kausale Behandlung mit
Antibiotika möglich. Der Patient sollte
strenge Bettruhe einhalten.
RTF36024 a:END
Bierbach_55244.indb 458
Symptome
Die Krankheit beginnt als trockene Perikarditis (Pericarditis sicca oder fibrinosa).
Der Patient klagt über allgemeine Schwäche, Atemnot, zunehmendes Beklemmungsgefühl im Liegen und einen retrosternalen, oft lage- und atemabhängigen
Schmerz.
Häufig bildet sich im Folgestadium ein
entzündlicher Erguss (ᇄ Abb. 10.50) im
Herzbeutel (Pericarditis exsudativa oder
feuchte Perikarditis). Aufgrund der verringerten Reibung klingen die Schmerzen
typischerweise dann ab. Da der Herzbeutel
nur wenig dehnbar ist, werden die Herzhöhlen eingeengt und fassen somit weniger
Blut. Die Folge ist eine verminderte Aus-
wurfleistung des Herzens und damit eine
Herzinsuffizienz.
Diagnostik
Die Diagnose stützt sich auf die Auskultation: Im Stadium der Pericarditis sicca ist ein
charakteristisches Perikardreiben (sog.
Lokomotivgeräusch) zu hören, im Stadium
der Pericarditis exsudativa ist das Perikardreiben wieder verschwunden, und die
Herztöne sind wegen des Ergusses nur noch
leise hörbar.
Neben EKG und Röntgenaufnahme des
Thorax ist v. a. die Echokardiografie zur
Diagnosefindung hilfreich.
Achtung
Bei Verdacht auf eine Perikarditis überweisen
Sie den Patienten sofort in eine Klinik.
Schulmedizinische Therapie und
Prognose
Im Krankenhaus stehen Bettruhe, Schmerzbekämpfung, sowie die Entzündungshemmung und evtl. der gezielte Einsatz von Antibiotika oder Glukokortikoiden (ᇄ 19.8.1,
Pharma-Info) im Vordergrund der therapeutischen Maßnahmen.
Manchmal ist zur Diagnosesicherung eine
Perikardpunktion erforderlich, die das
Herz gleichzeitig vom Erguss entlastet.
Die günstigste Prognose hat die idiopathische Perikarditis, die nach 4–6 Wochen
meist folgenlos abheilt. Ansonsten hängt
die Prognose ganz entscheidend von der
Grunderkrankung ab.
Bei häufigen Rezidiven mit Ergussbildung
kann eine Operation notwendig sein, um
den Erguss abzuleiten und die Herzfunktion zu verbessern.
+HU]
+HU]EHXWHO
¦X¡HUHV%ODWW
3HULNDUG
LQQHUHV%ODWW
(SLNDUG
3HULNDUG
HUJXVV
Abb. 10.50 Schematische Darstellung eines Perikardergusses, bei dem sich Flüssigkeit zwischen den
beiden Perikardblättern sammelt. [L190]
4/19/2013 1:00:30 PM
10.10 Kardiomyopathien
Chronische Perikardergüsse können zu
Kalkablagerungen und zu einem sog. Panzerherz (Pericarditis calcarea) führen, bei
dem sich die Herzhöhlen kaum noch füllen
können. Auch dann ist eine Operation erforderlich.
459
Fallbeispiel „Perikarditis“
Ein Heilpraktiker wird um einen Hausbesuch gebeten. Der 71 Jahre alte Patient sitzt auf
dem Sofa, die Füße stehen auf dem Boden, den Oberkörper hält er nach rechts an die
Armlehne geneigt. Er beschreibt einen Schmerz hinter dem Brustbein, der sich beim
Einatmen verstärkt und beim Ausatmen etwas nachlässt. Der Schmerz nähme auch zu,
wenn er sich nach links beuge. Die Beschwerden seien im Laufe von eineinhalb Tagen
immer stärker geworden. Während der Patient erzählt, ringt er nach Luft. Sein Gesicht
ist blass, er wirkt sehr erschöpft. Der Patient ist dem Heilpraktiker schon längere Zeit
bekannt. So weiß er auch, dass seine Blutdruckwerte immer leicht erhöht sind; bislang
blieben alle naturheilkundlichen und schulmedizinischen Behandlungsversuche ohne
Erfolg. Heute jedoch beträgt der RR 120/90 mmHg und der Puls 100 Schläge/Min. Die
Anamnese der letzten Tage ergibt keinerlei auffällige Symptome (z. B. Schmerzen) oder
Hinweise auf akute Erkrankungen (z. B. einen grippalen Infekt). Die Auskultation des
Herzens zeigt ein herzschlagsynchrones, schabendes, raues Geräusch. Der Heilpraktiker
hat so etwas bislang nur auf Lehr-CDs gehört und noch nie bei einem Patienten. Doch
weil dieses Geräusch so ungewöhnlich ist, weiß er sofort, dass es sich hierbei nur um ein
Perikardreiben und somit eine Pericarditis sicca handeln kann. Zur Sicherheit hört er
rasch die Lunge ab, nimmt aber keinerlei Hinweis auf ein Lungenödem wahr. Er verständigt den Rettungswagen, der den Patienten umgehend in die Klinik bringt, wo er
erfolgreich behandelt wird. Die weiteren Untersuchungen dort bestätigen die Diagnose,
eine Ursache kann jedoch nicht gefunden werden.
RTF307956a:END
10.10 Kardiomyopathien
Kardiomyopathie: Herzmuskelerkrankung mit
Verdickung des Herzmuskels und/oder Dilatation (Ausweitung) der Herzhöhlen, ohne zugrundeliegen anderer Herz- oder Gefäßleiden
(z. B. koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck).
Der Begriff Kardiomyopathie ist zunächst
eine Ausschlussdiagnose, die primäre und
sekundäre Formen umfasst.
RTF31059 a:END
10.10.1 Primäre
Kardiomyopathien
Primäre Kardiomyopathie: Der Auslöser der
Erkrankung ist unbekannt. Bei einem Teil der
Patienten finden sich eine familiäre Häufung
bzw. Veränderungen an Genen, bei den übrigen ist die Ursache unbekannt.
Es werden drei Formen (ᇄ Abb. 10.51) unterschieden:
• die dilatative Kardiomyopathie (DCM,
CCM) mit Erweiterung der Kammer
• die hypertrophe Kardiomyopathie
(HCM) mit Verdickung des Herzmuskels
• die restriktive (obliterative) Kardiomyopathie (RCM, OCM) mit starren Kammerwänden
Bierbach_55244.indb 459
Dilatative Kardiomyopathie
Die dilatative Kardiomyopathie ist die häufigste primäre Kardiomyopathie. Sie tritt
vorwiegend sporadisch, bisweilen auch familiär gehäuft auf. Männer sind häufiger
betroffen als Frauen. Das mittlere Alter bei
Diagnosestellung beträgt ca. 40 Jahre.
Die dilatative Kardiomyopathie ist durch
Ventrikelerweiterung (Ventrikeldilatation),
evtl. mangelnden Verschluss der AV-Klappe und eine eingeschränkte Pumpleistung
gekennzeichnet. Die Patienten klagen über
retrosternales Engegefühl, Herzstolpern
und kurzzeitige Bewusstseinsstörungen
Dilatative
Kardiomyopathie
$RUWD
(Synkopen). Außerdem zeigen sich die
Symptome einer Links- und/oder Rechtsherzinsuffizienz. Die Diagnose wird durch
EKG, Röntgenaufnahme des Thorax, Echokardiografie, Herzkatheteruntersuchung
und Endomyokardbiopsie gestellt.
Die schulmedizinische Behandlung besteht
in der symptomatischen Therapie von Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen.
Da ca. 20 % der Patienten an arteriellen Embolien durch Vorhofthromben sterben, ist
im fortgeschrittenen Krankheitsstadium eine orale Antikoagulation (ᇄ 20.8, PharmaInfo) erforderlich. Bei Patienten, die aufgrund ihres Alters und ihres Allgemeinzu-
Hypertrophe
Kardiomyopathie
Restriktive
Kardiomyopathie
OLQNHU
9RUKRI
10
/LQNH
.DPPHU
0LWUDONODSSH
VFKOLH¡WQLFKWGLFKW
9HUGLFNXQJ
GHV+HU]PXVNHOV
SDQ]HUDUWLJH
$XIODJHUXQJHQ
Abb. 10.51 Die drei Formen der primären Kardiomyopathie in der Kammersystole. Bei der dilatativen Kardiomyopathie ist die Kammer erweitert (dilatiert), was zusätzlich zur Insuffizienz der Klappen führen kann. Die hypertrophe Kardiomyopathie wird hingegen durch eine Verdickung des Herzmuskels verursacht. Bei einer restriktiven Kardiomyopathie sind die Kammerwände starr, wodurch sich die Kammer nicht ausreichend füllen kann.
[A400/A300]
4/19/2013 1:00:30 PM
460
10 Herz
stands eine gute postoperative Prognose haben, wird eine Herztransplantation erwogen.
Hypertrophe Kardiomyopathien
Bei der hypertrophen Kardiomyopathie
verdickt sich der Herzmuskel, ohne dabei
leistungsstärker zu werden. Die Herzmuskelverdickung ist nicht überall gleich stark.
Viele Patienten mit hypertropher Kardiomyopathie zeigen keine Symptome oder
haben geringe Beschwerden. Bei 90 % der
symptomatischen Patienten kommt es zu
Atemnot bei Belastung, bei 75 % der Patienten tritt eine typische oder atypische Angina pectoris auf. Ferner entwickeln sich
bei 10–30 % der symptomatischen Patienten Herzklopfen, Schwindel und Synkopen.
Die Diagnose wird durch EKG, Echokardiografie und Herzkatheteruntersuchung
gestellt.
Bei der medikamentösen Therapie werden v. a. Betablocker und bestimmte Kalziumantagonisten angewendet. Evtl. kann die
hypertrophe Muskulatur auch operativ abgetragen werden. Der Patient soll sich körperlich schonen.
Hauptkomplikation der hypertrophen
Kardiomyopathie ist der plötzliche Herztod. Da die hypertrophe Kardiomyopathie
in ca. 50 % familiär auftritt, sollten Blutsverwandte des Patienten echokardiografisch untersucht werden.
Restriktive Kardiomyopathie
In Mitteleuropa ist die restriktive Kardiomyopathie sehr selten. Die Ventrikelfüllung
ist durch starre Ventrikelwände behindert.
Die Kontraktionskraft des Herzens bleibt
normal. Die Behandlung erfolgt symptomatisch. Im Endstadium hilft nur noch eine
Herztransplantation.
RTF370 1a:END
10.10.2 Sekundäre
Kardiomyopathien
Sekundäre Kardiomyopathien: Herzmuskelerkrankungen mit bekannter Ursache, sie können ebenfalls als dilatative, hypertrophe und
restriktive Kardiomyopathie verlaufen. Im Gegensatz zu den primären Kardiomyopathien
sind sie meist einer spezifischen Therapie und/
oder Prävention zugänglich.
Krankheitsentstehung
Bei 75–80 % der Patienten ist chronischer
Alkoholmissbrauch die Ursache einer sekundären Kardiomyopathie, wobei nicht
geklärt werden kann, ob Alkohol der einzige kausale Faktor ist. In diesem Fall kann,
solange noch keine dekompensierte Herzinsuffizienz besteht, das Fortschreiten der
Erkrankung durch strikte Alkoholkarenz
verhindert werden. Weitere mögliche Ursachen sind:
• Medikamente, v. a. Chemotherapeutika,
selten Barbiturate, Antidepressiva
• eine durch Viren, Bakterien oder Pilze verursachte infektiöse Myokarditis (ᇄ 10.9.2),
z. B. Diphtherie, Coxsackie-Viren
• Systemerkrankungen wie rheumatische
Arthritis (ᇄ 9.12.1) oder Kollagenosen
(ᇄ 9.12.3)
• hormonelle Störungen und Stoffwechselerkrankungen wie Schilddrüsenfunktionsstörungen, Phäochromozytom (ᇄ 19.8.3)
und Diabetes mellitus (ᇄ 15.5)
• neuromuskuläre Erkrankungen, z. B.
Myasthenia gravis (ᇄ 22.8.2)
• physikalische Schädigung durch Trauma
(Unfall) oder Strahlen.
Symptome und Diagnostik
Es bestehen die gleichen Beschwerden wie
bei der primären Kardiomyopathie und zusätzlich Symptome der Grunderkrankung.
Die Diagnostik entspricht der primären
Kardiomyopathie.
Schulmedizinische Therapie und
Prognose
Die Therapie richtet sich nach der Grunderkrankung und zielt auf Behandlung der
Herzinsuffizienz und der Herzrhythmusstörungen ab. Die Prognose ist insgesamt
eher schlecht.
RTF3807 2 a:END
10.11 Herzklappenfehler und weitere Herzfehler
RTF3807 2 3a0:STAR
Herzklappenfehler: krankhafte Veränderung
und Funktionsstörung einer Herzklappe. Herzklappenfehler können angeboren oder erworben sein.
•
10
Angeborene Herzklappenfehler treten
isoliert oder in Kombination mit anderen Herzfehlern auf. Meist handelt es
sich um Aorten- oder Pulmonalklappenstenosen.
• Erworbene Herzklappenfehler sind in
der Regel Folge einer Endokarditis
(ᇄ 10.9.1). Am häufigsten ist die Mitralklappe betroffen, am zweithäufigsten
Mitral- und Aortenklappe kombiniert.
Es werden zwei Formen von Herzklappenfehlern unterschieden: Klappenstenosen
und Klappeninsuffizienzen. Sie können einzeln oder kombiniert auftreten.
• Klappenstenosen: Wenn sich die Segel
bzw. die Taschen nicht weit genug öffnen, ist die Lichtung der Klappe zu eng.
Man spricht dann von einer Klappenste-
Bierbach_55244.indb 460
•
nose. Bei einer Klappenstenose müssen
die vorgeschalteten Herzabschnitte einen höheren Druck aufbringen, um das
Blut durch die kleinere Öffnung zu pressen. Übersteigt dies die Leistungsfähigkeit des Herzens, entsteht eine Herzinsuffizienz.
Klappeninsuffizienzen: Wenn die Sehnenfäden oder die Papillarmuskeln reißen oder Entzündungsprozesse Teile der
Herzklappe „zerfressen“, können die Segel nicht mehr „gehalten“ werden: Die
Klappe schließt nicht mehr dicht, ihre
Ventilfunktion geht verloren, und bei jedem Herzschlag wird ein Teil des Blutes
in die Vorhöfe zurückgepresst. Schließen
die Taschenklappen nicht mehr richtig,
so fließt nach jeder Kammersystole ein
Teil des ausgeworfenen Blutes in die
Kammern zurück. Folge dieser Klappeninsuffizienzen ist ebenfalls eine Herzinsuffizienz, da das hin- und herpendelnde
Blut eine schließlich kaum noch zu leistende Mehrarbeit erfordert.
Die Behandlungsstrategie hängt von Art
und Schwere des Klappenfehlers ab. Bei vielen Patienten ist nach einer gewissen Zeit
der konservativen (medikamentösen) Therapie eine Operation unumgänglich. Dabei
stehen zwei Operationsmethoden zur Verfügung: die Klappenrekonstruktion und
der Klappenersatz.
Bei klappenerhaltenden Eingriffen versucht der Chirurg, die Funktionsfähigkeit
der Klappe z. B. durch Lösen von Verwachsungen wiederherzustellen (Klappenrekonstruktion). Insbesondere bei kombinierten
Klappenfehlern, d. h. solchen mit Stenoseund Insuffizienzkomponenten, ist diese jedoch nicht möglich. Dann muss die funktionsunfähige Klappe ersetzt werden (Klappenersatzoperation). Als Klappenersatz
können mechanische Prothesen aus Metall
oder Kunststoff, biologische Prothesen (in
der Regel aufwändig präparierte Schweineklappen oder aus Spenderherzen gewonnene menschliche Klappentransplantate Homograft, Allograft) verwendet werden.
4/19/2013 1:00:30 PM
10.11 Herzklappenfehler und weitere Herzfehler
Hauptnachteil der künstlichen Klappen
ist die Notwendigkeit einer lebenslangen
Antikoagulation (ᇄ 20.6), wesentlicher Minuspunkt der biologischen Klappen ihre
mit ca. zehn Jahren recht kurze Haltbarkeit. Homografts sind länger haltbar als
biologische Prothesen, eine Antikoagulation ist nicht notwendig. Allerdings können
sie nur entnommen werden, wenn für das
betroffene Spenderherz kein geeigneter
Empfänger gefunden werden konnte. Homografts sind daher nicht unbegrenzt verfügbar.
RTF3708 4a:END
10.11.1 Mitralklappenfehler
Mitralklappenstenose
Mitralklappenstenose (Mitralstenose): Verengung der Klappe durch Verwachsungen (evtl.
mit Verkalkung) nach entzündlichen Prozessen;
häufigster Herzklappenfehler.
Krankheitsentstehung
Die Mitralklappenstenose entsteht nahezu
immer als Spätfolge einer rheumatischen
Endokarditis (ᇄ 10.9.1) mit Befall der Mitralklappe.
Die verklebten Mitralklappensegel engen
die Öffnung zwischen linkem Vorhof und
linker Kammer ein. Dadurch kann sich der
linke Vorhof schlechter entleeren und erweitert sich mit der Zeit (Dilatation). Das
Herz-Zeit-Volumen wird durch die geringere Füllung des linken Ventrikels herabgesetzt.
461
Mitralklappeninsuffizienz
Mitralklappeninsuffizienz: Die Mitralklappe
schließt sich bei der Kammersystole nur ungenügend, das Blut fließt in den linken Vorhof zurück. Durch das entstehende Pendelblut vergrößert sich der Vorhof, der Herzmuskel hypertrophiert.
Abb . 10.52 Bei Patienten mit einer Mitralstenose
ist häufig eine schmetterlingsförmige Rötung über
den Wangen zu beobachten. [T212]
Diagnostik
Bei der Auskultation ist evtl. ein paukender
erster Herzton oder ein Mitralöffnungston
mit einem anschließenden diastolischen
Decrescendo-Geräusch zu hören, bei einem
Sinusrhythmus lässt sich ein kurzes präsystolisches Crescendo-Geräusch (ᇄ 10.3.2)
ausmachen.
Die Diagnose wird schulmedizinisch
durch EKG, Röntgenaufnahme des Thorax
und v. a. durch die Echokardiografie gestellt. Oft ist zusätzlich eine Herzkatheteruntersuchung erforderlich.
Schulmedizinische Therapie
Zunächst werden die Herzinsuffizienz und
evtl. Rhythmusstörungen behandelt. In
fortgeschrittenen Stadien wird die Klappe
operativ erweitert oder durch eine künstliche Herzklappe ersetzt. Antibiotika werden
prophylaktisch als Schutz vor Endokarditis
eingesetzt (ᇄ Tab. 10.4).
Die chronische Mitralklappeninsuffizienz
tritt in ca. 40 % der Fälle in Kombination
mit einer Mitralklappenstenose, z. B. nach
rheumatischem Fieber (ᇄ 9.12.4), auf. Die
akute Mitralklappeninsuffizienz entsteht
durch die plötzliche Ruptur eines Teils des
Mitralklappenapparats, etwa bei einem
Herzinfarkt.
Symptome
Dadurch, dass der muskelstarke linke Ventrikel trotz des Pendelblutes lange Zeit ein
ausreichendes Herzminutenvolumen aufrechterhalten kann, zeigen sich oft erst 20
Jahre nach dem rheumatischen Fieber die
ersten Symptome wie Atemnot bei Belastung, Schwindel und die Zeichen einer
Linksherzinsuffizienz (ᇄ Abb. 10.53). Bei
der akuten Form droht dagegen rasch ein
lebensbedrohliches Lungenödem.
Diagnostik
Bei der Herzuntersuchung hören Sie direkt
nach dem ersten Herzton ein bandförmiges
(gleich bleibendes) systolisches Geräusch
mit lautestem Punkt über der Herzspitze
und mit Fortleitung in die Achsel. Oft ist
Symptome
Patienten mit einer Mitralklappenstenose
haben oft das typische Mitralgesicht (Facies mitralis), d. h. eine Rötung beider
Wangen (Mitralbäckchen ᇄ Abb. 10.52)
bei gleichzeitiger bläulicher Verfärbung
der Lippen. Durch den Blutrückstau in den
Lungenkreislauf bekommen die Patienten
Atemnot und Husten mit oft blutigem Auswurf, im schlimmsten Fall droht ein Lungenödem. Die Dehnung und die veränderten Strömungsverhältnisse im linken Vorhof begünstigen Vorhofflimmern und Vorhofthromben (Blutgerinnsel im Vorhof).
Dadurch besteht die Gefahr arterieller Embolien, z. B. Gehirnembolien mit dem klinischen Bild eines Schlaganfalls. Engegefühl hinter dem Brustbein und Zeichen einer Rechtsherzinsuffizienz treten später
hinzu.
Bierbach_55244.indb 461
10
/$
5$
59
/9
Abb. 10.53 Röntgenaufnahme des Thorax bei Mitralinsuffizienz. Das Herz ist
insgesamt massiv vergrößert (RA = rechter Vorhof,
RV = rechte Kammer, LA =
linker Vorhof, LV = linke
Kammer. [E283]
4/19/2013 1:00:31 PM
462
10 Herz
auch ein dritter Herzton zu hören. Eine
schulmedizinische Abklärung wie bei der
Mitralstenose ist durchzuführen.
Schulmedizinische Therapie
Bei chronischer Mitralklappeninsuffizienz
wird zunächst die Herzinsuffizienz medikamentös behandelt, erst bei stärkeren Beschwerden oder bei akuter Mitralklappeninsuffizienz wird die Herzklappe ersetzt
oder operativ rekonstruiert. Vorbeugende
Maßnahmen gegen eine Endokarditis sind
erforderlich (ᇄ Tab. 10.4).
Mitralklappenprolaps
Mitralklappenprolaps: Die Mitralklappe ist im
Verhältnis zur Öffnungsfläche zu groß angelegt.
Dadurch wölbt sich das Mitralsegel während
der Kammersystole in den linken Vorhof.
Der Mitralklappenprolaps ist relativ häufig
(ca. 6 % aller Erwachsenen), bereitet in aller
Regel aber keine Beschwerden und wird
nur zufällig diagnostiziert.
Fallbeispiel „Mitralklappeninsuffizienz“
Ein 70 Jahre alter Rentner berichtet in der Praxis, er habe seit einiger Zeit immer wieder
Schwindelanfälle. Auch fühle er sich leistungsschwach, und schon bei recht geringen
Anstrengungen, z. B. beim Staubsaugen oder Einkaufen, müsste er oft Pause machen,
weil er das Gefühl habe, nicht genug Luft zu bekommen. Seine Frau habe ihn bereits
beschuldigt, er wolle sich nur vor der Hausarbeit drücken … Der Patient ist Nichtraucher, hat nie Sport getrieben und gut 15 kg Übergewicht. Auf Nachfrage gibt er an, nicht
unter Kopfschmerzen, Sensibilitätsstörungen, zeitweisen Lähmungen, Sprachstörungen, Gedächtnisausfällen und dergleichen zu leiden. Übel sei ihm bei den Schwindelanfällen nicht, sein Gehör sei unverändert gut. Auch habe er kein Trauma von Kopf oder
Halswirbelsäule erlitten. Die Inspektion der Augen und die Prüfung der Pupillenreflexe
ergibt keine Auffälligkeiten, das Gesichtsfeld ist nicht eingeschränkt; die Hals- und Unterzungenvenen scheinen leicht gestaut. Die Schädelkalotte ist nicht klopfschmerzhaft;
die Bewegungsprüfung der HWS verläuft unauffällig. Der Blutdruck liegt bei
160/80 mmHg, der Puls ist unregelmäßig und beträgt ca. 90 Schläge/Min. Der Herzspitzenstoß ist außerhalb der Medioklavikularlinie hebend tastbar. Auskultatorisch ist
während der gesamten Systole ein gleich bleibendes (bandförmiges) Geräusch zu hören,
das über der Herzspitze am deutlichsten ist, aber sogar noch in der Achsel wahrgenommen werden kann. Die Auskultation der Lunge ist unauffällig. Auch die übrige körperliche Untersuchung ergibt keine weiteren pathologischen Befunde. Die Frage, ob er
früher einmal ein rheumatisches Fieber durchgemacht hat, kann der Patient nicht
beantworten. Er erzählt jedoch, dass er vor etwa 15 Jahren nach dem Ziehen zweier
Zähne eine „schlimme Herzentzündung“ bekommen hätte. Die Heilpraktikerin überweist den Patienten mit dem Verdacht auf chronische Mitralklappeninsuffizienz zum
Arzt.
Symptome und Diagnostik
Patienten, die Beschwerden haben, klagen
meistens über Schwindel- und Schwächegefühle, über Kollapsneigung und Angstgefühle oder über Angina-pectoris-ähnliche
Beschwerden.
Die Diagnose wird durch Auskultation
(systolisches Herzgeräusch) und Echokardiografie gestellt.
Schulmedizinische Therapie
Eine Behandlung ist nur bei schwerwiegenden Symptomen erforderlich und besteht in
erster Linie in der Gabe von Betablockern
(ᇄ 11.5.1, Pharma-Info). Wichtigste Konsequenz aus der gestellten Diagnose ist, wie
immer bei vorgeschädigten Herzklappen,
die Durchführung einer Endokarditisprophylaxe (ᇄ 10.9.1).
RTF3906 87a:END
10
Symptome
Beschwerden entstehen v. a. durch das abnehmende Herz-Minuten-Volumen. Im oft
rasch voranschreitenden Spätstadium der
Erkrankung kommt es zu schneller Ermüdbarkeit, Schwindel und Synkopen, Angina
pectoris und Zeichen der Linksherzinsuffizienz. Die Blutdruckamplitude (ᇄ 11.3.2)
ist auffallend klein. Die Patienten sind
durch den plötzlichen Herztod gefährdet
(ᇄ Abb. 10.54).
Achtung
Typisch ist die lange Beschwerdefreiheit des
Patienten bei Aortenklappenstenose; jede
Symptomatik deutet auf eine stärkere Verengung hin und muss umgehend schulmedizinisch
untersucht und behandelt werden.
Diagnostik und schulmedizinische
Therapie
In der Auskultation des Herzens ist ein lautes spindelförmiges (auf- und abschwellendes) systolisches Geräusch (ᇄ 10.3.2) über
dem Aortenklappenpunkt zu hören, das in
die Karotiden fortgeleitet wird. Je höhergradiger die Stenose ist, desto weiter verlagert
sich das Systolikum an das Ende der Systole. Eine ärztliche Abklärung mit EKG, Röntgenaufnahme des Thorax, Echokardiografie
und evtl. Linksherzkatheteruntersuchung
muss im Anschluss erfolgen.
Die Therapie besteht in einem frühzeitigen operativen Klappenersatz (ᇄ Tab.
10.4).
10.11.2 Aortenklappenfehler
Aortenklappenstenose
Aortenklappenstenose: Der Blutausstrom aus
der linken Kammer ist durch eine Klappenverengung behindert.
Häufigste Ursache für die Aortenklappenstenose ist das rheumatische Fieber (85–
90 %). Der linke Ventrikel kann eine Aortenstenose durch Erhöhung des Drucks
lange Zeit kompensieren.
Bierbach_55244.indb 462
Abb. 10.54 Verkalkende
Aortenklappenstenose.
Man sieht starke, knollenförmige Kalkansammlungen
auf den Taschenklappen,
vermutlich infolge eines
rheumatischen Fiebers. Der
Patient starb am plötzlichen
Herztod. [E688]
4/19/2013 1:00:31 PM
10.11 Herzklappenfehler und weitere Herzfehler
463
TBL
Tab. 10.4 Symptome, Diagnostik und Therapie der häufigsten erworbenen Herzfehler.
Mitralklappenstenose
Mitralklappeninsuffizienz
Aortenklappenstenose
Aortenklappeninsuffizienz
Symptome
• Facies mitralis (Rötung beider Je nach Shuntgröße Entwick-
Linksherzinsuffizienz
Wangen bei gleichzeitiger Lip- lungsverzögerung des Kindes, (ᇄ 10.7.1), Schwindel und
Infekte, später Shuntumkehr Synkopen, v. a. bei Belastung,
penzyanose)
• Atemnot, Husten, evtl. blutiAngina pectoris
ges Sputum und Lungenödem
• Vorhofflimmern
• Später retrosternales Engegefühl, Zeichen der Rechtsherzinsuffizienz (ᇄ 10.7.1)
Linksherzinsuffizienz (ᇄ 10.7.1),
Belastungsdyspnoe, Angina pectoris
Auskultationsbefund
Diastolisches Geräusch
Diastolisches Geräusch
Systolisches Geräusch
Systolisches Geräusch
Diagnosesicherung EKG, Röntgenaufnahme des Thorax, Echokardiografie, Herzkatheteruntersuchung
Therapie
• Zunächst Behandlung der Herz- • Bei Mitralklappeninsuffizi- Rechtzeitig operativer Klappenersatz (Aortenklappenersatz, kurz AKE)
insuffizienz und der Rhythmusenz nach rheumatischem
störung
Fieber zunächst konserva• Bei absoluter Arrhythmie Antitive Behandlung, später
operative Herzklappenrekoagulation
• In fortgeschrittenen Stadien inkonstruktion oder operativer Klappenersatz
terventionelle Erweiterung der
Klappe (Valvuloplastie) oder • Bei akuter Mitralklappeninsuffizienz, z. B. nach
Klappenersatz durch künstliche
Herzklappe
Herzinfarkt, Intensivtherapie und schnellstmögliche
Operation
Aortenklappeninsuffizienz
Aortenisthmusstenose
Pulmonalklappenstenose
Aortenklappeninsuffizienz: Die Aortenklappe
schließt sich während der Kammerdiastole nicht
vollständig, und es kommt zu einem Blutrückstrom in die linke Kammer. Die linke Kammer
wird durch das zu große Blutvolumen langfristig
überfordert, sie vergrößert sich und wird zunehmend insuffizient. Meist durch ein rheumatisches
Fieber verursacht.
Aortenisthmusstenose: angeborene Gefäßfehlbildung mit Einengung der Aorta vor oder
nach dem Abgang des Ductus arteriosus Botalli.
Pulmonalklappenstenose: führt zur Druckbelastung des rechten Herzens durch Verengung der Ausflussbahn; die Stenose ist meist
angeboren, selten auch durch i. v. Drogenkonsum erworben.
Symptome
Hauptbeschwerden des Patienten sind
Atemnot bei körperlicher Belastung, leichte
Ermüdbarkeit, Angina pectoris und
(Links-)Herzinsuffizienz.
Diagnostik und schulmedizinische
Therapie
Leitsymptom bei der körperlichen Untersuchung ist eine große Blutdruckamplitude
(ᇄ 11.3.2), bei der der diastolische Wert oft
nicht abgegrenzt werden kann, und ein hoher, schnellender Puls. Evtl. besteht an den
Fingernägeln ein sog. Kapillarpuls, der bei
leichtem Druck sichtbar wird.
Bei der Herzpalpation fühlen Sie einen hebenden und nach außen verlagerten Herzspitzenstoß. In der Auskultation ist ein leises frühes Diastolikum (ᇄ 10.3.2) über dem
Erb-Punkt sofort nach dem zweiten Herzton charakteristisch. Der Befund muss
schulmedizinisch abgeklärt werden.
Wie auch bei der Aortenklappenstenose
wird die Herzklappe frühzeitig operativ ersetzt (ᇄ Tab. 10.4).
Bierbach_55244.indb 463
Die Symptomatik ist je nach Typ sehr unterschiedlich: v. a. Hypertonie im KopfArm-Bereich bei gleichzeitig niedrigen
Blutdruckwerten der unteren Extremität,
Zyanose der unteren Körperhälfte und Zeichen der Herzinsuffizienz.
Eine konsequente Endokarditisprophylaxe ist erforderlich. Eine OP ist die Therapie
der Wahl.
RTF305 9a:END
10.11.3 Pulmonalklappenfehler
Eine Pulmonalklappeninsuffizienz tritt
sehr selten auf. Ursache einer primären Insuffizienz ist meist eine bakterielle Endokarditis (ᇄ 10.9.1). Als sekundärer Klappenfehler ist sie hingegen häufig und zwar als Folge
einer pulmonalen Hypertonie (ᇄ 12.9.2) bei
bronchopulmonalen Erkrankungen oder
linksseitigen Herzerkrankungen.
Die Pulmonalklappeninsuffizienz verläuft
über viele Jahre asymptomatisch, bevor sich
im Endstadium eine Rechtsherzinsuffizienz
einstellt.
RTF305 9a:STAR
Symptome und Diagnostik
Bei leichter Verengung bestehen keine Beschwerden. In schweren Fällen kommt es
zur Atemnot bei körperlicher Belastung
und zu Zeichen der Rechtsherzinsuffizienz.
Bei der körperlichen Untersuchung kann
evtl. palpatorisch ein Schwirren und auskultatorisch ein spindelförmiges Systolikum auftreten oder eine dauerhafte Spaltung des zweiten Herztons (ᇄ 10.3.2).
Schulmedizinische Therapie
Bei starken Beschwerden wird die Herzklappe erweitert (Ballondilatation) oder
operativ ersetzt.
10
RTF3105726a:END
10.11.4 Trikuspidalklappenfehler
Trikuspidalklappenstenose
Trikuspidalklappenstenose: tritt selten auf;
entsteht fast immer durch rheumatisches Fieber
in Kombination mit anderen Klappenfehlern.
4/19/2013 1:00:32 PM
464
10 Herz
Symtome und Diagnostik
Es bestehen Zeichen der Rechtsherzinsuffizienz: Ödeme der Unterschenkel und Füße,
Vergrößerung der Leber und Aszites
(Bauchwassersucht). Bei der Auskultation
des Herzens hören Sie ein diastolisches
Crescendo-Geräusch am linken Rand des
Brustbeins, das Geräusch wird bei Einatmung lauter. Die übliche schulmedizinische
Diagnostik muss zur Abklärung folgen.
Schulmedizinische Therapie
Die Herzinsuffizienz wird medikamentös
behandelt. Eine Endokarditisprophylaxe
wird durchgeführt. Die Stenose wird evtl.
dilatiert (erweitert) oder die Herzklappe
wird operativ ersetzt.
Trikuspidalklappeninsuffizienz
Trikuspidalklappeninsuffizienz: entsteht fast
immer im Rahmen einer dekompensierten
Rechtsherzinsuffizienz, selten als Folge einer
Endokarditis bei i. v. Drogenkonsum.
Die Symptome der Rechtsherzinsuffizienz
prägen das klinische Bild. Eine umgehende
schulmedizinische Diagnostik und Therapie sind erforderlich.
RTF30947 a:END
10.11.5 Angeborene
Herzfehler
Ungefähr 1 % aller Lebendgeborenen hat einen angeborenen Herzfehler, der durch
Störungen während der komplexen emRTF30947 a:STAR
bryonalen Entwicklung hervorgerufen werden. Die Ursache bleibt in der Regel unklar.
Wahrscheinlich spielen genetische Schäden
und exogenen Faktoren (z. B. Infektionen
der Mutter während der Schwangerschaft)
eine Rolle. Viele Herzfehler werden schon
im Babyalter symptomatisch, einige erst im
Erwachsenenalter (z. B. der Vorhofseptumdefekt).
Bei einem Teil der angeborenen Herzfehler fließt das Blut durch Shunts (Shunt =
Kurzschlussverbindung zwischen linken
und rechten, also arteriellen und venösen
Herzteilen) über normalerweise nicht angelegte oder bei gesunden Kindern bereits
nach der Geburt verschlossene „Abkürzungen“ (z. B. Ductus arteriosus Botalli ᇄ Tab.
10.5). Dabei durchmischen sich sauerstoffgesättigtes und sauerstoffarmes Blut in unterschiedlichem Ausmaß. Andere Herzfehler schränken lediglich den ansonsten normal angelegten Blutfluss ein, z. B. durch
Klappenfehler.
Je nach ihrer Auswirkung auf die Sauerstoffkonzentration des Körperkreislaufs
unterscheidet man folgende angeborene
Herzfehler.
• Zyanotische Herzfehler: Er verursacht
den Zufluss von sauerstoffarmem, d. h.
verbrauchtem Blut in das sauerstoffreiche, arterielle Blut des Körperkreislaufs.
Die Sauerstoffsättigung vermindert sich,
es kommt zur Zyanose. Da das sauerstoffarme Blut normalerweise ausschließlich von der rechten Herzkammer
über die Pulmonalarterien ausgeworfen
wird, werden diese Herzfehler auch als
Rechts-links-Shunts bezeichnet.
•
Azynotische Herzfehler: Hier wird das
Blut nicht durchmischt, oder aber die
Durchmischung verläuft so, dass sauerstoffgesättigtes Blut in den Lungenkreislauf eingeschleust wird (Links-rechtsShunt). Dabei kommt es nicht zu einem
Sauerstoffabfall im Körper.
Die meisten angeborenen Herzfehler sind
operabel, sodass die rechtzeitige Diagnosestellung lebensrettend sein kann. In ca. einem Drittel der Fälle liegen weitere Fehlbildungen vor.
Vorhofseptumdefekt
Vorhofseptumdefekt (Atriumseptumdefekt,
kurz ASD): die Scheidewand im Bereich der
Vorhöfe ist nicht völlig verschlossen.
Durch das Loch in der Vorhofwand strömt
Blut vom kräftigeren linken Vorhof zurück in
den schwächeren und dehnbareren rechten
Vorhof. Durch diesen Links-rechts-Shunt wird
der Lungenkreislauf langfristig überlastet. Es
entwickelt sich ein Hochdruck im kleinen
Kreislauf (pulmonale Hypertonie ᇄ 12.9.2),
der nach einiger Zeit unumkehrbar wird. Folge
ist eine Rechtsherzhypertrophie (ᇄ 10.7.1) und
damit eine Druckerhöhung im rechten Herzen, die schließlich zu einer Umkehrung der
Fließrichtung im Shunt führt. Das Blut fließt
nunmehr vom rechten in den linken Vorhof
(Shuntumkehr zum Rechts-links-Shunt, sog.
Eisenmenger-Reaktion), und der linke Vorhof wird zunehmend belastet.
Der Krankheitsverlauf hängt von Größe
und Lage des Defekts ab. Häufig treten im 2.
TBL
Tab. 10.5 Übersicht über angeborene Herzfehler.
10
Defekt
Anatomie und Physiologie des
Defekts
Klinik
Therapie
persistierender Ductus
arteriosus
ausbleibender Verschluss des Ductus arteriosus Botalli, Blut fließt
aus der Aorta zurück in die Lungenarterie
je nach Shuntgröße Entwicklungsverzögerung des
Kindes, Infekte, später Shuntumkehr
Endokarditisprophylaxe (ᇄ 10.9.1), OP, bei
Frühgeborenen evtl. medikamentöser Verschluss möglich
Pulmonalstenose
(ᇄ 10.11.5)
Verengung ist an verschiedenen
Stellen möglich, direkt an der
Klappe, darüber oder darunter
von der Ausprägung der Stenose abhängig; Zeichen der Rechtsherzbelastung, Dyspnoe
Behandlung der Herzinsuffizienz, Endokarditisprophylaxe, OP
Aortenklappenstenose
(ᇄ 10.11.2)
Verengung an verschiedenen Stellen möglich, direkt an der Klappe,
darunter oder darüber
unterschiedlicher Schweregrad, Zeichen der Herzin- Behandlung der Herzinsuffizienz, OP
suffizienz, Dyspnoe, Synkopen, Rhythmusstörungen, Angina-pectoris-Beschwerden
Aortenisthmusstenose
(ᇄ 10.11.2)
Einengung der Aorta nach dem
Abgang der Arterie, die den linken
Arm versorgt
Abgeschwächte Fuß- und Femoralispulse, Kopfschmerzen, Zeichen der Herzinsuffizienz
Behandlung der Herzinsuffizienz; OP
Fallot-Tetralogie
Kombination aus Pulmonalstenose, Ventrikelseptumdefekt, nach
rechts verlagerter Aorta und Hypertrophie der rechten Kammer
Zyanose, Gedeihstörung, Atemnot, hypoxämische
Anfälle, evtl. mit Bewusstlosigkeit. Typische Hockstellung der Kinder zur Verbesserung der Sauerstoffversorgung
Endokarditisprophylaxe, OP
Transposition der großen Gefäße
Ursprung der Aorta aus dem rechten, der Pulmonalarterie aus dem
linken Ventrikel (nur lebensfähig,
wenn gleichzeitig Shunt, z. B.
durch persistierenden Ductus oder
offenes Foramen ovale)
Zyanose, Atemnot, Herzinsuffizienz
Endokarditisprophylaxe, OP
Bierbach_55244.indb 464
4/19/2013 1:00:32 PM
10.11 Herzklappenfehler und weitere Herzfehler
oder 3. Lebensjahrzehnt vermehrt bronchitische Infekte oder Pneumonien, Atemnot
unter Belastung und eine allgemeine Leistungsminderung auf. Eine Zyanose kommt
erst im Spätstadium der Erkrankung hinzu.
Die Diagnose wird durch Auskultation
(Systolikum), EKG, Röntgenaufnahme des
Thorax, Echokardiografie und Herzkatheteruntersuchung gestellt.
Merke
Der Vorhofseptumdefekt selbst verursacht kein
Geräusch. Das Systolikum entsteht durch eine relative Pulmonalstenose, d. h. die Pulmonalklappe
ist für die zu fördernde Blutmenge zu klein.
Kleine Vorhofseptumdefekte verschließen
sich in den ersten Lebensjahren oft von
selbst. Bei einem großen Shuntvolumen
muss der Defekt möglichst noch im Vorschulalter operativ verschlossen werden.
Nach einer Shuntumkehr ist eine OP nicht
mehr möglich.
Ventrikelseptumdefekt
Ventrikelseptumdefekt (kurz VSD): Es besteht ein „Loch“ zwischen linker und rechter
Kammer, das in seiner Größe variabel ist.
Über 80 % der Ventrikelseptumdefekte liegen direkt unterhalb des Aortenabgangs.
Oft bestehen weitere Fehlbildungen am
Herzen, z. B. Vorhofdefekte, angeborene
Herzklappenfehler.
Durch das Loch in der Kammerwand
strömt Blut von der kräftigeren linken
Kammer in die schwächere rechte Kammer.
Wie beim Vorhofseptumdefekt entsteht eine Rechtsherzhypertrophie, die schließlich
zu einer Umkehrung des Blutflusses durch
das Loch und damit zu einer Linksherzbelastung führt.
In Abhängigkeit von Größe und Lage des
Herzfehlers können Symptome bereits früh
vorhanden sein oder ganz fehlen. Die Kinder gedeihen schlecht, haben wiederholt
bronchitische Infekte und zeigen die Symp-
465
tome einer Herzinsuffizienz. Die technischen Untersuchungen entsprechen denen
bei einem Vorhofseptumdefekt.
Größere Ventrikelseptumdefekte werden
möglichst früh operativ verschlossen, bei
kleineren kann dagegen zunächst abgewartet werden. Bei Kindern mit angeborenen
Herzfehlern ist die Gefahr einer Endokarditis gegeben. Sie müssen deshalb vor allen
medizinischen Eingriffen sowie in allen Situationen, bei denen die Gefahr besteht,
dass Bakterien in die Blutbahn geraten, z. B.
bei zahnärztlicher Behandlung, ein Antibiotikum bekommen (Endokarditisprophylaxe ᇄ 10.9.1).
Weitere angeborene Herzfehler
Einen Überblick über weitere häufige angeborene Herzfehler gibt ᇄ Tab. 10.5.
10
Bierbach_55244.indb 465
4/19/2013 1:00:32 PM
Herunterladen