7. WORTBILDUNGSLEHRE Die anatomische Fachsprache unterscheidet sich wesentlich von der pathologischen Terminologie. Die anatomische Nomenklatur (Sammlung von Begriffen) benennt und systematisiert die Teile des menschlichen Körpers. Es gibt etwa 6000 unterschiedliche Bezeichnungen, die auf 600 Wortstämmen basieren (davon etwa 400 lateinische und 200 griechische). Sie wurde bereits 1895 erstmals allgemein verbindlich festgelegt. Zur Zeit gelten die 1998 festgelegten Internationalen Nomina Anatomica (INA). Das heißt, dass ein anatomischer Begriff in Australien, Russland ebenso wie in Deutschland gebräuchlich ist. Festgelegt wurden folgende Grundsätze der INA: • Jedes Organ sollte nur durch einen Ausdruck bezeichnet werden. • Die Bezeichnungen sollten möglichst aus dem Lateinischen stammen. • Die Ausdrücke sollten möglichst kurz sein. • Bei topographisch engem Bezug sollten ähnliche Namen verwandt werden. Bsp.: Arteria femoralis Vena femoralis • Unterscheidende Attribute sollten Gegensatzpaare sein. Bsp.: maior minor • Sämtliche Eigennamen (Eponyme) sind zu vermeiden. Bsp.: Tuba auditiva die Ohrtrompete (statt Tuba Eustachii nach ihrem Entdecker Bartholomeo Eustachio) Im Gegensatz dazu gibt es bis heute kein allgemein verbindliches System der Bennenung von Krankheiten, das diese eindeutig klassifiziert. Man muß deshalb nicht von pathologischer Nomenklatur, sondern von pathologischer Terminologie sprechen. Die medizinisch/pathologische Fachsprache ist kein starres wissenschaftliches Bezeichnungssytem, sondern eine in Jahrhunderten gewachsene lebendige Sprache, die täglich durch neue Begriffe ergänzt wird. Einige Merkmale treten im Unterschied zur anatomischen Nomenklatur gehäuft bei den Nomina pathologica auf: • Es gibt zahlreiche Eigennamen (Eponyme). Bsp.: Down Syndrom, Morbus Basedow • Es werden überwiegend griechische Fachausdrücke verwandt. Bsp.: Spondylitis Wirbelentzündung ( nicht Inflammatio vertebrae) • Es sind sehr viele fremdsprachliche Einflüsse festzustellen. Bsp.: rooming in, Bypass, petit mal, Curare Einige Versuche zur Systematisierung der Krankheitsnamen wurden schon unternommen, z.B. SNOP (Systematized Nomenclature of Pathology), mit Ausdehnung auf die gesamte Medizin SNOMED (Systematized Nomenclature of Medicine). Für Dokumentationszwecke (Arztpraxen, Krankenhäuser, Krankenkassen usw.) wurde die ICD (International Classification of Diseases) entwickelt, die den Krankheiten, Symptomen und Beschwerden Nummern zuordnet. 133 7.1.) Möglichkeiten der Bildung anatomischer Termini aus einzelnen Wörtern In der anatomischen Nomenklatur gibt es nur sehr wenige Begriffe, die aus einem einzigen Wort bestehen. Wie im Deutschen wird auf die Möglichkeit zurückgegriffen, Substantive durch Attribute zu ergänzen und zu präzisieren. Wir unterscheiden mehrere Bildungstypen anatomischer Termini: • Bsp: Zu einem Substantiv gehören ein oder mehrere Adjektive. Arteria communicans Arteria femoralis profunda die verbindende Arterie die tiefe Oberschenkelarterie Beachte: Auf die Regeln der Verknüpfung von Substantiven und Adjektiven wurde bereits in Kapitel 6.3.6. eingegangen. Adjektive werden im Lateinischen prinzipiell nachgestellt. Bei der Übersetzung ins Deutsche wird das Adjektiv jedoch zuerst übersetzt. Bsp.: Ramus superficialis der oberflächliche Ast Bei mehreren Adjektiven werden Teile von Gegensatzpaaren immer nachgestellt. Bsp.: Arteria palatina ascendens die aufsteigende Gaumenarterie Arteria palatina descendens die absteigende Gaumenarterie • Zu einem Substantiv gehört ein zusammengesetztes Adjektiv (Kompositum). Bsp.: Musculus sternocleidomastoideus Arteria gastroduodenalis • Muskel zwischen Brustbein (sternum) Schlüsselbein (gr. kleis) und Warzenfortsatz (Processus mastoideus) Arterie zwischen Magen (gaster) und Zwölffingerdarm (duodenum) Zu einem Substantiv gehören ein oder mehrere Substantivattribute im Genitiv. Bsp.: Arcus aortae Ligamentum capitis femoris der Aortenbogen das Band des Oberschenkelkopfes Beachte: Im Lateinischen sind Genitivattribute erheblich häufiger als im Deutschen. Bsp: Der lat. Arcus aortae wird im Deutschen zum zusammengesetzten Wort Aortenbogen. Deshalb ist es unumgänglich, nicht nur die Nominativendungen, sondern auch die Genitivendungen der Substantive zu lernen! Wann Substantiv-Attribut, wann Adjektiv-Attribut? Grundsätzlich gilt: Das Genitivattribut findet Anwendung, wenn es sich bei dem Ausdruck um einen echten Bestandteil (Genitivus partitivus) bzw. eine echte Zugehörigkeit (Genitivus possessivus) handelt. 134 Bsp.: Substantivattribut: Collum femoris der Oberschenkelhals als Teil des Oberschenkelknochens aber: Adjektivattribut: Arteria femoralis • die in der Region des Oberschenkels verlaufende Arterie Zu einem Substantiv gehört eine Apposition. Bsp.: Arteria carotis Musculus psoas die Kopfschlagader der Lendenmuskel (carotis, idis f.) (psoas, ae m.) Beachte: Hauptsubstantiv und erklärendes Substantiv stehen hier im selben Casus ! • Zu einem Substantiv gehört ein präpositionaler Ausdruck. Bsp.: Rami ad pontem (Akkusativ!) • die Zweige zur Brücke (pons, tis m.) Zu einem Substantiv gehört eine Mischung aus den vier Varianten. Bsp.: Musculus flexor digitorum superficialis Musculus Flexor Digitorum Superficialis der oberflächlich gelegene Fingerbeuger Hauptsubstantiv musculus, i m. Apposition flexor, oris m. Substantivattribut im Genitiv Pl. digitus, i m. Adjektivattribut zum superficialis, is, e Hauptsubstantiv gehörig Ramus communicans cum chorda tympani Ramus Communicans cum chorda Tympani der mit der Paukensaite (Trommelfell) verbindende Strang Hauptsubstantiv ramus, i m. Adjektivattribut communicans, ans, ans präpositionaler Ausdruck im chorda, ae f. Ablativ Substantivattribut im Genitiv Sg. tympanon, i m. Tendo musculi extensoris carpi radialis longI Tendo musculi extensoris carpi radialis Hauptsubstantiv Substantivattribut im Genitiv Sg. Apposition zu musculi Substantivattribut im Genitiv Sg. Adjektivattribut im Genitiv Sg. longi Adjektivattribut im Genitiv Sg. zugehörig zu musculi die Sehne des langen speichenseitigen Handwurzelstreckers tendo, inis m. musculus, i m. extensor, oris m. carpus, i m. radialis, is e longus,a,um 135 Beachte: Substantivattribute oder Appositionen können zwischen Hauptsubstantiv und zugehörigen Adjektiven eingeschoben werden (Bsp. oben), das Adjektiv kann aber auch dem Genitivattribut vorangestellt werden: Bsp.: musculus rectus abdominis der gerade Bauchmuskel 7.2.) Die Bildung von Termini aus mehreren Wortelementen durch Kompositon (Wortzusammensetzung) Im Gegensatz zur anatomischen Nomenklatur sind die meisten medizinischen Fachbegriffe aus dem klinischen Bereich aus mehreren Wortbestandteilen zusammengesetzt. Folgende Wortelemente können vorkommen: • Wortstamm: Diese Grundworte sind unerläßlich zum Verständnis eines Begriffs. Mit der Kenntnis einer überschaubaren Zahl von Grundworten lassen sich viele Begriffe ohne Mühe übersetzen. Eine Sammlung der meist aus dem Griechischen stammenden Wortstämme finden Sie in den Wortlisten, Kap. 4.1. Bsp.: Arthr-itis Endo-kard • Bindevokal: Beim Aneinanderreihen verschiedener Wortelemente werden diese meist durch Vokale verbunden, z. B. wenn der vorhergehende Wortstamm mit einem Konsonanten endet und der folgende mit einem Konsonanten beginnt. In lateinischen Komposita wird der Bindevokal –i- benutzt, in griechischen oder gemischten Komposita der Bindevokal – o-. Bsp.: quadr-i-ceps Dermat –o-logie kanzer-o-gen • vierköpfig die Lehre von den Hautkrankheiten krebserregend Präfix (Vorsilbe): Als Vorsilben können griechische und lateinische Präpositionen, aber auch Adjektive, Adverbien und Zahlwörter vorkommen. Eine Zusammenstellung der präpositionalen Präfixe finden Sie in den Wortlisten, Kap. 4.2.2. Auch in diesem Fall gilt: Die Kenntnis der wichtigen Präfixe hilft beim Verständnis des ganzen Wortes. Es ist möglich, ein oder mehrere Präfixe einem Wortstamm voranzustellen und damit seine Bedeutung zu modifizieren. Bsp.: Trans-spiration In-spiration im-per-meabel Bsp: die Gelenkentzündung die innere Herzwand das Schwitzen (spirare/atmen) das Einatmen undurchlässig Beachte: Vorsilben können bei zusammengesetzten Begriffen auch in der Mitte des Wortes stehen. Zystektomie Entfernung der Blase Bronchiektase Erweiterung eines Bronchialastes 136 Beim Aufeinanderstossen von zwei Konsonanten können Präfixe durch Assimilation angeglichen werden. Bsp.: Angleichung der Vorsilbe adan, auf, zu neben: ag Agglutionation Verklebung ap Appendix, icis f. Anhängsel as Assimilation Angleichung Präfixe können durch Weglassen von Konsonanten oder ganzen Silben verkürzt werden (Elision). Bsp.: syn Sy-stol Zusammenziehen des Herzmuskels hemi Mi-gräne halbseitiger Kopfschmerz ambi Am-putation Abschneiden Besonders häufig ist die Verneinungsform (In- bzw. alpha-privativum). Sie verkehrt die usprüngliche Bedeutung in ihr Gegenteil. Bsp.: Suffizienz genügende Leistung Insuffizienz ungenügende Leistung Tonisc gespannt atonisch schlaff • Suffix (Nachsilbe): Die Nachsilben verändern und ergänzen die Bedeutung eines Wortstammes und bestimmen, ob es sich um ein Substantiv oder Adjektiv handelt. Wir unterscheiden deshalb zwischen Substantivsuffixen und Adjektivsuffixen, die auf unterschiedliche Bedeutungen hinweisen können. Vergleichen Sie dazu die Wortlisten in Kap. 4.2.3. Bsp.: Substantivsuffix Adjektivsuffix • –om (Geschwulst): –inus (Zugehörigkeit): Adenom Arteria uterina Drüsengeschwulst Gebärmutterarterie Flexionsendung: Die Flexionsendung gibt Hinweise auf den Casus, Numerus und Genus des medizinischen Begriffs. Sie spielt in der anatomischen Nomenklatur eine sehr viel größere Rolle als in der klinischen Fachsprache, wird jedoch auch hier für die Bildung des Plurals gebraucht. Bsp.: Klinikum Pl.: Klinika eingedeutscht: Kliniken Zusammengesetzte Termini (Komposita): Die Bedeutung eines Kompositums lässt sich im Allgemeinen aus der Bedeutung seiner Wortbestandteile bestimmen. Die meisten medizinischen Begriffe enthalten mindestens einen Wortstamm und ein Präfix oder Suffix, komplexere Ausdrücke können jedoch auch mehrere Wortstämme, Präfixe und Bindevokale enthalten. Generell ergeben sich mehrere Möglichkeiten der Zusammensetzung. • Präfix + Wortstamm: Bsp.: Hyper-emesis Präfix: hyper Wortstamm: emesis starkes Erbrechen viel, zu viel Erbrechen 137 • Wortstamm + Suffix: Bsp.: Nephr-ose Wortstamm: nephrSuffix: -ose • Präfix + Wortstamm + Suffix: Bsp.: Peri-kard-itis Präfix: peri Wortstamm: kardSuffix: -itis • Bsp: chronische Nierenentzündung gr. Niere chronischer pathologischer Zustand Herzbeutelentzündung um, herum gr. Herz Entzündung Wortstamm + Wortstamm: Pyloro-spasmus Wortstamm: pylorus, i m. Wortstamm: spasmus, i m. Krampf der Magenausgangs muskulatur Magenpförtner Krampf 138